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PRESSE/176: Wie der News-Journalismus die Wissenschaft beeinflusst (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Nachrichten aus der Forschung
Wie der News-Journalismus die Wissenschaft beeinflusst

von Martina Franzen



Kurz gefasst: Wissenschaft und Massenmedien verbindet die Suche nach Neuem. Was als relevante Neuheit gilt, wird aber unterschiedlich definiert. In dem Maße, in dem Medienpräsenz für Wissenschaftler und ihre Organisationen an Bedeutung gewinnt, scheint sich auch die Wissenschaft zunehmend an einem massenmedialen Neuheitswert zu orientieren, der auf revolutionäre Durchbrüche statt auf langwierige Erkenntnisproduktion setzt.


Seit den 1970er Jahren wird in wissenschaftlichen Texten immer häufiger explizit darauf hingewiesen, dass das beschriebene Wissen neuartig ist. Worthäufigkeitsanalysen zeigen, dass in naturwissenschaftlichen Abstracts der Begriff "überraschend" (surprising) zwölfmal häufiger auftaucht als im Standardenglisch, der Begriff "unerwartet" (unexpected) immerhin mehr als doppelt so oft. Neuigkeiten zu verbreiten, gehört zum Kerngeschäft des Journalismus. Zwischen der Wissenschaft und den Massenmedien existieren also gewisse Strukturanalogien. Beide richten sich an eine Öffentlichkeit, wobei Wissenschaftler in ihren Publikationsmedien die Erfordernisse von Allgemeinverständlichkeit und Unterhaltsamkeit, die für die Massenmedien gelten, vernachlässigen können. Noch jedenfalls, denn die Frage ist, ob sie sich den journalistischen Gepflogenheiten annähern, wie es Peter Weingarts These von der "Medialisierung der Wissenschaft" suggeriert.

Als analytisches Konzept beschreibt Medialisierung einerseits die zunehmende Beobachtung der Wissenschaft durch die Massenmedien, andererseits eine zunehmende Orientierung der Wissenschaft an massenmedialen Erfolgskriterien. In dieser Diagnose einer wechselseitigen Durchdringung massenmedialer und wissenschaftlicher Kommunikationsformen wird jedoch selten reflektiert, dass zwar in beiden Bereichen der Neuheitswert von Aussagen eine prominente Rolle spielt, dies jedoch in strukturell unterschiedlicher Weise. Für die massenmediale Berichterstattung eignen sich bekanntermaßen Forschungserfolge, die mit gängigen Erwartungen brechen, revolutionäre Ideen transportieren oder zukünftige Anwendungen erlauben, besser als die Beobachtung von Regelmäßigkeiten im wissenschaftlichen Forschungsalltag. Was für die Massenmedien als relevante Neuigkeit aus der Wissenschaft gilt, wird über Nachrichtenfaktoren (Alltagsnähe, Konflikt, Personalisierung etc.) entschieden, während in der Wissenschaft neue Vorschläge relevant werden, wenn sie altes Wissen ersetzen können.

Blickt man in die Publikationsrichtlinien wissenschaftlicher Zeitschriften, so ist das Neuheitspostulat eines der notwendigen Akzeptanzkriterien eingereichter Manuskripte. Neuheit heißt hier zweierlei. Formal: Ein Artikel darf nicht bereits an anderer Stelle veröffentlicht sein. Inhaltlich: Er muss neues Wissen vorstellen. Die Prüfung der Neuheit durch Gutachter kann sich dabei auf sehr Unterschiedliches beziehen: auf die Neuheit eines Phänomens, von dessen Existenz zuvor nichts bekannt war, auf die Neuheit der Interpretation von Phänomenen, die als solche nicht neu sind, aber bislang unzureichend oder unsachgemäß erforscht wurden, oder auf die Neuheit von Erfindungen als Techniken der Wissensproduktion.

Auch wenn die Semantik des Neuen in wissenschaftlichen Texten offenbar weit verbreitet ist, ist oft nicht sofort ersichtlich, ob es sich dabei stets um neue Erkenntnisse handelt oder ob der Begriff nur strategisch verwendet wird, um Aufmerksamkeit für bestimmte Themen, Thesen oder Personen zu erlangen. Bei den Spitzenzeitschriften im naturwissenschaftlichen Bereich, "Science" und "Nature", ist jedenfalls eine Annäherung an journalistische Maßstäbe zu beobachten. Sie legen die Messlatte für Neuheit höher als der Durchschnitt der Fachzeitschriften. In den Gutachterhinweisen von "Science" etwa heißt es: "Research articles should report a major breakthrough in a particular field."

Wie aber lässt sich die Publikationswürdigkeit von Manuskripten auf Basis dieses Kriteriums prüfen? Traditionell gilt das wissenschaftliche Gutachtersystem als konservativ und innovationshemmend. Wenn "Science" und "Nature" explizit die Publikation bahnbrechender oder hochinnovativer Erkenntnisse fördern, zielen sie darauf ab, den normalwissenschaftlichen Konservativismus zu durchbrechen. Die Auswirkungen auf die Publikationspraxis sind beachtlich: In der gegenwärtigen Evaluationskultur wird die Publikation in einer hochrangigen Zeitschrift als entscheidender Karrieremotor wahrgenommen, Autoren antizipieren die Erwartungen der Herausgeber, was nicht selten zu einer Überzeichnung der Ergebnisse führt. Je revolutionärer die Ergebnisse ausfallen, desto größer ist aus Sicht der Autoren die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Text in einer hoch selektiven Zeitschrift angenommen wird und Resonanz innerhalb und außerhalb der Wissenschaft findet. Damit steigt allerdings ebenso die Wahrscheinlichkeit, dass Ergebnisse öffentlich angezweifelt werden - was bis hin zum Widerruf einzelner Artikel führen kann und Reputationsverluste nach sich zieht. Tatsächlich sind Widerrufe in der Forschungsliteratur in der letzten Dekade exponentiell gestiegen, bleiben gemessen am Veröffentlichungsvolumen aber immer noch selten.

Beim wissenschaftlichen Artikel handelt es sich formal um neues, wenn auch vorläufiges, also epistemisch unsicheres Wissen. Ludwik Fleck notierte bereits 1935 in diesem Zusammenhang, dass der Zeitschriftenwissenschaft etwas Persönliches anhaftet, bevor es im positiven Fall als intersubjektiv geprüftes Wissen Eingang in den Fachkanon, das heißt die Handbuchwissenschaft findet, wo es gewissermaßen entpersonalisiert wird. Wird nun bereits die wissenschaftliche Erstinformation popularisiert, steigert das die Sichtbarkeit einzelner Autoren, die dann als "König des Klonens" oder als "Vater von Dolly" sofortige Berühmtheit erlangen. Prominenz kann wissenschaftliche Reputation jedoch nicht ersetzen.


Beschleunigung des Veröffentlichungsprozesses

Auch wissenschaftliche Zeitschriften konkurrieren mit ihrem Angebot an Neuheiten um Leser. Sie erleben seit der Umstellung auf elektronische Verbreitungstechnologie eine Beschleunigung, die die Qualitätssicherung vor neue Herausforderungen stellt. Für Autoren geht es bei der wissenschaftlichen Veröffentlichung darum, Prioritätsansprüche geltend zu machen, also dokumentiert zu sehen, der Erste gewesen zu sein. Das Motto, als Erster in Druck zu gehen, gilt allerdings nicht nur für Autoren, sondern auch für die Zeitschriften und ihre Verlage.

Wie weit der Wettlauf geht, soll ein Fall aus dem molekularbiologischen Feld illustrieren: Ein Forscherteam hatte Ergebnisse zu den genetischen Ursachen einer Form der Muskeldystrophie gleich mehreren konkurrierenden Zeitschriften wie "Cell", "Science" und "Nature" angeboten, jeweils mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Da die verantwortlichen Redakteure von den Publikationsbestrebungen der Konkurrenz frühzeitig Notiz nahmen, sahen sie sich gezwungen, den entsprechenden Originalartikel schnellstmöglich im eigenen Heft zu veröffentlichen. Das Tempo der Arbeit von Gutachtern und Redakteuren wurde enorm gesteigert. An der Spitze befand sich am Ende das Journal "Cell", das lediglich 16 Tage für Begutachtung und Veröffentlichung benötigte. Der damalige Chefredakteur von "Nature", John Maddox, kommentierte spöttisch: "At this rate, bystanders will suppose, delays for research articles on myotonic dystrophy will be down to zero a few weeks from now." Den Autoren unterstellte Maddox, es gehe ihnen lediglich darum, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen: "There is nothing wrong with that either, except the hint of a suspicion that people out to maximize the publicity attending discovery have taken to playing tricks on journals."


Zeitschriften als Nachrichtenlieferanten

1969 entschied Franz J. Ingelfinger in seiner Position als Chefredakteur des "New England Journal of Medicine", keinen wissenschaftlichen Artikel mehr zur Publikation anzunehmen, dessen Inhalt bereits in einer anderen Zeitschrift oder den Medien besprochen worden war. Ingelfinger verfolgte damit zwei Ziele: Er wollte zum einen den Nachrichtenwert des Journals durch Exklusiv-Informationen erhöhen und zweitens eine falsche Berichterstattung über gesellschaftlich relevante medizinische Themen minimieren. Diesem Vorschlag liegt ein lineares Modell zugrunde: Die mediale Berichterstattung folgt der (begutachteten) wissenschaftlichen Publikation - und nicht umgekehrt. Die als Ingelfinger Rule bezeichnete Verfahrensrichtlinie wurde von der Mehrheit wissenschaftlicher Journale auch außerhalb der medizinischen Forschung übernommen und in ihren Publikationsrichtlinien verankert.

Sie korrespondiert mit der Embargo-Politik der Journale, die das Verhältnis der Zeitschriften zu Journalisten regelt. Woche für Woche werden registrierte Journalisten und mittlerweile auch Blogger mit Hintergrundinformationen über die neuesten Ergebnisse der kommenden Heftausgabe von einigen reichweitenstarken Zeitschriften versorgt, die als Quelle des Wissenschaftsjournalismus gelten. Mit Sperrfrist versehene News strukturieren die öffentliche Wahrnehmung aktueller Forschung: Im Wochenrhythmus melden zeitschrifteneigene Pressestellen Nachrichten aus der Forschung, die damit anderen seriellen Ereignissen wie Börsennachrichten oder Bundesliga-Ergebnissen ähneln und journalistisch entsprechend aufgegriffen werden.

Eingängige Thesen wie "Gen für Krankheit XY identifiziert", "Deutsche Forscher erzeugen die konfliktfreie Stammzelle" oder "Fossilfund: Missing Link zwischen Affen und Menschen entdeckt" erreichen weltweite Schlagzeilen, lanciert über die Pressemitteilungen von Zeitschriften oder Forschungseinrichtungen. Die dezidierte Kennzeichnung neuen, spektakulären Wissens schafft Aufmerksamkeit innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Hier passt sich die Wissenschaft an massenmediale Inszenierungslogiken an. Oft genug aber kommt es vor, dass so publizierte Nachrichten wissenschaftlich nicht standhalten. Im Einzelfall werden die entsprechenden Publikationen nachträglich korrigiert oder gar zurückgezogen. Was bleibt, ist der ursprüngliche Paukenschlag, mit dem Einfluss auf Regulierungsfragen oder finanzielle Zuwendungen genommen wird.

Es sind gerade die spektakulären Durchbrüche, die mit bestehenden wissenschaftlichen Erwartungen brechen, die bevorzugt in den Massenmedien verhandelt werden. Die Entdeckung eines Bakteriums, das offenbar Arsen statt Phosphor in seiner DNA bindet und von der NASA als Indiz für außerirdisches Leben gewertet wurde, brachte der Erstautorin des entsprechenden "Science"-Papers Felisa Wolfe-Simon zwar einen Eintrag in die Jahresliste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt des US-Nachrichtenmagazins Time ein, ihre These aber wurde von der Community recht schnell entzaubert. Ähnlich gefeiert wurden anfangs die überraschenden Klonierungserfolge aus Südkorea in den Jahren 2004 und 2005, die mit medizinischen Heilsversprechen verknüpft waren. Als neue Faktenlage prägten die Ergebnisse Regulierungsentscheidungen, zum Beispiel in der Frage eines weltweiten Klonverbots beim Menschen. Beide Artikel des "Königs des Klonens" Hwang Woo Suk wurden zurückgezogen, doch erst nachdem die UN-Verhandlungen, ein einheitliches Klonverbot zu verabschieden, gescheitert waren und die kalifornische Wahlbevölkerung für die Proposition 71 gestimmt hatte, die die Einrichtung eines Förderprogramms in Höhe von drei Milliarden Dollar für die Arbeit an embryonalen Stammzellen inklusive des therapeutischen Klonens vorsah.

Wissenschaft ist auf gesellschaftliche Unterstützung dringender denn je angewiesen, und ein Weg, für sie zu werben, führt über die Massenmedien. Werden spektakuläre Thesen später wieder zurückgenommen, bedeutet dies nicht zuletzt auch Legitimationsverluste für politische Entscheidungen, die auf diesen Thesen beruhen.

Die epistemische Unsicherheit, die wissenschaftlichen Neuheiten strukturell anhaftet, steht im Widerspruch zur Praxis der Wissenschafts-PR, die auf nachrichtenrelevante Forschungsergebnisse baut, um Sichtbarkeitseffekte für die beteiligten Organisationen zu erzielen. Im Zuge der allgemeinen Beschleunigung, die als Anpassung an massenmediale Temporalstrukturen gedeutet werden kann, wird der zeitliche Puffer vor einer wissenschaftlichen Veröffentlichung zulasten sorgfältiger Prüfungen begrenzt. Neues muss einerseits kontinuierlich geliefert werden und andererseits mit besonderer Relevanz konnotiert sein, um in der "Ökonomie der Aufmerksamkeit" nicht unterzugehen. Wissenschaftliche Erkenntnisproduktion ist jedoch ein langwieriger Prozess, in dem Erfolg nicht vorhersehbar und Relevanz sich erst im Nachhinein erschließt. Medialisierung bedeutet demnach, dass wissenschaftliche Relevanzkriterien mit massenmedialen Darstellungsregeln kollidieren.

Mit der Intensität der öffentlichen Beobachtung steigt zudem die Wahrscheinlichkeit wie auch die Geschwindigkeit, mit der Fehler und Ungereimtheiten in der wissenschaftlichen Literatur entdeckt und publik gemacht werden. Medialisierung beschleunigt also auch die wissenschaftliche Selbstkorrektur.


Martina Franzen ist seit Juni 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik. Die Soziologin forscht über das Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit und widmet sich aktuell dem neuen Transparenzgebot der Wissenschaft.
martina.franzen@wzb.eu


Literatur

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 [1935].

Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München: Carl Hanser Verlag 1998.

Franzen, Martina: Breaking News. Wissenschaftliche Zeitschriften im Kampf um Aufmerksamkeit. Baden-Baden: Nomos 2011.

Franzen, Martina: "Medialisierungstendenzen im wissenschaftlichen Publikationssystem". In: Peter Weingart/Patricia Schulz (Hg.): Wissen - Nachricht - Sensation: Zur Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien. Weilerswist: Velbrück 2014, S. 19-45.

Jasienski, Michal: "It's Incredible How Often We're Surprised by Findings". In: Nature, 2006, Vol. 440, pp. 1112.

Weingart, Peter: "The Lure of the Mass Media and Its Repercussions on Science". In: Simone Rödder/Martina Franzen/Peter Weingart (Hg.): The Sciences' Media Connection - Public Communication and Its Repercussions. Sociology of the Sciences Yearbook 28. Dordrecht u. a.: Springer 2012, S. 17-32.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 25-28
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2014