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BERICHT/183: China - Jenseits vom Mao-Kult, unabhängige Filmszene schafft sich eigene Nische (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. September 2010

China: Jenseits vom Mao-Kult - Unabhängige Filmszene schafft sich eigene Nische

Von Mitch Moxley


Peking, 7. September (IPS) - In China lassen vor allem Hollywood-Blockbuster und staatlich finanzierte Historienschinken die Kinokassen klingeln. Vom Massenpublikum weitgehend unbemerkt hat sich in der Volksrepublik aber auch eine lebendige unabhängige Filmszene entwickelt.

Die Independent-Filme, in denen es vor allem um das Alltagsleben der Chinesen geht, werden nicht über große Vertriebskanäle verbreitet. Sie laufen in einigen wenigen unabhängigen Kinos oder auf Festivals im In- und Ausland. Der Kreis der Zuschauer hält sich daher in Grenzen. Kenner der Szene sind dennoch zufrieden.

"Obwohl diese Streifen in den meisten Kinos nicht gezeigt werden dürfen, kommt der unabhängige Film in China gut voran", sagt Cui Weiping, der an der Filmakademie in Peking lehrt. "An Universitäten und auf Kunstausstellungen wird viel darüber diskutiert. Der Indie-Film ist ein inzwischen ein wichtiger Teil der chinesischen Kinoindustrie."

Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua werden die Filmtheater bis Ende dieses Jahres umgerechnet schätzungsweise rund 1,5 Milliarden US-Dollar einnehmen. Die größten Magneten sind Hollywood-Filme, von denen jedes Jahr 20 in dem Land anlaufen dürfen. James Camerons 3D-Erfolg 'Avatar' spülte in China in diesem Jahr bereits etwa 204 Millionen Dollar in die Kinokassen.

Auch die reichlich bezuschusste offizielle Kinobranche boomt. Der Film 'Nachbeben' über das schwere Erdbeben 1976 in Tangshen ist die bislang erfolgreichste chinesische Eigenproduktion. Bis Anfang August wurden Eintrittskarten im Wert von 79 Millionen Dollar verkauft. Damit hat 'Nachbeben' den 2009 gedrehten Historienfilm 'Die Gründung einer Republik' überholt, der von dem Aufstieg Mao Zedongs handelt und 62 Millionen Dollar einbrachte.


Drittgrößtes Filmland nach Indien und USA

Die Zahl der in der Volksrepublik produzierten Filme ist beachtlich. Wie der Leiter der chinesischen Filmbehörde, Tong Gang, Xinhua berichtet, wurden in der Volksrepublik im ersten Halbjahr dieses Jahres 288 Filme gedreht. Bis Jahresende sollen weitere 212 folgen. Damit wird China nach Indien und den USA das Land mit der weltweit drittgrößten Filmproduktion sein. Nur wenige Streifen schaffen es aber tatsächlich in die Kinos des Landes. Die meisten werden von der staatlichen 'China Film Group' finanziert.

Die Tatsache, dass immer mehr 'Big Budget'-Filme in den Multiplex-Kinos vorgeführt würden, sei für die Independent-Szene nicht unbedingt von Nachteil, erklärt Wu Jing, die Marketing-Chefin des unabhängigen Kinos 'Broadway Cinematheque' in Peking. "Je mehr Menschen sich 'Big Budget'-Filme ansehen, desto größer wird auch das Interesse an Independent-Produktionen."

Die Kinokette 'Broadway Cinematheque' wurde vor 14 Jahren von Bill Kong gegründet, der unter anderem Ang Lees mit mehreren Oscars ausgezeichneten Film 'Tiger and Dragon' produzierte. Die Dependance in Peking öffnete im vergangenen Dezember ihre Pforten und präsentiert verschiedene Festivals, wie kürzlich eine Retrospektive über Charlie Chaplin. Außerdem finden dort Vorträge statt. Besucher können auch eine Bibliothek nutzen.

Mehr als die Hälfte des Programms von 'Broadway Cinematheque' besteht aus einheimischen Produktionen. Auch wenn sie nicht in den großen kommerziellen Lichtspielhäusern laufen, müssen sie wie alle im Land gezeigten Filme vorher die strenge Kontrolle der Zensurbehörden passieren.

Trotz der staatlichen Aufsicht ist die Bandbreite an Filmfestivals groß. In Peking, Schanghai, Nanjing, Guangzhou und Chongqing werden regelmäßig Independent- und Dokumentarfilme vorgeführt. Einige dieser Filme gelangen auch ins Ausland.

Das unabhängige Kino entstand in China in den achtziger Jahren, als Filmemacher erstmals auf eigene Faust ohne staatliche Förderung drehten. Bereits damals wurden einige dieser Filme auf internationalen Festivals gezeigt. Seit die Regierung in den neunziger Jahren die Vertriebskontrollen lockerte, arbeiten Produzenten und Regisseure mit privaten Verleihfirmen zusammen.


Zensur bleibt eine Hürde

Wu ist der Meinung, dass das Zensursystem in ihrem Land unbedingt reformiert werden sollte. Wahrscheinlich ist dies allerdings nicht. Die Marketing-Managerin treibt zudem die Sorge um, dass sich junge Regisseure wohl eher an teuren Filmen für das große kommerzielle Kino versuchen wollten. Der geschwächte internationale Filmmarkt biete wenige Anreize für kritische Produktionen, die nicht der offiziellen Linie der Regierung entsprächen, bedauerte sie.

Manche jungen chinesischen Filmemacher sind allerdings aus dem Ausland zurückgekehrt, weil sie in China bessere Chancen erkennen. Einer von ihnen ist der 24-jährige Qiao Li, der im australischen Melbourne aufwuchs und sich in der Volksrepublik nicht gemaßregelt fühlt. Seit 2006 lebt er in Peking, wo er als Regisseur und Drehbuchautor an dem Film 'Ring Roads' mitwirkte. "China ist für mich ein Land mit großem Potenzial", sagt er. "Die Industrie boomt, und ich habe als Filmemacher die Freiheit, das zu machen, was ich will." (Ende/IPS/ck/2010)


Links:
http://www.thebeijinger.com/blog/Broadway-Cinematheque-MOMA-BC-MOMA
http://www.bfa.edu.cn/eng/EIndex.htm
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=52632

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2010