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Z/259: Frankreich - Institutionelle Krise, zwischen Kontinuität und Polarisierungstendenzen


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 117 - März 2019

Die institutionelle Krise in Frankreich - Zwischen Kontinuität und Polarisierungstendenzen

von Sebastian Chwala


Seit November des vergangenen Jahres erlebt Frankreich die intensivste Protestwelle nach dem Amtsantritt des Präsidenten Emmanuel Macron. Die Protestbewegung der "Gelbwesten" folgte auf die ebenfalls massiven, aber erfolglosen, Proteste von Gewerkschaften und Studierenden im Frühjahr des Jahres 2018. Bereits im Herbst 2017 hatte es eine kurze Protestperiode der Gewerkschaften gegen die Arbeitsmarktpolitik des jungen Präsidenten Macron gegeben. Im Unterschied zu den vorangegangenen Protestwellen können sich die "Gelbwesten", glaubt man den Meinungsumfragen, aber auf einen breiten gesellschaftlichen Rückhalt berufen.

Grund dafür sind sicherlich die nicht explizit sichtbare politische Verortung der Bewegung und deren dezentrale Strukturen. Unter dem Banner der "Gelbwesten" versammeln sich Angehörige verschiedenster gesellschaftlicher Milieus, die gegen die marktliberale und als unsozial empfundene Politik Emmanuel Macrons und seiner Regierung protestieren wollen.

Von den Medien und den herrschenden Eliten im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2017 mit viel Vorschusslorbeeren bedacht, hatte sich Macron selbst als Außenseiter und Gegner der politischen Klasse in Frankreich inszeniert und ein Novum in der Geschichte der V. Republik erreicht. Zum ersten Mal wurde kein Vertreter der etablierten politischen Parteien in das höchste Staatsamt gewählt. Gleichzeitig hatte sich 2017 aber auch schon in Gestalt des Erfolges von Jean-Luc Mélenchon und der Bewegung "La France insoumise" (LFI) (deutsch: "Das aufständische Frankreich"), der immerhin 19,58 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen konnte, die kommende Polarisierung des politischen Feldes abgezeichnet.

Die Wahlen 2017 im Überblick - ein Misstrauensvotum gegen das "System"

Die Erfolge der Bewegungen "La République en Marche" (LREM) (deutsch: Die Republik in Bewegung), an deren Spitze Emmanuel Macron stand, und Mélenchons LFI belegen, dass das Vertrauen der Franzosen in das politische System und die dominierenden Parteien weitgehend zerstört ist. So stimmten in einer Umfrage von Transparency International 54 Prozent der befragten Franzosen der Aussage zu, dass die politischen Eliten kommt seien. In einer Umfrage des französischen Fernsehens unter jungen Menschen im Dezember 2016 waren sogar 99 Prozent der Befragten dieser Meinung. Dass das "Finanzkapital die Welt regiere" fand die Zustimmung von 93 Prozent der Befragten (Framont 2017: 6f.). Bemerkenswerterweise war Jean-Luc Mélenchon bei der Präsidentschaftswahl Frühjahr 2017 in dieser Altersgruppe am erfolgreichsten. Unter den Jungwähler_innen holte er im ersten Wahlgang über 30 Prozent der Stimmen (Cautrés 2017: 187). Zu besonderen Hochburgen des Kandidaten des "aufständigen Frankreichs" entwickelten sich dabei die gesellschaftlich und sozioprofessionell heterogen zusammengesetzten urbanen Stadtviertel der französischen Großstädte, die in den vorangegangenen Wahlen in erster Linie den Kandidaten der Sozialistischen Partei ihre Stimmen gegeben hatten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 stürzte der offizielle Kandidat der Sozialistischen Partei Benoît Hamon dieses Mal allerdings ab und erreichte nur noch 6,36 Prozent der im ersten Wahlgang abgegebenen Stimmen.

Doch nicht alle Stimmenverluste gingen auf Kosten Mélenchons. Je älter und höher der Bildungstitel und das Einkommen war, desto mehr stieg die Wahrscheinlichkeit, dass sich Wähler der Sozialisten für Emmanuel Macron entschieden (Strudel 2017: 213). Überhaupt entpuppte sich Macron in erster Linie als Kandidat des gutverdienenden "Bildungsbürgertums".

Dagegen punktete der Kandidat der traditionellen Rechten, Françcois Pillen in erster Linie bei Rentnern. Dies obwohl er am konsequentesten dafür eintrat, die sozialen Sicherungssysteme zu deregulieren. Marine Le Pen, Kandidatin des Front National (FN), zog schließlich mit 21,30 Prozent der Stimmen zwar in die Stichwahl ein, lag damit allerdings weit unter den eigenen Erwartungen. Schließlich hatte der Front National in der Vergangenheit zahlreiche Bürgermeisterwahlen gewonnen, hatte bei den Regionalwahlen 2015 beinahe zwei Regionalpräsidenten gestellt, Marine Le Pen und ihre Nichte Marion Maréchal-Le Pen.

Die einst führende Partei des bürgerlichen Lagers (die "Republikaner", LR) befindet sich seit der Wahlniederlage Francois Fillons im freien Fall. Nachdem der liberale Flügel nach dem Wahlsieg Macrons von diesem mit einigen Ministerposten bedacht worden war und in der Folge eine eigene Parlamentsfraktion bildete, rückt LR unter ihrem aktuellen Parteichef Laurent Wauquiez immer weiter nach rechts und versucht dem inzwischen in "Rassemblement National" (deutsch: Nationale Sammlungsbewegung) umbenannten einstigen FN Konkurrenz zu machen. Eine Strategie, die sich nicht auszahlt: Umfragen sehen LR inzwischen im einstelligen Bereich.

Macron und LREM - Kontinuität statt Neuaufbruch

So sehr die Existenz einer autonomen politischen Klasse, die über enge Beziehungen in den Mediensektor verfügen würde, in den politischen Diskursen der radikaleren Akteure innerhalb des politischen Spektrums an der Tagesordnung ist, zeigt sich doch spätestens seit dem Wahlsieg Macrons, dass die bürgerliche Klasse ziemlich deckungsgleich mit der politische Klasse geworden ist. Dies zeigt sich, wenn man die Zusammensetzung des im Juni 2017 neu gewählten französischen Parlaments betrachtet. Die Wahlen waren freilich von einer massiven Wahlenthaltung geprägt, die vielerorts über 50 Prozent betrug (Marcé/Chiche 2017: 301). Dies zeigte, dass die Distanz zur neuen von Macron geführten Administration von Anfang an groß war.

Dies dürfte mit dazu beigetragen haben, dass gut zwei Drittel der neu gewählten Abgeordneten der gesellschaftlichen Elite angehören. Zwar stieg der Frauenanteil durch die paritätisch zusammengesetzte LREM-Fraktion auf insgesamt 38 Prozent, doch gehören auch 60 Prozent der gewählten Frauen der Oberklasse an. Die Dominanz von LREM in der Nationalversammlung hat zur Folge, dass die größte Berufsgruppe inzwischen die Leitungskader aus der Privatwirtschaft ausmachen. An zweiter Stelle folgen die Unternehmer, meist Inhaber von Unternehmensberatungen oder Werbeagenturen. Dagegen machen Angehörige der Mittel- und Unterklassen nicht einmal mehr ein Drittel der Mitglieder der Nationalversammlung aus (Rouban 2017: 293 f.). Welch ein Unterschied zu 1945, als immerhin 98 Arbeiter der Nationalversammlung angehörten und die Kommunistische Partei Frankreich in den ersten Nachkriegskabinetten zahlreiche Ministerien besetzte (Framont 2017: 27f.).

Die Hoffnung mancher Beobachter auf eine Erneuerung des politischen Systems und eine Überwindung der autoritären V. Republik fand freilich nicht statt. Im Gegenteil, schon 2015 hatte Macron laut darüber sinniert, dass die französische Demokratie ohne König oder wenigstens einen politischen Führer im Stile de Gaulles Leerstellen schaffe, die es zu schließen gelte und im Mai 2018, als bereits hunderttausende gegen die Macron'schen "Reformen" auf die Straße gingen, bekannte er sich dazu, dass Macht vertikale Entscheidungsprozesse zur Folge haben müsse und er die Übung, jede Entscheidung beständig zu erklären, hasse (Mauduit 2018: 135 f.).

Seinen Wahlsieg vor dem Louvre, dem Symbol königlicher Macht, zu zelebrieren, sowie Staatsgäste im Schloss von Versailles zu empfangen, war ein weiterer Fingerzeig, dass sich Macron als starker und autoritärer Präsident präsentieren wollte und bewusst auf Distanz zum linken Republikanismus ging. Er setzte somit die Tradition des institutionalisierten Putsches fort, wie sie der von De Gaulle etablierten Präsidialverfassung der V. Republik zu eigen ist (Mauduit 2018: 131 f., 136).

Diese Missbilligung demokratischer Strukturen liegt nicht zuletzt daran, dass Macron als Absolvent der Eliteschule ENA (L'École nationale d'administration) zum kleinen Kreis jener Spitzenbeamten zählt, welche sämtlichen Führungspositionen in Staat, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft einnehmen. Die Absolventen dieser Elitehochschule sowie der ebenfalls immer wichtiger gewordenen Wirtschaftsuniversität HEC (École des hautes études commerciales de Paris) stammen fast vollständig aus der französischen Bourgeoisie, auch wenn sie sich selbst als gerne als Angehörige des "republikanischen Verdienstadels" darstellen.

Doch zeigt auch die Biographie von Emmanuel Macron, dass davon keine Rede sein kann. So stammt er aus einer Familie von Ärzten und Professoren. Dies ermöglichte es ihm bereits in seiner Jugend, prestigeträchtige Bildungsanstalten zu besuchen und entsprechende Diplome zu erlangen, die ihm den Eintritt in das Elitenschulsystem ermöglichten (Framont 2017: 58 f.). Diese Bildungstitel sind nicht in erster Linie Ausdruck wirklicher Fähigkeiten, vielmehr sollen sie den Eliten Legitimität verleihen. Aus dem produktionsmittelbesitzenden Bürgertum wird eine vermeintlich aufgeklärte Führungselite, die durch den Verweis auf die eigenen Kompetenzen den Anspruch auf die Führung des Gemeinwesens erhebt und damit einer vollständigen Demokratisierung von Staat und Wirtschaft einen Riegel vorschieben möchte.

Ziel der Absolvierung dieser Schulen ist nicht in erster Linie die Aneignung von Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern das Knüpfen von Kontakten. So unterstützen sich die Angehörigen der einzelnen Jahrgänge gegenseitig und bedenken die Kommilitonen mit gut dotierten und einflussreichen Positionen im Staat, aber auch der Privatwirtschaft. Man zieht sich also gegenseitig nach. Da zahlreiche Spitzenbeamten dieser "Technostruktur" die neoliberale Wende samt der Privatisierung eines Großteils der französischen Staatsunternehmen und Beteiligungen federführend begleiteten, machen sie heute auch einen bedeutenden Teil der Managementelite der französischen Konzerne aus und öffnen Türen für die jungen "Technokraten". Auf diese Weise bleiben Staat und Wirtschaft in Frankreich personell aufs engste verknüpft (Mauduit 2018: 85 ff.). Besonders Macron erhielt aus dem Umfeld der Eliten in seiner Wahlkampagne große Unterstützung, garantierte er doch weiterhin einen direkten Zugriff von Wirtschaftsinteressen auf den Staat, da er als ehemaliger Steuerinspektor und anschließender Investmentbanker, eine Tätigkeit, die ihn zum Millionär werden ließ, intime Kenntnisse der Steuerverwaltung als auch Kontakte zu den relevanten Akteuren des französischen Kapitalismus aufbauen konnte (Framont 2017: 143 ff.).

Der Niedergang der Sozialisten - Forderungen nach einer "progressiven Wertegesellschaft" anstelle von Klassenfragen wurden nicht goutiert

Der Einfluss der französischen Eliten macht sich in fast allen Parteien bemerkbar. Sowohl die Spitzen der französischen "Sozialisten" als auch die politische Rechte werden von Angehörigen der bürgerlichen "Technokratie" dominiert. Strategen der Sozialisten drangen daher bereits seit Jahren darauf, den Abschied von einer Politik zu nehmen, welche die Arbeiter bzw. die Volksklasse, jene große Gruppe, die sowohl Arbeiter als auch diesen kulturell nahestehenden Milieus der unteren Mittelklasse umfasst, in den Mittelpunkt stellen sollte. Diese wurden als privilegierte Modernisierungsverweigerer ("Insider") bezeichnet, die ökonomisch und kulturell aus der Zeit gefallen und an die radikale Rechte verloren wären. Sozialstaat und ökonomische Regulierungen sollten aufgehoben werden, um ausgegrenzte "moderne" Milieus, also (alleinerziehende) Frauen, Migranten und junge Menschen, kurz "urbane Milieus" in die Gesellschaft zu integrieren. Die Sozialistische Partei wollte so eine Stammwählerschaft an sich binden, die durch progressive gesellschaftliche Werte wie Demokratie und Multikulturalismus als "Lager der Solidarität", geprägt sein sollte, aber nicht mehr durch das Streben nach gesellschaftlicher Gleichheit (Amable/Palombarini 2017: 30ff.).

Dass die französischen Sozialisten in der Vergangenheit insgesamt kaum überdurchschnittlich von "Arbeitern" gewählt wurden, hat einerseits mit diesem verächtlichen Umgang mit der sozialen Frage und der Abwertung nicht akademischer Milieus aus der Unterklasse durch die Angehörigen des Bürgertums innerhalb der Sozialisten zu tun, ist aber auch das Ergebnis falscher Schlussfolgerungen. Die modernen Konflikte allzu schnell nur noch kulturell und identitär zu verorten entspricht nicht den wirklichen Konfliktlinien, die nach wie vor ökonomischer Natur sind (Amable/Palombarini 2017: 25ff.). Junge französische Akademiker haben sich 2016 nicht deshalb überdurchschnittlich an den "Nuit debout"-Protesten beteiligt, weil sie nach einer neuen politischen Kultur suchten, sondern weil sie überdurchschnittlich von Erwerbslosigkeit und Prekarität betroffen waren und ein stärkeres Eingreifen des Staates in wirtschaftliche Prozesse und nicht deren weitere Entgrenzung forderten. Schließlich entwickelte sich die "Nuit Debout" Bewegung damals aus einer Protestbewegung gegen eine Lockerung des Kündigungsschutzes heraus, die vom damaligen Wirtschafts- und Finanzminister Macron vorangetrieben worden war (Studienkollektiv 2017). Auch eine Studie aus dem letzten Jahr zeigt, dass Akademiker aktuell vor großen Schwierigkeiten stehen, auf dem französischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich aus dieser Erfahrung heraus kritisches Bewusstsein entwickeln kann. Dagegen gelingt dies Facharbeitern, die über akademische Zusatzqualifikationen verfügen, mitunter recht schnell. Die eigene Zukunft wird von diesen Akteuren positiv beurteilt (Delés 2018). Die Identifikation mit den Zielen der radikalen Rechten, die ein nationales Produktionsregime zur Rettung der französischen Volkswirtschaft und der französischen kleinen und mittleren Unternehmen versprachen, in denen viele Arbeitsplätze für hochqualifizierte Facharbeiter entstünden, erleichterten die Annäherung dieser Arbeitergruppen und der radikalen Rechten in Gestalt einer Marine Le Pen (Girard 2017). Es sollte daher nicht verwundern, dass die Hochburgen der damals noch als Front National antretenden Partei Marine Le Pens 2017 in den urbanen Räumen vor allen Dingen Stadtviertel waren, die sich durch eher niedrige Erwerbslosigkeit und Immobilieneigentum auszeichneten, wie an den Beispielen Lille und Nantes deutlich sichtbar ist (Batardy/Riviére 2017; Desage/Haute 2017).

Der "aufständige" Jean-Luc Mélenchon - "volkssouverän" zum Erfolg?

Der Wahlerfolg Jean-Luc Mélenchons, der zwar nicht, wie zuweilen auch in Deutschland angenommen wird, auf eine überdurchschnittlich hohe Unterstützung aus Milieus formal gering qualifizierter Lohnarbeiter zurückzuführen ist, sondern in stärkerem Maße Akademiker ansprach, darf deshalb trotzdem nicht als begrenzt eingeschätzt werden: Mélenchon kritisierte als einziger die Vermachtung von Medien und Politik und verwies auf deren Klassencharakter. Gleichzeitig nahm er allerdings davon Abstand, allzu sehr Bezug zu nehmen auf klassische linke Symbolik und Rhetorik. Jean-Luc Mélenchon versuchte dagegen, die nationale Frage von links zu besetzen. Im Mittelpunkt seiner Wahlkampagne stand die Idee der Rückgewinnung der "Volkssouveränität".

"La France insoumise" wurde zwar formal als Partei gegründet, kennt aber keine formelle Mitgliedschaft, sondern ist für alle Menschen offen, die sich zu den programmatischen Texten der Bewegung bekennen. Ein Großteil der Entscheidungen wird über eine Internetplattform gefällt, allerdings gibt es auch Tagungswochenenden, deren Teilnehmer per Los bestimmt werden. Durch den Mangel an formalisierten Strukturen wird aber auch einer hierarchischen Struktur Vorschub geleistet. Eine kleine Führungsgruppe lenkt die grundsätzliche Ausrichtung, während die Basis und selbst die mittlere Ebene wenig bis keinen Einfluss auf die Debatten haben.

Neben einer radikalen Umverteilungspolitik, in der auch Raum gelassen wurde für die Überführung privaten Eigentums in Belegschaftshand, stellt das "Aufständige Frankreich" die Demokratiefrage. Soziale Reformen waren für LFI nur möglich, wenn nicht nur alle gesellschaftlichen Gruppen über die Zukunft des Landes mitentscheiden können, sondern auch das Präsidialregime der V. Republik überwunden werde. Deshalb forderte LFI eine verfassungsgebende Versammlung, deren Mitglieder zum Teil durch Losentscheid bestimmt werden sollten und welche die Verfassung einer VI. Republik ausarbeiten sollte.

Auf das starke Wahlergebnis im April des Jahres 2017 folgte allerdings aufgrund der starken Demobilisierung der eigenen Wähler und des strikten Mehrheitswahlsystems bei den Parlamentswahlen im Juni ein deutlich schlechteste Ergebnis. LFI konnte nur 17 von 577 Sitzen erreichen. Versuche, in der Folge im Rahmen von Nachwahlen weitere Mandate hinzuzugewinnen, scheiterten. Strategische Differenzen darüber, ob im Rahmen des Ringens um Wähler der radikalen Rechten eine kritischere Position im Umgang mit der Migrationsfrage und den islamischen Glaubensgemeinschaften eingeschlagen werden sollte, führten zum Verlust von Aktiven, da LFI unter dem Einfluss Mélenchons zwar nicht für eine Politik der "offenen Grenzen" für Arbeitsmigration steht, allerdings eine bedingungslose Aufnahme von Klima- und Kriegsflüchtlingen fordert. Weiterhin unklar ist auch das Verhältnis zur kommunistischen Partei, deren integratives Verhalten in das bestehende Institutionensystem von LFI abgelehnt wird.

Auch kam es zu Unmutsäußerungen über die Zusammenstellung der Wahlliste für die Eurowahlen in kommenden Mai. LFI wurde von Bewerbern, die nicht in die Wahlliste aufgenommen wurden, vorgeworfen, auf intransparente Weise Entscheidungen gefällt und Mitglieder der einen relevanten Teil der Führungsmitglieder von LFI stellenden "Parti de gauche" (deutsch: Linkspartei") bei der Kandidatenauswahl bevorzugt zu haben. Programmatisch knüpft LFI an das Präsidentschaftswahlprogramm von 2017 an und hat die Europäische Linkspartei verlassen. Ob das neu gegründete Bündnis "Maintenant le peuple" allerdings nach den Europawahlen eine eigenständige Rolle spielen wird bleibt abzuwarten, schließlich haben die meisten Partner von LFI ihre Bindung an die Europäische Linkspartei bekräftigt.

Wer sind die "Gelbwesten"?

Die Tatsache, dass der staatliche Repressionsapparat relativ schnell massiv gegen die "Gelbwesten" vorging und sich daran machte, Demonstrationen zu unterbinden und besetzte Kreisverkehre zu räumen, zeigte, dass die Proteste in den Augen von Staatspräsident Macron und der französischen Regierung eine neue und andere Qualität besaßen als die Proteste von Studierenden und Gewerkschaftern gegen die neoliberalen Reformpolitiken seit der Amtszeit von Macrons Amtsvorgänger Francois Hollande, die Macron aber als Wirtschaftsminister bereits maßgeblich beeinflusst hatte. Bereits im Januar dieses Jahres, kaum zwei Monate nach Beginn der Proteste, waren bereits mehr als 1000 Verletzte, darunter mehrere dutzend Schwerverletzte, zu beklagen. "Die Zahl der Verhafteten stieg auf ähnliche Werte an (Cavelier 2019).

Die Befürchtungen, diese Bewegung könnte sich ausweiten, waren berechtigt. Schließlich unterstützt eine Mehrheit der Franzosen laut Umfragen die "Gelbwesten". Dies dürfte dadurch begründet sein, dass ein Großteil der Aktivisten entweder Arbeiter oder Angestellter war und über ein Einkommen verfügte, dass sich im Bereich des gesellschaftlichen Durchschnitts bewegte. Nicht umsonst verorteten Soziologen die "Gelbwesten" in der unteren Mittelklasse. Anders als man es ursprünglich erwartet hatte, schließlich war der Auslöser der "Gelbwesten"-Bewegung die Ablehnung einer Erhöhung der Steuern auf Benzin und Diesel gewesen, ein traditionell rechtes Motiv, um auf die Straße zu gehen, verorteten sich die "Gelbwesten" den Daten einer ersten umfassenderen Studie zufolge aber eher im linken politischen Spektrum (Bedock u.a 2018).[1]

Die Ablehnung der Erhöhung der Steuern auf Kraftstoffe liegt weniger in der in der Ablehnung von Steuern und Bürokratie an sich begründet, sondern daran, dass die "Gelbwesten" zu großen Teilen aus peripheren und nicht urbanen Regionen stammen. Hier ist die Nutzung des Pkw unerlässlich, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. Ein Großteil der Fertigungsstätten der französischen Industriebetriebe, aber auch Logistikunternehmen haben heute ihre Standorte außerhalb der urbanen Zentren. Die Regionen an den Stadträndern und im ländlichen Raum weisen somit eine hohe Konzentration von unterdurchschnittlich qualifizierten Arbeitskräften auf (Bruneau u.a. 2018).

Diese empirischen Befunde stehen im Einklang mit einem ersten Forderungskatalog, der über die sozialen Medien verbreitet wurde, in dem eine soziale Wende und eine Umverteilungspolitik von Vermögen gefordert wird. Ganz zentral für die "Gelbwesten" war aber die Forderung nach einer deutlichen Ausweitung von Volksbefragungen, um eine Demokratisierung des französischen Präsidialsystems zu erreichen. Das unter "Gelbwesten" populäre Konzept sieht vor, dass per Referendum Gesetzte verabschiedet und abgelehnt werden können sollen. Ebenso sollen Verfassungsänderungen möglich werden und Politiker abberufen werden können. Die Sammlung von 700.000 Unterschriften soll für die Durchführung eines Referendums notwendig sein.

Fazit

Frankreichs Parteiensystem befindet sich in der Auflösung. Die traditionellen Links- und Rechtsparteien dürften bei der Europawahl kaum noch zweistellige Stimmenanteile erreichen.

Doch von einem neuen hegemonialen Block kann keine Rolle sein. Da alle siegreichen Präsidentschaftskandidaten der letzten zwanzig Jahre sich zwar als Kämpfer gegen das Establishment verkauften, aber selbst Produkte der gesellschaftlichen Eliten waren und die immer weiter wachsenden ökonomischen Verwerfungen aus Eigeninteresse weiter verschärften, können Bewegungen wie die "Gelbwesten", die offen das bestehenden Institutionensystem ablehnen, hohe Zustimmungsraten generieren und Staatspräsident sowie Regierung in die Defensive drängen. Allerdings profitiert davon noch nicht in erster Linie die Linke, da konsistent anti-neoliberale oder sogar gesellschaftlich transformatorische Ideen erst ins Bewusstsein vordringen müssen.


[1] Vgl. differenzierend dazu die Analyse des "Collectif quantité critique" in diesem Heft [Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 117, März 2019]


Literatur

Amable, Bruno/Palombarini, Stefano (2017): L'illusion du bloc bourgeoise. Alliance sociales et avenir du modéle française; Paris

Batardy, Christophe/Riviére, Jean (2017): Nantes, un bastion socialiste partagé entre les votes Macron et Mélenchon;
https://www.metropolitiques.eu/Nantes-un-bastion-socialiste.html

Bedock, Camille/de Raymond, Antoine Bernard/Della Sudda, Magali/Grémion, Théo/Reungoat, Emmanuelle/Schnatterer, Tinette (2018): "Gilets jaunes": une enquête pionniére sur la "révolte des revenus modestes"
https://www.lemonde.fr/idees/article/2018/12/11/gilets-jaunes-une-enquete-pionniere-sur-la-revolte-des-revenus-modestes_5395562_3232.html

Bruneau, Ivan/Mischi, Julian/Renahy, Nicolas (2018): Les Gilets Jaunes en campagne une ruralité politique;
https://aoc.media/analyse/2018/12/13/gilets-jaunes-campagne-ruralite-politique/

Cavelier, Jeanne (2019): Violences policiéres : "On est dans le mensonge d'Etat;
https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/01/16/violences-policieres-onest-dans-le-mensonge-d-etat_5409824_3224.html?xtmc=&xtcr=1

Cautrés, Bruno (2017): Mélenchon, "vainquer caché" de la présidentielle? In: Petrineau, Pascal (Hrsg): Le vote disruptive; Paris

Collectif d'enquête (2017): Declassement sectoriel et rassemblement public. Éléments de sociographie de "Nuit Debout" place de la République In: Revue francaise de science politique 2017/4.

Delés, Romain (2018): Quand on n'a "que" le diplôme, Paris

Desage, Fabien/Haute, Tristan (2017): Lille: quand l'effondrement du PS ravive le vote de classe;
https://www.metropolitiques.eu/Lille-quand-l-effondrement-du-PS.html

Framont, Nicolas (2017): Les candidats du systéme. Sociologie du conflit d'interêts en politique; Lormont

Girard, Violaine (2017): Le vote FN au village. Trajectoires des ménages populaires du périurbain; Vulaines-sur-Seines

Marcé, Carine/Chice, Jean (2017): Les législatives, une dynamique présidentielle confortée? In: Perrineau, Pascal (Hrsg.); Paris

Mauduit, Laurent (2018): La caste. Enquête sur cette fonction publique qui pris le pouvoir; Paris

Rouban, Luc (2017): De la présidentielle aux législatives, les mirages du renouvellement In: Perrineau, Pascal (Hrsg.): Le vote disruptive; Paris

Strudel, Sylvie (2017): Emmanuel Macron: un oxymore politique? In: Perrineau, Pascal (Hrsg.): Le vote disruptive; Paris

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 117, März 2019, Seite 54 - 62
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
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Z. erscheint vierteljährlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2019

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