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WILDCAT/039: China - Der Winter kommt


Wildcat 103 - Frühjahr 2019

Der Winter kommt

Teil 2 der dreiteiligen Serie aus China


"Der ökonomische Winter kommt!" Was im Sommer nur vereinzelt von Bankern zu hören war, ist nun verbreitetes Tischgespräch und die Anzeichen sind überall und zahlreich: Beschäftigte werden in unbezahlten Urlaub über das Frühlingsfest geschickt, Autoabsätze sind im vergangenen Jahr zum ersten Mal seit 28 Jahren massiv eingebrochen, der Einzelhandel schwächelt, Risikokapital zieht sich zurück, Exporte sinken, Handelskrieg ... Das chinesische Wachstumsmodell der letzten Dekaden kommt an sein Ende. "2019 wird kein gutes Jahr, um eine Wohnung oder ein Auto zu kaufen", sagen meine Kollegen, weil man nicht absehen kann, wie sich die Preise entwickeln - und wie lange wir unseren Job noch haben.

Die fallenden Kurse am Aktienmarkt konnte 2018 selbst die mächtige chinesische Zentralbank nicht aufhalten. Der als Alternative zum Export gepriesene Binnenmarkt wächst enttäuschend langsam (oder geht sogar zurück), auch Industrieroboter werden nicht in den erwarteten Mengen gekauft. Zu den schlechten Wirtschaftsnachrichten kommen weitere Skandale aus den letzten Monaten, bei denen das Versagen von Behörden insbesondere auch die urbanen Besserverdienenden trifft. Wiederholt gefälschte Impfdosen (250.000 Fälle), Brände in Urlaubsressorts, wiederholte Vergewaltigungsmorde in Didi-Taxis, Schließung von öffentlichen Schulen aus Geldmangel etc. Gerade aufgrund der irrwitzigen Überwachung mit Videokameras auf öffentlichen Plätzen, in Verkehrsmitteln, sogar in Klassenräumen, Gesichtserkennung am U-Bahneingang, Stimmidentifikation, obligatorischer Echtzeitüberwachung von Elektroautos usw. floriert der Handel mit personenbezogenen Daten. Man kann im Internet für weniger als einen Euro den geografischen Standort oder die Personendaten zu einer Handynummer kaufen; jährlich (zuletzt wieder im September) werden die Personendaten von mehreren hundert Millionen Chinesen im Internet veröffentlicht, nicht selten stammen sie aus Behördendatenbanken. Ständig gibt es Kettenbriefe und Betrugsfälle mittels gekaufter oder geklauter Daten, die nur dann Schlagzeilen machen, wenn es zu Toten kommt.

Über all dem thront Xi als mächtigster Staatschef seit Deng. Er verdankt seine Macht auch dem Crash des Aktienmarkts 2015 und dem Fall von Li, dem als Nummer zwei die Hauptschuld gegeben wurde. Was Xi dem Abflauen der Wirtschaft entgegenzusetzen hat, ist die Verschärfung der Zensur, die Zentralisierung der Medien, die politische Kontrolle der Schulen, Universitäten und religiösen Vereinigungen, erhöhte Einflussnahme von Parteizellen in Betrieben, die Konsolidierung der Staatsbetriebe, eine offensivere Außenpolitik ..., kurz gefasst: die (Re-)Zentralisierung der Macht in Staat und Wirtschaft. Die Verschärfung der Zensur wird mitunter absurd und schneidet auch ins eigene Fleisch. Zum Beispiel kriegt ein Film keine Genehmigung, wenn darin Gewalt oder gar Mord in den Gebäuden von Polizei oder anderen Behörden vorkommen; und die Umstellung des Genehmigungsverfahrens für Computerspiele ließ fast zehn Monate lang den weltgrößten Computerspielemarkt zusammenkrachen und Chinesen auf ausländische Spieleplattformen wechseln.

Update zu Jasic

Gegen vier der verhafteten Gewerkschaftsgründer von Jasic wird mittlerweile strafrechtlich ermittelt, und sie warten auf ihre Gerichtsverhandlung. Fünf der Ende August verhafteten Unterstützerinnen sind noch immer in Haft oder stehen unter Hausarrest, zwei weitere sind weiterhin entführt. Am 9. und 11. November wurden in Beijing, Shanghai, Guangzhou, Shenzhen und Wuhan zwölf weitere Unterstützer von der Polizei der Provinz Guangdong verschleppt.

Auch sonst wird der Druck auf Aktivisten und marxistische oder maoistische studentische Uni-Gruppen verschärft, und wir hörten von weiteren Verhören und Observierungen. Ein Teil der verschleppten Unterstützerinnen sind Absolventen von Eliteunis, aber auch Arbeiter und Aktivisten von Labour NGOs sind dabei.

Zu Mao Zedongs Geburtstag am 26. Dezember organisierte eine Gruppe von Unterstützerinnen eine kleine Protestaktion gegen die Festnahmen in Maos Geburtsort in Hunan. Sie hatten geglaubt, die Nähe zu Mao würde sie vor polizeilicher Verfolgung schützen, aber diese ließ nicht lange auf sich warten. Auch über den gesamten Januar wurden weitere Aktivisten, teils aus Shenzhen oder Guangdong, teils aus anderen Provinzen verhört und verhaftet. Gerade (am 21. Januar) wurden wieder rund sieben Unterstützer verhaftet, nachdem sie sich öffentlich in Blogposts über die ihnen vorgespielten erzwungenen Geständnisse geäußert hatten. Die Sicherheitsorgane, die auch hinter den Entführungen von Shen Mengyu und Yue Xin stehen, haben diese und andere offenbar zu Geständnissen gezwungen, in denen sie sich selbst schwer belasten. Die Verhafteten vom 21. geben an, die "Geständigen" würden in den Videos davon sprechen, sie hätten "Arbeiter benutzt", um den Staat und die KPC zu stürzen, würden für ausländische Agenten arbeiten etc. Das Vorführen der Geständnisse sollte Unterstützerinnen abtrünnig machen, und es war selbstverständlich untersagt, darüber zu reden. Die Blogposts machten diese Polizeitaktik aber öffentlich. Zu erwarten ist, dass die Verhaftungen so lange weiter gehen werden, solange die Studierenden und andere Unterstützer keine Ruhe geben.

Der Kampf der an Staublunge erkrankten Bauarbeiter

An Staublunge zu sterben ist ein furchtbarer Tod. In China ist es die häufigste Berufskrankheit, Symbol für die rücksichtslose Vernutzung, die Erkrankten haben wortwörtlich das moderne China aufgebaut. Die offiziellen Stellen geben über 200.000 Fälle an, Schätzungen von NGOs gehen von bis zu sechs Millionen Menschen aus. 2016 hatten weniger als zehn Prozent aller an Staublunge erkrankten Arbeiter einen Arbeitsvertrag.

Besonders betroffen sind die Sektoren Bergbau, Schmuck- und Edelsteinverarbeitung, heraus ragt die Bauindustrie (Sandstrahlen, Bohr- und Sprengarbeiten bei völlig unzureichendem Arbeitsschutz). Regional gesehen gibt es besonders viele Erkrankungen im Bezirk Leiyang, in der Provinz Hunan. Durch Nachbarschaftsbeziehungen hatten viele Leute von dort in Shenzhen Arbeit als Bohrer gefunden; in den 90er Jahren stellten sie die größte Gruppe der Bohrarbeiter. Auch aus anderen Orten der Provinz kamen Arbeiter und bohrten und sprengten die teils zehn, zwanzig und mehr Meter tiefen Fundamente für die neuen Wolkenkratzer. Inzwischen sind mehrere hundert Arbeiter aus Leiyang und anderswo an Staublunge erkrankt; viele von ihnen längst gestorben.

In den 90er Jahren wurde auf Baustellen in Shenzhen 30-100 RMB pro Tag gezahlt, Löhne für Bohrer lagen am oberen Rand. Das entsprach etwa dem 10-30fachen des Einkommens auf dem Land in Leiyang (zum Vergleich, heute kostet ein qm Wohnraum in Shenzhen 50-200.000 RMB).

Ihr Kampf um Entschädigung begann 2009, als ein Vorarbeiter aus Leiyang vor Gericht ca. 14.000 USD von seinem alten Arbeitergeber erstreiten konnte. Daraufhin haben 170 Arbeiter aus Leiyang sich zusammengetan und ärztlich untersuchen lassen, um ebenfalls Entschädigung zu fordern. Bei über hundert wurde Staublunge diagnostiziert. Da aber nur 17 einen formalen Arbeitsvertrag vorweisen konnten und die übrigen laut erstem Angebot der Regierung Shenzhen nur ca. 4500 USD erhalten sollten, fuhren sie erneut nach Shenzhen und begannen mit Sitzprotesten vor Regierungsämtern. Schließlich willigte die Regierung ein, 10.800 für Staublunge ersten Grades, 15.400 für den zweiten Grad und 20.000 USD für Erkrankung dritten Grades als "humanitäre" Entschädigung, also ohne Arbeitsvertrag zu zahlen. Unter denen mit Arbeitsvertrag konnte einer mit einer Erkrankung dritten Grades den gesetzlichen Entschädigungsanspruch von 46.200 USD durchsetzen.

Die Arbeiter sind durch Nachbarschaftsbeziehungen und Kontakte von den Baustellen gut vernetzt und gut organisiert. Seit 2009 haben ihre Proteste ein wenig mediale Aufmerksamkeit bekommen und wurden u.a. von Studierendengruppen unterstützt. Somit verbreiteten sich diese Nachrichten schnell unter erkrankten Bauarbeitern, und auch andere Gruppen wie die der Arbeiter aus Zhangjiajie begannen mit direkten Aktionen. Sie besetzten mit 80 Leuten den Eingangsbereich des Behandlungszentrums für Arbeitserkrankungen in Shenzhen. Am Ende erzielten sie ähnliche Ergebnisse wie ihre Kollegen aus Leiyang. Seitdem sind sehr viele weitere Arbeiter erkrankt, und ihre Lage hat sich verschärft. Sie haben viele weitere Proteste organisiert und oft, nach langen Auseinandersetzungen, kleine Entschädigungssummen erhalten. Die erkrankten Arbeiter zielen in erster Linie auf Entschädigungen, die Baustellen haben sie längst verlassen, weshalb Verbesserungen beim Arbeitsschutz für sie keine wichtige Rolle spielen.

Nur wer einen Vertrag vorweisen kann, kann auf rechtlichem Wege Entschädigung durchsetzen, was in der Regel von zwei bis zu viereinhalb Jahren dauert. Anfang November 2018 konnten Arbeiter aus Leiyang Entschädigungen, wenn auch nur übergangsweise, auch für Arbeiter ohne Arbeitsvertrag durchsetzen. Sie zeigten damit, dass sich auch Arbeiter aus informellen Jobs, die keinen Zugang zu juristischen Mitteln haben, durch kollektive Organisierung durchsetzen können. Sich direkt an die Regierung zu wenden, und nicht an den früheren Arbeitgeber, dürfte ausschlaggebend dafür sein, dass sie schneller entschädigt werden. Allerdings liegen die "humanitären" Entschädigungen der Regierung oft nur bei einem Drittel der gesetzlichen Höhe. Die Regierung spaltet so die Arbeiter in solche mit und ohne Vertrag, mit und ohne Berufsunfallversicherung.

Immobilienblase

Eine weitere, sogar relativ große Gruppe von Protestierenden sind Hausbesitzer bzw. Hauskäufer, die sich um den Wert ihrer teuer erstandenen Immobilie betrogen sehen. Die Betrüger sind sehr einfallsreich. Aber erst wenn die Preise einbrechen, kommt es zu Ärger, wie über die Nationalfeiertagswoche Anfang Oktober in Guangxi, wo es plötzlich Rabatte von 30 bis 50 Prozent auf Wohnungen gab.

Statistisch sind über 90 Prozent der chinesischen Haushalte Wohneigentümer. Aber die Wohnung oder das kleine Haus ist meist nicht da, wo es Arbeit gibt. (Wander-)Arbeiterinnen und junge Menschen wohnen im Grunde alle zur Miete in billigen Wohnvierteln oder in Wohnheimen. Wohnungspreise sind unglaublich hoch, nicht selten entspricht der Preis einer durchschnittlichen Familienwohnung dem 20- bis 70fachen des verfügbaren Jahreseinkommen. Wer es aber irgendwie finanzieren kann, versucht trotzdem eine Wohnung zu kaufen, denn es gibt quasi keinen rechtlichen Schutz für Mieter; Mietverträge sind völlig unreglementiert, auf ein Jahr befristet und dienen einzig der Macht der Landlords. Der Schulbesuch der Kinder von Leuten ohne Hukou ist an Wohneigentum geknüpft, eine Mietwohnung berechtigt nur in Ausnahmefällen zum Besuch der staatlichen Schule in der Nachbarschaft. Ohne Wohneigentum oder Hukou hat kein Kind Zugang zu einer guten Schule. Für Wanderarbeiter ist es daher in jeder Hinsicht unattraktiv, Kinder in einer Mietwohnung großzuziehen. Denn spätestens zur Einschulung müssen sie fast immer zu den Großeltern. In Shenzhen werden Kinder beispielsweise in sechs Ränge unterteilt, je nachdem ob ihre Eltern Wohneigentum im Schulbezirk besitzen, einen lokalen Hukou vorweisen können o.ä.

In den letzten Jahren sind auch die Mieten angezogen, die Immobilienspekulation schlägt ungefiltert durch auf Mieterinnen. Ein neues Phänomen in den sehr großen Städten sind "Studio-Wohnungen" (das heißt: Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem Raum) in aufgehübschten Apartmentblocks, insbesondere für junge Mieter mit white collar-Jobs. Trotz der winzigen Größe von kaum mehr als 10 qm sind Mieten ab 1300 RMB für Arbeiterinnen kaum erschwinglich, für sie bleiben nur die engen, dunklen und feuchten Wohnungen in unregulierten, "urbanen Dörfern" (slumartige Viertel mit miserabler Infrastruktur und engen Gässchen, in die kaum Tageslicht fällt).

Um diesen unteren Mietmarkt auszubauen, hat die Stadt Shenzhen ein Programm aufgelegt und Vanke, einen der landesweit größten Immobilienentwickler, beauftragt, etwa 200 urbane Dörfer zu gentrifizieren. Entweder wird dafür ein Hausbrand wie im November 2017 in Beijing zum Vorwand genommen, oder Vanke kauft direkt über die Dorfgemeinschaft Wohnungen auf, vertreibt die Mieter innerhalb weniger Tage, streicht neu, hübscht auf und vermietet die Wohnung für das Zwei- bis Dreifache. Foxconn baut in Shenzhen schon seit Jahren die Zahl der Wohnheimplätze ab, und während Arbeiterinnen 2017 noch kleine, sehr rudimentäre Einraumwohnungen ohne Klimaanlage für 600-700 Yuan finden konnten, wird heute quasi dieselbe Wohnung von Vanke für fast 2000 Yuan angeboten.

Die unbewohnten Wohntürme sind allgemein bekannte Zeugnisse einer "Immobilienentwicklung", die an den Bedürfnissen der großen Masse vorbei läuft, landesweit werden 22 bis 24 Prozent Leerstand geschätzt. Um einem allzu baldigen Platzen der Immobilienblase vorzubeugen, haben alle großen Städte in den letzten Jahren Regulierungen zu Wohnungskauf und Kreditvergabe eingeführt, was den Preisanstieg im oberen Segment dämpfte. Die hot spots der Wohnungsverteuerung sind daraufhin in kleinere Städte des 3. und 4. Ranges gewandert. Auf Baustellen von Country Garden, ebenfalls einer der größten Immobilienentwickler, kam es allein im Herbst 2018 zu mehr als einem Dutzend tödlicher Unfälle, u.a. wegen des krassen Arbeitstempos.

Analysten prophezeien für Mitte 2019 das Einbrechen des Immobilienmarkts in Städten der unteren Ränge, offenbar versucht man, allen gekauften Grund so rasch wie möglich zu verkloppen. Die Preise bei Landversteigerungen in etlichen großen Städten sind im vergangenen Jahr um bis zu 20 Prozent gefallen, was die Finanzierungsengpässe der Lokalregierungen weiter verschärft. Auch die Immobilienpreise in Hong Kong stagnieren. Deswegen werden schon wieder neue staatliche Bauprogramme aufgelegt, ältere Häuser durch neue zu ersetzen, in den nächsten Jahren sollen 15 Mio. Häuser gebaut werden. Auch die Kreditvergabe für Wohnungskäufe wurde wieder gelockert.

Durch die Immobilienblase ist die chinesische Wirtschaft aufgebläht und viele Wohneigentümer sind auf dem Papier reich, aber die kleinen Besitzer, die ein, zwei oder drei Wohnungen haben, können nicht frei über diese Werte verfügen, sie gegen Geld oder Aktien veräußern, weil es keine anderen halbwegs sicheren Anlagemöglichkeiten gibt. Solange die Preise hoch sind, haben Wohneigentümer ein Interesse an einer stabilen Ordnung, die nur die Partei bieten kann. Aber diese Abhängigkeit geht in beide Richtungen. Angesichts der Preise und des Leerstandes, kann der Markt eigentlich kaum noch wachsen, sollte er aber zusammenbrechen, sind die ganzen Werte plötzlich weg und es wird sich viel Unmut breit machen. In einer solchen Situation würde die Zentralisierung der Macht auf Xi einschließlich Personenkult, seine Alleinstellung und die Verankerung seiner "Ideologie" in der Verfassung für die Partei zum ungeheuren Risiko. Wem könnten sie dann noch die Schuld zuschieben?

Situation von Studierenden

Studierende spielen eine wichtige Rolle als Unterstützerinnen der Jasic-Arbeiter. Für ambitionierte und studierte junge Leute ist eine politische Laufbahn ebenso versperrt wie die Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg immer dürftiger wird, und das in solchen Fällen als Ventil dienende Kulturfeld ist unter Xi sehr scharf zensiert - nur solange sie unpolitisch bleiben, genießen Künstlerszenen noch gewisse Narrenfreiheit. Aber gleichzeitig nimmt der Austausch mit dem Ausland weiter zu,Tourismus und insbesondere fast eine halbe Million Studierender, die jedes Jahr ins Ausland gehen, sichern nicht gerade kulturelle Abschottung. Die Partei setzt deshalb auf gegenseitige Überwachung von Studierenden im Ausland, und wenn sich eine Studentin im Ausland allzu unpatriotisch äußert, zetteln die Medien gern mal eine Onlinedebatte über Patriotismus an. Auch im Inland hat die Überwachung an den Unis zugenommen. Wer auf Master studieren will, muss lange Pflichtkurse zur Parteiideologie besuchen. Immer wieder mal hört man von Studierenden, die politischen Gesinnungstests unterzogen werden sollen, oder von anderen, die ihre Dozenten anschwärzen.

Im Vergleich zu Arbeitern ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt für Studis ungleich besser, aber auch alles andere als einfach. Wohnungen sind auch für sie meistens unbezahlbar, und viele wohnen daher auch in urbanen Dörfern oder, wenn sie Ansprüche darauf haben, in städtischem Wohnungsbau, oder pendeln zwei bis vier Stunden täglich. Die Zahl der Absolventen von Universitäten und Fachhochschulen steigt weiter. Meist werden sie nur als bezahlte Praktikantinnen angestellt und wechseln oft Jobs und Branchen. Selbst für Programmierer gilt eine ähnliche Personalpolitik wie in den Niedriglohnfabriken, sie fangen mit 4500 - 5000 RMB an und bewerben sich nach ein oder zwei Jahren auf Stellen, die nur ein wenig besser bezahlt sind. Erst nach etlichen Arbeitsjahren in Unternehmen oder Bildungseinrichtungen steigen die Gehälter, dann kommen aber auch Grundschullehrerinnen in Guangzhou auf 12 - 15.000 Yuan im Monat. Inwiefern solche Lohnsteigerungen durch Jobhopping "im ökonomischen Winter" noch möglich seien werden, wird sich erst noch zeigen müssen.

Erziehung und Kinder

Nach den überteuerten Kindergärten, die durchaus pro Kind ein halbes Ärztegehalt verschlingen können, folgen zwar in der Regel günstige, staatliche Schulen, aber ambitionierte Eltern, die einen guten Studienplatz für ihre Kleinen wollen, bringen diese ab zwei oder drei Jahren in private Lern- und Nachhilfeschulen. Dieser Markt ist gigantisch aufgebläht und macht rund 80 Mrd. Euro aus. Eine Stunde Mathe-Nachhilfe in downtown Shenzhen kostet leicht 80 Euro. Für vergleichsweise günstige 23 Euro (rund 176 Yuan) kann man sein drei- bis siebenjähriges Kind für eine Stunde in der Lego-Schule abgeben, wo Ingenieursstudenten mit ihnen Lego spielen. Wer will, bekommt das Lego-Spielen auch auf Englisch. Die Schule zahlt den Lehrkräften zehn bis 25 Prozent der Einnahmen pro Stunde aus. Solche Einrichtungen boomen, auch wenn es unvorstellbar ist, warum viele Leute so viel Geld und Zeit im Straßenverkehr opfern, wenn sie doch selbst mit ihren Kindern Lego spielen könnten.

Der Lern- und Leistungsdruck steigert sich dann bis in die Oberstufe, wo viele Schüler nur alle zwei Wochen einen Tag frei haben und an zwei Händen abzählen können, wie viele Stunden sie pro Woche zur freien Verfügung haben. Die Kurzsichtigkeit unter Kindern nimmt explosionsartig zu, nicht zuletzt, weil sie zu wenig Zeit im Freien verbringen. Der Leistungsdruck lastet auch auf vielen Müttern, die hauptsächlich für die Betreuung und emotionale Unterstützung der Kinder verantwortlich gemacht werden.

Diesen Leistungsplagen ambitionierter Mittelschichten stehen arme Regionen gegenüber, in denen die durchschnittliche Klassengröße 65 Schüler übersteigt. Der Bezirk Leiyang in Henan - von wo viele der an Staublunge erkrankten Bauarbeiter kommen - ist so eine Gegend. Die örtliche Wirtschaft hängt stark vom Kohleabbau ab und seit dieser in der Krise ist, fehlt es der Lokalregierung an Einnahmen. Die jüngste Sparmaßnahme sollte Kinder daher für die 7. Klasse auf Privatschulen schicken, um Kosten bei staatlichen Schulen einzusparen. Wegen der hohen Schulgebühren, der weiten Anfahrtswege, der miserablen Lehrqualität und der vermuteten Asbestverseuchung der Schulgebäude sind über tausend Eltern im Protest vor die Bezirksregierung gezogen. Über 50 von ihnen wurden verhaftet.

Das schulische Ausbildungssystem dient vor allem der Reproduktion der Klassen und Schichten. Gerade sein Erfolg wird zur Krise dieses Bildungssystems, das nahezu alles dem Zweck unterwirft, die Reproduktion der sozialen Ungleichheit, schlechte Löhne und gesellschaftlichen Ausschluss durch die Ungleichheit an Wissen, Bildung und Kultiviertheit zu rechtfertigen. Kein Wunder also, dass trotz Ende der Ein-Kind-Politik und massivem gesellschaftlichem und kulturellem Druck die Geburtenraten unverändert niedrig bleiben. In öffentlichen Diskussionen wird bereits getestet, wie die Bevölkerung auf die Einführung von Strafen für Kinderlosigkeit reagieren würde. An den ökonomischen und sozialen Gründen für die niedrige Geburtenrate wird jedoch nichts geändert.

Traditionell wird die gesellschaftliche Disziplinierung in China wesentlich über Verwandtschaftsbeziehungen und Nachbarschaftszugehörigkeit organisiert. Aber Jahrzehnte der Arbeitsmigration und Urbanisierung haben die Rolle der Dorfgemeinschaften geschliffen, und während die Macht der Eltern über die Entscheidungen ihrer Kinder im Vergleich zur BRD immer noch krass ist, eröffnet die schwindende ökonomische Aussicht auf die erfolgreiche Fortführung der Familie für viele junge Menschen zwangsläufig neue Perspektiven. (Ein Ausdruck davon ist auch das Versagen der Behörden, mittels Erpressung der Eltern die Unterstützerinnen von der Teilnahme an der Jasic-Bewegung abzuhalten.) Jugendliche diskutieren z.B. unter den Stichworten consumption downgrade und Sang Culture (ursprünglich aus Japan) eine Absage an Aufstiegsambitionen und protzigen Konsum. Der Regierung passt das nicht, die Stichworte werden zensiert und die Jugend zum Ehrgeiz aufgerufen, weil stagnierender Konsum als soziale Bedrohung erscheint.

Ökonomische Umbauten

Beim Eintritt in die Welthandelsorganisation im Jahr 2000 belief sich Chinas Bruttoinlandsprodukt auf 1,2 Billionen Dollar; heute beträgt es 13,5 Billionen Dollar. In Kaufkraft gerechnet ist der chinesische Markt mittlerweile größer als die EU, aber das ignoriert die Qualität der darin aufaddierten Waren und den tatsächlichen Nutzwert von (teils leerstehenden) Gebäuden und Infrastruktur. In US Dollar gerechnet hatte China 2017 einen Anteil an der globalen Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen von weniger als 9 Prozent. Und trotz der rasanten Lohnsteigerungen der letzten Jahrzehnte liegt das BIP pro Kopf bei nur 45 Prozent des globalen Durchschnitts und bei 15 Prozent im Vergleich mit den USA. Außerhalb der großen Metropolen ist China immer noch ein "armes" Land.

2018 sind die Autoverkäufe um 5,8 Prozent gesunken; die Auslastung der Autofabriken lag bei nur 70 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs nach offiziellen Zahlen nur noch um 6,6 Prozent - "so wenig wie seit 28 Jahren nicht mehr", wobei diese Zahl kaum mit denen anderer Länder zu vergleichen ist; nicht nur, weil Fehlinvestitionen bzw. Abschreibungen nicht subtrahiert werden, sondern, so argumentiert Michael Pettis, weil das chinesische BIP den input, nicht wie anderswo den output misst.

In den letzten Jahren wurde abwechselnd mit Lockerung von Krediten und Geldspritzen auf Konjunktureinbrüche oder mit Regulierung auf die Gefahren aufgeblähter fauler Kredite hin- und herlaboriert. So werden jetzt auch wieder die Geldspritzen, Steuersenkungen und Reduzierungen der Eigenkapitaleinlagen bei Banken aufgefahren. Der Steuerfreibetrag wurde auf 5000 RMB erhöht, weiten Teilen der urbanen Mittelschicht wurde die Einkommenssteuer quasi halbiert. Von Dezember bis Ende Januar genehmigte die National Reform and Development Commission neue Infrastrukturprojekte insbesondere im Straßen- und Schienenbau von über 160 Mrd. USD. Ferner wurden neue Subventionen für Autos, 5G-Mobilfunk- und 4K- Fernsehinfrastruktur angekündigt. Im Grunde sind alle Maßnahmen Reaktionen auf die Fehler und Grenzen der vorangegangenen Maßnahmen und deuten schon wieder die nächsten Probleme an, wie die weiter wachsende Schuldenlast und die hohe Auslandsverschuldung chinesischer Unternehmen. Die zwei umfangreichsten wirtschaftspolitischen Projekte sind Made in China 2025 und die Belt and Road Initivative, bzw. Neue Seidenstraße.

Made in China 2025

Damit soll die alte Wirtschaftspolitik umgebaut werden, für die niedrig entlohnte Massenproduktion und Jointventures mit staatseigenen Betrieben stehen. Die Jointventures in der Autoindustrie haben zwar viel Geld in die Koffer der chinesischen Partner gespült, aber letztlich versagt, weil keine eigenen chinesischen exportfähigen Marken aufgebaut wurden. Xis neue Wirtschaftspolitik setzt nun auf Kombination von Informationstechnologie und Niedriglohn sowie auf nationale Champions aus der Privatwirtschaft, allen voran auf Huawei, Tencent, Alibaba, BYD. Mit dem Programm soll Forschungs- und Industrieförderung in zehn Bereichen angekurbelt werden, diese sind Argarmaschinen (für die Mechanisierung der heimischen Landwirtschaft), Schiffbau, Elektromobilität, IT, Roboter, Kraftwerke, Luft- und Raumfahrt, Werkstoffe, Eisenbahnen und Biomedizin. Ziel ist, in vielen Bereichen bedeutende Teile des Weltmarkts zu gewinnen und die steigenden Löhne durch Automatisierung zu bekämpfen.

Einerseits rollen chinesische Maschinenbauer bereits erfolgreich den Markt preislich von unten auf und verbessern ihre Qualität und ihren Ruf; es wird sich daher noch zeigen müssen, ob den deutschen Maschinen- und Autobauern mit Industrie 4.0 die Flucht nach vorne gelingen wird oder nicht. Andererseits sind die Veränderungen der neuen Wirtschaftspolitik auch nicht so groß und oft nur sehr oberflächlich: Huawei kopiert im Wesentlichen das Sweatshop-Modell von Apple mit dem einzigen Unterschied, dass die Gewinne in China bleiben, während Alibaba die Cottageindustrie inklusive Kinderarbeit mit Internetanschluss propagiert und Tencent durch sein Monopol in Chatkommunikation und mobilem Geldverkehr vermutlich gigantische Industriespionage im Heimatland betreibt. Alibaba und Tencent sind dank des mobilen Bezahlens im Umfang von monatlich z.Z. etwa einer Billion Euro zu gigantischen Geldbanken geworden, die einen Großteil ihrer Gewinne im Investment verdienen, bei dem sie die enormen Mengen Nutzerdaten als Konkurrenzvorteil nutzen. Während einzelne wenige neue nationale Champions so ihre Stellung auf dem heimischen Markt verbessern können, verlaufen die Investitionen in Automatisierung und Produktivitätssteigerungen insgesamt schleppend; die Privatunternehmen investieren deutlich weniger als die staatlichen.

Mit der Förderung von Elektroautos und der Batterieproduktion versucht man, in der globalen Autoindustrie aufzusteigen. Bis 2020 sollen über 60 Prozent der weltweiten Fertigungskapazitäten für Batterien in China stehen. Elektroautos sind von Fahrverboten ausgenommen, und in den größten Städten fahren bereits viele Busse elektrisch. Aber die Subventionsprogramme für Elektroautos sind durchaus chaotisch und von den zahlreichen E-Autobauern wird wahrscheinlich nur eine Handvoll überleben. Gleiches gilt auch für die weit mehr als hundert Roboterfirmen. Die jüngsten Einbrüche bei den Autoverkäufen treffen besonders chinesische und US-amerikanische Hersteller, nur die Absätze von Elektroautos steigen - verlangsamt - weiter an.

Die Automatisierung trifft insbesondere Arbeiterinnen in kleineren und mittleren Unternehmen. In Dongguan im Perlflussdelta wurden bei verschiedenen Betrieben nach der Einführung von staatlich subventionierten Robotern 60 bis 85 Prozent der Arbeiter entlassen! Umschulungen oder Weiterbildung der Beschäftigten sind im Made in China-Plan nicht vorgesehen. Nachdem die teils über Jahrzehnte beschäftigten Wanderarbeiter entlassen wurden, werden für die Betreuung der Maschinen junge Uniabgänger mit engineering bachelor eingestellt. Die aus anderen Provinzen stammenden Entlassenen werden einfach fortgeschickt. Der Angriff auf die alten Belegschaften wird also möglichst disruptiv geführt. Der Anteil der Beschäftigten in der herstellenden Industrie sinkt, der Dienstleistungssektor wächst und darin insbesondere die Plattform- oder Gigindustrie wie Essen- oder Paketlieferdienste. Laut offiziellen Zahlen waren im letzten Jahr 70 Millionen in der Plattformindustrie beschäftigt, 10 Millionen mehr als im Vorjahr, in der weiterhin Unsummen für Marketing, Leihfahrräder und Markteroberung verbrannt werden.

Neue Seidenstraße

Die Belt and Road-Initiative oder Neue Seidenstraße wurde 2013 auf dem Parteikongress beschlossen. Sie umfasst mittlerweile über 120 Länder und einen geplanten Kreditrahmen von über einer Billion Euro. Das ist allerdings wenig im Vergleich zu den hochgesteckten Zielen; dafür wären Investitionen von mehreren Billionen Euro nötig.

Schwerpunkte sind die Landroute nach Europa, Pakistan und der Landweg zum Indischen Ozean, Ostafrika und Südostasien. Die jährlich über 600 Güterzüge von China nach Europa mit Endstation Duisburg sind längst Alltag der Seidenstraße. Ursprünglich wurden die Züge von Foxconn eingerichtet, um damit die Lieferzeiten gegenüber dem Schiffsweg von. zwei Monaten auf zwei Wochen zu verkürzen.

Neben dem Aufbau von alternativen Transportrouten, auch als Alternative zur Straße von Malakka, geht es auch um die militärische Absicherung von Handelsrouten nach Afrika (Militärstützpunkt in Djibouti) und die Schaffung neuer Absatzmärkte - und vermutlich nicht zuletzt um das Abladen von Überkapazitäten chinesischer Staatsbetriebe, an die über 80 Prozent der Aufträge gehen.

Die Kredite werden überwiegend von chinesischen Staatsbanken, der China Development Bank, der chinesisch geführten Asian Infrastructure and Investment Bank und dem Silk Road Fund bereitgestellt. Die Länder, in denen Infrastrukturprojekte wie Häfen, Straßen, Bahnverbindungen, Kraftwerke etc. gebaut werden, allen voran Pakistan, Mongolei, Tadschikistan, Laos, Sri Lanka und Kambodscha, erhalten jedoch nur Kredite, die sie später zurückzahlen müssen. Für viele Länder nimmt die Verschuldung gegenüber China dadurch beträchtlich zu. Oft nehmen die lokalen Eliten Kredite aus Beijing zu Bedingungen an, die sie besser geheim halten, und so wächst Chinas Einfluss. Jahrelang unterstützte z.B. die Türkei uigurische Unabhängigkeitskämpfer in Syrien, das ist nun vorbei. Weder die Türkei noch andere zentralasiatische muslimische Länder sind bereit, für öffentliche Kritik an der Internierung von Muslimen in Xinjiang die Handelsbeziehungen mit China zu riskieren.

Trotzdem kommt auch Gegenwind auf. Seit im letzten Jahr der Hambantota Hafen in Sri Lanka nach Insolvenz an die chinesischen Kreditgeber fiel, sind auch Länder wie Malaysia, Pakistan, Mayamar und Kambodscha vorsichtiger gegenüber neuen Projekten mit chinesischen Krediten geworden. Der Hambantota Hafen ist nicht das einzige Beispiel für ökonomische Fehlinvestition, leuchtende Gegenbeispiele lassen auf sich warten.

Es ist nicht leicht, Näheres über die Arbeitsbedingungen der ca. 10 Mio. Chinesen im Ausland und in Fabriken, die von Chinesen im Ausland betrieben werden, zu erfahren. Über eine Million Chinesen arbeiten in Afrika und dort oft sehr getrennt von den örtlichen Arbeitern. Aber trotz der zwei bis dreifachen Löhne, die z.B. Huawei seinen Technikern in Afrika zahlt, wollen viele dort nicht hin. Die in China ohnehin schon langen Arbeitstage mit vielen Überstunden sind im Ausland noch länger, bis zu 14 Stunden, wie ein Kollege über Huawei in Saudi Arabien berichtete. Außerdem gelten afrikanische Länder als sehr gefährlich. Die chinesische Regierung nutzt alles von Blockbusterfilmen bis zu sozialen Medien, um den Eindruck zu erwecken, man würde das Wohl seiner Staatsbürger im Ausland mit diplomatischen wie militärischen Mitteln garantieren. Das glaubt in China zwar niemand so recht - es macht aber den großen Ehrgeiz und das aggressive Herangehen deutlich.

Neuer Kalter Handelskrieg?

Der heftige Handelsstreit zwischen den USA und China droht zum Handelskrieg zu werden. Das hat eine Vorgeschichte.

Nachdem Nixon zu Beginn der 70er Jahre den Dollar vom Gold gelöst und damit die Nachkriegswährungsordnung beendet hatte, stabilisierte in den 90er Jahren eine neue Konstellation die globale Währungsarchitektur: US-Firmen verlagerten Teile der Produktion nach China, die USA konsumierten die Waren aus China auf Pump, China kaufte mit den Exporterlösen US-amerikanische Schuldscheine (Staatsanleihen). Für dieses widersprüchlich-innige Verhältnis hatten der Historiker Niall Ferguson und der Ökonom Moritz Schularick den Begriff "Chimerica" geprägt.

Seit der globalen Krise 2008 nehmen Handelsbeschränkungen zu, und das Wachstum des globalen Handels hat sich deutlich verlangsamt. Die Handelsbilanz China-USA hat sich zunächst aber nicht stark verändert: Abgesehen von einem kleinen Einbruch 2015 und einem größeren 2016 sind die US-Importe und das Handelsvolumen seit 2008 bis einschließlich 2018 in der November-zu-November-Jahresbilanz gestiegen. Das Handelsbilanzdefizit der USA ist dabei - im Unterschied zur Gesamtentwicklung der chinesischen Handelsbilanz - weiter gestiegen. Nach der Krise 2008/9 wurde die chinesische Exportorientierung zugunsten von Immobilien- und Infrastrukturboom gesenkt und insbesondere der Handelsbilanzüberschuss von zehn Prozent 2007 auf jetzt zwei Prozent am BIP reduziert. Vor ein paar Jahren lag der Anteil der Exporte am BIP bei 36 Prozent, mittlerweile liegt er bei 18,5 Prozent. Made in China 2025 wird Chimerica endgültig sprengen ... Ein Grund für Apples sinkenden Absatz waren die Smartphones einheimischer Konkurrenten wie Huawei und Oppo. Ihre Modelle sind günstiger und bieten oft mehr." (Heike Buchter in der Zeit) Aus Sicht der USA hat sich Chimerica gegen sie gewendet. Das Handelsbilanzdefizit steigt immer weiter, amerikanische Firmen geraten auf dem chinesischen Markt ins Hintertreffen, die Lieferketten funktionieren mehr und mehr für China.

Noch versucht die chinesische Regierung, den äußeren Rahmen aufrechtzuerhalten. 2017 hatte man so viele US-Staatsanleihen gekauft wie seit der globalen Krise nicht mehr (und damit die relativ starken Verkäufe von 2016 wieder ausgeglichen). Aktuell hält China US-Staatsanleihen in Höhe von knapp 1,2 Billionen Dollar.

Mittlerweile liegt aber die Auslandsverschuldung insbesondere chinesischer Privatunternehmen bei offiziell 1,4 Bio. USD, inoffiziell bei über 2 Bio. Der Spielraum Chinas wird an allen Ecken enger. Der bereits zitierte Michael Pettis hatte Mitte Juni 2018 vehement dagegen argumentiert, China laufe den USA den Rang ab; das wirkliche Problem sei, dass die "beggar thy neighbor"-Politik der Globalisierung ans Ende gekommen ist, sich also die exportorientierte Strategie von Nationalstaaten, die Binnenlöhne niedrig zu halten und mit Handelsbilanzüberschuss zu exportieren, nicht mehr weitertreiben lasse. Chimerica stirbt von beiden Seiten.

Zur Zeit ist nicht abzusehen,wie sich die Handelskonflikte zwischen den USA und China entwickeln werden. Einerseits scheinen sowohl die Chinesen als auch Trump bereit, für ein baldiges Ende der Strafzölle bzw. für einen schnellen Erfolg Zugeständnisse zu machen, andererseits könnten die verschärften Angriffe aus den USA gegen Huawei genau hier reingrätschen. Mittlerweile haben fast alle Five-Eye-Länder Regelungen erlassen, die Huawei vom Aufbau der nächsten Mobilfunkgeneration fernhalten sollen, in großen Teilen Europas werden ähnliche Maßnahmen derzeit diskutiert. Die Festnahme der Huawei-Managerin und Tochter des Firmengründers in Kanada, die Festnahme eines Huawei-Managers in Polen und die Anklageerhebung gegen Huawei in den USA stellen weitere Zuspitzungen dar, die alle während der dreimonatigen Feuerpause im Handelsstreit stattfanden und für die chinesische Regierung kaum hinnehmbar sind. Am Beispiel Huawei zeigt sich ein weiteres Mal, dass es neben der Handelsbilanz noch um einiges mehr geht.

Konvergenz: "West" und "Ost" gleichen sich weiter an

Der scheinbare Gegensatz von Demokratie und Einparteiendiktatur verdeckt die Konvergenz beider Ausbeutungsordnungen: wachsender autoritärer staatlicher Zugriff, Lebens- und Ausbeutungsbedingungen unter dem Reproduktionsniveau (niedrige Geburtenraten), Ausweitung der Arbeitszeiten von miserabel entlohnten Vielen, die schier grenzenlose Verteuerung von Wohn- und Lebensraum. Hinzu kommen die Zunahme des Dienstleistungssektors, sowie Zergliederung und Auslagerung von Produktion, die Streiks erschweren - in China ist dieser Prozess im Vergleich zu den alten Zentren stark verzögert, aber in den küstennahen Industriezentren ebenfalls sichtbar.

Kapitalismus ist auch in China längst nicht mehr in einer Phase, wo die Kapitalisten sich da- durch bereichern, dass sie möglichst viele möglichst produktiv beschäftigen, und auf dem Wege Produktivkräfte entwickelt werden. Die Quelle von Profit verschiebt sich weg von der herstellenden Industrie hin zu Immobilien, Rente und zu neuen Geschäftszweigen, die nicht daraus ihren profitablen Vorteil schlagen, dass sie Arbeit rationalisieren, sondern indem sie die Verwaltung von relativ einfachen Tätigkeiten automatisieren und Algorithmen überlassen. Die herrschenden Klassen sind mehr und mehr damit beschäftigt, ihren ergaunerten Status zu wahren und nicht (mehr) in der Lage, das Versprechen von Integration und Aufstieg aufrechtzuerhalten. Die zum Zweck der Reproduktion und Rechtfertigung von Macht und Ungleichheit eingerichteten Bildungssysteme sind so aufgebläht, dass sie selbst zu einer Bedrohung werden und Menschen abschrecken, Kinder zu kriegen. In "Ost" und "West" brechen die Geburtenzahlen ein, auch darin werden sich die Regionen immer ähnlicher.

Allerdings ist die scheinbare Gewissheit, dass aufholende Industrieländer sich an einem bestimmten Punkt politisch liberalisieren (z.B. Süd-Korea und Taiwan) für China nicht ausgemacht. Der chinesische Aufstieg der letzten Dekaden basiert auf einem gigantischen Raubbau an Arbeitskräften und Umwelt, und die herrschende Klasse ist wie in vielen anderen Ländern zunehmend weder willens noch in der Lage, die für die langfristige Fortführung ihrer Macht notwendigen demografischen und klimatischen Bedingungen zu sichern und die dafür notwendigen Zugeständnisse zu machen. China vergreist.

Weltarbeiterklasse

Angesichts sich verschärfender internationaler Spannungen, Säbelrasseln und heraufziehender Krisen bleibt nur die Hoffnung auf eine Weltarbeiterklasse, die den Hauptfeind im eigenen Land erkennt. Durch globale Zulieferketten arbeiten wir abstrakt in einer weltumspannenden Kooperation, aber was bedeutet das konkret? Durch Migration und räumliche Nähe können Arbeiterinnen in Austausch treten, aber wenn die Distanzen so weit sind, dass nur bestimmte Teile reisen und kaum Arbeitsmigration oder nur unter Gutausgebildeten stattfindet, was dann? Austausch fällt nicht vom Himmel. Ich glaube, nur durch Begegnungen, gegenseitige Unterstützung etc. können wir lernen, was die globale Kooperation im Konkreten bedeuten kann.

Bei einem Treffen und gemeinsamen Essen mit chinesischen und deutschen Amazon-Arbeitern in China war das Spektakulärste, dass es gar nichts spektakuläres gab. Wir kannten beide Gruppen ganz gut und hatten auch von Arbeitsbedingungen im jeweils anderen Land berichtet. Beim Essen ging es dann schnell um Unterschiede und Gemeinsamkeiten; der standardisierte Amazon-Sprech half beim Verstehen und Lachen. Hinterher meinte der deutsche Arbeiter, das sei ja im Grunde wie bei Treffen mit Arbeitern aus anderen Warenlagern in Deutschland, Polen oder Frankreich gewesen, nur dass sie in China besonders schnell auf die Einzelheiten bei den unterschiedlichen Arbeitsbedingungen zu sprechen kamen.

Wenn chinesische und deutsche Arbeiter miteinander reden, dann ist das an sich nicht anders, als wenn Kollegen aus zwei verschiedenen Betrieben in Deutschland miteinander reden. Was es schwierig macht, sind Entfernung, Sprachbarriere und die Einkommensdifferenz zwischen "Semi-Entwicklungsland" und Industrieland. Die Reaktion einiger polnischer Amazon-Arbeiter, als ich ihnen von ihren Kollegen in China erzählte, war völlig klar und ohne nebulöse kulturelle Distanz. Sie wollten einfach genau wissen, wie die Bedingungen und Löhne sind, um es mit ihren Bedingungen und denen anderswo vergleichen zu können, von ihnen hatten schließlich schon viele im Ausland gearbeitet - und China war in ihren Augen einfach nur ein anderes Ausland.

Die meisten Versuche, Begegnungen, Austausch und Solidarität über weite Distanzen aufzubauen, führen nicht weit - zumindest habe ich das oft gehört und selbst beobachten können. Es gibt aber keine anderen Wege, zu lernen und zu erfahren, wie Austausch stattfinden kann und wie letztlich Verbindungen zwischen verschiedenen Weltteilen gebildet werden können.

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Quelle:
Wildcat 103 - Frühjahr 2019, S. 29 - 37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2019

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