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WILDCAT/037: Im wilden Westen Londons


Wildcat 101 - Winter 2018

Im wilden Westen Londons


Wir wohnen und arbeiten im westlichen Randgebiet Londons, dem sogenannten western corridor, zwischen dem Flughafen Heathrow und den zwei Autobahnen M4 und A40. Neben öden Vorstadtstraßen mit überbelegten Reihenhäusern gibt es hier vor allem Logistik- und Industrieparks. Rund um den Flughafen arbeiten 80.000 Leute, in den Industriegebieten Southalls und Greenfords rund 4000 und in Park Royal 35.000. Wo in den 1960ern und 1970ern Helikopter, Autoteile und Doppeldeckerbusse vernietet wurden, werden jetzt in erster Linie Paletten umgeladen, Gemüse verpackt oder Fertigessen am Band zusammengerührt. Über die Hälfte der in der Neun-Millionen-Stadt London täglich konsumierten Nahrungsmittel geht durch den western corridor. Rund 90 Prozent der Arbeiter hier sind MigrantInnen erster oder zweiter Generation. Mit den Industrien veränderte sich auch die Zusammensetzung der lokalen Arbeiterklasse. In den 1930ern, als die ersten Tee-Fabriken, Chemieunternehmen und die großen Straßen- und Eisenbahnbaustellen entstanden, hieß es, "Waliser, geht nach Hause", da in erster Linie arbeitslose Bergarbeiter aus Wales zuzogen. Ihnen folgten in den 1950ern ArbeiterInnen aus Irland. In den 1960ern wurde Southall zum größten punjabischen Viertel außerhalb Indiens. Heute treffen osteuropäische ArbeiterInnen sowohl auf eine eingesessene indische Arbeiterschaft als auch auf ein aufgestiegenes indisches Kleinbürgertum: Viele Bauunternehmer, Vermieter, Angestellte bei Behörden, Ladenbesitzer, Lokalpolitiker oder untere Manager sind indischer Abstammung. Zuweilen vermischt sich ein osteuropäischer Rassismus und die Ignoranz der Neuankömmlinge, Sikhs mit langen Bärten für Taliban-Sympathisanten zu halten, mit einer Ablehnung der "kleinen Bosse" und Blutsauger.

Ein Großteil der KollegInnen lebt in der Nähe des Arbeitsplatzes in unfreiwilligen Wohngemeinschaften, oft mehr als eine Person pro Zimmer. Eine Einzimmerwohnung gibt es kaum unter 900 Pfund, ein Doppelzimmer in einer geteilten Wohnung kostet um die 600 - bei einem Mindestlohn von rund 1200 Pfund im Monat. Es ist kein Problem, Jobs zu finden - aber schwierig, vom Arbeitslohn zu leben.

Geographisch und soziokulturell weit entfernt vom metropolitanen Stadtleben hatten hier die Wahlen und die Corbyn-mania wenig Bedeutung; die lokale Momentum-Gruppe besteht aus vier RentnerInnen Großen Einfluss hatte jedoch das Brexit-Referendum und die allgemeine Politik gegenüber ArbeitsmigrantInnen. Unsere polnische Nachbarin, eine Busfahrerin, die seit neun Jahren in London lebt, berichtete von vermehrten Drangsalierungen und Sprüchen. Rumänische KollegInnen fragen sich, wann sie zurück müssen. Die Ausländerpolizei macht laufend Razzien in den Fabriken, u. a. beim Sandwich-Hersteller Greencore. In dieser Situation ist das Soli-Netzwerk unser Finger am Puls. Aufgrund der Kürzungsmaßnahmen hat der Staat einiges an sozialarbeiterischen oder karitativen Vermittlungsinstanzen verloren, an die sich Leute in Not sonst wenden würden. Sobald wir unsere Plakate in der Gegend aufhängen, rufen uns Leute an. Anscheinend denkt zurzeit jeder Vermieter, Boss oder Behördenfuzzi, migrantische ProletarierInnen seien Freiwild, das man abzocken kann, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Eine polnische Familie wurde von ihrem Vermieter mit "Abschiebung" bedroht, nachdem sie durch Kürzung ihres Wohngelds in Mietverzug geraten war. Eine punjabische Kollegin wurde von einem Visa-Agenten, der ihr eine kurze Computerausbildung und ein Arbeitsvisum mit Jobgarantie versprach, um 10.000 Pfund geprellt. Ein Küchenarbeiter aus dem Senegal wurde trotz Nachweisen seines Arztes wegen unerlaubter Abwesenheit gefeuert. Einem Bararbeiter aus Ungarn und einem Bauarbeiter aus Kamerun wurde der Lohn nicht bezahlt. Das sind einige von Dutzenden von Fällen.

Meistens reicht ein wenig Druck aus, um die Bosse zum Einlenken zu bewegen. Wichtiger ist uns aber, dass wir mit den ArbeiterInnen in Kontakt bleiben und durch sie neue Leute kennenlernen. Den Sohn eines sudanesischen Kollegen, dem wir bei einem unfairen Bußgeldbescheid geholfen hatten, trafen wir dann in einem der zentralen Warenlager der Gegend, in dem wir Kontakte suchten. Wir hoffen, dass mit der Zeit ein sichtbares Netzwerk von (migrantischen) ArbeiterInnen entsteht, das es mit den Bossen aufnehmen kann.

Dabei müssen wir uns auch mit anderen - religiösen oder nationalen - Netzwerken auseinandersetzen. In proletarischen Vierteln wie Southall spielen Moscheen oder Tempel eine wichtige Rolle in der alltäglichen materiellen und ideologischen Reproduktion der lokalen Klasse, und das über ihre unmittelbare Klientel hinaus. Viele arbeitslos gewordene osteuropäische ArbeiterInnen gehen zum Beispiel zu Sikh-Tempeln, um dort Essen zu bekommen. Nach dem Grenfell-Brandunglück war Muslim Aid die erste karitative Organisation, die Opfer unterstützte, während der Staat sich tagelang nicht blicken ließ. Diese community organisations spielen eine zwiespältige Rolle, die bearded broz (bärtige Brüder), eine Organisation aufstrebender muslimischer Männer, organisierten z. B. während des MüllarbeiterInnenstreiks in Birmingham im Herbst 2017 ihre eigene lokale Müllabfuhr. Mit dem Argument, der Streik würde die ärmeren (pakistanischen) Viertel am härtesten treffen, unterliefen sie praktisch - wenn auch nur in kleinem Ausmaß - eine der wichtigsten Auseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst. Polnische NationalistInnen und Hooligan-Organisationen hatten in Reaktion auf Medienhetze gegen osteuropäische ArbeiterInnen zu Demos oder sogar zum "Polen-Streik" aufgerufen (was sie letztlich zu einem Aufruf zur Blutspende zurückschraubten). Sie betonten, polnische ArbeiterInnen seien die beste Arbeitskraft für die britische Wirtschaft. Ein anderer Versuch, einen "MigrantInnen-Streik" zu organisieren ("one day without us"), blieb zumindest in unseren Gefilden eine Online-Luftnummer mit einer zentralen Kundgebung im Regierungsviertel. Seitdem sind es vor allem besser situierte Westeuropäer, die zusammen mit liberal eingestellten BritInnen Demos für den Verbleib in der EU organisieren.

Gewerkschaften im Betrieb

2016 hatten die Gewerkschaften 6,2 Millionen Mitglieder, weniger als die Hälfte im Vergleich zu den 13 Millionen im Jahr 1979,Tendenz weiter fallend. Weiter oben haben wir scheinheilige Politiker kritisiert, die sich fragen,warum trotz niedriger Arbeitslosenrate kein Lohndruck von unten entsteht. Unserer lokalen Erfahrung nach gehören auch die Gewerkschaften dazu. In vielen der größeren Betriebe gibt es gewerkschaftliche Vertretungen. Auch wenn wir versuchen, eine unabhängige Struktur aufzubauen, treten wir der Gewerkschaft im Betrieb bei, in erster Linie auf der Suche nach Orten des Austauschs. Nach rund vier Jahren und Mitgliedschaft in drei, vier unterschiedlichen Gewerkschaften in verschiedenen Betrieben haben wir bisher kaum von Gewerkschaftstreffen mitbekommen - und bei den wenigen Treffen, an denen wir teilnahmen, kamen kaum ArbeiterInnen zu Wort. Meistens halfen die Gewerkschaften eher, die miesen Bedingungen zu verwalten. Dabei spielt Migration eine Rolle, eine größere Rolle die Trennung in Festangestellte und ZeitarbeiterInnen. Während rund 25 Prozent aller Festangestellten einen Gewerkschaftsausweis haben, sind es unter den ZeitarbeiterInnen und anderen prekär Beschäftigten nur 13 Prozent. Nur 16 Prozent aller ausländischen ArbeiterInnen sind gewerkschaftlich organisiert. Das hängt auch mit der Frage ihrer Verweildauer zusammen. 2016 haben rund 339.000 Leute die Insel verlassen; im Vergleich dazu sind 588.000 neu zugezogen. Die Gesamtmobilität ist deutlich höher, als die Nettozuwanderung suggeriert. Bei einer Umfrage von 2015 antworteten 40 Prozent aller befragten MigrantInnen, dass sie nur ein bis zwei Jahre in Großbritannien bleiben wollen. Laut Statistiken der Sozialversicherungsbehörde sind im Zeitraum 2010 bis 2014 rund ein Drittel aller EU-MigrantInnen weniger als ein Jahr in Großbritannien geblieben.

Diese kurzen Verweildauern stellen sicherlich ein Problem für traditionelle Gewerkschaften dar. Wenn MigrantInnen die Kohle für die Reise und die ersten Schritte im Ankunftsland ausgeliehen haben und deshalb anfänglich auch beschissene Bedingungen hinnehmen, stellt das ganz materiell eine Herausforderung für die allgemeine Frage von ArbeiterInnenmacht dar.

* GMB-Gewerkschaft, Amey, Straßenreinigung und Müllabfuhr

Im Westlondoner Stadtbezirk Ealing hat die lokale Labour-Stadtverwaltung die Müllabfuhr und Straßenreinigung an den Dienstleistungsriesen Amey ausgelagert. Die meisten saisonalen und neu eingestellten Arbeiterinnen sind mit Null-Stunden-Verträgen über eine Leihfirma beschäftigt. Im Großraum London schwanken die Löhne von StraßenreinigerInnen stark, 2015 lagen sie bei 6,70 Pfund in Ealing und 9,25 Pfund in Camden.

Ende 2015 kündigte die Stadt Ealing die Einführung von Mülltonnen an - zuvor wurden die Mülltüten direkt vor der Haustür abgeholt. Diese Maßnahme sollte die Anzahl an benötigten Müllabfuhr-LKWs um zwölf reduzieren und gleichzeitig die Straßen sauberer halten, was einige StraßenreinigerInnen überflüssig machen würde. Stadtverwaltung und Management kündigten die geplante Entlassung von 80 Festangestellten an. Das Depot-Management ließ dies durch den GMB-Gewerkschaftsvertreter auf einer Betriebsversammlung verkünden, zu der die ZeitarbeiterInnen nicht eingeladen wurden. Der Gewerkschaftsvertreter begann seine Rede mit der Klage, dass Amey in Ealing jährlich acht Millionen Pfund Miese macht. Danach berichtete er, dass er bereits eine Liste von 50 KollegInnen hat, die gerne das Entlassungsgeld in Anspruch nehmen würden. Um Arbeitsplätze zu sichern, schlage er den anderen Arbeiterinnen vor, sich auf flexiblere Arbeit einzustellen, d. h. manchmal für die Müllabfuhr und manchmal als Straßenreiniger zu arbeiten. Der Umstrukturierung wurde nichts entgegengesetzt. Im Herbst 2017 erzählten uns Amey-KollegInnen, dass die Gesamtzahl an ArbeiterInnen von 240 auf 130 reduziert wurde und die Arbeitsbelastung pro Team enorm angestiegen ist.

* Gewerkschaft USDAW (Einzelhandel und Vertrieb), Wincanton, Spirituosenlager für Waitrose Supermarkt

Im Lager des Logistik-Unternehmens Wincanton, direkt neben der U-Bahn-Station Greenford, werden Spirituosen für die Supermarktkette Waitrose verteilt. Rund 40 Prozent der LagerarbeiterInnen sind bei der Zeitarbeitsfirma Templine zum Mindestlohn angestellt. Weitere 30 Prozent haben Neuverträge und bekommen kaum mehr als die LeiharbeiterInnen. Im Frühjahr 2014 kündigte der Templine-Boss an, den Überstundenzuschlag zu streichen, was zu größerer Unruhe unter den vornehmlich polnischen ArbeiterInnen führte. Es gab Flugblätter und kleinere Versammlungen. ArbeiterInnen weigerten sich, Überstunden zu arbeiten, und wandten sich an die Wincanton-KollegInnen mit Neuverträgen, die ebenfalls sauer waren, dass sie mit sieben Pfund die Stunde rund zwei Pfund weniger als ihre älteren Wincanton-Kollegen verdienten. Das Templine-Management reagierte mit der Erklärung, die Streichung des Zuschlags werde um einen Monat verschoben. Templine-KollegInnen kontaktierten auch den Gewerkschaftsvertreter der USDAW der ihnen antwortete: "Überlasst die Überstunden den Festangestellten, dann muss das Unternehmen richtig blechen". Während des inoffiziellen Überstundenstreiks hatten er und seine festangestellten älteren KollegInnen 16-Stunden-Doppelschichten gearbeitet.

* Gewerkschaft Unite, Wincanton, Sainsbury's Supermarktlager

Auch dieses Warenlager direkt neben dem Waitrose-Lager wird von Wincanton betrieben, es hat aber eine andere Gewerkschaft. Im Kühllager arbeiten rund 120 ArbeiterInnen, mehr als die Hälfte mit Templine-Verträgen. Die meisten von ihnen sind frisch angekommene Kids aus Polen und Rumänien, aber auch Leute aus Somalia und Afghanistan. Sie verdienen den Mindestlohn und damit rund 30 Prozent weniger als die Festangestellten, die vornehmlich länger ansässige MigrantInnen aus Nepal und Litauen sowie einige britische (oft zweite Generation aus afro-karibischem oder indischem Elternhaus) ArbeiterInnen sind. Das Regime ist übel: Es gibt keine garantierten Schichten, und die pick rate wird permanent kontrolliert. Die individuelle fick rate kann man auf Monitoren im Lager einsehen, sie wird am nächsten Tag im Versammlungsraum ausgehängt und man bekommt gegebenenfalls am nächsten Morgen eine Erinnerungs-SMS aufs Handy: "Gestern war Ihre pick rate geringer als die geforderten 90 Prozent." Leute im unteren Drittel der Pick-rate-Hackordnung bekommen weniger Schichten. Da es ständig ein Überangebot an ArbeiterInnen gibt, muss man sich anstrengen, um an seine Schichten zu kommen. Zwei GenossInnen, die im Lager arbeiteten, traten der Gewerkschaft Unite bei und waren damit die einzigen LeiharbeiterInnen in der Gewerkschaft. Unite hat ein Schwarzes Brett, dort sind aber nur das letzte Lohnabkommen von 2,5 Prozent und die individuellen Sprechstundenzeiten ausgehängt. Die Gewerkschaft zeigte kein Interesse an den neuen Leiharbeits-Mitgliedern. Ihre Vertreter reagierten ablehnend, als es zu einer Reihe von Treffen und Flugblatt-Aktionen unter den LeiharbeiterInnen kam, die sich auch direkt an die Festangestellten richteten ("Wir bekommen nur 70 Prozent eures Lohns, aber müssen härter dafür arbeiten. Unterstützt uns beim Langsamarbeiten, ansonsten benutzt uns die Unternehmensleitung, um eure Bedingungen zu untergraben").

* Gewerkschaft USDAW Tesco Warenlager

Tesco ist mit rund 350.000 Beschäftigten die größte Supermarktkette in Großbritannien. Es gibt ein Partnerschaftsabkommen mit der Gewerkschaft USDAW, das Tesco u. a. das Recht einräumt, von Arbeitern gewählte VertreterInnen nicht anzuerkennen. Tesco hat den höchsten gewerkschaftlichen Organisierungsgrad im Einzelhandel, Löhne für die ArbeiterInnen in den Läden liegen bei rund 7,80 Pfund die Stunde, Lidl zahlt 9,45 Pfund die Stunde - ohne Gewerkschaft. In den letzten Jahren hat USDAW Tesco geholfen, Überstunden und Wochenendzuschläge massiv zu streichen und die Arbeitszeit zu flexibilisieren (es gibt nur garantierte Teilzeitverträge plus Überstunden). Im Großlager in Greenford arbeiten rund 1400 Leute, davon 600 LieferfahrerInnen Diese bekommen zurzeit 8,69 Pfund die Stunde, was im Vergleich rund 20 Prozent weniger ist als der Lohn anderer FahrerInnen Bei Tesco bekam man weniger, aber man musste auch tendenziell weniger arbeiten. Anfang des Jahres wurde das Programm bumblebee eingeführt, was die durchschnittliche Anzahl an Lieferungen pro Stunde von drei auf vier anhob. Es gibt keinerlei Versuch der Gewerkschaft, wenigstens mal die ArbeiterInnen zu fragen, was sie von diesem neuen Programm halten.

* Gewerkschaft GMB, Nahungsmittelfabrik Bakkavor

Bakkavor ist ein multinationaler Konzern der Nahrungsmittelbranche, dessen Besitzer tief in die isländische Finanzblase eingebunden waren. In Großbritannien liefert Bakkavor Fertigessen an die großen Supermarktketten. In unserer Gegend betreibt die Firma vier Großfabriken und ein Warenlager mit insgesamt rund 4000 ArbeiterInnen. Im Winter 2017 gab es in Südengland eine in den Medien beklagte Humus-Krise, als Bakkavor die Kichererbsenverarbeitung in einer der West-Londoner Fabriken wegen "technischen Versagens" für zwei Tage einstellen und ihre Produkte zurückrufen musste. Die meisten Festangestellten in den Fabriken sind Frauen aus Gujarat oder anderen südasiatischen Regionen, viele von ihnen arbeiten schon 10 oder 20 Jahre für Bakkavor. Unteres und mittleres Management speist sich aus vornehmlich männlichen Angestellten derselben Regionen. Die Englischkenntnisse der Frauen sind meist rudimentär. Überstunden sind gerade unter den Männern gefragt, u. a. auch wegen der Jahreseinkommensschwelle für Familienzuzug. Rund 30 Prozent der Gesamtproduktion hängt von Überstunden ab. Zudem werden ZeitarbeiterInnen beschäftigt, die vor allem aus Osteuropa kommen. Mangelnde Sprachkenntnisse werden oft sowohl von indischen als auch von osteuropäischen Kolleginnen als Unfreundlichkeit empfunden, was durch den enormen Arbeitsdruck und Mobbing durch Vorgesetzte verschärft wird.

Nach einigen Demonstrationen wurde die GMB Ende der 1990er vom Unternehmen in allen West-Londoner Fabriken anerkannt. In einem "Frauenbetrieb" sind die meisten Gewerkschaftsvertreter männlich und Teil des unteren Managements. Die meisten ArbeiterInnen halten die GMB für korrupt, zahlen aber Mitgliedsbeiträge. Vor dem Brexit-Referendum brachten GMB und Bakkavor-Management ein gemeinsames Flugblatt heraus, in dem sie Arbeiterinnen dazu aufriefen, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Der freie Zugang zu den EU-Märkten und der freie Zuzug von Arbeitskräften seien aus unternehmerischer Perspektive überlebenswichtig. Die meisten ArbeiterInnen mit britischer Staatsbürgerschaft werden indischen Migrationshintergrund haben, sie erleben den "freien Zuzug" von Arbeitskräften in erster Linie in der Form von LeiharbeiterInnen Kurz nach dem Referendum verlor Bakkavor den Kartoffelpüreevertrag mit Tesco, die GMB stimmte Entlassungen und verlängerten Schichten zu, gleichzeitig stieg die Anzahl an LeiharbeiterInnen trotz (bzw. wegen) der Entlassungen an.

Wie alle Gewerkschaften rief GMB ihre Mitglieder per Briefpost dazu auf, für Labour zu stimmen. Ende 2016 verteilten GMB-Organizer Flugblätter unter Bakkavor-ArbeiterInnen, in denen sie versprachen, sich für die Labour-Forderung nach zehn Pfund Stundenlohn einzusetzen. Kurz danach liefen bei Bakkavor die regulären Lohnverhandlungen an; die ArbeiterInnen erfuhren von der GMB kaum etwas über deren Fortgang. Erst im Juli 2017 stellten GMB und die Bakkavor-Leitung ihr Lohnabkommen in zehn unterschiedlichen Übersetzungen vor und rieten den GMB-Mitgliedern, es durch Abstimmung anzuerkennen. Damit verbunden war die Einführung von neuen und eindeutig sexistischen Lohngruppen. Die Arbeit an den Fließbändern, wo die meisten Frauen arbeiten und u. a. Samosa und andere Teigwaren falten, wird als unqualifiziert eingestuft, die Entladung von Paletten als angelernt, was in der Fabrik eher ein "Männerjob" ist. Den Frauen wurde 15 Pence pro Stunde Lohnerhöhung angeboten, was ihren Lohn nach 20 Jahren Betriebszugehörigkeit und über einem Jahrzehnt in der Gewerkschaft auf 7,65 Pfund pro Stunde anheben würde - der aktuelle Mindestlohn ist 7,50 Pfund. Die angelernten Lohngruppen - quantitativ eine Minderheit - sollten 8,30 Pfund pro Stunde bekommen. Von den LeiharbeiterInnen war keine Rede.

Den unmittelbaren Reaktionen nach zu urteilen waren fast alle ArbeiterInnen unzufrieden mit dem Abkommen. Seit vier Jahren haben wir unsere Zeitung und Flugblätter zu verschiedenen Themen bei Bakkavor verteilt; nun riefen wir zu Treffen und einem Überstundenboykott auf. Damit ernteten wir lediglich verbale Unterstützung. KollegInnen unter den Staplerfahrern und Reinigungskräften (in erster Linie Männer aus dem Sudan oder Sri Lanka, die als ungelernt eingestuft sind) organisierten ihre eigenen informellen Treffen - dachten aber vor allem darüber nach, wie sie ihre Gruppe in der Hierarchie besserstellen könnten. Bei der Abstimmung wurde eine untere Gewerkschaftsvertreterin von oben angehalten, hinter den Namen aller Mitglieder, die gegen das Abkommen stimmten, einen Haken zu machen. Auch wurde Frauen von den Gewerkschaftshäuptlingen ihrer Sprachgruppe erklärt, dass es bei der Abstimmung in erster Linie um den Rückhalt für die GMB ginge und nicht um den Lohn, und haben ihnen die Abstimmung wortwörtlich aus der Hand genommen. Auf schriftliche Klagen über diese "Unregelmäßigkeiten", eingereicht beim Regionalbüro der GMB, kamen nur ausweichende Antworten. Offiziell hatten dann 62 Prozent der GMB-Mitglieder für das Abkommen gestimmt.

Kurz danach gab es viele individuelle und zum Teil Gruppenbeschwerden von Arbeiterinnen gegen ihre Einstufung. Während das Management versuchte, diese Beschwerden hinter verschlossenen Türen oft ohne Gewerkschaftsvertretung zu entschärfen, reagierte die GMB offensiver. Sie stellte einen neuen Bakkavor-Organizer ab, der Treffen für jede Fabrik einberief. Mick Dooley ist ein bekannter Linker und ehemaliger Bauarbeiter, der auf eine der berüchtigten Schwarzen Listen der Bauindustrie geraten war und nun hauptberuflich für die GMB arbeitet. Zu einem der Treffen kamen rund 60 von insgesamt 600 ArbeiterInnen Dooley erklärte, dass er selbst das Lohnabkommen beschissen findet und dagegen gestimmt hätte. Er riet den ArbeiterInnen, in Bezug auf Eingruppierungen individuelle Beschwerden zusammen mit ihren gewerkschaftlichen VertreterInnen einzureichen. Individuelle Beschwerden würden durch größere Anzahl im Vergleich zu kollektiven Beschwerden mehr Druck auf die Geschäftsleitung ausüben. Als Vollzeit-Gewerkschafter und jemand, der Schwierigkeiten hat, in der Muttersprache der Arbeiterinnen zu kommunizieren, ist Dooley von "kämpferischen" oder zumindest zuverlässigen Gewerkschaftsvertretern abhängig. Er will keine (chaotischen) Massenversammlungen, sondern einen Kern von gestandenen Gewerkschaftern, die Einfluss auf die Arbeiterinnen haben. Aber vielleicht brauchen wir genau größere Versammlungen, wo ArbeiterInnen frei reden können wir sollten die Unordnung unter dem Himmel nicht fürchten, die da ausbrechen könnte.

* Mittelständischer Betrieb, während des Brexit-Referendums

In unserer Abteilung arbeiten rund ein Dutzend Migrantinnen der ersten oder zweiten Generation. Alle KollegInnen, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus am Referendum teilnehmen durften, stimmten für Brexit. Nur einer von denen sagte, er sei gegen die EU,weil "all die Ausländer hierherkommen können, um Sozialhilfe zu ziehen" - sein Vater kam in den 1970ern als Flüchtling indischer Abstammung aus Uganda und seine Freundin ist aus Litauen und arbeitet in der Abteilung nebenan. Alle anderen meinten, ihre Nein-Stimme sei ein "Mittelfinger an die Elite", denn "Remain means remaining the same". Die KollegInnen bekamen ihre Bestätigung am Tag nach der Abstimmung, als der Fabrik-Leiter in die Abteilung kam und darüber jammerte, dass die Einfuhr von Teilen aus China jetzt sehr viel teurer würde und der Zugang zum europäischen Markt schwieriger. Der Kollege aus Ungarn, der nach zwölf Jahren Aufenthalt die britische Staatsbürgerschaft bekommen hatte, trug auf Arbeit regelmäßig ein T-Shirt mit der Aufschrift "Love Europe - Leave the EU". Ihm ging es in erster Linie um die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Kriegsgebieten, die jetzt nach Ungarn kommen und "die nationale Sicherheit gefährden". Wir machten Witze, dass er ja selbst ein Flüchtling ist, und die KollegInnen aus Algerien und dem Libanon gaben ihm Aufklärungsunterricht aus erster Hand zu "Fluchtursachen". Unterstützung für seine antimuslimische Haltung bekam er vom Sohn des Gujarati-Flüchtlings aus Uganda, der zwar über die regelmäßigen Tempelbesuche des anderen indischen Kollegen Witze macht und sich selbst in erster Linie über Black Culture ("this music is whitey-shit", "the police are racist Pigs") definiert, aber als Sohn von Hindus der unberührbaren Chamar-Kaste mit Islamophobie aufgezogen wurde. Die Beiträge des irischen Kollegen, der gegen die britische Elite für den Brexit gestimmt hat, sich aber Sorgen um die Auswirkungen auf den Friedensprozess in Nordirland macht, gaben nochmal eine andere Perspektive auf die Frage von Nation, Religion und Terrorismus. Am Ende einigten wir uns alle darauf, dass "das System am Ende ist", wobei "das System" für den Kollegen mit pakistanischem Migrationshintergrund und Corbyn-Enthusiasmus in erster Linie eine zionistische Verschwörung ist, der IS ein Konstrukt zur Repression aller Muslime und der faschistische Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox kurz vor dem Brexit-Referendum eine vom Geheimdienst arrangierte Hinrichtung. Unsere Diskussionen drehten sich wortwörtlich um Gott und die Welt, zum Schluss fanden wir uns alle unter billigem Neonlicht in einer zugigen Fabrikhalle wieder, wo sie uns kaum mehr als den Mindestlohn zahlen, um aus chinesischen Kleinteilen schlechte 3D-Drucker zusammenzubauen, die niemand kaufen will.

Wir organisierten Versammlungen mit insgesamt 40 Arbeiterinnen in einem somalischen community centre und luden kolumbianische Reinigungskräfte aus dem Stadtzentrum ein, die gerade einen Streik gegen ihren Boss gewonnen hatten. Nach langer Zeit lag endlich mal wieder etwas in der Luft. Es ging um Ausbeutung, Drangsalierungen und die Frage, wer hier alles sauber und am Laufen hält. Wir brauchen Willen zur Organisation und den Mut, weiter am Lack des Alltags zu kratzen, anstatt auf die politische Bühne zu schielen.

Was tun?

Die Gewerkschaftsspitzen unterstützen das national-sozialdemokratische Programm, was weiterer Zuwanderung ablehnend gegenübersteht. Auf Betriebsebene sind die gewerkschaftlichen Strukturen nicht dazu geschaffen, den migrantischen ArbeiterInnen mehr Selbstvertrauen zu geben und vielleicht auch ein, zwei Dinge von ihnen zu lernen. Die Gewerkschaft klammert sich eher an die Anerkennung durch Managements und Kernbelegschaft und verkauft dadurch de facto breite Segmente der Arbeitskraft sehr billig.

Es gibt einige hoffnungsvolle Erfahrungen von basisgewerkschaftlichen Organisierungsversuchen unter migrantischen ArbeiterInnen, vor allem im Reinigungssektor. Diese waren aber nur dann erfolgreich, wenn erstens eine größere Anzahl von politisierten lateinamerikanischen ArbeiterInnen mitgemacht hat und zweitens die ArbeiterInnen Gebäude von Institutionen reinigen, die ihren guten Ruf nicht verlieren wollen, z. B. international berühmte Universitäten oder Museen. Anders als in Italien kommen LogistikarbeiterInnen hier nicht mit dem "Arabischen Frühling" im Rücken an, sondern dem Schnee- und Regenwetter des Ausverkaufs durch Solidarnosc in Polen.

In dieser Situation müssen wir neue Sachen ausprobieren. Um die IWW bekanntzumachen, verteilten wir im November vor einer Sandwich-Fabrik Flugis. Wir kannten dort nur einen Typen aus der Reinigungsabteilung. Die Arbeiterinnen - vor allem Frauen aus Indien und Litauen -überraschten uns: "Ja, wir wollen es mit dem Unternehmen aufnehmen, sie behandeln uns wie Sklaven, lassen uns bis zu 14 Stunden schuften. Wir haben schon einiges versucht: einen Beschwerdebrief haben 120 Arbeiterinnen aller Nationen und Verträge unterschrieben; letzte Woche haben zwei Bänder geschlossen die Arbeit niedergelegt; zu zwanzigst sind wir wegen schlechter Arbeitsklamotten ins Büro vom großen Chef, die Mechaniker haben ihren eigenen Beschwerdebrief geschrieben."

Die Linke muss erst ihren Glauben an die Allmacht einer Labour-Regierung verlieren und mit dem liberalen Multikulturalismus brechen, der AusländerInnen in erster Linie als gute Opfer darstellt. Eine Klassenposition müssen wir praktisch aufbauen und politisch durchsetzen. Im Zuge der materiellen Unterstützung der täglichen Kämpfe der ArbeiterInnen entstehen Strukturen, in denen wir gemeinsam mit ihnen zusammen Branchen-, sprachliche und andere Barrieren überwinden können.


Anmerkungen

GMB: General, Municipal. Boilermakers and Allied Trade Union
https://en.wikipedia.org/wiki/GMB_(trade_union)
Organisiert in erster Linie HandarbeiterInnen in Industrie und in Kommunen, z. B. bei der Müllabfuhr. Hat rund 620.000 Mitglieder.

Unite the Union: Größte Gewerkschaft in Großbritannien. entstand durch Fusion von Amicus (Industrie und Dienstleistungen) und T&G (Transport). Gilt als Hauptstütze der Labour Party. Hat rund 1,4 Millionen Mitglieder.
https://en.wikipedia.org/wiki/Unite_the_Union

USDAW: Union of Shop, Distributive and Allied Workers. Organisiert in erster Linie ArbeiterInnen im Einzelhandel, aber auch in einigen Logistikunternehmen. Hat rund 430.000 Mitglieder.
https://en.wikipedia.org/wiki/Union_of_Shop_Distributive_and_Allied_Workers

www.angryworkersworld.wordpress.com
www.workerswildwest.wordpress.com

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Quelle:
Wildcat 101 - Winter 2018, S. 42 - 48
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2018

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