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Z/151: Jugendproteste und Sozialrevolten - zwischen Forderungen und Verzweiflung


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 88 - Dezember 2011

Jugendproteste und Sozialrevolten - zwischen Forderungen und Verzweiflung

Von Michael Klundt


Die Krise des Casino-Kapitalismus und deren politische Regulation trifft die Jugend der Welt besonders hart und beschneidet viele ihrer Zukunftsperspektiven. Dass die Hälfte aller Minderjährigen weltweit in bitterer Armut lebt, ist keine Neuigkeit.(1) Dass einige von ihnen sich dagegen wehren, auch nicht, sondern eine Frage öffentlicher Wahrnehmung. Doch seit einiger Zeit und wahrscheinlich verbessert durch technologische Möglichkeiten scheint die Welle der Empörung der Jugendlichen auf praktisch allen Kontinenten nicht abzureißen. Die Bedingungen und Praxen der Jugendproteste weltweit sind nicht einfach auf einen Nenner zu bringen. Neben der vielleicht gemeinsamen Perspektivlosigkeit und Empörung über Ungerechtigkeiten des Finanzkapitalismus auf Seiten vieler junger Menschen in Europa, den USA, Nordafrika, Chile, dem Nahen Osten usw. hängen die Erscheinungsformen und Inhalte der Auseinandersetzungen auch von den unterschiedlichen Formen neoliberaler Formierung der jeweiligen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten ab.(2) Allein um die europäischen Jugendproteste adäquat miteinander zu vergleichen, müssten die detailierten Bedingungen in jedem Land präzise analysiert werden. Das kann dieser Aufsatz jedoch nicht leisten. Vielmehr soll es um eine ideologiekritische Betrachtung wissenschaftlicher und medialer Erklärungsversuche gehen. Dabei werden verschiedene Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der jeweiligen Proteste und Revolten erörtert sowie diskursive Bearbeitungen untersucht.(3)


Wenn das "junge Humankapital" nicht mehr kann und nicht mehr will

Im Nachhinein betrachtet, kommen einem die Sozialrevolten des August 2011 in Englands Industriestädten fast wie ein Aufstand mit Ansage vor. Eine gestiegene Jugendarbeitslosigkeit (von 12,2 Prozent im Jahre 2000 auf offiziell über 20 Prozent 2010) und die niedrigste soziale Mobilitätsrate aller Industriestaaten der OECD machten vielen jungen Menschen deutlich, wohin sie gehören und was sie in ihrer Gesellschaft noch zählen. Mit dem härtesten Sparprogramm der gesamten britischen Geschichte von umgerechnet 95 Milliarden Euro bis 2015 versetzte die Regierung Cameron der Gesellschaft den nächsten schweren Schlag. Die damit verbundenen Kürzungen beim Kindergeld, der Jugendförderung, den Wohnzuschüssen, den Jugendclubs und Jugendhilfeprojekten führten dazu, dass bereits im Juli in der Zeitung Guardian ein Jugendlicher mit den Worten "Es wird Unruhen geben" zitiert wurde. Derweil sah auch der Vorsitzende des britischen Nationalen Kinderbüros, Sir Paul Ennals, den sozialen Sprengstoff sich in Form von grassierender Arbeitslosigkeit, Sozialkürzungen, sich lösenden Bindungen marginalisierter Jugendlicher an ihre Stadtviertel sowie vertiefter Entfremdungsprozesse anhäufen.(4) Und schon viele Monate vorher hatte der Londoner Labour-Abgeordnete David Lammy dem Kürzungspaket der regierenden Liberaldemokraten und Konservativen vorgeworfen, "uns in die 80er zurückzuwerfen, als Frustration und Ärger, die sich aus vergeudeten Talenten und bitterer Armut speisten, zu sozialen Unruhen fuhrten".(5) Jetzt musste "nur noch" ein Familienvater von Polizisten erschossen und die aufgebrachten Freunde und Verwandten durch Fehlinformationen und Ignoranz der zuständigen Polizeiverwaltung gedemütigt werden, um die "Rage against the Machine" endlich beginnen zu lassen (staatlich-polizeilich verantwortete Todesfälle von Jugendlichen 2005 in Paris und 2008 in Griechenland waren ebenfalls Mit-Auslöser gewaltsamer Aufstände).

Das häufig als "Neoliberalismus" bezeichnete kapitalistische Bereicherungs- und Umverteilungsprojekt zugunsten der wohlhabendsten Vermögensbesitzer führt dazu, dass ganze Gesellschaften und alle Werte des Zusammenhalts erodieren. Die objektive Zerstörung der Gesellschaft muss subjektiv gedeutet und interpretiert werden. Es kann schon sein, dass dann etwas zu rutschen beginnt, aber dessen Richtung lässt sich im Moment noch nur recht schwer prognostizieren. Nicht zu übersehen ist jedoch bei den Unruhen in Großbritannien vom August 2011 der Reflex auf die herrschende Amoral der finanzkapitalistischen Eliten in der Londoner City einerseits sowie verbrecherischer Murdoch-Medien und korrupter Polit- und Polizeianhängsel. Polizei-Korruption und - Brutalität provozierten sodann (sinnlose?) Gegengewalt. Die Sozialkürzungen der letzten Jahre und z.B. die Schließung von Jugendclubs (wie in Tottenham) taten wohl bereits im Vorfeld ihr Übriges.(6)


Gemeinsamkeiten und Unterschiede jugendlicher Unruhen

Während es Ende 2005 zu Aufständen in verschiedenen französischen Vororten kam, führten die Schüler/innen- und Studierendenproteste gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes bei Neueinstellungen (CPE) im Frühjahr 2006 in Frankreich dazu, dass der Präsident Jacques Chirac ein bereits unterschriebenes Gesetz wieder zurücknehmen musste. In Großbritannien schien nun der Ablauf eher umgedreht zu sein. Im Jahre 2010 gab es massive Streiks und Demonstrationen der britischen Studierenden u.a. gegen eine Anhebung der Studiengebühren auf jährlich umgerechnet etwa 10.000 Euro. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, doch bis 2011 ebbte das Ganze anscheinend (zumindest medial) wieder ab und die Jugendunruhen in den Vorstädten folgten nun fast unabhängig davon im Sommer 2011.

Für den Berliner Protestforscher Simon Teune sind die englischen Aufstände als "Sozialrevolte" zu verstehen, während es sich bei den jungen Demonstranten in Südeuropa um "eine massive politische Protestbewegung" handelt. Der gemeinsame gesellschaftliche Hintergrund bestehe auch in der Finanzkrise und der jeweiligen staatlichen Sparpolitik, die "zu einer Wahrnehmung beitragen, dass die Menschen nicht mehr im Mittelpunkt stehen. In Deutschland hat man das an den Protesten gegen Stuttgart 21 gesehen. Es gibt einfach ein starkes Gefühl, dass die repräsentative Demokratie nicht mehr richtig funktioniert."(7) Dabei lassen sich die Rahmenbedingungen des bürgerlichen Parlamentarismus mit Colin Crouch immer mehr als Tendenzen zu einer "Postdemokratie" beschreiben. "Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind [...], entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert."(8) Dadurch besteht die Gefahr der "Refeudalisierung", also des direkten Zugriffs auf politische Macht durch Wirtschaftseliten, Lobbyisten, Anwälte, Werbeagenturen, bezahlte Journalisten, käufliche Wissenschaftler etc. Die Resultate dieses Prozesses der Entdemokratisierung bekommen die Bevölkerungen nicht nur in Europa in verschiedensten Bereichen der Energie-, Gesundheits-, Renten-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zu spüren. Regierungen, die Pharma-, Energie-, Rüstungs-, Finanz-, Hotelier- und andere Konzern-Lobbys hofieren, die von Vermögenssteuern nichts wissen wollen und die Anhebung des Spitzensteuersatzes sowie der Erbschaftssteuer ablehnen, bedienen sich zur Schuldenreduktion beim übrigen Teil der Bevölkerung.

Der Unterschied in den Ausdrucksformen des Unmuts zwischen vorwiegend gewalttätigen Ausschreitungen in Großbritannien ohne explizite Forderungen und den weitgehend friedlichen Demonstrationen Jugendlicher in Griechenland, Spanien, Portugal usw. hat viel mit den unterschiedlichen Bedingungen und Bedeutungen für die Aufbegehrenden zu tun. "Im Süden Europas verhalte es sich anders mit dem Protest," so Teune. Zwar hätten auch die Menschen in Spanien, Portugal oder Griechenland unter einer hohen Arbeits- und Jugendarbeitslosigkeit zu leiden und dadurch das Gefühl, von der Politik um ihre Zukunftschancen betrogen zu werden. Aber die Demonstranten in den südlichen Ländern Europas seien gut ausgebildet und hätten oftmals einen anderen sozialen Hintergrund und bessere Ausgangsbedingungen als die gewalttätigen Menschen in England. Die englischen "Ausgeschlossenen" seien dagegen auch mit grundsätzlichen Verwerfungen und alltäglichem Rassismus konfrontiert. Solche Ausnahmesituationen wie die Ausschreitungen Anfang August 2011 böten zudem für ihre Akteure eine Möglichkeit, aus der scheinbar schicksalhaften Abhängigkeit, Entmachtung und Benachteiligung auszubrechen und "den Takt anzugeben und sich selbst als Handelnde zu erleben."(9) Gegen die mangelnde Repräsentation findet gleichsam eine nur scheinbar sprachlose Demonstration des eigenen Vorhandenseins in aller Öffentlichkeit statt. In diesem Sinne ermöglichen Randale den ins gesellschaftliche Abseits gestellten Akteuren, sich "ins Rampenlicht zu katapultieren".(10)

Dabei findet es Hendrik Ankenbrand in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung völlig logisch, dass die "Abgehängten" aus Großbritannien keine politischen Parolen rufen und keine Transparente tragen: "Was sollten sie darauf auch fordern? Zum bestehenden System, das ist seit 20 Jahren klar, gibt es keine Alternative, die eine Chance hat, verwirklicht zu werden. Auch die Finanzkrise hat daran nichts geändert, das hat mittlerweile auch der Dümmste begriffen - und reißt im Laden den Plasmafernseher von der Wand. Sich holen, was zu kriegen ist. Das ist die Logik des Krawalls."(11) Ankenbrand übersieht, dass die auch von ihm regelrecht verordnete Alternativlosigkeit eine zentrale Ursache der Wut und Verzweiflung vieler benachteiligter Jugendlicher darstellen könnte. Somit wird die bürgerliche Ideologie der Alternativlosigkeit abermals vorausgesetzt, damit niemand auf die Idee komme, dass das nicht die "Logik des Krawalls" sei, sondern der "Logik des Kapitals" entspreche, der selbstverständlich auch andere Logiken entgegengesetzt werden können. Oder, wie es Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa formulieren: "Soziologische Kritik sollte daher nüchtern und ohne Illusionen neben Alternativen im auch Alternativen zum Kapitalismus ausloten."(12)


Und in Deutschland?

Besorgt fragten sich schon 2006 Sozialwissenschaftlerinnen wie Jutta Allmendinger und Christine Wimbauer, ob die hiesige Klassengesellschaft auch bald "französische Verhältnisse" erwarten lässt. "Kann die verfestigte Ungleichheit in Deutschland über die individuelle Betroffenheit hinaus eine kollektiv wahrgenommene Unterprivilegierung erzeugen - und damit einen Ausgangspunkt für so etwas wie Klassenbewusstsein? Werden auch in Deutschland Banlieues entstehen, brennende Vorstadtviertel wie in Paris?"(13) Trotz der doch recht deterministischen Vorstellung von Klassenbewusstsein scheint gerade die Furcht vor solchen Umständen eine Triebkraft der deutschen "Unterschicht"-Debatte 2006 gewesen zu sein. Bis in die bürgerlich-konservativen Eliten hinein wird spätestens seitdem nicht mehr ausschließlich abwehrend auf die bislang als "dogmatisch-ideologisch" diffamierte Terminologie von "Klassen" und "Klassengesellschaft" reagiert.

So sieht selbst eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung Deutschland "auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft (...), wobei die Trennungslinie eben nicht nur über Einkommen und Vermögen, sondern auch über kulturelle Dimensionen wie etwa Bildungskapital und Bildungsaspirationen, aber auch Werte und Alltagsästhetik verläuft. Ebenso erweisen sich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medienumgang als Abgrenzungsfaktoren. Der Zulauf zu privaten Schulen ebenso wie das Umzugsverhalten von Eltern der Bürgerlichen Mitte geben ein beredtes Zeugnis dieser Entwicklung."(14) Die ungleiche Verteilung der Vermögen wird zukünftig durch den Generationenzusammenhang sogar noch weiter verschärft, da sich mit der Zunahme der Erbschaften und der Abnahme ihrer Besteuerung auch die sozialen Gegensätze vergrößern werden. Schließlich erben Personen aus höheren Bildungsschichten, die in der Regel schon selbst höhere soziale Positionen erreichen, in größerem Umfang als Personen mit niedrigerem Bildungsstand. Darüber hinaus heiraten wohlhabende Menschen in der Regel auch innerhalb der gleichen Schicht, was zur Reichtumskonzentration beiträgt.(15)

Der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm versucht, die englischen Verhältnisse mit der Situation in Deutschland bzw. Berlin zu vergleichen und hebt dabei auch die Unterschiede hervor: "Unter den Festgenommenen sind Kinder und Jugendliche aus den Londoner Sozialwohnungs-Ghettos ebenso vertreten wie Mittelklasse-Kids von elitären Privatschulen. Die Krawalle verschließen sich einer klassischen Ursache-Wirkungs-Erklärung, weil es ganz offensichtlich überlagernde Motivlagen gibt. Umverteilungsaspekte von Plünderungen haben andere Ursachen als die scheinbar ziellose Zerstörungswut, oder ein aufgestauter Hass auf die Polizei oder die abendliche Kompensation des schulischen oder beruflichen Leistungsdruckes. Aufstände wie in London sind gerade in ihrer scheinbaren Ziellosigkeit Ausdruck der wachsenden Desintegration in den westlichen Gesellschaften. Und eben darin liegt auch die Vergleichbarkeit zur Berliner Situation. Unsere Gesellschaft ist ja grundsätzlich nach ähnlichen Prinzipien organisiert und Leistungsdruck, soziale Polarisierung und Diskriminierungserfahrungen sind keine britische Besonderheit, sondern prägen auch in unseren Städten den Standard des Alltags für Hunderttausende. Unterschiede gibt es im Ausmaß und der Ausprägung der sozialen und auch räumlichen Ausgrenzungsprozesse. Großbritannien hat einfach 15 Jahre Vorsprung beim Abbau des Sozialstaates - doch der Trend der Stadtpolitik weist in genau diese Richtung."(16)

Laut Renate Köcher vom konservativen Meinungsforschungsinstitut Allensbach bleiben in Deutschland "Unter- und Mittelschicht (...) abhängig vom Arbeitseinkommen. Die Oberschicht hat sich aus dieser Abhängigkeit gelöst. Aber auch sonst läuft vieles auseinander in der Gesellschaft." Köcher verweist darauf, dass fast die gesamten letzten beiden Jahrzehnte wirklich nur für das oberste Fünftel der Gesellschaft zum Gewinngeschäft wurden, während die unteren 80 Prozent der Bevölkerung reale Einbußen zu verzeichnen hatten. "Aufgrund der konjunkturellen Schwächephasen und der Entwicklung der Lebenshaltungskosten stagnierte zwischen dem Beginn der neunziger Jahre und 2007 das frei disponible Einkommen, das nach Begleichen aller notwendigen Lebenshaltungskosten verbleibt, in den unteren Schichten nominal und ging entsprechend real zurück; die Mittelschicht verzeichnete im selben Zeitraum nominal Zuwächse, real leichte Verluste und lediglich die nach Bildung, beruflicher Position und Einkommen oberen 20 Prozent nominal und auch real deutliche Zuwächse ihrer finanziellen Spielräume." Köcher fragt sich daher ernsthaft: "Produzieren wir eine Schicht sozialer Verlierer?"(17)


Kommodifizierte Kindheiten, soziale Schichtung und Devianz

Derweil lassen sich verschiedene Formen der marktkonformen Instrumentalisierung von Jugendlichen beobachten, wenn in politischen Diskursen Kinder und Jugendliche für verschiedene Zwecke benutzt werden. So stellt die Mitteilung der EU-Kommission zu einer "EU-Strategie für die Jugend - Investitionen und Empowerment" fest, dass "angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise (...) das junge Humankapital gehegt und gepflegt werden" müsse. Junge Menschen stellten eine "Ressource für die Gesellschaft (dar), die genutzt werden kann, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele zu erreichen."(18) Somit wird offenbar, worauf die Kritik an einer "neoliberalen Hegemonie in der EU" zielt: Eine völlige Marktorientierung, die den Wert von Menschen nur an ihrer instrumentellen Vernutzbarkeit misst. Wenn jedoch das alte "Finanzkapital" nicht mehr kann, wie es will und das "junge Humankapital" nicht mehr will, wie es soll, kann es passieren, dass die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden, wie inzwischen in vielen Staaten z.B. anhand der sog. Occupy-Bewegung sichtbar wird.(19)

Hinsichtlich der Lebenslage, Teilnahmedefizite und psychischen Belastungen junger Menschen beobachtete Andreas Klocke bereits vor über zehn Jahren eine "Kumulation und Verstetigung von einerseits negativen und andererseits positiven Lebenssituationen".(20) Er prognostizierte für Europa eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Kindes- bzw. Jugendalter und sprach von der Möglichkeit zur Ausbildung einer "sozialen Unterschicht" (underclass) junger Erwachsener, wie man sie bisher nur aus den USA kannte. mit ähnlichen Gefahren ihrer Entfremdung von den konsensualen Normen.(21) Diese Befürchtung sollte jedoch genau hinsichtlich ihres sozialtechnologischen Impetus überprüft werden. Was bspw. wären denn die "konsensualen Normen" eines strukturell Desintegration und Entfremdung produzierenden kapitalistischen Gesellschaftssystems, in welches Jugendliche integriert werden sollen? Haben nicht deviante, Gewalt ausübende und kriminelle Jugendliche die herrschenden, nämlich sozialdarwinistischen Konkurrenz- und Korruptionsprinzipien und "konsensualen Normen" viel stärker verinnerlicht, als einigen Sozialforschern bewusst ist? Oder, wie es Sophie Albers in einem STERN-Kommentar beschreibt, "welche Vorbilder haben eigentlich Kinder und Jugendliche in Berlin oder New York, die sehen, dass Gier in der Erwachsenenwelt zu Erfolg und Reichtum führt? In der 'schlechtes' Handeln nicht automatisch für ein 'schlechtes' Leben sorgt?"(22)

Abweichende Verhaltensweisen sind für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu auch im Kontext von Entmutigungen und Perspektivlosigkeiten zu erklären. "Was sich aus (...) all den von Meinungsforschern als ,irrational' qualifizierten Verhaltensweisen (...) preisgibt oder verrät, ist das Gefühl des im Stichgelassenseins, der Hoffnungslosigkeit, ja der Absurdität, das sich diesen Menschen allesamt aufzwingt, die (...) auf die nackte Wahrheit ihrer Lage zurückgeworfen sind."(23) Gerade hinsichtlich der in Armutsmilieus verbreiteten Gewaltförmigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und Glücksspielsucht erkennt Bourdieu beinahe Regelmäßigkeiten und reale Bedingungsfaktoren für den verbreiteten "Geist geistloser Zustände" (Karl Marx). "Vom Spiel ausgeschlossen, müde geworden, an den Weihnachtsmann zu schreiben, auf Godot zu warten, in dieser Nicht-Zeit zu leben, in der es nichts zu erwarten gibt, können diese Menschen, denen die vitale Illusion genommen ist, eine Funktion oder eine Mission zu haben, etwas zu sein oder zu tun zu haben, um das Gefühl zu haben, zu existieren, um die Nicht-Zeit totzuschlagen, zu Aktivitäten Zuflucht nehmen, die wie (...) all die Glücksspiele, die in allen Slums und favelas der Welt gespielt werden, die Möglichkeit bieten, für einen Moment (...) die Erwartung, d.h. die finalisierte Zeit, die an und für sich Quelle der Befriedigung ist, wiedereinzuführen. Um sich loszureißen von dem Gefühl, der Spielball fremder Kräfte zu sein (...), um der fatalistischen Unterwerfung unter die Mächte der Welt ein Ende zu machen, können sie, zumal die Jüngsten, auch in Gewaltakten, deren Eigenwert mehr oder ebensoviel zählt wie der reale Gewinn, den sie bringen, ein verzweifeltes Mittel suchen, sich 'interessant' zu machen, vor den anderen, für die anderen zu existieren, zu einer, in einem Wort, anerkannten Form sozialer Existenz zu gelangen."(24) Dadurch lassen sich also auf den ersten Blick völlig irrationale und unverständliche Denk- und Handlungsweisen aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus verstehen bzw. erklären.


Politische Ökonomie der Enteignung und des Aufstands?

Für den konservativen Sozial-Technokratismus sind Demonstrationen und Revolten ganz einfach zu prognostizieren. Er sieht sich im Stande, ein angeblich ehernes Gesetz der Unruhen und Revolutionen genau auszurechnen. Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung werden die Forschungsergebnisse des Wirtschaftshistorikers Hans-Joachim Voth vorgestellt. Dieser habe "soziale Unruhen der vergangenen 90 Jahre in Europa untersucht. Ergebnis: Wenn der Staat seine Ausgaben um einen Prozentpunkt kürzt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Demonstrationen, Aufständen und revolutionären Umstürzen kommt, um das Eineinhalbfache."(25) Solch mechanistische Aufstandsforschung reduziert jedoch die Welt und die in ihr handelnden Individuen samt Motivations- und Organisationsstrukturen auf relativ simple Reiz-Reaktions-Automaten und erinnert an sehr vereinfachte Verelendungstheorien. Wenn man sich allerdings trotz aller Ungereimtheiten wirklich nur auf ein Prozent staatlicher Ausgabenkürzung und deren Folgen beschränken will, ließe sich zumindest fragen, ob dabei weniger Rüstungssubventionen oder weniger Bildungs- und Sozialausgaben betroffen sind.(26)

Ein weiterer, in solcher Art vermessener "Revolutionsvermessung" unberücksichtigter Faktor für gewaltsame Aufstände stellt die (auch mediale) Nicht-Berücksichtigung und -Anerkennung der sich benachteiligt und entwürdigt Fühlenden im Vorfeld von Ausschreitungen dar. So konnten etwa in Pariser Vororten Ende 2005 große Demonstrationen mit vielen tausend Menschen stattfinden - die Medien berichteten erst, dann aber weltweit, wenn Autos und andere Dinge brannten. Insofern sind Protestkulturen wohl auch immer wieder mitgeprägt von Wandlungsprozessen in den Strukturen der Öffentlichkeit beziehungsweise der veröffentlichten Meinung. "In England wurde jüngst ein Demonstrant gefragt, ob die Gewalt auf der Straße denn das richtige Mittel sei, und er antwortete: 'Ohne die Gewalt würden sie nicht mit mir sprechen'."(27) Ähnliches sagte ein jugendlicher Randalierer einem NBC-Journalisten: "Vor zwei Monaten marschierten wir zu Scotland Yard, mehr als 2000 von uns, alle schwarz, es war ruhig und friedlich. Und wissen Sie was? Kein Wort in der Presse."(28) Dass sich die englischen Aufstände nach ihrem Ausbruch einer globalen Medienberichterstattung erfreuen durften, mag wohl auch mit der Vielfalt ihrer Akteure und vor allem der Ziele ihrer Angriffe zu tun haben, wie Christina Ujma berichtete: "Der wichtigste Unterschied zu vorhergegangenen Riots ist wohl die multiethnische Zusammensetzung der Randalierer und die Tatsache, dass sich anders als sonst die Gewalt nicht nur gegen die eigene Infrastruktur richtete, sondern diesmal bevorzugt gegen die High-Streets, die Einkaufsstraßen, teure Boutiquen und Orte wie protzig-hässliche Shopping Malls, Polizeistationen und Behörden."(29)

Der Kampf um Aufmerksamkeit sowie Anerkennung und die symbolische Bedeutung von Gewaltdynamiken kann mit Hilfe von Eddie Hartmanns Studie über die Ausschreitungen in französischen Vororten näher analysiert werden.(30) Jenseits der von Sarkozy bis Cameron vorherrschenden "Diskreditierung der Gewaltakteure als kriminelle Krawallmacher" und der dagegenstehenden politischen Rehabilitierung der Gewalthandlungen als "soziale Revolte", verweist Hartmann stärker auf die "sozialen Mechanismen hinter derartigen Gewaltphänomenen". Seines Erachtens "verweisen die britischen Plünderungen eher auf eine Form von 'moral holidays': eine moralische Auszeit, in der eine diffuse Menschenmasse ein temporäres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, während der Einzelne den Schutz dieser Masse genießt und sich zu Handlungen ermutigt fühlt, die normalerweise verboten sind. Man sollte die Eigendynamik nicht unterschätzen, die ein solcher Ausbruch aus den gesellschaftlichen Zwängen der alltäglichen sozialen Kontrolle vorübergehend entfalten kann. Dahinter steckt jedoch keine kollektive Pathologie, sondern vielmehr eine kollektive Handlungsdynamik, die für kurze Zeit viele Menschen in ihren Bann zieht. Ist die 'Normalität' erst einmal wieder hergestellt, ist auch die Dynamik dahin und die Unruhen lassen sich nicht ohne weiteres wieder entfachen, selbst wenn man wollte." Woher jedoch diese kollektive Handlungsdynamik kommt und unter welchen Voraussetzungen sie sich vollzieht oder auch zusammenbricht, lässt sich damit leider noch nicht feststellen. Zwar verweist Hartmann auch darauf, dass "der moderne Kapitalismus durch gravierende soziale Missstände die Bedingungen für Gewaltdynamiken begünstigt", schränkt dies vorher aber durch meteorologische Vermutungen wieder ein, indem er mutmaßt: "Und hätte es in den vergangenen drei Wochen kräftig geregnet, wäre es vielleicht gar nicht erst zu den Ausschreitungen gekommen."(31)

Wer sich mit Gewaltausbrüchen auseinandersetzt, sollte auch die allgemeine Verrohung in der Gesellschaft nicht ausblenden. Die bürgerlichen Eliten der großen kapitalistischen Staaten führen Klassenkriege im Inneren und Kriege in anderen Ländern, wo sie ihr Vaterland am Hindukusch (Peter Struck, SPD) und sonstwo verteidigen sowie hin und wieder hunderte von Zivilisten töten lassen und wundern sich, dass sich ihre Gesellschaften allmählich brutalisieren.(32) An den Aufständen in englischen Großstädten lässt sich ganz passabel studieren, was für Konsequenzen die nachhaltige neoliberale Spaltung und Zerstörung der Gesellschaft und jeglicher solidarischer Werte zeitigen. Bereichert Euch! Nimm Dir, was Du kriegen kannst und vernichte, was Dir dabei im Wege steht! Dieses Motto galt bislang nur für die Banker und Spekulanten der Londoner City und deren korrupten Anhang aus Politik, Medien und Polizei. Nun scheinen viele Vorstadtjugendliche davon gelernt zu haben und versuchen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten wenigstens mit Flachbildschirmen und Sportschuhen auszustatten. Neben Zerstörungen öffentlicher und privater Güter aus Verzweiflung und Wut stellen die verschiedenen Plünderungen offenbar auch einen Reflex auf die neoliberalen Plünderungen der letzten Jahrzehnte dar. Die Enteigneten des Neoliberalismus zerschlagen alles und enteignen ihre Umwelt.

David Harvey stellt den allenthalben in bürgerlichen Gazetten geäußerten Beschreibungen der jugendlichen Protestierer und Randalierer als "nihilistische und verwilderte Teenager" (Daily Mail) seine gesellschaftskritische Analyse gegenüber. Danach explodiere vielmehr der "verwilderte Kapitalismus auf der Straße". Verwildert seien auch die Instinkte des Premierministers Cameron, welcher mit Wasserwerfern, Tränengas, Plastikgeschossen und Konzepten der Sippenhaft (Forderung, den Familien von jugendlichen Straftätern die Wohnung im sozialen Wohnungsbau zu kündigen) einerseits sowie dem Appell an moralische Gesinnung, Sitte, Anstand, familiäre Werte und Disziplin andererseits versuchte, die Aufstände der Underclass unter Kontrolle zu bringen.(33)

"Das eigentliche Problem", so Harvey, "ist jedoch die Gesellschaft, in der wir leben. Sie wird von einem Kapitalismus bestimmt, der selber extrem verwildert ist. Wild gewordene Politiker schummeln bei ihren Ausgaben, verwilderte Bankiers plündern die öffentlichen Kassen bis auf den letzten Cent aus, Konzernchefs, Betreiber von Hedge Fonds und die Genies der Private-Equity-Firmen rauben die Reichtümer dieser Welt, Telefon- und Kreditkartengesellschaften knöpfen uns rätselhafte Gebühren ab, der Einzelhandel betrügt bei den Preisen, und im Handumdrehen können Schwindler und Trickbetrüger mit ihren Hütchenspielen bis in die höchsten Kreise von Wirtschaft und Politik gelangen." Dabei komme eine regelrechte "politische Ökonomie der massenhaften Enteignung und der offenen Ausraubung am hellichten Tag" zum Tragen, die besonders den Armen und Schutzlosen sowie einfachen und rechtlich nicht abgesicherten Menschen schade. Dagegen vollziehen die Straßenrandalierer "nur das, was alle tun, lediglich auf andere Weise - ungenierter und sichtbarer mitten auf der Straße. Der Thatcherismus hat die brutalen Instinkte des Kapitalismus entfesselt (...) und seitdem wurde nichts unternommen, um sie im Zaum zu halten. Fast überall haben die herrschenden Klassen ganz offen das Prinzip der Brandrodungen zu ihrem Motto erklärt."(34)


Desillusionierung und Herrschaftsstrategien neoliberaler Eliten

Beginnen nun unterdessen bestimmte bürgerliche Eliten Begleiterscheinungen ihres Handelns zu begreifen? Der US-Multimilliardär Warren Buffet beschrieb schon im Jahre 2004 die sozio-ökonomischen Spannungslagen in den USA folgendermaßen: "In Amerika wird ein Klassenkrieg geführt, und meine Klasse gewinnt eindeutig."(35) Auch der Feuilleton-Chef und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, beginnt angesichts der Finanzkrise regelrecht vom neo-konservativen Glauben abzufallen, wenn er registriert: "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik. So abgewirtschaftet sie schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht." Und Schirrmacher schreibt dies nicht nur, sondern zitiert zustimmend den erzkonservativen Daily Mail-Redakteur und Thatcher-Biographen Charles Moore: "Die Stärke der Analyse der Linken (...) liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern. 'Globalisierung' zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen.

Die Banken kommen nur noch 'nach Hause', wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues." Für Schirrmacher spielt sich das "komplette Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens (...) gerade in England ab. In einem der meistdiskutierten Kommentare der letzten Wochen schrieb dort Charles Moore: 'Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?' Moore hatte das vor den Unruhen geschrieben und ohne jede Vorahnung." "Ehrlich gestanden: Wer könnte ihm widersprechen?"(36), kommentiert Schirrmacher.

Es wäre allerdings ein großer Irrtum zu glauben, dass die ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen und medialen Eliten nach dem von ihnen beförderten Wirtschafts- und Finanzdesaster der letzten Jahre nunmehr etwas zurückhaltender sein würden. Denn das Gegenteil ist der Fall: Unterschichtsverunglimpfung (vgl. Westerwelle über "spätrömische Dekadenz" durch Hartz IV, in: WELT v. 12.2.2010) verbindet sich mit unqualifizierten Beschimpfungen des Sozialstaates. Derweil prügeln Thilo Sarrazin und der Berlin-Neuköllner SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky seit Jahren für die kleinbürgerlichen Boulevard-Medien verbal auf die "asoziale" Unterschicht der "Säufer" und "Kopftuchmädchen"-Produzenten ein.(37) Die zentrale Funktion solcher sozialrasistischer Argumentationen besteht einerseits in der Ausblendung realer Herrschafts- und Machtstrukturen sowie andererseits in der Legitimation von Privilegien und sozialer (Macht-)Ungleichheit. Beide Aspekte sind zwei Seiten einer Medaille, die von der Bundesregierung in verschiedenen Sozialkürzungen (vgl. Elterngeld) praktisch umgesetzt werden. Die Thesen Sarrazins u.a. wären demnach bloß als Aufforderungen zu verstehen, die bereits real existierende, vorherrschende politische Praxis gegenüber instrumentell überflüssig gemachten Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund zu verschärfen. Dadurch werden erwerbstätige Arme gegen arme Erwerbslose ausgespielt und aufgehetzt sowie eine Politik der sozialen Spaltung verschleiert.

Sachlicher, aber dennoch in diesem Geiste, bezeichnet der Chefredakteur des Handelsblatts, Gabor Steingart die "Versprechen" des Wohlfahrtstaates - Gerechtigkeit, Solidarität, "Wohlstand für alle" - schlichtweg als "utopisch" ganz so, als gäbe es den sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht. Steingarts neoliberale Zukunftsvision sieht dagegen folgendermaßen aus: "Die Altersarmut wird in den deutschen Alltag zurückkehren. In der ärztlichen Versorgung ist der Einzug der Mehrklassenmedizin unvermeidbar. (...) Das Gespenst der Nutzlosigkeit (...) wird für die Ungebildeten und Ungelernten wohl nie mehr verschwinden." Der von ihm als "Sozialstaatsrealismus" bezeichnete Sozialstaatsabbau sieht zwar Deutschlands Wirtschaft weiter wachsen, "aber an den Früchten dieser Erfolge werden nicht alle teilhaben können. Das ist kein Wunsch und keine Forderung. Das ist die Wirklichkeit, die auf das deutsche Haus zukommt.'(38) Im Klartext: Ein immer größer werdender Anteil gleichsam überflüssiger Bevölkerung, deren materielle (Lebens-)Interessen massiv eingeschränkt werden, wird von der neoliberalen Elite als notwendiger Sachzwang oder geradezu naturwüchsige Entwicklung angesehen, an der es nichts auszusetzen und aus der es kein Entkommen gäbe.

Ähnlich versucht die FAZ-Korrespondentin Gina Thomas, die britischen Randale auf einen Begriff zu bringen und mit dem angeblich zu großzügigen, "abhängig" machenden Sozialstaat (in England!) zu erklären. Ihres Erachtens "liegt dem Verhalten des Mobs ein Anspruchsdenken zugrunde, das mit den Aspirationen der alten Arbeiterschicht nichts zu tun hat. Die Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat hat die heutige Unterschicht zur Bequemlichkeit erzogen. Oft vaterlos und ohne moralische Instanzen aufgewachsen, schlecht ausgebildet, aber mit der Einstellung ausgestattet, dass die Gesellschaft ihnen etwas schuldig sei, lassen sich die Jugendlichen in sozial schwachen Milieus in die Kriminalität treiben, wo größere Gewinne locken als durch ehrliche Arbeit."(39) Abgesehen davon, dass der Mythos "ehrlicher Arbeit" wirklich nichts mit den Tätern des Casino-Kapitalismus in der Londoner City gemein hat, bewegt sich Thomas ganz auf der Klaviatur von Peter Sloterdijks "Umkehrung der Ausbeutungsverhältnisse". Danach lebten "im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen", aber "in der ökonomischen Moderne" vielmehr "die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven (...) - und dies zudem auf missverständliche Weise, nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen Unrecht, und man schulde ihnen mehr."(40) Das neoliberale Aufbegehren der "produktiven" Leistungsträger gegen die "Unproduktiven" und den Sozialstaat geschehe aus buchstäblicher Notwehr gegen die sog. faulen Sozialschmarotzer und den steuerpolitischen "Semi-Sozialismus", der den bürgerlichen "Leistungsträgern" einen regelrechten "Bürgerkrieg" aufdränge, so Sloterdijk.(41)

In einer Phase ungeheuerlicher sozialer Spaltungen glaubt ein nicht unerheblicher Teil der bürgerlichen Eliten offensichtlich, dass zur Rettung bzw. Herstellung neoliberaler Verhältnisse und zur kapitalistischen Krisenregulation (im Zweifelsfalle) auch auf (sozial-)rassistische Ideologien und Maßnahmen zurückgegriffen werden sollte. Für sie hat die liberal-demokratische Herrschaftsform anscheinend wieder ausgedient und es ist Zeit für autoritär rassistische Antworten auf die kapitalistische Krise.(42) Dies scheint auch der Philosoph Hauke Brunkhorst entdeckt zu haben, wenn er in Reaktion auf Sloterdijks sozialdarwinistische Elitenideologie schreibt: "Das Ressentiment (...) ist bei jenen, die von einer blinden Globalisierung nach oben gespült wurden bei der neuen, transnational herrschenden Klasse. Diese Klasse regiert weitgehend am demokratischen Gesetzgebungsprozess vorbei, und sie vereinigt Exekutivspitzen, Wirtschaftsführer, Finanz- und Rechtsexperten sowie die hochdotierten Fernsehjournalisten und das Talk-Management zu einer netzwerkartig organisierten Klasse, während die großen Zeitungen ebenso wie die Parlamente in Bedeutungslosigkeit zu versinken drohen. Nur der Absturz der Weltwirtschaft konnte die Selbstsicherheit dieser Klasse für einen Moment erschüttern."(43) Eine solche Erschütterung gelingt jedoch nur, wenn sich die Lohnabhängigen aller Länder, Schüler/innen, Studierenden, Erwerbslosen und Berenteten nicht gegeneinander ausspielen lassen.


Ausblick

Der neuerliche Höhepunkt weltweiter Demonstrationen gegen den Finanzmarktkapitalismus ("Occupy Wall Street"/Attac) am 15. Oktober 2011 in 82 Staaten der Erde war in Rom von einem Phänomen gekennzeichnet, das bereits im August 2001 beim G8-Gipfel in Genua zu beobachten war (damals inklusive polizeilicher Folterbanden und einem erschossenen Demonstranten) und am 20. Oktober 2011 abermals in Athen zum Vorschein kam. Objektiv als "Agents Provocateurs" wirkende (staatlich bezahlte oder/und rechtsextreme?) Vermummte vermochten es, eine riesige friedliche Demonstration von über 200.000 Menschen in einen gewaltsamen Zusammenstoß mit der Polizei und massiver Randale zu verwandeln (ähnliche Entwicklungen lassen sich in Griechenland und in Chile beobachten).(44) Dabei handelt es sich scheinbar nicht um Zufall, sondern um verdeckte Polizei- und Geheimdienst-Praktiken zur Eskalation, um soziale Alternativbewegungen zu zerschlagen. Der Verdacht unter den römischen Demonstranten wird lauter, "dass bezahlte agents provocateurs aus den Reihen der Polizei am Werk waren. Es wäre nicht das erste Mal in Italien."(45) Die sich davon provozieren und instrumentalisieren lassenden autonom-anarchistischen Gruppierungen erfüllen dabei zuweilen ebenfalls genau die ihnen von herrschender Seite zugedachte Rolle.

Die weltweiten "Occupy"-Bewegungen sind einerseits konfrontiert mit einer seltsamen Umarmungstaktik von Seiten der Regierenden und vieler Finanzmarkteliten (vgl. das geheuchelte "Verständnis" für die Demonstrierenden durch Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Noch-EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet). Andererseits sind sie mit geballter Verachtung von Seiten einiger Bürgerblätter konfrontiert.(46) Geschickt versuchen viele Umarmer und Gegner den Demonstrierenden einzureden, die ganze Wirtschafts- und Finanzkrise sei ursprünglich durch die Verschuldungspolitik der Staaten und v.a. deren zu großzügigen Sozialetats verursacht und nicht etwa durch den deregulierten Finanzmarktkapitalismus und dessen staatliche Rettung in der Krise seit 2008.(47)

Die kanadische Kapitalismuskritikerin Naomi Klein sieht die gegenwärtigen "Occupy Wall Street"-Demonstrationen auch in der Tradition der von jungen Leuten angeführten großen Antiglobalisierungsproteste 1999 in Seattle, die sich massiv mit der Macht großer Konzerne auseinandersetzten. "Wir haben den Kampf gegen die mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräfte unseres Planeten aufgenommen. Das kann schon Angst machen. (...) Lasst uns diese wunderbare Bewegung so behandeln, als ob sie die wichtigste Sache der Welt wäre. Weil sie das auch wirklich ist.".(48)


Prof. Dr. Michael Klundt - Frankfurt/M./Stendal, Politikwissenschaftler, Hochschullehrer


Anmerkungen

(1) Vgl. Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen UNFPA/Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (Hrsg.), Weltbevölkerungsbericht 2010, S. 3.

(2) Vgl. Ellen Bareis u.a., Die Stadt in der Revolte, in: Das Argument 289 (2010), S. 795-805; hier: S. 800.

(3) Vgl. Tom Strohschneider, 1968, Gewalt, Rotstift: Wie der Aufstand der Jugend erklärt wird, in: Freitag v. 31.8.2011.

(4) Vgl. Tomasz Konicz, Aufstand der Underdogs, in: junge Welt v. 13.8.2011.

(5) Siehe "warum die Gewalt in Tottenham explodierte", in: Süddeutsche.de v. 8.8.2011.

(6) Vgl. Oliver Nachtwey, Großbritannien: Riot oder Revolte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2011, S. 13-16; hier: 14ff.

(7) Siehe "In Deutschland wäre das unwahrscheinlich", in: Frankfurter Neue Presse v. 12.8.2011.

(8) Siehe Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008, S. 13.

(9) Die andere Krise. Protestforscher, in: Frankfurter Rundschau v. 11.8.2011.

(10) Florian Schmid, Ob ihr wollt oder nicht: Hier sind wir!, in: Neues Deutschland v. 20.10.2011.

(11) Hendrik Ankenbrand, Die Logik des Krawalls, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.8.2011.

(12) KJaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa, Soziologie - Kapitalismus - Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009, S. 84.

(13) Jutta Allmendinger/Christine Wimbauer, Deutschland, eine Klassengesellschaft?, in: ZEIT-Wissen 4/2006

(14) Michael Borchard/Christine Henry-Huthmacher/Tanja Merkle/Carsten Wippermann, Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten (hgg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.), Berlin 2008, S. 8.

(15) Vgl. Gösta Esping-Andersen, Kinder und Rente: Welchen Wohlfahrtsstaat brauchen wir?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2006, S. 59.

(16) Andrej Holm, Berlin: Brennende Autos und Londoner Verhältnisse, in: Gentrification Blog v. 22.8.2011.

(17) Renate Köcher, Produzieren wir eine Schicht sozialer Verlierer?, in: FAZ v. 17.8.2011.

(18) Siehe Europäische Kommission, EU-Strategie für die Jugend - Investitionen und Empowerment, Brüssel 2009, S. 1f.

(19) Vgl. Das Prinzip Empörung, in: Frankfurter Rundschau v. 22.10.2011.

(20) Andreas Klocke, Die Bedeutung von Armut im Kindes- und Jugendalter - Ein europäischer Vergleich, in: Andreas Klocke/Klaus Hurrelmann (Hg.), Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, 2. Aufl. Wiesbaden 2001, S. 287

(21) Vgl. ebd., S. 287.

(22) Sophie Albers, Krawalle in London und Finanzkrise. Wir und die Gier, in: stern.de v. 12.8.2011.

(23) Pierre Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2, Hamburg 1997, S. 143f.

(24) Ebd., S. 145.

(25) Siehe Ankenbrand, a.a.O.

(26) Diese Fragen bleiben leider ausgeblendet, obgleich die Forscher Jacopo Ponticelli und Hans-Joachim Voth in ihrer nicht uninteressanten Studie "Austerity and anarchy: Budget cuts and social unrest in Europe 1919-2009" (London 2011) doch etwas differenzierter argumentieren, als in der FAS wiedergegeben wurde.

(27) Stefan Schulz, Doch wehe, wenn sie ausgeschlossen werden! Was ist die gemeinsame Strategie hinter den Protesten der Jugend in Europa?, in: FAZ v. 14.8.2011.

(28) Schmid, a.a.O.

(29) Christina Ujma, London: kurzer Karneval der Anarchie, in: Sozialismus 9/2011, S. 24.

(30) Vgl. Eddie Hartmann, Strategien des Gegenhandelns - Zur Soziodynamik symbolischer Kämpfe um Zugehörigkeit, Konstanz 2010.

(31) Siehe Eddie Hartmann, Moralische Auszeit, in: Frankfurter Rundschau v. 26.8.2011.

(32) Vgl. Werner Seppmann, Dialektik der Entzivilisierung. Soziologie. Über die Gewalt, die aus der Mitte kommt, in: junge Welt v. 9.9.2011 und Hans-Peter Brenner, Moderner Kreuzritter. Vorabdruck. "Pathologischer Massenmörder" und "unerklärliche" Tat? Der Fall Anders Behring Breivik, in: junge Welt v. 11.10.2011.

(33) Dazu passt die folgende Nachricht: "So wurde ein Jugendlicher in Manchester zu zehn Wochen Gefängnis verurteilt, weil er einen Polizisten beschimpft hat. Eine junge Frau aus London muß für sechs Monate hinter Gitter, weil sie eine Wasserflasche geklaut hatte. Normalerweise führen nur 3,5 Prozent solcher Delikte zu Gefängnisstrafen. Seit letzter Woche liegt die Zahl bei 60 Prozent. Ein Gesetz für die Armen, ein anderes für die Mächtigen. Parlamentarierin Hazel Blears besuchte vergangene Woche zum ersten Mal seit langem ihren Wahlkreis in Salford. Sie ist Mitglied von Labour, kann jedoch wie ihr Parteichef und wie Cameron keine sozialen Ursachen für die Unruhen erkennen. Blears war 2009 dabei ertappt worden, wie sie Zehntausende Pfund am Fiskus vorbeischmuggelte. Niemand hat sie dafür belangt." (Christian Bunke, Cameron bleibt auf Kurs, in: junge Welt v. 17.8.2011).

(34) David Harvey, Der verwilderte Kapitalismus explodiert auf der Straße, in: Sozialismus 9/2011, S. 18f.

(35) Siehe Börsenlegende Buffett rechnet ab, in: Manager Magazin.de v. 7.3.2004.

(36) Frank Schirrmacher, Bürgerliche Werte. "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat", in: FAZ v. 16.8.2011.

(37) Vgl. Michael Klundt, Neoliberaler Wettbewerbsstaat und (Klassen-)Rassismus in Wissenschaft, Politik und Medien, in: Z83, September 2010, S. 154ff.

(38) Gabor Steingart: Der deutsche Sozialstaat - Normalität auf Abruf. Essay, in: Handelsblatt v. 11./12.3.2011.

(39) Siehe Gina Thomas, Die Randalierer und ihre Vorbilder, in: FAZ v. 12.8.2011.

(40) Siehe Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: FAZ v. 13.6.2009; vgl. zur empirischen Widerlegung: Michael Hartmann, Die Schwachen tragen die Starken, in: Frankfurter Rundschau v. 29.12.2009

(41) Siehe ebd.

(42) Vgl. Studie zu Rechtsextremismus. "Westerwelle hat Sarrazin den Weg bereitet". Interview: Islamfeindlichkeit und der Wunsch nach einem "Führer": Sozialpsychologe Oliver Decker über wuchernde rechtsextreme Ansichten und unterschwelligen "Rassismus" bei Horst Seehofer, in: Süddeutsche.de v. 14.10.2010.

(43) Hauke Brunkhorst, Herr und Knecht. Von den Propheten bis zur Aufklärung: Die Idee der Gleichheit ist zentral, in: ZEIT v. 28.1.2010.

(44) Vgl. Heike Schrader (Massen gegen die Regierung, in: junge Welt v. 21.10.2011), die darauf verweist, dass bei einer Großdemonstration in Athen "Vermummte" den Block der kommumstischen Gewerkschaft PAME angriffen, wobei ein Arbeiter starb und 40 Menschen verletzt wurden. In Chile schafften es anscheinend 50 "Vermummte", "Fußballfans" und "Kapuzenmänner", eine friedliche Großdemonstration zu Randalen zu eskalieren, sodass polizeiliches Einschreiten und Demo-Verbote provoziert wurden (vgl. Marinela Potor, Hunderte verhaftet, in: junge Welt v. 21.10.2011).

(45) Siehe Kordula Doerfler, Flammen-Inferno vor der Lateranbasilika, in: Frankfurter Rundschau v. 17.10.2011.

(46) Vgl. Bernd Ziesemer, der ihr jegliche Berechtigung und Repräsentanz abspricht (Protestbewegung. "Occupy Wall Street" lebt vom Medien-Hype, in: Handelsblatt v. 21.10.2011). Vom gewohnt antikommunistischen Beinahe-Bundespräsidenten Joachim Gauck, der die Anliegen der Bewegung als "albern" bezeichnete, bis zum obligatorischen Nazi-Vorwurf durch den islamophoben Publizisten Henryk M. Broder (vgl. Christian Bommarius, Welche Waffen erlaubt der Kampf?. Ein Vergleich von Zitaten aus Henryk M. Broders Buch und Anders Behring Breiviks Manifest, in: Frankfurter Rundschau v. 5.8.2011) reicht das Spektrum der Gegner. Vgl. Jens Berger, Die Occupy-Bewegung und die Scheuklappenmentalität der Leitartikler, in: Nachdenkseiten.de v. 19.10.2011.

(47) Vgl. ebd.

(48) Naomi Klein, Occupy Wall Street: Das ist jetzt die wichtigste Bewegung der Welt, in: Zmag.de v. 15.10.2011.


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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 88,
Dezember 2011, Seite 18 - 32
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2011