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WILDCAT/026: Ausgabe 91 - Herbst 2011


Wildcat 91 - Herbst 2011



Inhalt:

- Politische Lyrik von Shelley
- Editorial
- Vom Rettungsschirm zur Panzerfaust
- Ägypten
- Griechenland: Einheit und Spaltung
- Riots in England
- USA: Hungerstreiks in den Knästen
- Spanien - Update
- Indien: Kampf bei Maruti Suzuki
- Iran: Streik gegen Leiharbeit
- Italien: Kampf der Tagelöhner
- Private Laster, öffentliche Tugenden
- Kampf um die Schulden
- Occupy Frankfurt! - Interview
- Bewegung in Israel - Interview
- Occupy Oakland!

Raute

Ozymandias of Egypt

(Percy Bysshe Shelly, 1818)

I met a traveller from an antique land
Who said - "Two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert ... Near them, on the sand,
Half sunk, a shattered visage lies, whose frown,
And wrinkled lip, ans sneer of cold command
Tell that its sculptor well those passions read
Which yet survive, stamp'd on these lifeless things,
The hand that mocked them, and the heart that fed;
And on the pedestal these words appear:
My name is Ozymandias, king of kings:
Look on my works, ye Might, and despair!
Nothing beside remains. Round the decay
Of that colossal wreck, boundless und bare
The lone and level sands strech far away."


Osymandias von Ägypten

Mir ist ein Reisender aus einem Land des Altertums begegnet,
Der hat erzählt - "Es ragt ein Stein ein ungeheures Beinpaar in der Wüste
Ohne Körper ... in der Nähe, halb im Sand versunken,
Liegt ein zerschlagenes Antlitz, dessen düsterer Blick
Und kalt im höhnischen Befehl geschürzter Mund verkünden,
Dass seinem Bildner diese Leidenschaft vertraut gewesen sind,
Die weiter überdauern, eingeprägt in diese unbelebten Dinge,
Vom Schlag des Herzens in der Spötterhand;
Und auf dem Sockel sind die Worte zu erkennen:
Man nennt mich Osymandias, Herrscher über Herrscher,
Seht, Mächtige, mein Werk und lasst die Hoffnung fahren!
Nichts sonst ist hier erhalten. Rund um den Zerfall
Der riesenhaften Trümmer dehnt sich nackt und grenzenlos
Nur Sand gleichmäßig bis in weite Ferne."


Ramses der Zweite ist tot, mein Schatz ...

Politische Lyrik ohne Verfallsdatum

Googeln zu den Stichwörtern "Mubarak" und "Karikatur" im Juni 2011. Ganz oben zwei Einträge in Verbindung mit "Ozymandias". Ozymandias? Sein Minister? Ein Nachfolger? Der zweite Suchlauf klärt die Sache: In der Times und im Guardian gab es kürzlich Mubarak-Zeichnungen mit Anspielung auf das Gedicht Ozymandias of Egypt von P.B. Shelley. Natürlich! Percy Bysshe Shelley, englischer romantischer Dichter, frühes 19. Jahrhundert, Sozialrevolutionär, Lyrik als Waffe gegen alle Hyänen seiner Zeit.

Unter dem Datum des 22. bis 26. Februar 1845 berichtete Friedrich Engels brieflich seinem Freund Karl Marx, der sich in Brüssel aufhielt, von der dritten kommunistischen Versammlung in schneller Folge, die er, Engels, in Elberfeld, "im größten Saale und ersten Gasthof der Stadt" abgehalten hatte. Unter anderem wurden "Stücke aus Shelley" gelesen. "Nachher diskutiert bis ein Uhr", schreibt er. "Das Ding zieht ungeheuer. Man spricht von nichts als vom Kommunismus, und jeden Tag fallen uns neue Anhänger zu." Gut ein Jahr später erscheint im Schweizer Republikaner Engels' Bericht aus Manchester über seinen Besuch in der "Kommunisten-Hall, welche etwa 3000 Menschen faßt, jeden Sonntag gedrängt voll" ist, wo man "die Ausgaben von Thomas Paine und Shelleys Schriften zu billigen Preisen in den Händen der Arbeiter" findet.

Im August 1819 hatte die berittene britische Polizei in einem Vorort von Manchester unter demonstrierenden Textilarbeitern und ihren Familien ein Blutbad angerichtet. Als Antwort auf das "Peterloo Massacre" veröffentlichte der gefeierte, kaum zwanzig Jahre alte Naturlyriker Percy Bysshe Shelley The Mask of Anarchy, ein solidarisches Gedicht, das die britischen Arbeiter ihm nie mehr vergessen haben. Die letzte Strophe lautet: Rise like Lions after slumber / in unvanquishable number - / Shake your chains to earth like dew / Which in sleep had fallen on you - / Ye are many - they are few(*).

Widerhall dieser Zeilen setzt sich fort. Im Februar 1848 erscheint in London das Manifest der Kommunistischen Partei, das Karl Marx und Friedrich Engels, nun beide in England, verfasst hatten. Am Schluss wird Shelleys gewaltiges Sprachbild aufgenommen, im Blick auf die notwendige kommunistische Revolution: "Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten."

Bereits 1818 war Shelley mit einem Gedicht hervorgetreten, das eine politische Botschaft kunstvoll entwickelte und schnell allgemeine Anerkennung fand. Dieser Text wird heute quer durch den englischen (und amerikanischen) Sprachraum zitiert, wenn sich an einem Mächtigen die Vorhersage seiner abschließenden Niederlage und Vergänglichkeit erfüllt. Gemeint ist das Sonett über die Trümmerstatue des Pharaos Ramses II, zeitgenössisch unter seinem altgriechischen Namen Osymandias. Die Schadenfreude der angelsächsischen Karikaturisten über Hosni Mubaraks kümmerliches Ende stützt sich ganz selbstverständlich auf die von ihnen als bekannt vorausgesetzte Zeile "Look on my works, ye Mighty, and despair", die ironische Pointe aus Ozymandias of Egypt.

In seiner politischen Lyrik gibt Shelley alle Arroganz der Herrschaft unserer Verachtung und dem Gelächter preis. Dabei gelingen ihm in der Kombination von großen Sprachbildern und agitatorischer Reflexion poetische Traditionsbezüge, die weit über die Zonen des bewussten politischen Widerstands hinaus mobilisieren. Hier gibt es viel zu entdecken. Auch Tuli Kupferberg, der Rock-Revolutionär aus New York, der im letzten Jahr 86jährig gestorben ist, hat Shelleys Lied weitergesungen, als er 1968 augenzwinkernd insistierte: "Ramses the second is dead, my love".

(*) Erhebt euch wie Löwen nach dem Schlummer / In unbezwingbarer Zahl / Schüttelt eure Ketten ab wie Tau / Die im Schlaf über euch gefallen sind / Ihr seid viele - sie sind wenige

Raute

Editorial

Weltspartag! 26. 27. 28. Oktober

Der Bundestag beschließt am 26. Oktober die Verlängerung der Anti-Terrorgesetze um weitere vier Jahre und ermächtigt Merkel zur "Eurorettung". Die Renten steigen nächstes Jahr im Westen um 2,3 im Osten um 3,2 Prozent. Die IG Metall fordert sieben Prozent im Stahlbereich. Vor der EZB in Frankfurt stehen 90 Zelte (S. 56).

Die griechische Regierung beschließt das vierte Sparpaket, die Löhne von Staatsbediensteten und viele Renten werden noch einmal um rund 20 Prozent gekürzt, 100.000 sind auf der Straße und im zweitägigen Generalstreik. (S. 16)

Gestern vor zehn Jahren hat sich unser aller Leben verändert. Am 25. Oktober 2001 erblickte der US Patriot Act das Licht der Welt - die Mutter aller Anti-Terror-Gesetze, die in der westlichen Welt folgen sollten. Pünktlich zum Jahrestag setzt eine heftige Räumungsserie gegen die Occupy-Bewegung ein (Oakland, Atlanta, Baltimore) - wir haben noch einen aktuellen Bericht kurz vor Druckbeginn ins Heft gedrückt (S. 65). Bei der Wildcat 90 war es schlimmer, da kam der Spanien-Artikel erst nach Druckbeginn. Wir wollten den aber auf jeden Fall drin haben, so dass wir den "Preis" dafür bezahlt haben, im ganzen Heft keine Korrekturen mehr machen zu können. Die Rubrik "Was bisher geschah" haben wir eingeführt, um dort Errata zu korrigieren und updates zu Artikeln aus den vorigen Heften zu bringen. Die Fehler im letzten Heft waren aber so massenhaft, dass wir es gar nicht schaffen könnten, die alle zu korrigieren. Dafür war der Artikel sehr weitsichtig, so dass diesmal ein kurzer Nachtrag zu Spanien reicht - und die Rubrik WBG entfällt.

Der Klassenfeind erhöht überall den Einsatz: Krieg (Libyen), Repression, Muslimbrüder, Wahlen... Von Libyen, Syrien, Saudi-Arabien aus wird der arabische Frühling geostrategisch eingekreist.

Aber die Klasse kämpft auf allen Ebenen, auf der Straße (Riots in England, S. 20), in den Fabriken (Indien, S.36, Iran, S. 40), in den Knästen (S. 30), in den Schulen (Spanien, S. 32). Die Streiks nehmen zu in Kuwait, China, den USA, migrantische Tagelöhner in Süditalien (S. 42)... Von Israel (S. 60) bis zum Gaza-Streifen: die Dynamik einer weltweiten Bewegung ist nicht zu unterschätzen, auch wenn bisher nur schwache Ausläufer in der BRD angekommen sind.

In diesem Heft haben wir viele Beiträge aus anderen Ländern. Wir hoffen, dass wir dazu beitragen können, Erfahrungen, Kämpfe und Debatten nach Deutschland reinzuholen!

In den USA, in Spanien, England, Italien... fast überall das gleiche Problem: Unsere Genossinnen sind angesichts von Entlassungen und erzwungener Selbstständigkeit dermaßen mit dem Verdienen der eigenen Brötchen beschäftigt, dass kaum noch Zeit bleibt, um regelmäßig auf Demos zu gehen, geschweige denn, Artikel zu schreiben. Dazu ist bald mal ein eigener Schwerpunkt angesagt.

Denn die Krise wird schlimmer. Mitte Oktober schien das Tandem Merkozy "1931" zu spielen - auch in der damaligen Weltwirtschaftskrise war der Crash 1929 in den USA, zur wirklichen Weltwirtschaftskrise wurde es erst im Gefolge des Zusammenbruchs der Österreichischen Creditanstalt am 11. Mai 1931. Aber was wie Tolpatschigkeit der beiden Spitzenpolitiker aussieht, sind handfeste Gegensätze: Wer zahlt? - und riskiert damit sein AAA, und folglich die Refinanzierbarkeit seiner Kredite? Allerdings konnte man in letzter Zeit tatsächlich den Eindruck gewinnen, angesichts katastrophaler Aussichten seien die Herrschenden zur Einsicht gekommen: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Damit schließt Paolo Giussanis Artikel (S.46), der radikal die naiven linken Vorstellungen eines aufgewärmten Keynes kritisiert. Der andere Beitrag zur Krisendebatte (S. 51), ebenfalls aus Italien, stimmt dem zu - und bietet in seiner politischen Stoßrichtung (Abspaltung der sozialen Reproduktion von der finanziellen Erpressung) jede Menge Anknüpfungspunkte für die Commons-Diskussion. Darauf werden im nächsten Heft nochmal eingehen.

Nach der langen Nacht in Brüssel am 27. Oktober schießt der Dax heute mehr als fünf, die europäischen Aktien sogar um sechs Prozent nach oben. Gleichzeitig erfahren wir: "Griechenland erlebt Rekordrezession". Eine so schwere Rezession wie in Griechenland hat es seit dem Zweiten Weltkrieg in keinem westlichen Land gegeben; seit Ende 2008 haben die GriechInnen ihren Konsum um 15 Prozent eingeschränkt.

Ausgerechnet heute, am "Weltspartag", erlebt Italien "ein Desaster am Anleihemarkt". Die Regierung versuchte, im Windschatten der "Eurorettung" neue Schulden aufzunehmen; insgesamt lieh sie sich 7,9 Milliarden Euro - und musste dafür die höchsten Zinsen seit der Einführung des Euro zahlen. 6,06 Prozent für Anleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren, das liegt nicht mehr weit unter jenen sieben Prozent, ab denen Euroländer in der Regel "unter den Rettungsschirm schlüpfen" müssen.

In Frankfurt vor der EZB stehen jetzt 100 Zelte. In Kairo wieder einige tausend (S. 14).

Raute

Vom Rettungsschirm zur Panzerfaust

"Wenn es zum historischen Crash kommt, geht alles zugleich unter: das Geld, die Banken, die bürgerliche Gesellschaft, der Staat, sein Oberhaupt und dessen ganze Familie."
(FAZ 24.10.2011)

Es ist immer noch dieselbe Krise. Im Sommer 2007 kam die amerikanische Immobilienkrise nach Europa und löste eine Finanzkrise aus, die sich zu einer Bankenkrise ausweitete. Nach der Lehman-Pleite im Oktober 2008 übernahmen die Staaten gewaltige Bankschulden und legten große Konjunkturpakete auf. Sie übernahmen nicht nur die toxischen Papiere der Banken, sie schufen auch die Voraussetzungen dafür, dass diese weiterhin garantierte Spekulationsgewinne einfahren konnten. Außerdem begannen Staaten die bisherige Funktion der Finanzbranche zu übernehmen, durch Ausweitung des Kredits ein bisschen Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Dadurch schnellte die Schuldenquote der entwickelten Länder seit 2007 im Schnitt von rund 50 auf 90 Prozent hoch. Somit stieg der globale Bedarf an Staatsanleihenkäufern gigantisch, und die Banken konnten damit gewaltige Gewinne machen - bekamen sie das Geld zum Ankauf doch zu null Prozent Zinsen von den Notenbanken.

All das führte parallel zu einer kurzen Zwischenerholung und zu einer Staatsschuldenkrise. Diese ist aber - mit Ausnahme von Griechenland - nicht die Folge verschwenderischer Staatsausgaben, sondern der Versuche, eine überakkumulierte Finanzbranche vor dem Kollaps zu bewahren. Deshalb lösen auch das x-te "Rettungspaket", verschärfte "Stabilitätspakte" und Schuldenbremsen die Krise nicht. Und was 2001 geklappt hat ("Great Bubble Transfer"; dazu ausführlich in Wildcat 86), klappt diesmal nicht; die Spekulation hat zwar zugenommen, das Wachstum bleibt aber aus. Die Weltwirtschaft geht erneut in die Rezession.

Vor diesem Hintergrund führen die ungelösten strukturellen Probleme in der Eurozone zu dramatischen Entwicklungen. Wir hatten im letzten Heft vierzig Seiten zur Geschichte dieser Krise und werden deshalb im folgenden nur knapp auf die Entwicklung seit Juli eingehen, um die Grenzen aber auch die Potenzen der aktuellen Kämpfe auszuloten. Bitte guckt nochmal in die Wildcat 90, wenn Ihr bestimmte Begriffe oder Zusammenhänge nicht versteht!

Die Militarisierung der Begriffe zeigt die Panik auf Seiten der Herrschenden. Mit "mehr Feuerkraft" will die EU den Euro-Rettungsschirm ausgestattet sehen. Das unbegrenzte Aufkaufen von Staatsanleihen durch die EZB wird "Nuklearoption" genannt. Ex-Wirtschaftsminister Brüderle nannte die Hebelung des ESFS zunächst eine "Atombombe im Finanzsystem" - stimmte dann aber am 26. Oktober, wie fast der gesamte Bundestag, dem Scharfmachen der Bombe zu. Die FAZ schrieb im eingangs zitierten Artikel: "Was sich gegenwärtig Politik nennt, ist nichts anderes als das Weiterreichen von Zeitbomben, deren Auslösezeitpunkt niemand kennt."

Die Panik hat Gründe: In Griechenland und Italien stehen die Regierungen vor dem Scheitern (nach den Regierungskrisen in Irland, Belgien, Portugal, Spanien, Slowakei...), Merkels Regierungskoalition hat tiefe Risse... Zwar haben sie in den letzten zwei Jahren Programme durchgesetzt, von denen sie vor fünf Jahren nicht zu träumen wagten: Schuldenbremse, Abbau von Tariflöhnen, Intensivierung von Arbeit... - aber das passiert im Notstandsmodus, ohne jede "demokratische Legitimierung", und vor allem ohne Aussicht, die aufbrechenden sozialen Konflikte durch Wirtschaftswachstum ausgleichen zu können. Und jedes Programm ist schon wieder gescheitert, bevor sie ernsthaft mit seiner Umsetzung begonnen haben. Die Stärke der Bewegungen dagegen nimmt zu.


Krise der EU

"Die wahnwitzige Idee, die Krise durch Sparmaßnahmen zu lösen, ist nach hinten losgegangen."
(Wolfgang Münchau in der FTD)

Bereits in der ersten Hälfte 2011 verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum in den meisten Industrieländern, bei einigen gab es einen Abschwung. Im Sommer kam das Wachstum des Welthandels zum Erliegen. Seit August drückt die Schweiz den Kurs ihrer Währung nach unten und verschärft damit die Gefahr von "Währungskriegen". Die Triade USA-Japan-BRD steht vor einer neuen Rezession, die südlichen EU-Staaten sind bereits drin. Schon zuvor hatten sich die internationalen Finanzströme dramatisch gedreht. Im letzten Jahr halbierten die acht größten US-Geldmarktfonds ihre Anlagen bei deutschen und bei britischen Banken, bei französischen Banken fuhren sie ihre Investments noch stärker zurück, italienischen und spanischen Banken geben sie überhaupt kein Geld mehr. Im letzten halben Jahr soll fast eine halbe Billion Dollar aus europäischen Banken in US-Banken abgeflossen sein. Deshalb haben letztere seit Jahresmitte zunehmend Schwierigkeiten, sich am US-Geldmarkt Dollar zu beschaffen, und die EZB bot ihnen - wie nach der Lehman-Pleite - ein Swap-Arrangement an, um ihnen nicht nur Euro, sondern auch Dollar zu leihen (allerdings zu 1,1% Zinsen). Als im August nach mehr als zweijähriger Pause eine Bank erstmals ein solches Dollargeschäft nutzte, war das Auftakt und Auslöser für die folgende Panik auf den Finanzmärkten, wodurch die Krise der EU erneut angeheizt wurde.

Schon seit Juli waren die Zinsen auf italienische und spanische Staatsanleihen drastisch angestiegen und die Ratingagenturen hatten Italien und Spanien - sowie die Banken dieser Länder - mehrfach heruntergestuft. In der zweiten Septemberhälfte kam es zu Ausverkäufen bei Rohstoffen. Die Preise fast aller Materialien, die die Industrie zur Produktion benötigt, aber auch von Edelmetallen, die sonst in Krisenzeiten meist gehortet werden, stürzten so stark ab wie noch nie. In Panikzeiten zählt nur noch "Cash" - und das war aufgrund der Krise im Euroraum ausschließlich der Dollar.

Jetzt wurde amtlich, was seit Juli öffentlich war: Italien kann seine Schulden nicht mehr refinanzieren. Die Krise war in ein neues Stadium getreten. Die Politik musste handeln - oder zumindest Handeln vortäuschen.

Am 28. September sah Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, in seiner Rede vor dem EU-Parlament die EU vor der "größten Herausforderung ihrer Geschichte"; sie stecke in einer tiefen "Wirtschafts-, Finanz- und [eben!] Sozialkrise". Am 29. September stimmte der Bundestag über die Ausweitung des Rettungsschirms ab. Unter dem Druck der sogenannten "Märkte" und mit dem ausdrücklichen Versprechen, dieser Rettungsschirm werde nicht gehebelt (dazu s.u.), stimmten CDUCSUFDPGrüneSPD dafür.

Am 6. Oktober kollabierte die Dexia-Bank, eine der großen europäischen Banken, die vor allem in der Finanzierung staatlicher Schulden tätig war. Am selben Tag beschloss die Bank of England, mit dem Kauf von Wertpapieren 75 Mrd. Pfund in die Märkte zu pumpen. Den Leitzins beließ sie auf dem Rekordtief von 0,5 Prozent, obwohl die Inflation in GB bereits bei fünf Prozent liegt. Ihr Gouverneur Mervyn King sagte zur Begründung: "Dies ist die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren - wenn nicht sogar die schlimmste Wirtschaftskrise aller Zeiten." Am Tag danach stufte Moody's zwölf britische Banken und Fitch erneut Spanien und Italien herunter. Wiederum einen Tag später kündigte Griechenland einen zusätzlichen Milliardenbedarf an - Rezession und Defizit waren stärker ausgefallen als prognostiziert, die Sparpolitik hatte gewirkt!

Mitte Oktober war amtlich, dass Portugal vor der Pleite steht und Frankreichs AAA-Ranking in Gefahr ist. Somit wurde der bisherige Rettungsschirm zu klein, und gleichzeitig geriet seine Finanzierung in Gefahr, die an der Bonität der garantierenden Staaten hängt. Der ESFS ist so konzipiert, dass jedes Land entsprechend seiner Wirtschaftskraft für einen bestimmten Anteil garantiert. Anhand von Italien wird das Paradox immer deutlicher, dass Länder, die gerettet werden müssen, gleichzeitig für diese Rettung garantieren.

Wie konnte also die "Feuerkraft" des gerade erst unter dramatischem Getöse erweiterten Rettungsschirms deutlich vergrößert werden? Frankreich steht mit dem Rücken zur Wand (Moody's hatte soeben französische Banken herabgestuft) und könnte durch Ausweitung seiner Garantien das AAA-Ranking noch schneller verlieren. Deshalb wollten Frankreich und die südlichen EU-Länder den ESFS mit einer Banklizenz ausstatten, damit er bei der EZB Kapital aufnehmen und damit Staatsanleihen kaufen könne. Die deutsche Regierung sah hierin die "Monetisierung der Staatsschulden", die sie vehement bekämpft, weil sie keinen will, der soziale Forderungen in Geld-, Sozial- oder Wirtschaftspolitik übersetzen könnte. Deshalb drückte die BRD durch, dass der ESFS stattdessen "gehebelt" wird. Der Bundestag trat am 26. Oktober erneut zusammen und stimmte - wiederum fast komplett - dem zu, wovon ihm vor drei Wochen versprochen worden war, es würde nie eintreten: der Hebelung des ESFS. Zuvor hatte Merkel in einer Regierungserklärung verkündet, Europa befinde sich in der schwersten Stunde seit dem Zweiten Weltkrieg, die "Verletzungen der Stabilitätskultur" müssten stärker bestraft und die "verhängnisvolle Neigung der EZB", immer mehr Euroscheine zu drucken, müsse gestoppt werden. In der darauffolgenden Nacht einigte sich der EU-Gipfel auf ein Paket aus Rekapitalisierung der Banken, 50 Prozent freiwilligem Schuldenerlass der privaten Gläubiger Griechenlands und Hebelung des ESFS, kombiniert mit der Einwerbung von Geldern v.a. aus China (es müssen Investoren aufgetrieben werden, die in großem Umfang europäische Staatsanleihen kaufen, sonst gäbe es ja nichts zu hebeln!)


"Noch so ein Sieg, und wir sind verloren!"
(König Pyrrhus nach seinem Sieg über die Römer)

Die Zweckgesellschaft ESFS bekommt einen Hebel und bietet durch eine Kreditversicherung ein Strukturiertes Finanzprodukt an. Die Brandbeschleuniger der Finanzkrise von 2007/2008 sollen nun Instrumente zur Rettung des Euro sein. Dadurch verlieren die garantierenden Länder bei einem Zahlungsausfall der verschuldeten Länder erheblich mehr Geld, als wenn sie nur Kredite vergeben hätten. Bei einem Schuldenschnitt von 20 Prozent z.B. 100 statt 20 Prozent. Es ist Poker: Wenn die durch den Hebel vergrößerte Summe "die Märkte" beeindruckt und wenn die 20 Prozent "first loss"-Garantie genügend Kapitalgeber anlockt, kann es zunächst funktionieren. Aber wie jede Kreditblase in der Geschichte wird auch der gehebelte ESFS platzen. Es ist ein Bluff; den spätestens die beginnende Rezession auffliegen lassen wird.

Ein großer Haken der aktuellen "Eurorettung": Sie geht auf Kosten von Italien und Spanien. In Italien müssen die Renten gekürzt und die Löhne gesenkt werden - obwohl die Wirtschaft sowieso seit Jahren schon stagniert. Die spanischen Banken müssen 26 Mrd. Euro abschreiben (die italienischen 14,7, die deutschen nur 5,2), obwohl das spanische Bankensystem bereits jetzt extrem wacklig ist. (Die griechischen Banken müssen sogar 30 Mrd. Euro abschreiben und deshalb verstaatlicht werden.)

Ein noch größerer Haken: Frankreich hat kaum noch Handlungsspielraum; Mitte Oktober waren die Risikozuschäge auf seine Staatsschulden auf einem Rekordhoch im Vergleich zur BRD. Dies hatte zusammen mit der deutschen Unnachgiebigkeit zum Platzen des Eurokrisengipfels am 22/23. Oktober geführt. Im selben Moment aber, in dem die Achse Berlin-Paris bricht, zerbricht die ganze Eurozone.

Selbst wenn alle Banken "freiwillig" zustimmen, reduziert der Schuldenerlass die griechischen Staatsschulden von über 360 Mrd. Euro nur um etwa 100 Mrd. Euro. Bis zum Jahr 2020 (!) sollen sie auf 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedrückt werden - und lägen damit immer noch höher als bei Ausbruch der "Griechenlandkrise". Ein Jahrzehnt Sparpolitik, um dann noch immer auf Schulden zu sitzen, die nicht zurückgezahlt werden können!

Die aktuelle "Rettung" kauft nur Zeit und wird als Bumerang zurückkommen. Wann?

Das zeigt ein anderer Punkt des Pakets: Die europäischen Banken müssen bis Mitte 2012 ihre "Kernkapitalquoten auf neun Prozent der risikogewichteten Bilanzsumme" erhöhen (Rekapitalisierung). Dann sollen sie stabil genug sein, um eine Pleite Griechenlands (und Portugals) zu überstehen. Bis dahin will man überbrücken. Es ist sehr fraglich, ob das gelingen wird.

Denn die Rekapitalisierung selbst ist ein weiterer Haken. Die dafür notwendigen ca. 100 Mrd. Euro werden die Banken auf dem Markt wahrscheinlich nicht beschaffen können. Sie werden also ihre Bilanzsumme verkleinern und weniger Kredite vergeben. Das verschärft das Kernproblem des aktuellen Kapitalismus: woher soll das Wachstum kommen?


Wachstum

"Wenn wir diese wundersamen Schirme mit den irren Summen schaffen können, an Wochenenden mit langen Nächten, warum sind sie dann immer wieder zu Mein und reichen nicht aus? Viel wirkungsvoller und beruhigender wäre es doch, einen Schirm von, sagen wir mal, 10.000 Milliarden zu schaffen, der über ganz Europa gespannt ist und jedes Land retten könnte. Oder wir garantieren gleich eine Fantastilliarde für den gesamten Erdball, das wäre fast so viel wie in Dagobert Ducks Geldspeicher ... Warum also dieses Aufstocken, Abwarten und Abwiegeln? Wenn die Summen zu hemmungslos wirken, zerbirst eine Illusion, der Schwindel fliegt auf. Dann könnte jemand auf die Idee kommen, dass dieser Rettungsschirm eine Schimäre ist..."
(Horst von Buttlar am 21.12.2010 in der FTD)

Die EU entstand als Produkt der Krise. Seit 1972 stimmten die damaligen EWG-Länder ihre Wechselkurse in einer Währungsschlange aufeinander ab, um die Schockwirkung der Aufkündigung des festen Wechselkurssystems von Bretton Woods durch die USA abzuwehren. Ein europäisches Projekt, das ständig scheiterte (Währungsschlange, EWS, nun auch die Währungsunion?) und dadurch transformiert wurde.

Feste Wechselkurse in Europa waren das strategische Ziel der deutschen Unternehmen und ihrer Regierungen, allerdings sollte am Ende eine kleine Währungsunion stehen. Durch Frankreichs Druck und weltgeschichtliche Ereignisse (die 'Wiedervereinigung; die USA erzwangen durch Ausweitung der NATO die Osterweiterung der EU) wurde man zum großen Euroraum gezwungen. Die BRD war allerdings stark genug, durch ihren damaligen Finanzminister Waigel die berüchtigten Kriterien bzgl. Inflation, Haushaltsdefizit und Gesamtverschuldung durchzudrücken, ohne jeden ökonomischen Sachverstand (Waigel erklärt heute, man hätte die Kriterien auf Basis eines projektierten durchschnittlichen Wirtschaftswachstums von vier Prozent jährlich festgelegt!), aber mit klarer klassenpolitischer Zielsetzung. Die zweite Drehung der Schraube war der "Stabilitätspakt" von Amsterdam und Dublin. Die dritte Umdrehung kommt jetzt mit der "Schuldenbremse", die sich auf deutschen Druck hin alle Eurostaaten in die Verfassung schreiben sollen.

Das Europrojekt war und ist eines zum Absenken von Sozialausgaben und Löhnen durch Aufbrechen von Tarifstrukturen und In-Konkurrenzsetzen der Sozial- und Steuergesetze der verschiedenen Staaten. Es befördert kein neues Akkumulationsregime, sondern quetscht das alte mit Kostensenkung und Beggar-thy-neighbour-Strategien bis zum letzten Tropfen aus. Dadurch hat es eine starke Tendenz zu Rezession und Deflation. Diese Tendenz wurde in den ersten Jahren des Euro nicht deutlich, weil der Immobilienboom in den USA und Chimerica für weltwirtschaftliches Wachstum sorgten. Zudem führte die Einheitswährung in den Peripherieländern zu historisch niedrigen Zinsen; dadurch kam es in Spanien und Irland zu Immobilienblasen, die auf die gesamte EU ebenfalls wachstumsfördernd wirkten; und in Italien, Portugal und Griechenland schienen höhere Staatsschulden tragbar und wurden ausgeweitet.

Die Kreditblase der europäischen Peripherieländer spielte im zurückliegenden Boom sowohl strukturell wie quantitativ in der EU dieselbe Rolle wie die US-amerikanische Subprime-Blase für Chimerica. Die großen Kapital- und Warenströme in die Peripherie wurden mit Krediten bezahlt daran haben die Banken verdient. Mit Ausbruch der Krise wurde es unmöglich diese Kredite zurückzuzahlen. Somit war das Eurozonen-Wachstumsmodell geplatzt. An den Rand des Bankrotts gerieten die peripheren Länder dann, weil Merkel/Steinbrück im Herbst 2008 durchsetzten, dass jedes Land seine Banken selber heraushauen musste eine Absurdität in einer Währungsunion, die erst vom "Rettungspaket" Ende Oktober schrittweise aufgehoben wird.

Ohne Perspektive auf Wirtschaftswachstum führt das Durchdrücken der verschärften Sparpolitik womöglich zum Bruchpunkt. An dieser Stelle versagen alle Vergleiche zwischen einer Umschuldung Griechenlands (und Portugals) mit dem Staatsbankrott Argentiniens 2001/2. Denn Argentinien konnte gleichzeitig stark abwerten und wurde dadurch in einer Phase wachsender Weltwirtschaft konkurrenzfähig (trotzdem waren auch in Argentinien die sozialen Auswirkungen zunächst verheerend!). Euro-Staaten können aber nicht abwerten, und die Weltwirtschaft steht gerade vor der nächsten Rezession. Recht treffend wird die aktuelle Krise in der angelsächsischen Welt als "große Kontraktion" beschrieben, selbst wenn es zu keinem neuen Crash kommen sollte, wird es noch viele Jahre dauern, bis die hohe Gesamtverschuldung reduziert ist, bis die Immobilien- und die Finanzbranche, die Autoindustrie, die Chemieindustrie... ihre gewaltigen Überkapazitäten abgebaut haben. Gerade hat Peugeot/Citroen 6800 Stellenstreichungen in Europa angekündigt. Und nicht nur in den PIGS-Staaten wird der Staatssektor reduziert, auch die USA bauen seit Beginn des Jahres 40.000 Arbeitsplätze im Offentliehen Dienst ab, Monat für Monat! Wo soll also Wachstum herkommen?

Seit Mitte der 90er Jahre konnte der Kapitalismus Wachstum nur über das Aufpumpen von Blasen erzeugen. Auch jetzt hat die "Schwellenländerblase" noch einmal kurzfristig für den Boom der deutschen Exportindustrie 2010 gesorgt; sie scheint nun aber am Ende zu sein.

Mit Wachstum konnte der Kapitalismus immer wieder Klassenkampf durch Entwicklung unterlaufen ("es wird uns allen besser gehen"). Damit ist es vorbei, seitdem die Reichen immer reicher werden, während die Einkommen der anderen stagnieren oder sogar sinken. Trotzdem gab es im letzten Zyklus noch Wirtschaftswachstum, das für (prekäre) Beschäftigung sorgte. Wenn auch das ausbleibt, werden sieh die Verteilungskämpfen radikalisieren: "Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen!" Die "Grenzen des Wachstums" werden zu den Grenzen des Kapitalismus.

Das ist übrigens der Kern der Debatte zwischen Hardlinern und keynesianischen Romantikern: Wenn finanztechnische Blasen nicht mehr funktionieren, wäre Wachstum nur noch als subventioniertes zu haben (Debatte um Marshallplan für Südeuropa). Das ginge aber auf Kosten der Rentabilität des Gesamtkapitals. Angesichts dessen sind erstere bereit, etwas Deflation und Staatspleite zu riskieren, während letztere vor der (realen) Gefahr warnen, dass weder die Dynamik des Einbruchs der Finanzmärkte noch die soziale Revolte beherrschbar bleiben werden. Aber beide hängen an einem Wachstumsmodell - Schnee von gestern!


Krise und Politik

"Die Politik verliert etwas Elementares: ihre Verteilungsfunktion. Die Begründungsnotstände erleben wir beinahe jeden Tag. Warum Milliarden für Banker, wenn nicht mal ein paar Millionen für Arme da sind? Handlungsfreiheit, Entscheidungshoheit und Gestaltung können Politiker nur noch simulieren. Noch leben wir in der Illusion der Rettung. Die Schirme beruhigen, die Menschen gehen zur Arbeit, sie kaufen sich Dinge von ihrem Geld und legen es sogar auf ihr Konto.
Es ist eine Frage der Zeit, bis die Zweifel der Menschen überhandnehmen.
Wie viel ist das Geld noch wert? Wie geht Vertrauen verloren?
Der Ökonom Kenneth Rogoff beantwortet diese Frage mit einem Wort: 'Rums!'."

(Horst von Buttlar, ebenda)

Die Legitimationskrise und Strategiekrise der herrschenden Politik ist vor aller Augen. Keine Legitimation: Denn sie retten mit einer Hand die Banken und peitschen mit der anderen Hand Sparprogramme durch. Keine Strategie: Mehr als vier Jahre nach Ausbruch der Krise kaufen sie immer noch lediglich Zeit. Das staatliche Fundament selbst ist in Gefahr: Die Krise hat eine Stufe erreicht, wo die Staaten, die retten sollen, selber in Gefahr sind. Wenn Frankreich sein AAA-Ranking verliert, platzt womöglich der ESFS. Regierungen haben nichts mehr zu bestimmen, nachdem sie "unter den Rettungsschirm geschlüpft" sind; alle Institutionen, die was zu bestimmen haben, werden nicht gewählt und sind oft nicht einmal in der Öffentlichkeit bekannt.

Und endlich haben sich auch die politischen Bewegungen von den "Politikern" abgewandt (die No Glob-Bewegung in ihren Gipfelmobilisierungen hatte die Macht der Politiker, die sie anklagte, völlig überhöht).

Die "Krise der Politik" hat im Sommer ein neues Stadium erreicht. Sie ist eine Drehung in einer Spirale nach unten, weil sie wiederum die Staatsanleihenkrise verschlimmert. Die extrabreite Koalition aus CDUCSUFDPGrüneSPD, die allem zustimmt, ist Ausdruck dieser Sachlage - bereits im Ersten Weltkrieg unterwarf sich die SPD dem "Burgfrieden".

"Politik" hieß im Kapitalismus immer, das Akkumulationsregime mit harter Hand durchzusetzen und die Früchte klientelwirksam zu verteilen - da unterschieden sich Christ- und Sozialdemokraten nur in Nuancen. Heute gibt es nichts umzuverteilen - da unterscheiden sich Grüne, Christ- und Sozialdemokraten gar nicht.


Der Kampf um die Rettung...

"Währungsunionen zerbrechen grundsätzlich, es sei denn, sie mutieren zu einer politischen Union."
(Wolfang Münchau in der FTD)

Die Ausweglosigkeit der Krise entlädt sich auf europäischer Ebene in verschärften Kämpfen gegeneinander, international in zunehmender Sorge und aggressiver Einmischung der britischen und US-amerikanischen Finanzindustrie und ihres Präsidenten Obama sowie ihrer Institutionen IWF und Weltbank. Frankreich, die schwachen EU-Länder, die britische und die US-Regierung sowie die globale Finanzbranche machten sich massiv stark für irgendeine Form von Eurobonds, während die BRD, Finnland, Österreich, Holland dagegen hielten - und letztlich die Hebelung der ESFS, also das größere Risiko, durchsetzten. (Seit von "Hebel" die Rede ist, haben sich die Risikoaufschläge, die der EFSF zahlen muss, wenn er sich am Markt Geld leiht, verdoppelt. Im Oktober musste er zeitweise mehr als 1,3 Prozentpunkte im Vergleich zu deutschen Anleihen zahlen, das ist mehr als Frankreich.)

Es gibt in der aktuellen Krisendynamik keine Möglichkeit mehr, den Status quo von EU und Eurozone zu verteidigen, entweder sie wird stärker integriert, oder sie fliegt auseinander. Allerdings sind hier keine linken Illusionen angebracht. Mit "Fiskalunion" meint Schäuble nicht das Zusammenschmeißen der Schulden, gleiche Sozialleistungen in Europa und eine gewählte europäische Regierung. Stattdessen setzt die BRD Zug um Zug schärfere Kontrolle und härtere Sanktionen gegen Haushaltsdefizite durch. Der halsbrecherische Schlingerkurs der Merkelregierung, die immer wieder heute das tut, was sie vor Monaten oder gar Wochen kategorisch ausgeschlossen hat, täuscht leicht darüber hinweg, dass klassenpolitisch die Ziele völlig klar sind.

Allerdings stoßen sie damit immer stärker an objektive Grenzen. Der ESFS kann mit oder ohne Hebel Spanien oder Italien nicht "retten", ohne sein eigenes Fundament wegzugraben. Nur die EZB könnte das - aber im Brüsseler Schlusskommuniqué ist auf deutschen Druck hin sogar der Satz entfernt worden, die Euro-Staaten begrüßen, dass die EZB ihre 'unkonventionellen Maßnahmen' (u.a. das Aufkaufen von Staatsanleihen angeschlagener Euro-Staaten) fortsetzt. Solche Anleihekäufe verteilen die Risiken auf alle Länder und sind eine Vorform von Eurobonds.

Aber die EZB wird damit weiter machen müssen. Denn seitdem die politische Garantie aufgegeben wurde, dass kein Land "fallen gelassen" wird, und die Politik öffentlich über eine mögliche Pleite Griechenlands diskutiert, sind die Mitgliedsländer der Euro-Zone den "Märkten" schutzlos ausgeliefert. Sie können sich nicht wie andere souveräne Staaten über ihre Zentralbank (zwischen-)finanzieren. Die EZB hat nicht die explizite Funktion des Kreditgebers letzter Instanz. Faktisch bewegt sie sich aber in diese Richtung, wenn auch nicht in den Dimensionen der US-Notenbank Fed (diese besitzt US-Anleihen im Wert von 600 Milliarden US-Dollar) oder der Bank of England (Milliarden Pfund, plus die am 6. Oktober angekündigten 75 Milliarden Pfund). Mitte September 2011 besaß die EZB Staatsanleihen in Höhe von 143 Milliarden Euro - fast die Hälfte davon hatte sie in den vorangegangenen vier Wochen gekauft, nachdem die Zinsen auf spanische und italienische Staatsanleihen nach den Euro-Gipfelbeschlüssen vom 21. Juli stark angestiegen waren.

... der Banken

Die weltweiten Kursstürze im August waren ausgelöst von Sorgen, das europäische Bankensystem könne kollabieren. Auch wenn sich nirgends Schlangen vor Bankfilialen bildeten wie im September 2007 vor Northern Rock - die gewaltigen Kapitalabflüsse Richtung USA summierten sich zusammen mit den Abhebungen der Sparerinnen (allein in Griechenland seit Anfang des Jahres über 40 Mrd. Euro) zu einem faktischen Bank run. Es ist sehr fraglich, ob die 20prozentige Versicherung der ESFS diese Kapitalströme nach Europa zurücklenken kann.

Die europäischen Banken sind extrem überakkumuliert. Ein Vergleich ihrer Bilanzsumme (33.640 Mrd. Euro) mit dem voraussichtlichen BIP der Eurozone 2011 (9422 Mrd. Euro) macht deutlich, wie schwierig es für die Staaten ist, dieses Zombiesystem zu retten. Die Risiken sind dabei ungleich verteilt: Laut Daten der EZB belaufen sich die Verbindlichkeiten der französischen Banken auf 409 Prozent des BIP, die der spanischen auf 338, der deutschen auf 331, der italienischen auf 250 und der griechischen auf 213 Prozent. Frankreich und Österreich würden ihr AAA verlieren, wenn sie - wie vorgesehen - ihre Banken selber auf die vom letzten "Rettungspaket" geforderten neun Prozent der Bilanzsumme rekapitalisieren müssten. Sowohl der IWF als auch die Europäische Bankenaufsieht (EBA) sind zum Ergebnis gekommen, dass kein Weg um die Verstaatlichung einiger Banken herum führt.

Bisher halfen alle "Rettungspakete" dieser mächtigen Finanzindustrie. Sie hat die griechische Staatsschuldenkrise verschleppt und fett daran verdient. Auch derjetzige Schuldenerlass von 50 Prozent heißt, dass die Banken 50 Prozent für Anleihen bekommen, die auf dem Markt maximal noch 40 Prozent wert sind - und diese 50 Prozent noch dazu vom ESFS garantiert werden.

EZB und/oder Eurobonds
Auch die Angst vor dem Zusammenbruch europäischer Banken stärkt die Bedeutung der EZB. Anfang September hatten diese 166 Mrd. Euro bei der EZB geparkt, die sie sich normalerweise 'über Nacht' gegenseitig ausleihen. Sogar Siemens zog über 500 Mio. Euro von einer französischen Bank ab und deponierte sie bei der EZB, so stark ist die Angst.

Gleichzeitig wird die EZB aber zu einer Bad Bank. Sie hat inzwischen Schrottpapiere für 1,3 Bio. Euro in ihrem Bestand, weil sie ohne Mandat faktisch als europäische Wirtschaftsregierung handelt. Die FAZ brachte das Dilemma der Herrschenden gut zum Ausdruck - soll man den Kapitalismus retten, wenn die Gefahr besteht, dadurch die Arbeiterklasse zu stärken? "Nur die EZB (kann) die Märkte in die Schranken weisen. Aber zu welchem Preis? ... So viel Geld für notleidende Euro-Staaten zur Verfügung stellen, dass kein Anleger auf der Welt mehr glauben kann, dass überhaupt je ein Euroland noch pleite gehen kann? 'Monetisierung' nennt man so etwas."

Aber angesichts der tiefen Krise rücken sogar die Regierungs-Kopflanger von ihren alten Positionen ab. Schon Mitte Juli haben sich alle fünf "Wirtschaftsweisen" in einem Appell zusammen mit anderen europäischen Ökonomen für einen Schuldenschnitt Griechenlands von 50 Prozent, die Rettung der Banken und ... Eurobonds ausgesprochen. Der "Wirtschaftsweise" Bofinger sagt nun, es brauche diese politische Zinsfestsetzung durch Eurobonds, "politische Regulierung, um die Märkte zu begrenzen".

Eurobonds lösen die genannten strukturellen Probleme nicht, sie halten nur die Schulden bezahlbar. Aber unseren Feinden gehen die Optionen aus: Es ist nicht möglich, "aus den Schulden herauszuwachsen" (siehe oben zu "Wachstum"). Mit etwa acht Prozent Inflation könnte man sie "weginflationieren", wurde errechnet. Das wäre zwar ein eleganter Weg für die Unternehmer, nachdem sie europaweit die Mechanismen zum Inflationsausgleich bei den Löhnen abgeschafft haben - aber die Krise selbst macht ihn ungangbar: In den Krisenländern versuchen die Menschen, von ihren Schulden runterzukommen, die drastischen Sparprogramme machen sie noch ärmer; die Unternehmer haben ihre Investitionen zurückgefahren; die Staaten werden gezwungen zu sparen; und die Banken werden noch weniger verleihen. Woher soll da eine Inflation kommen? (Die steigenden Preise bei Nahrungsmitteln und Energie kann der Staat nicht so stark abschöpfen, wie er es bei steigenden Einkommen, Umsätzen, Profiten usw. durch Steuern könnte.)


Ausgefrühstückt? ...

"Wenn Deutschland diesen Exportüberschuss, an den es sich 30 Jahre lang gewöhnt hat und den wir durch alle möglichen Sozialleistungen verfrühstückt haben, wenn wir den nicht halten, dann bricht alles zusammen."
(Hans-Olaf Henkel, ehemaliger Präsident des BDI, März 2011)

Laut einer McKinsey-Studie vom Oktober 2011 verdankt die BRD dem Euro rund ein Drittel ihres Wirtschaftswachstums seit 1999. Gründe: Der Wegfall von Kosten für Währungsabsicherung, Zunahme des Handels in der Euro-Zone, höhere Investitionen in Europa durch geringere Realzinsen, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie auch im Welthandel. Diese wurde gestärkt, indem sich das "Modell Deutschland" der 70er Jahre seit Gründung der EU mit den Maastricht-Verträgen 1992 zu dem radikalisiert hat, was wir heute kennen: Der Anteil der Warenexporte am BIP der BRD hat sich seit '92 mehr als verdoppelt, die Lohnquote nimmt ab, die Lohnspreizung steigt, die massenhafte Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich. Das ging auch im gerade zuende gegangenen Boom so weiter: Im August lag die Arbeitsproduktivität um 5,1 Prozent über dem Vorjahr, die nominalen Stundenlöhne bloß um 2,2 Prozent. Die realen Stundenlöhne in der Industrie liegen heute auf dem Stand vom August 2002. Die Produktivitätsunterschiede zwischen der BRD und den südeuropäischen Ländern haben sich weiter verschärft.

... Der Zwischenboom in der BRD geht zuende

Aber bereits im zweiten Quartal 2011 war das BIP in der BRD gerade mal noch um 0,1 Prozent gewachsen (in der gesamten EU um 0,2). Im Juni und Juli sanken bereits die Exporte. Für das vierte Quartal erwartet das offizielle Herbstgutachten der Bundesregierung ein schrumpfendes BIP, andere Institute erwarten auch für das erste Quartal 2012 einen weiteren Rückgang - das wäre dann im statistischen Sinn eine Rezession. Frühindikatoren wie Frachtaufkommen zeigen bereits einen deutlicheren Rückgang an. Das alles aber nur für den Fall, dass sie die Krise der EU in den Griff bekommen - und dafür spricht bisher nicht viel.

Ob Stagnation, Rezession oder erneuter Crash wie 2008: Der Zwischenaufschwung in der BRD ist jedenfalls vorbei.

Occupy Germoney?

Die Mobilisierungen vom Tahrir-Platz über Puerta del Sol bis zu Occupy Wallstreet haben bei allen Unzulänglichkeiten, Grenzen und inneren Widersprüchen etwas zurückerobert, was seit den 70er Jahren keiner Bewegung mehr gelungen ist: Sie werfen die Frage nach dem "Allgemeininteresse" auf - und diese "Allgemeinheit" versucht zu antworten. Nicht nur im arabischen Frühling, auch in den USA gehen Medien, Promis wie Stiglitz und Jeffrey Sachs, linke Theoretiker wie Wallerstein und Beverly Silver, revolutionäre Politgruppen usw. zu den Protesten und stellen ihre Sicht der Dinge, ihre Analysen, ihre Vorschläge zur Diskussion, bzw wollen "verstehen, was die Bewegung sagt". Das ist unheimlich wichtig nach drei Jahrzehnten, in denen die Herrschenden jedes Kollektiv angegriffen haben und jeden Kampf als Ausdruck von Partikularinteressen hinstellen konnten.

Zu Beginn haben die Mobilisierungen das oft als Forderung nach "wirklicher Demokratie" formuliert; eine offene Flanke für NGOs und Modernisierer - und ein Ausdruck davon, dass uns noch neue Begriffe fehlen (der Begriff "Allgemeininteresse" kommt ja ebenfalls aus der Demokratietheorie). Aber dieser Bezug scheint inzwischen abzunehmen und dafür soziale Themen in den Vordergrund zu treten. In Spanien und in den USA zieht die Bewegung in die Stadtviertel, um Zwangsräumungen zu verhindern, Leute von Occupy London gingen zum Bauarbeiterstreik. Dieser Schritt ist sehr wichtig, denn nur wenn sich die Kämpfe aufeinander beziehen, sich gegenseitig verstärken, kann eine Bewegung mit Durchschlagskraft entstehen. Der Bezug kann aber nur gelingen, wenn man sich auch über seine eigenen Bedingungen empört.

Genau hier konnte die (Wirtschafts-)Politik der Regierung und der Erfolg der deutschen Exportindustrie den Krisenbündnissen den Boden unter den Füßen wegziehen. Der Boom, die sinkende Arbeitslosigkeit, das Gefühl verschont geblieben zu sein... Auch in der BRD gab es in den letzten Jahren starke Mobilisierungen, etwa in Stuttgart zu Zeiten hoher Kurzarbeit! - gegen S21, im Wendland gegen Atomtransporte, allgemein gegen die Atomindustrie. Diese thematisierten aber nicht die (eigenen) sozialen Bedingungen, und bei uns gibt es auch viel weniger die gewachsene Erfahrung, dass sich solche Mobilisierungen auch mit Klasseninitiativen verbünden. Die Demo am 15. Oktober in Berlin stellte keinen Bezug zum Streik bei der Charité Facility Management her - obwohl er einen Steinwurf entfernt vom Demozug war. In der BRD fehlt das noch genauso wie die gesellschaftliche Wut. In Rom waren am 15. Oktober 300.000 auf den Straßen, in Barcelona 100.000 - in Berlin 10.000, in Frankfurt 8000. in Rom randalierten Tausende, in Berlin waren eher Plakate zu bestaunen wie "Ich bin so wütend, dass ich dieses Schild gemalt habe".

Aber endlich tut sich auch in der BRD was! Mit Verzögerung ist die weltweite Bewegung auch in der BRD angekommen. Wenn sie ihre Dynamik aufrechterhält, werden wir im Nachhinein über die Naivitäten der Anfänge schmunzeln. Die weltweite Bewegung ist Schutz vor Repression und autoritären Lösungen (im Indien-Artikel wird deutlich, dass sich der Unternehmer im entscheidenden Moment nicht getraut hat zu räumen, weil der Funke in andere Bewegungen und auf andere Fabriken hätte überspringen können); sie kann zum Resonanzboden werden ("zu berechnende Komponente spontaner Mobilisierungsfähigkeit"; siehe Spanienartikel). Sie hat die Öffentlichkeit zurückerobert, "die Demos und Besetzungen (schaffen) eine Öffentlichkeit, in der Arbeiterkämpfe wahrgenommen werden". Eine Öffentlichkeit, in der "soziale Gruppen anfangen, die Kämpfe von anderen "nachzumachen", dabei aber ihr eigenes Ding entwickeln". So lange diese Dynamik anhält, ist alles möglich!


Soziale Bewegungen reichen nicht aus

"In Deutschland wäre längst eine Revolution ausgebrochen", mokierten sich Troika-Vertreter in Griechenland über das Gemäkel aus dem europäischen Norden - angesichts der gewaltigen Einsparungen, die in Griechenland bereits durchgesetzt worden sind.
(taz 23.8.2011)

Überall, wo Krise und Sparpolitik zuschlagen, sind Bewegungen entstanden, vor allem dort, wo die Jugendarbeitslosigkeit hoch ist. Aber auch in den USA und in Ägypten sind es nicht die Obdachlosen und die Armen, die zum Protestieren auf die Straße gehen. Gerade deshalb ist die "Verbindung" so wichtig! Um sie in der BRD herstellen zu können, müssen wir uns der schwierigen Wahrheit des von der taz kolportierten Satzes stellen. Die Arbeiterklasse hier hat ihre Errungenschaften durchaus zäher als anderswo verteidigt, und der Schlingerkurs der Merkelregierung ist Ausdruck ihrer großen Angst davor, diese Bedingungen frontal anzugreifen. Allerdings haben die Kerne der Arbeiterklasse ihre Bedingungen vor allem darüber gehalten, dass die Ränder zum Abschuss freigegeben wurden (Ausweitung des Niedriglohnsektors, Leiharbeit, niedrigere Löhne für Neueingestellte, Absenkung der Sozialleistungen, Hartz IV usw. usw.). Das größte Problem der Herrschenden besteht darin, diese Klassenspaltung aufrechtzuerhalten. Die große Frage lautet: Trifft die nächste Krisenwelle wieder vor allem die Ränder (der EU), oder auch die bisher "gesicherten" Arbeiterschichten?

Diese Frage verweist nicht nur in die unmittelbare Zukunft. Die Versicherungen, die Energieversorger, die Banken haben bereits mit großen Entlassungen begonnen. Ebenso ging der Trend zur Umwandlung von relativ gut bezahlten Jobs in prekäre "Dienstleistungsjobs" weiter. Drittens wirft die beginnende lange Stagnationsphase das Exportmodell der deutschen Wirtschaft völlig aus der Bahn. Die Täuschung, man könne die Krise ewig auf andere abwälzen, kommt ans Ende.

Es geht bei diesen Überlegungen nicht um eine Verelendungstheorie, es ist auch nicht so, dass die Prekarisierten ohne die Garantierten nicht kämpfen könnten - das haben die Maruti-Arbeiter gerade eindrucksvoll gezeigt! Es geht aber sehr wohl darum, die materielle Spaltung ernstzunehmen; nur ein Kampf, der sie aufhebt, kann Erfolg haben.

"Klassenkampf"

Die BRD bürgt für Griechenland mit 211 Milliarden Euro; hat aber real bereits 255 Mrd. Euro verloren, um den Crash von Banken aufzuhalten - wobei natürlich auch die Garantien für Griechenland in Wirklichkeit die Banken retten. Wie konnte dann die Wut auf die Banker von Bundesregierung und Bild-Zeitung so leicht in Wut auf die faulen Griechen umgewandelt werden? Warum sagen in Griechenland viele Leute, die Politiker, die Juden, die Korruption seien schuld an der Krise? Und warum muss sich die Occupy-Bewegung vor Vereinnahmung durch Nazis fürchten?

Wenn sich Leute empören und auf die Straße gehen, sind linke (wie rechte) Populismen vom "Aufstand des kleinen Mannes" gegen die übermächtigen Banken die ersten Sicherheitsventile des Systems. Aber Link(sradikal)e, die als Anhängsel des "Kampfs gegens Casino", also für die Stärkung des Staates, auftreten, haben hier keinen Blumentopf zu gewinnen. In einer Situation, wo sich radikale Fragen nach der Überwindung des Kapitalismus stellen, müssen wir die Alternative 'Suche nach Sündenböcken' oder 'Stärkung staatlicher Ordnung und Institutionen' aufbrechen!

Einer link(sradikal)en Szene, die ständig das Wort "Globalisierung" im Mund führt, ist in Bezug auf die Krise der EU - wo es mindestens um "kontinentale" Kämpfe geht - bisher nichts anderes eingefallen als der PDL und den Gewerkschaften. Wir haben doch nicht den Euro zu verteidigen, den Kohl eingeführt hat! Und schon gar nicht sollten wir die EU "demokratisch" anstreichen. (Wir setzen andererseits auch keine Hoffnungen ins Zerbrechen der Eurozone.)

Solange die Krise als ein über unseren Köpfen hängender "finanztechnischer" Vorgang erscheint, setzen sich immer wieder Vorstellungen durch vom "kleinen Mann", der den starken Bündnispartner braucht. Aber weder ist es unsere Aufgabe, die kapitalistische Krise zu regulieren, noch können wir sie ignorieren und einfach aus dem Kapitalverhältnis hinaus treten.

Die Unbekümmertheit der Occupy-Bewegung bringt sicher frischen Wind: 'das System ist ein toter Mann, lasst uns gucken, was wir zusammen Neues schaffen können.' Sie hat aber große Probleme, mit ihrem 99%-Ansatz so was wie Klassengegensätze, Ausbeutung und Lohnarbeit zu verstehen, oder gar einzugreifen!

In deutschsprachigen linken Texten kommt das Wort "Klassenkampf" schon seit längerem nur noch mit dem Zusatz "von oben" vor; das Wort "Klasse" nur mit dem Vorsatz "herrschende". Wir müssen die Sache mal wieder vom Kopf auf die Füße stellen! Die vielfältigen weltweiten Klassenkämpfe haben mit dieser Umkehrung begonnen. Der Streik etwa bei Maruti Suzuki in Indien, der Festangestellte und Leiharbeiter als Klasse zusammengebracht hat, ist überaus bedeutsam. Um die "globale Streikwelle" (s. Wildcat 90) einschätzen zu können, müssen wir uns genau angucken, was überhaupt passiert. Die Berichte in diesem Heft sind, wie die Verallgemeinerung der Kämpfe selbst, unvollständig, fragmentarisch - und ein Anfang.


Randnotizen

Monetisierung heißt allgemein, "etwas zu Geld" machen. In den 60er und 70er Jahren ging es hierbei oft um den Versuch der unternehmer, gesundheitsschädliche Arbeit mit ein paar Pfennig mehr zu bezahlen, anstatt die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Heute wird der Begriff fast ausschließlich als "Monetisierung von Staatsschulden" gebraucht. Regierungen geben mehr Geld aus, als sie durch Steuern einnehmen und bezahlen ihre Schulden durch die Ausgabe von Staatsanleihen oder indem sie ihre Notenbank anweisen, Geld zu drucken. Wird das massiv betrieben, tendiert die betroffene Währung zur Abwertung. Für Merkel, Schäuble und die Hardliner der Bundesbank ist Monetisierung aber ein Kampfbegriff, sie sehen hierin die Gefahr, dass die Proleten mehr Geld in die Hände kriegen, wenn die Geldmenge wächst.

Finanzialisierung benutzen wir hingegen, um den Prozess der Ausweitung des Kredit- und Anlagegeschäfts in Form von Hypotheken, Konsumentenkrediten, privater Altersvorsorge usw. zu beschreiben. um diese Geschäftsfelder zu erschließen, wurden die Kapitalmärkte dereguliert. Im Ergebnis entstand eine Vielzahl von "neuen Finanzinstrumenten"; Investmentbanken und sogenannte institutionelle Investoren (Fonds) wuchsen stark an.

Ausführlich zum Europrojekt in Wildcat 90

Zu Chimerica s. "Alle Hoffnungen richten sich auf China" in Wildcat 85 - Herbst 2009)

Zur subprime Krise, den bank run auf Northern Rock usw., - siehe "Globale Krise" in Wildcat Nr. 82, August 2008
www.wildcat-www.de/wildcat/82/w82_krise.htm

(vgl. "Wie machen wir's öffentlich?" in Wildcat 81, Mai 2008 www.wildcat-www.de/wildcat/81/w81_oeffentlich.html)

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Occupy London Stock Exchange!, 15.10.2011
- Hebel oder Pistole?

Raute

Ägypten:

Entsteht in den vielen sozialen Kämpfe wieder eine gemeinsame Vision oder bleiben diese in "Partikularismus" und "Verteilungskämpfen" stecken?

Populismus und Repression
Am 9. Oktober schlug das ägyptische Militärregime eine koptische Demonstration äußerst brutal nieder ("Massaker von Maspero"). Am Tag danach begründete der ägyptische Finanzminister Hazem el Beblawi sein Rücktrittsgesuch mit dem Unwillen seiner Regierung, angemessen auf das "Minderheitenproblem" einzugehen. Tatsächlich stand sein (im Übrigen zurückgewiesenes) Gesuch wohl eher im Zusammenhang mit der politischen Unfähigkeit der Regierung, ihren 'populistischen Schlingerkurs' zugunsten einer harten ökonomischen Restrukturierung aufzugeben.

Sein Vorgänger hatte im Juni noch Angebote des IWF auf neue Kredite zurückgewiesen und stattdessen intensiv Investoren vor allem aus den Golfstaaten gesucht. Investoren sind aber sehr zurückhaltend, wenn dauernd gestreikt wird. Die ausländischen Direktinvestitionen sind um fast 70 Prozent gesunken und gehen fast nur noch in die Öl- und Gasindustrie.

Der Staat wiederum sieht sich gezwungen, Forderungen nach Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst zumindest teilweise nachzugehen (dieses Jahr geht man von Lohnerhöhungen um 15 Prozent im öffentlichen Dienst und im Durchschnitt um zehn Prozent aus), die Einkommenssteuerfreigrenze zu senken und die Subventionen für Lebensmittel und Energie zu erhöhen. Da die Einnahmen des Staates durch den Einbruch der Wirtschaft massiv gesunken sind, greift er auf die Reserven der Zentralbank zurück: Diese sind seit Januar von 43 auf 26 Mrd. Dollar geschrumpft. Trotzdem verschlimmert sich das Elend eines großen Bevölkerungsteils: Die offizielle Arbeitslosigkeit ist um drei Prozentpunkte auf zwölf Prozent gestiegen, die offizielle Inflation beträgt zehn Prozent, die Teuerung bei Lebensmitteln ist zum Teil erheblich höher.

Ein Abkommen mit dem IWF wird aller Voraussicht nach ein Ende des 'Populismus' bedeuten und den sozialen Auseinandersetzungen neue Schärfe verleihen.

Diskussion um den Mindestlohn
Die herrschende Klasse macht zusammen mit Teilen der Protestbewegung im Namen der Armen Front gegen "Partikularinteressen", d. h. vor allem gegen Streiks. Gegen kollektive Kämpfe setzt sie auf die weitere Individualisierung, zum Beispiel durch eine neue Lohnstruktur.

In der Diskussion um die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns sagte kürzlich der Direktor des Regionalbüros der ILO, Qaryouti, der springende Punkt sei weniger die konkrete Höhe, als vielmehr die Bindung von Lohnsteigerungen an Produktivitätssteigerungen. Die Forderung nach "gerechteren" Löhnen sei legitim, aber man müsse den ArbeiterInnen klar machen, dass "Gerechtigkeit" auch etwas mit Leistung zu tun habe. Bisher setze sich der Effektivlohn aus lediglich 20 Prozent fixem Grundgehalt, aber 80 Prozent variablen (aber kollektiven) Zusatzleistungen zusammen wie Prämien, Transport- und Essensgeld, Sozialversicherungen usw.. Dieses Verhältnis müsse umgekehrt werden. Der Mindestlohn hebe das Grundgehalt an, das ergänzt werde durch "gerechte" (individuelle!) Leistungsprämien als Anreiz. Sozialleistungen im weiteren Sinne werden privatisiert.

Die aktuell geführte Diskussion um die Subventionen geht in die gleiche Richtung. Das Argument, dass die Hälfte der subventionierten Güter gar nicht den armen 40 Prozent der Bevölkerung zugute käme, soll suggerieren, dass sich reiche Leute die Plastiktüten mit minderwertigem Brot füllen. Es dient aber dazu, den Kreis der Berechtigten stark einzuschränken - und trifft damit genau die sogenannte "Mittelschicht", also die Leute, die in den letzten Monaten gestreikt haben.

Neue Streikwelle seit September
Den Sommer über sah es so aus, als würde die Bewegung in den Betrieben auseinanderbröseln. Immer häufiger gelang es, die während der Revolte im Frühjahr gemeinsam geführten Kämpfe auseinanderzudividieren: zum Beispiel beim breit wahrgenommenen sechswöchigen Streik in den Tochterfirmen der Suez Canal Authority für die Angleichung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen an die direkt bei der SCA Beschäftigten. Er scheiterte letztlich daran, dass sich die 10.000 SCA-Beschäftigten nicht (mehr) beteiligten.(1)

Neuen Schwung brachte ab Mitte September die breite Streikwelle vor allem im öffentlichen Dienst. Die Streiks der Ärzte und der Lehrer gingen beide von der "Provinz" aus und schwappten erst später nach Kairo über. Da es in diesen Berufen gängige Praxis ist, das Gehalt durch erzwungenen Privatunterricht, Trinkgelder u. ä. aufzubessern, sind Lohnforderungen höchst unpopulär (seitdem Frühjahr ist die individuelle Gewalt gegen Ärzte sprunghaft angestiegen). Diese Berufgruppen kamen deshalb nicht umhin, neben Lohnforderungen auch allgemeine gesellschaftliche Forderungen wie die nach einem besseren Gesundheitssystem zu formulieren.

Diese großen Streiks wurden - ebenso wie der Streik bei den staatlichen Busbetrieben in Kairo von den neuen unabhängigen Gewerkschaften organisiert. Abseits davon gab es eine Menge kleinerer und zunehmend militanter geführte Auseinandersetzungen, gegen die teilweise das Militär einschritt.

Nach Streiks von Angestellten der Telecom Egypt, von Rechtsanwälten und Protesten an Universitäten scheint sich mit dem Streik bei der Polizei die Lage weiter zuzuspitzen: 30.000 Polizisten der unteren und mittleren Ränge streiken seit dem 24. Oktober landesweit; sie haben einige tausend Zelte vor dem Innenministerium errichtet und ebenso auf dem Flughafen von Kairo - sie drohten, die Empfangshalle zu besetzen und Besucher an der Einreise nach Ägypten zu hindern. In Hurghada und Zagaziq stürmten Polizisten die Sicherheitszentrale und zerstörten Büros.

Wenn die offizielle Facebookseite der "police and aides coalition" betont, ihre Hauptforderung sei - in "Allianz mit dem Geist der Revolution" der Wiederaufbau des Innenministeriums und der Polizeiinstitutionen ohne die "alte Korruption", mag das zum Teil dem Zeitgeist geschuldet sein, deutet aber auf die tiefen Risse hin, die sich mittlerweile im Staatsapparat auftun.

Vor dem Parlament in Kairo scheint sich wieder ein permanentes Sit in zu etablieren: Ende Oktober versammelten sich vor dem Kabinett hunderte Arbeiter einer Textilfabrik und der Al-Nasr Auto Company wegen Konflikten um Abfindungen. Ihnen schlossen sich Leute an, die vor 1990 im Irak gearbeitet haben und nun Entschädigungen und die Auszahlung von seinerzeit einbehaltenen Lohnteilen fordern.

Zu guter Letzt eskalierten vor ein paar Tagen auch die häufigen Protestaktionen von Slumbewohnern mit einer Massenbesetzung in der Satellitenstadt 6th of October-City. Am 24. Oktober besetzten tausende Bewohner eines Kairoer Slums 1800 leerstehende Wohnungen eines Sozialbauprojektes. "Sie umzingeln das Gebäude mit bewaffneten Wachen und Wachhunden und weigern sich, ungeachtet der polizeilichen Räumungsaufforderung, das Gelände zu verlassen. Sie organisieren einen Platz für Motorrikschas, um den Transport von Leuten und Lebensmitteln zu organisieren."(2)

27. Oktober 2011


Anmerkungen

(1) "Egyptian Workers Labor on an Unfinished Revolution", The Indypendent New York, 16.8.2011.
(2) "1800 flats in 6th of October City stormed and occupied illegally", Al Marsy al Youm, 25.10.2011.

Raute

Griechenland:

Einheit und Spaltung - Generalstreik gegen das vierte Sparpaket

Das "Multi"-Gesetz
Fast zwei Jahre Sparprogramme haben die soziale Lage in Griechenland extrem verschärft. Das am 20. Oktober beschlossene weitreichende Sparpaket ("Multi"-Gesetz) setzt diesen Prozess fort und bringt weitere drastische Einschnitte für Millionen Menschen. Die bereits reduzierten Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst und viele Renten werden nochmals um etwa 20 Prozent gekürzt. Es wird zu Massenentlassungen kommen. Alleine 30.000 Staatsbedienstete werden in die sogenannte "Arbeitsreserve" gesteckt. Das heißt, sie werden nach Hause geschickt und bekommen maximal zwölf Monate 60 Prozent ihres bisherigen Lohns weiter gezahlt. In dieser Zeit soll entschieden werden, was mit ihnen passiert. Sie werden danach entweder entlassen oder gehen in Rente, einem Teil verspricht die Regierung aber eine weitere Anstellung über befristete Verträge. Auch in der Privatwirtschaft werden die Löhne wohl deutlich sinken. Hinzu kommen zahlreiche neue Sonderabgaben.

Besonders umstritten war in der Regierungspartei PASOK Artikel 37 des "Multi"-Gesetzentwurfs. Er erlaubt es den Unternehmen, Tarifverträge unterhalb des Branchentarifvertrags abzuschließen, und "verschlankte die Tarifverhandlungen, die mit viel weniger Belegschaftsvertretern oder durch einen kontrollierten Betriebsrat stattfinden sollen. Der Finanzminister betonte, Artikel 37 sei Voraussetzung für die Zuteilung der nächsten Tranche. Diese Drohung der Troika, die sechste Tranche (acht Milliarden Euro) des "Rettungspakets" evtl. nicht auszuzahlen, schwebt zur Zeit über allem. Die Auszahlung wurde bereits von September auf Anfang November verschoben; in der zweiten Oktoberhälfte signalisierte allerdings die EU, ihren Anteil auszuzahlen, während der IWF sich weigerte...

Die Generalstreiks 19./20. Oktober
Vor diesem Hintergrund fand am 19. und 20. Oktober ein Generalstreik gegen die Verabschiedung des "Multi"-Gesetzes statt, zu dem die Gewerkschaftsverbände GSEE (Privatwirtschaft) und ADEDY (öffentlicher Dienst) aufgerufen hatten. Er wurde getragen von LehrerInnen, Steuer- und Zollbeamten, Müllarbeitern, Ärzten, Angestellten in Ministerien und Stadtverwaltungen u. a. Im Unterschied zu den vorigen Generalstreiks beteiligten sich diesmal auch viele kleine Unternehmer und Geschäftsleute. Athen und seine Vorstädte waren am 19. Oktober ruhig wie an einem Feiertag.

19. Oktober: "Tag der Einheit"
Es war die größte Demo der letzten Jahre mit mehr Menschen auf der Straße als am 5. Mai 2010. Die Stimmung war gut, es gab ein Gefühl der Einheit. Es gab auch ein bisschen Krawall, aber die Polizei war toleranter als sonst und hat nicht so viel Tränengas eingesetzt. Nachdem die Medien in den Wochen zuvor einen Ausnahmezustand herbeigeschrieben hatten, erwarteten viele, dass die Regierung über den Versuch, das Gesetz zu verabschieden, stürzen würde - letztlich hat dann nur eine Abgeordnete der Regierungspartei dem Gesetz nicht zugestimmt. Eigentlich sollte das Parlament eingekreist werden, es gelang aber nur eine Blockade vor dem Parlament, die Zugänge blieben frei. Die Beteiligung war sehr groß, aber die Leute hatten nicht den Willen länger durchzuhalten. Als kleinere Krawalle anfingen, räumten die Bullen gegen 17 Uhr den Platz und die Straßen vor dem Parlament, danach kam es auch an anderen Orten, wie in Exarcheia und Monastiraki, zu Zusammenstößen mit der Polizei.

20. Oktober "Tag der Spaltung"
Am nächsten Tag waren weniger Leute auf der Straße und im Streik, es war aber trotzdem noch ein massenhafter Protest. Mitglieder der Kommunistischen Partei KKE, ihrer Jugendorganisation und ihrer Gewerkschaft PAME hatten morgens wieder den oberen Teil des Syntagmaplatzes besetzt. Dort stand eine Doppelreihe von KKElern, eingehakt und mit Knüppeln bewaffnet. Das Bild war eindeutig: Die Kommunistische Partei schützt das Parlament, die verhassten Parlamentarier und die Regierung. Viele Leute beschimpften deshalb PAME. Auch am Vortag war die KKE - wie schon so oft - wie eine zweite Polizei aufgetreten und zwei Stunden lang vor dem Parlament stehen geblieben. Direkt nachdem sie abgezogen waren, hatten Krawalle begonnen.

Am nächsten Tag aber griff der "Schwarze Block" (er ist nicht gemeinsam organisiert, sondern besteht aus einer Masse von kleinen Gruppen und Einzelpersonen) diese Reihen direkt an. Bei diesem Angriff wurden auch Steine und sogar ein paar Mollies (!) eingesetzt. In diesem Zusammenhang starb ein 53jähriges KKE-Mitglied, laut Krankenhausbericht durch Tränengas, Atemprobleme und Herzversagen. Er hatte keine äußeren Verletzungen und es ist unklar, ob er direkt bei dem Konflikt war, Tränengas wirkt auch auf große Entfernung.

Es ist zumindest extrem unverantwortlich, in eine Menschenmenge hinein Steine und Brandflaschen zu werfen. Und zudem noch völlig hirnverbrannt, wie sehr die Linksradikalen ihre Kräfte auf der Straße überschätzen. Diese Art von ritualisierter Gewalt auf Demos ist eine Sackgasse. Politisch gesehen schwächen uns zusätzliche, unsinnige Fronten in der Gesellschaft noch weiter. Wie am 5. Mai 2010, als drei Bankangestellte durch Brandstiftung aus einer Demo heraus ums Leben kamen, wurden auch diesmal die Grenzen der Gewalt nicht von unten bestimmt. Die Krawalle haben es wieder einmal nicht geschafft, Perspektiven aufzuzeigen. Den Hass gegen die Bullen und das System militant auszudrücken, ist verständlich und sicherlich besser, als auf die Vermittlung durch die Parteien oder Neuwahlen zu hoffen! Aber es wäre viel besser, wenn die Linksradikalen und die BasisgewerkschafterInnen mit den anderen Protestierenden Kontakte knüpfen würden. Dabei wären dann auch klare Trennungslinien zu ziehen, die die unterschiedlichen Auswirkungen der Krise deutlich als Klassenfrage und nicht als Frage unter Nationen thematisieren! So etwas anzupacken ist aktuell nicht leicht, weil die außerparlamentarische Linke nicht besonders homogen ist.

Soziale Situation
Die materielle Situation der Leute spitzt sich immer weiter zu, denn Griechenland befindet sich in einer - durch die Sparmaßnahmen massiv verstärkten - Rezession. Ein Bericht der National Bank of Greece geht davon aus, dass das BIP 2011 um 5,9 und 2012 um 2,7 Prozent schrumpfen wird.

Bisher schaffen es die meisten Leute noch, ihre Rechnungen zu bezahlen. Sie schränken sich bei Lebensmitteln, Urlaub und anderem Luxus wie beim Auto usw. ein, um Miete, Strom und Heizung bezahlen zu können, aber gerade die Kosten für Strom und Heizung steigen stark an. Heizöl ist im Vergleich zu 2010 um 34-37 Prozent teurer geworden, die Heizölsteuer wurde von 21 auf 60 Euro pro 1000 Liter erhöht, gleichzeitig geht der Staat verstärkt gegen Brennstoffschmuggel vor.

Für junge Leute ist es fast unmöglich, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Auch wenn man oft mit dem Hausbesitzer eine kleine Mietsenkung aushandeln kann, können gerade Arbeitslose häufig die Miete nicht mehr bezahlen und kehren ins Elternhaus zurück. Die Familie wird für Jugendliche und ältere Menschen heute wieder zum wichtigsten sozialen Netz, das sie auffängt.

70 bis 80 Prozent der Griechen sind Eigentümer ihrer Wohnung - das hilft im Augenblick vielen, über die Runden zu kommen - sofern die Wohnung abbezahlt ist. Sonst funktioniert der Kredit massiv als Erpressungsmittel, um schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Wenn das Eigentum durch zunehmende Steuern, Schulden oder Verarmung immer weiter von unten nach oben umverteilt wird, könnten sich die typischen griechischen Eigentumsverhältnisse radikal ändern. An der zu erwartenden Pleitewelle unter Wohnungsbesitzern werden Banken und große Immobilienfirmen massiv verdienen.

Das Arbeitsinstitut der Gewerkschaft GSEE beziffert die Arbeitslosigkeit Ende September auf real 22-23 Prozent - so hoch wie zuletzt Anfang der 1960er Jahre. Offiziell lag sie im Juni bei 16,7 Prozent (Männer 14, Frauen 20,3, unter 25jährige 42,9 Prozent). In den letzten beiden Jahren ist sie um 61,5 Prozent angestiegen. Das BIP pro Kopf und die Arbeitsproduktivität fielen dieses Jahr auf das Niveau des Jahres 2000 zurück, die Kaufkraft des Durchschnittslohns entspricht dem von vor zehn Jahren. Das führt dazu, dass Griechenland wieder zum Auswanderungsland wird: Vor allem junge Leute sehen keine andere Chance als ins Ausland zu gehen. Im letzten Jahr wurden insgesamt 46.399 Lebensläufe an das Europass-Internetportal geschickt, in diesem Jahr waren es bis September bereits 67.633. Viele der potentiellen Auswanderer haben eine lange Arbeitserfahrung in Griechenland hinter sich.

Die subjektive Lage der Klasse
Die Demos sind sehr unterschiedlich, man hört auch viel rechte Scheiße. Verbreitet sind populistische Parolen gegen die Politiker ("Diebe!"), die sich auf eine nationale Gemeinschaft ("Wir Griechen") berufen. Sehr wenige Griechen nehmen beispielsweise die MigrantInnen als genauso von der Krise Betroffene wahr, mit denen man gemeinsam kämpfen kann. Viele sehen in ihnen nur Straßenhändler, die Mineralwasser bei der Demo verkaufen, um zu überleben. Ich habe bisher kein Transparent gesehen, das die Situation der MigrantInnen thematisiert hätte.

Die Besitzer von Bäckereien, Klamotten-, Obstläden usw. hatten am 19. Oktober aus Protest gegen die Rezession und die neuen Steuern ihre Läden geschlossen. Viele von ihnen, die nun auch von der Krise betroffen sind und mitprotestieren, haben in den letzten Jahren viel Geld mit der Ausbeutung von Billig- und Schwarzarbeitern gemacht. Doch die Arbeitsbedingungen in diesen Kleinunternehmen zu thematisieren, ist bislang für die Mehrheit der Demonstranten noch ein Tabu.

Streiks
Im Vorfeld des Generalstreiks gab es massenhafte Proteste gegen drohende Entlassungen und geplante Lohnkürzungen und eine Welle von Gebäudebesetzungen in Ministerien, Versicherungskassen und Rathäusern. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe haben in den letzten Wochen viel gestreikt, durchschnittlich zwei, drei Tage pro Woche. Auch in anderen Bereichen wurde gestreikt. Aufgerufen dazu hatte nicht der Gewerkschaftsbund GSEE, sondern die jeweiligen Betriebsgewerkschaften. In der letzten Woche haben auch die Müllarbeiter gestreikt, so dass sich überall in Athen Müllhaufen ansammelten und viele Orte im Zentrum stanken. Die Stadt hatte versucht, den Müll im Athener Zentrum durch kleine Privatunternehmen einsammeln zu lassen und die Müllcontainer reinigen zu lassen. Die Müllarbeiter haben die Streikbrecher mit friedlichen Mitteln vom Einsammeln abzuhalten versucht, allerdings wurde vor ein paar Tagen in einer Athener Vorstadt auch ein Müllauto eines solchen Unternehmens niedergebrannt.

Diese Streiks bauten Druck auf, womöglich hat der GSEE zum zweitägigen Generalstreik aufgerufen, um diesem Druck ein Ventil zu bieten. Der Müllarbeiterstreik ging mit dem 20. Oktober zu Ende.

Angestellte im öffentlichen Dienst, die sich durch den Kauf einer Wohnung im zurückliegenden Boom verschuldet haben und nun von heftigen Lohnkürzungen betroffen sind, organisierten in den letzten Tagen Proteste vor staatlichen Einrichtungen und besetzten Gebäude. Es gelang ihnen, die Regierung zur Verlängerung der Kreditrückzahlungsfristen zu zwingen. Das neue Gesetz gilt aber nicht für Angestellte und Arbeiter im Privatsektor. Das ist auch eine neue Spaltung.

Daneben hat die Gewerkschaft der Stromversorgungsfirma DEH für einen Tag das Gebäude besetzt, in dem die Rechnungen ausgestellt und gedruckt werden. Damit wollten sie verhindern, dass die Rechnungen für die neue Immobiliensteuer gedruckt werden. Es war eigentlich die beste Mobilisierung der letzten Wochen, sie hatte viel Unterstützung von außen, nicht nur durch Leute aus der Gewerkschaft oder der KKE, sondern auch durch einfache Leute. Weil sie trotzdem nur einen Tag dauerte und danach nichts weiter passierte, wirkte sie aber so, als sei sie nur für die Medien durchgeführt worden.

Danach kündigte die Gewerkschaft an, dass sie Leuten, die wegen der neuen Immobiliensteuer ihre Stromrechnungen nicht mehr zahlen können, den Strom nicht abschalten wird. Ob diese Ankündigungen glaubwürdig sind, wird sich zeigen, denn bisher gibt es solche Fälle nicht. In diesen Tagen hat der Staat begonnen, die ersten Rechnungen zu verschicken... Das Problem ist, dass diese Gewerkschafter mit der Regierungspartei verbunden sind. Sie sehen, dass sie ihre Privilegien und ihre Vermittlerrolle verlieren werden und dass die Zukunft schlechter sein wird. Ihrem Verbalradikalismus ist nicht zu trauen; alle haben eine sehr konkrete politische Herkunft - aber vielleicht überwinden ja ein paar von ihnen ihre Vergangenheit.

Nach dem Generalstreik
Schon am Tag nach dem Generalstreik hat sich die Situation in Griechenland wieder beruhigt. Aktuell streiken nur noch die Verkehrsbetriebe. Solche rituellen Generalstreiks gibt es nun seit zwei Jahren und viele Menschen beteiligen sich an ihnen. Aber daraus entsteht keine Perspektive. Das merken inzwischen viele Leute, die Unzufriedenheit wächst: Wir ändern nichts an unserer Situation, wenn wir nur 24 oder 48 Stunden protestieren und danach der Alltag weitergeht. Der Wille, etwas zu verändern, wird stärker. Allerdings fehlen praktische Vorstellungen, wie man in dieser Situation gegen die Krise und den Staat handeln kann - und das ist ja auch nicht so leicht. Ein großes Problem: es ist schwer, auf Arbeit etwas Selbstorganisiertes zu machen, weil die vielen Arbeitslosen als Drohung funktionieren. Eine weitere Ebene, die angegangen werden muss, ist die Organisierung im Viertel, z. B. gegen die Stromrechnungen, oder um gemeinsam andere Kosten herabzusetzen. Es gibt bisher wenig Erfahrung mit solcher Art von Selbstorganisierung, aber vielleicht entsteht sie, wenn die neue Immobiliensteuer durchgesetzt wird. Viele Leute haben klar gesagt, dass sie diese nicht bezahlen werden. Vielleicht kommt es dann zu einem wirklichen Aufstand...

25. Oktober 2011

Dieser Artikel faßt Berichte und ein Telefon-Interview mit einem griechischen Genossen zusammen.


Erstes Sparpaket - März/April 2010

• Erhöhung der Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf 21 Prozent
• Kürzung der Beamtengehälter
Am 28. April 2010 beschloss die Regierung den Kallikratis-Plan, der Verwaltungsausgaben von 1,8 Milliarden Euro jährlich einsparen soll.

Zweites Sparpaket - Mai 2010

Einsparungen von etwa 30 Milliarden Euro durch
• Einfrieren der Beamtengehälter über 2000 Euro
• Abschaffung aller Steuerbefreiungen
• Reduzierung der Verwaltungsebenen von fünf auf drei
• Reduzierung der Stadtverwaltungen von derzeit über 1000 auf 370
• Streichung des 13. und 14. Monatsgehalts im öffentlichen Dienst
• Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst: Nur jede fünfte frei werdende Stelle soll neu besetzt werden.
• Anhebung des durchschnittlichen Rentenalters von 61,3 auf 63,4 Jahre
• nochmalige Anhebung der Mehrwertsteuer von 21 Prozent auf 23 Prozent sowie Erhöhung der Steuern auf
  Tabak, Spirituosen und Kraftstoff

Drittes Sparpaket - Juni 2011

Einsparungen bis 2015 von rund 78 Milliarden Euro (rund 28 Milliarden Euro durch Leistungskürzungen und Steuererhöhungen, 50 Milliarden durch Privatisierungen und Verkauf staatlicher Immobilien). Die Verabschiedung des Sparpakets war die Voraussetzung zur Freigabe der fünften Tranche des ersten "Rettungspakets" von EU und IWF.

Die Hauptpunkte waren:
• Anhebung der Vermögenssteuer
• Anhebung der Mehrwertsteuer
• Einführung einer "Solidaritätssteuer"
• Wegfall vieler Steuerbefreiungen
• Reduzierung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst um 150.000 bis 2015. Die verbleibenden Beamten müssen länger arbeiten.
• Die Vermögen von Leistungsbeziehern sollen überprüft und eine Reihe von Leistungen gekürzt werden.
• Rüstungseinsparungen von 200 Millionen Euro 2012, von 2013 bis 2015 jährlich 333 Millionen Euro
• weitere Einsparungen von 310 Millionen Euro 2011 und weitere 1,43 Milliarden Euro bis 2015 - etwa durch eine Absenkung der
  staatlich festgesetzten Preise für Medikamente
• In diesem Jahr sollen 700 Millionen Euro weniger fließen, die Hälfte dieser Summe soll auf Dauer wegfallen
• Viele Staatsbetriebe sollen privatisiert werden

Viertes Sparpaket - September/Oktober 2011

• Das "Multi"-Gesetz ermöglicht Entlassungen im öffentlichen Dienst. Die zu Entlassenden werden in eine neu geschaffene
  "Arbeitsreserve" verschoben und erhalten noch maximal ein Jahr lang 60 Prozent ihres bisherigen Lohns.
• Die Löhne von Staatsbediensteten und viele Renten nochmal um rund 20 Prozent gekürzt.
• Der Steuerfreibetrag wird von bislang 8000 Euro auf 5000 Euro gesenkt.
• Die Verbindlichkeit der Branchentarifverträge abgeschafft.
• Bereits im September wurde per Eilgesetz eine zunächst auf drei Jahre befristete Sonderimmobiliensteuer beschlossen, die mit
  der Stromrechnung eingetrieben wird.

Raute

Erschwerende Umstände

Deregulierung und Umverteilung in die eigenen Hände genommen: die Riots in England
(aus Brixton)

Wie in zahllosen Städten aller Kontinente, so kam es seit der zweiten Oktoberwoche auch in London zu Protesten und Besetzungen. Weltweit richteten sich Demonstrationen gegen die Institutionen des Finanzsektors der Wirtschaft und der staatlichen Finanzpolitik: gegen (Noten-)Banken, Finanzministerien, Parlamente und Börsen. In London allerdings nahm die Ausrichtung der Proteste gegen Finanzplatz und Börse einen besonders mächtigen Gegner ins Fadenkreuz. Mit dem Schlachtruf "Occupy the Stock Exchange!" hatte sich die Protestbewegung auf die Londoner City, das absolute geographische Zentrum der internationalen Finanzlogistik, eingeschossen.

Wie die übrigen europäischen "Occupy!"-Aktivisten so war auch das London Stock Exchange Collective bei seinem Aufruf, die Börse zu besetzen, dem Vorbild der US-amerikanischen Bewegung gefolgt. Doch der Funkenflug über den Atlantik hat mehr bewirkt als eine matte Kopie. Erst nach dem Übergreifen der Protestbewegung von Wallstreet auf den Finanzplatz London steht die Initiative mit zwei Füßen auf der Erde.

Was die Londoner Kräfte sich vorgenommen haben, fällt nicht unter die Kategorie "Peanuts". Legale, geduldete und illegale Steuerhinterziehungen der britischen Unternehmen in zig-Milliardenhöhe flankieren das Stützungsszenario der Staatskasse für die Banken in der Krise. Zugleich wird von oben herunter die weitere Massenverarmung als Schicksal verkauft. Die City möchte die Kernschmelze des internationalen Finanzsystems im Schulterschluss mit der Regierung moderieren. Die "Occupy!"-Bewegung spießt Lügen auf, schürt Empörung und stört die exklusive Veranstaltung.

Vorläufig sind die Okkupanten für Staat und Medien noch interessante Schmusetiere - allerdings an der kurzen Leine. Sollten die Rituale der Gesetzestreue bei den Demonstranten brüchig werden, wird die britische Journaille der Polizei den Weg freischlagen. Gut wenn "Occupy!" inzwischen verfolgt, was die allerhöchste Rechtsinstanz des Landes am 18. Oktober beim Abschmettern rechtsgläubiger Einwände gegen die üblen Urteile nach den Riots vom August verkündet hat. Unter den zehn ersten Berufungssachen waren 'Anstachelung über Facebook' sowie einige der auffälligsten Grotesken nach Art des 'Berührens gestohlener Gegenstände'. Die höchstrichterlichen Revisionsurteile erheben solche während der Riots begangenen Gesetzesverstöße exemplarisch in den Rang von Bandenkriminalität. Schon die ersten Schritte einer Radikalisierung und Verbreiterung würden die Occupy-Bewegung mit dieser Rechtslage konfrontieren.

Der Oberrichter mit dem unwahrscheinlichen Eigennamen "Lord Judge" verdammt das im Triumph über tausend Demütigungen entstehende Hochgefühl der spontanen Kollektive im Riot. Seine Begründung der Terrorurteile gerät dem Richter zur unübertroffenen Beschreibung solcher Solidarität: "In Wirklichkeit haben die Täter aus ihrer Gemeinschaft mit anderen Tätern Zuspruch, Rückhalt und Ermutigung geschöpft, und sie haben den anderen Tätern in ihrer Umgebung Zuspruch, Rückhalt und Ermutigung geboten. Vielleicht hat auch die große Anzahl der Beteiligten einige von ihnen dazu verleitet, sich für unberührbar zu halten."

Der "Occupy!"-Bewegung liegt der Gedanke an eine Verschwisterung mit den Riots heute noch fern. Aber mit ein wenig Sinn fürs Wahrscheinliche lässt sich vorwegnehmen, was uns nach Ablauf eines Jahrzehnts einfallen wird, wenn die Sprache auf die laufenden Ereignisse kommt: - 2010/11, das war doch, wo im November/Dezember streikende Studentinnen das Tory-Hauptquartier besetzten und eine der tollsten Demos seit 1968 steigen ließen; wo dann im August in den Londoner Stadtteilen Hackney, Battersea, Tottenham die getretene Unterschicht mit Brandsätzen auf die Straße ging, und wo im Oktober die aufgebrachte Jugend vor der Börse in der City protestierte...

Erstaunlich, dass zeitnah die Nachbarschaft so wenig auffällt, dass kaum jemand den Sturm spürt, der durch die Bewegungen geht und ihnen die gemeinsame Richtung aufzwingt.

Die Riots fanden in Gegenden statt, wo runtergekommene Estates (Gemeindewohnbauprojekte) direkt neben sehr wohlhabenden Einfamilienhäusern im selben Viertel und in derselben Straße stehen. Sie gingen zu Ende, sobald es dem Staatsapparat gelungen war, genügend Polizeikräfte in die betroffenen Gebiete zu verlegen. Das Folgende ist ein Mitte August geschriebener hastiger Fluch auf die Art von "Analyse", die sofort lossprudelte, bevor überhaupt klar war, dass diese Runde von Riots erstmal beendet ist.


*


Sie sind die kulturell Unterprivilegierten unserer Zeit, und es wäre unfair, sich über ihre Unfähigkeit lustig zu machen.
E.P. Thompson über Polizeihauptkommissare, Richter, Staatsanwälte...

Seit am 30. Juni ein eintägiger Streik zu leichten zusätzlichen Unterbrechungen im öffentlich-privaten Verwaltungsbrei geführt hatte, diskutierten die Gewerkschaften besorgt darüber, ob sie die Schließung weiterer Teile der Disziplinarmaschinerie, speziell Schulen und Arbeitsämter, riskieren sollten. Am Montag, 8. August, wurde ihre quälende Sorge jedoch überflüssig gemacht: ein Aushang an der Wand des Arbeitsamtes in Brixton verkündete, dass die Verhörzimmer "wegen unvorhergesehener Umstände" geschlossen seien und alle Sozialleistungen voll ausgezahlt würden.

Am Dienstag, 9. August, erschienen hunderte grinsende junge aufstrebende Berufstätige(1) mit Besen und Gummihandschuhen auf den Straßen von Clapham Junction, um sich selbst dabei zu fotografieren, wie sie das Aufräumen ausgeräumter Ladenketten imitieren - was die ausgelagerten Gemeindearbeiter schon früher am selben Morgen erledigt hatten. Eine HNWI hatte auf ihr T-Shirt geschrieben: "Looters are Scum" [Plünderer sind Abschaum] und schaffte es damit in die landesweite Presse. Ihre Klassenclownkollegen spielten ein wenig mit der Bezeichnung, einige hatten sich für "Terroristen" entschieden.

Während alle AnwohnerInnen, die Klassengegensätze ernst nehmen, eher zögern, das genau zu benennen, was da los ist, kreischen HNWIs aller Art ungehemmt nach Klassenkampf (den "nutzergenerierten Medien" sei Dank).

Was war passiert?

Am Samstag, 4. August war eine Demonstration gegen den neuesten, von einem Polizisten begangenen Mord, vom Broadwater Farm Estate zur Polizeistation in Tottenham gezogen.(2) Nach vier Stunden "Ausflüchten" (wie es einer der Organisatoren der Demonstration nannte) von Seiten der Polizei kommt ein Knüppelangriff auf eine 16jährige Frau. Jetzt werden Barrikaden gebaut, Bullenautos angegriffen und "Whose streets? Our streets!"(3) sowie "Wir wollen Antworten!" gerufen; das Letztere war die direkte Forderung der Familie des Ermordeten und von Nachbarschaftsgruppen. "Einheimische mit verschiedensten ethnischen Hintergründen stehen zusammen", die Polizei "rennt und versteckt sich" und "kann die Menge nicht kontrollieren". Polizeiautos, ein Bus, ein Aldi und ein Arbeitsamt brennen. Aber ein Feuer in einem Teppichgeschäft zerstört auch die 30 darüber liegenden Wohnungen von der Art, wie sie normalerweise von kleineren Slumlords(4) armen und am Rande der Legalität stehenden Mietern überlassen werden, oft vermittelt durch das Wohngeld- oder Notunterkunftssystem. Für die ausgebrannten Mieter ist das der absolute, katastrophale Ruin. Die Medien-Moralisten (die sonst immer Wohngeldempfänger und Halblegale attackieren) laben sich an diesem gebrauchsfertigen Sinnbild für das Böse des Aufstands im Allgemeinen.

Spät nachts kommt es zu langen Zusammenstößen mit der Polizei auf der Tottenham High Road. Schaufenster werden zerschlagen, kleine Geschäfte demoliert, aber hier gibt es wenig Hochwertiges zu plündern. Dann machen sich einige Gruppen auf den Weg zu großen Einkaufszentren (Ladenketten mit Elektroartikeln, Kleidung etc.) in Tottenham Hale (in der Nähe) und Wood Green (ein paar Kilometer weiter). Weniger Konfrontation mit den Bullen; systematischere Aneignungsaktionen.

Sonntag nachmittags stehen viele und nervöse Polizisten um den Brixton Splash herum, einen Mini-Karneval mit Soundsystemen usw.; drei Bullen werden bei einem "Vorfall" verletzt, aber die Menge verläuft sich danach fast vollständig.

Am frühen Abend greifen Gruppen in Enfield (im Norden Tottenhams) und in nahegelegenen Vororten die Polizei an; einige Geschäfte werden aufgebrochen.

Nach Mitternacht, und lange nachdem die für Massenveranstaltungen zuständigen Bullen Brixton verlassen haben, kommen kleine Gruppen aus der Gegend (und eine große Gruppe aus dem Moorlands Estate) zusammen, und greifen systematisch umsatzstarke Geschäfte an.

Am Montag werden Tottenham und Brixton vollständig abgeriegelt; aber nachmittags verbreitet sich die "Unruhe" in alle Richtungen durch London hindurch und dann darüber hinaus. Hackney (siehe unten), Islington, Lewisham, Peckham (Bullen werden mit gestohlenen Feuerwerken attackiert), Catford, Brent Gross, Croydon (durch Ladenbrände werden weitere Wohnungen von Leuten mit wenig Einkommen zerstört; Ladenketten werden geplündert; ein Lieferwagen von Sky News wird angegriffen), Ealing (Läden und Häuser brennen, aber weniger als in Tottenham/Croydon; ein Mann wird totgeschlagen), Camden, Clapham Junction (Geschäfte werden geplündert; brennende Barrikaden, aber wenige Zusammenstöße mit der Polizei; Berichten zufolge brüllen Kids einige HNWI mit "you are rich, we are poor" an), Notting Hill (Überfall auf Gäste in einem mit Michelin-Sternen verzierten Restaurant, diese regen sich auf; weil "das zerbrochene Glas den ganzen Käse ruiniert hat"), Enfield (das Lagerhaus von Sony Media) brennt nieder. Außer in Hackney werden die Bullen nirgends so zurückgedrängt wie in Tottenham, aber mit der Ausbreitung und Geschwindigkeit der Ereignisse kommen sie nicht mehr mit. Außerhalb von London brennt eine Polizeistation in Harmondsworth (Birmingham), in Nottingham wird eine angegriffen; in West Bromwich, Bristol, Toxteth (Liverpool), Chapeltown (Leeds), und Medway kommt es zu "Unruhen", Läden werden zertrümmert.

Für Dienstag wurden tausende Bullen aus anderen Gegenden herbeibeordert. Es gelingt ihnen, London ruhig zu halten; nur in den äußeren Vororten kommt es noch zu - wenigen - "Plünderungen und Zerstörung". Gerenne und Kämpfe zwischen der Polizei und der Menschenmenge; ab dem Nachmittag werden in Birmingham,(5) Manchester/Salford, West Bromwich, Liverpool/Birkenhead Geschäfte zerstört und geplündert, in Nottingham werden drei Polizeistationen angegriffen; am nächsten Tag fliegt in eine davon eine Brandbombe; kleinere "Unruhen" in anderen Städten.

Diese Chronologie ist extrem knapp und womöglich verzerrt, weil eigene Beobachtungen und vertrauenswürdige Berichte sich auf bestimmte Gegenden konzentrieren (vor allem die Ereignisse außerhalb Londons sind unterrepräsentiert: das soll nicht heißen, dass sie kleiner oder weniger wichtig waren). Klar ist auf alle Fälle, dass hinter dem, was die meisten Medien unterschiedslos als "Riot" bezeichnet haben, verschiedene (jedoch nicht eindeutig voneinander zu trennende) Praktiken standen. Es gab Straßenkämpfe mit der Polizei, was einige Beteiligte kühnerweise "die Rückeroberung der Straße" ["reclaiming streets"] nannten; dabei waren nicht nur enge Netzwerke von Bekannten beteiligt (z.B. in Tottenham und Hackney). Es gab die anscheinend straff organisierte Aneignung teurer Waren aus großen, geschlossenen Einkaufszentren (z.B. in Wood Green, Brixton, Clapham Junction), die oft spät nachts stattfanden. Als sich dann montags und dienstags die Ereignisse überschlugen, gab es viel mehr Fälle, wo aus der Distanz gesehen unklar ist, wie diese Tendenzen zusammenwirkten. Die verschiedenen Arten von Gewalt passen jedenfalls nicht in die sentimentale Story von guten "politischen" Straßenkämpfen auf der einen und bösem nihilistischen Plündern auf der anderen Seite. Die Brände, die Obdachlosigkeit verursacht - oder richtiger: verstärkt - haben, wurden in der "politischsten" Phase der Konfrontation in Tottenham gelegt und dann in Croydon, in einer Situation, wo anscheinend (begrenzten und unzuverlässigen Berichten zufolge) Straßenkämpfe und Ladeneinbrüche zusammenkamen. Viele Berichte aus Hackney betonen die überschwängliche, nicht bedrohliche Stimmung auf den Straßen und die deutliche Klassenperspektive. Dort wurden aber auch kleine Läden verwüstet und geplündert, darin Beschäftigte und/oder deren Besitzer bedroht.(6) Demgegenüber steht die "hirnlose" nächtliche Plünderung in Brixton, mehr oder weniger eine Angelegenheit nur für geladene Gäste, bei der die Bullen umgangen, statt bekämpft wurden: diese Plünderung war gewissenhaft auf große oder teure Läden ausgerichtet, auf die (realen oder imaginären) Bargeldreserven von Wettläden und einem Mikrokredit-Händler, der 2000 Prozent und mehr Zinsen verlangt. Das soll nicht heißen, dass kleine und "lokale" Geschäfte aus Solidarität in Ruhe gelassen wurden, sondern nur, dass sie zusammen mit anderen wenig lohnenden Zielen (Yuppie-Nischen-Geschäfte und Bars; die zahllosen Immobilienmakler in der Gegend bis auf einen) einfach ignoriert wurden.

An anderen Orten haben sich die verschiedenen Bestandteile vielleicht stärker vermischt, aber diese Beispiele zeigen bereits die unterschiedlichen Aktivitäten, die von Repressionsfans genauso wie von mitfühlenden Liberalen als "Riot" etikettiert werden.(7) (Einem sehr subjektiven Eindruck nach, entstanden in Gesprächen hauptsächlich mit älteren Leuten in Brixton, zum Teil Ladenbesitzern oder -angestellten, ist es durchaus möglich, zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Riots zu differenzieren, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. Niemand sagte, dass sie Wohnungen und kleine Geschäfte zerstören wollten; niemand wollte polizeiliche Strafmaßnahmen in Form von Übergriffen auf die eigenen Kinder; manche fanden die ganze Angelegenheit traurig, frustrierend und kontraproduktiv; andere wollten, dass Ziele im West End angegriffen würden, die es eher "verdienten".) Es ist wichtig, die Verschmelzung von Steinwürfen, Plünderung von Luxusgütern, Zerstörung von Geschäften, Abfackeln von Häusern und Angriffen auf Menschen zum "Riot" - und die aller Beteiligten zu einem einzigen kollektiven Subjekt zurückzuweisen, denn dieser rhetorische Trick beeinflusst auch die Kontroll- und Strafmaßnahmen. Wenige Tage später drangen schwerbewaffnete Einheiten in Wohnungen ein, und Gerichte arbeiteten rund um die Uhr, um alle zu verurteilen, die durch Überwachungstechnik oder durchs Hörensagen mit den Ereignissen im Allgemeinen in Zusammenhang gebracht werden konnten. Beteiligung an einem "Riot" gilt als "erschwerender Umstand", so dass irgendein Vergehen reicht, um dich einzuknasten, denn es kann dann als schweres Verbrechen behandelt werden: einen aufgebrochenen Laden zu betreten ist "Einbruch"; eine Mutter wird zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie gestohlene Kleidung mit nach Hause genommen hat (was real heißt, dass sie Job oder Sozialhilfe, Wohnung und Kinder verliert, die in "Fürsorge" genommen werden).

Ich erwähne das Motiv, eine Unterklasse auszusondern und unterschiedslos zu bestrafen, nicht deshalb, weil es schockierend oder außergewöhnlich, sondern weil es ganz normal ist. Das Polizeispektakel nach den Riots lenkte die Aufmerksamkeit eine kurze Zeit lang auf einen Prozess, der seit Jahren läuft. Er teilt die Klasse in "aufstrebende" und "schwer erreichbare" / "antisoziale" Teile, indem letztere mit einer umfassenden Strafmaschinerie traktiert werden.(8) So versucht der Stadtrat von Wandsworth (London), eine komplette Familie aus ihrer Wohnung zu vertreiben, weil ein Kind wegen mit dem "Riot" verbundener Vergehen angeklagt (nicht verurteilt) wurde. Diese Kombination aus an Kriegszeiten erinnernder Sippenhaft und Missachtung der Unschuldsvermutung hätte vor Gericht keinerlei Bestand, ist aber das Standardvorgehen in den ausgelagerten Systemen des "sozialen" Wohnungswesens und der Wohlfahrt. Diese Einrichtungen sind wie gemacht für klassenspezifische und außergerichtliche Strafmaßnahmen: sie haben es fast nur mit der anvisierten Unterklasse zu tun und sind rechtlichen Beweispflichten nicht unterworfen. Räumungen wegen "antisozialen Verhaltens" auf Grundlage unbewiesener Anschwärzungen sind alltäglich, aber ohne Riot sind sie keine Nachricht wert, genausowenig wie der Umstand, dass du als menschlicher "Risikofaktor" den ständigen Überwachungs-, Erfassungs- und Korrekturmaßnahmen nur entkommen kannst, indem du dich rauskaufst. Die unablässige präventive Polizeikontrolle auf der Straße nach rassischen, sozialen und Alterskriterien ist nur der sichtbarste Aspekt(9) eines breiten Programms zur Klassenzersetzung.

Aussagen zu ihren subjektiven Beweggründen sollten den Leuten selbst überlassen werden, auch wenn zahllose soziale Bauchredner dieses Recht schon an sich gerissen haben. Teile einer Klasse, die einem auf- und eindringlichem Management ausgesetzt ist, haben sich eine Zeitlang und auf verschiedene Arten geweigert, gemanagt zu werden und überhaupt handhabbar zu sein. Das kollektive Handeln im Riot erfordert zeitweise eine starke Solidarität (und bringt diese hervor), aber diesmal wurden weder ihre zeitliche noch ihre "soziale" Ausdehnung auf weitere Teile der Klasse als Ziele durchbuchstabiert und nicht-Anwesenden zur Zustimmung vorgelegt. Aus irgendeinem Grund reizte es die Rioters nicht, politische Protestformen zu benutzen, die - soweit die Erinnerung reicht - wieder und wieder besiegt worden sind.

Nach den 1980er Riots wurden großzügige Freizeitanlagen in "Problemgebieten" hochgezogen, 2011 wurden nur ein paar Kürzungen zurückgenommen, es gab mehr Kohle für handwerkliche Grundausbildung, die "Englisch als Zweitsprache"-Kurse wurden erweitert - allerdings wollen nur noch halb so viele SchülerInnen diese Kurse machen, da die Regierung die wöchentliche Unterstützung gekürzt hat und somit der Anreiz, weiter zur Schule zu gehen, deutlich sinkt. Im Oktober wurden landesweit 500 Community organisers in "Krisengebieten" eingestellt für 8.50 brutto die Stunde (etwa 10 Euro).

Das Folgende ist ein Bericht aus dem Norden Londons.


Anmerkungen

(1) Anm.d.Ü.: ab jetzt HNWI: High Net Worthlessness Individuals. HNWI ist ein gängiges Kürzel in der Finanzwelt und steht normalerweise für High Net Worth Individuals, also vermögende Personen; hier wird es verdreht zu Personen, die einen Hohen Grad an Wertlosigkeit haben

(2) Demos - oft zu den Polizeiwachen in Tottenham, Stoke Newington und Brixton - gibt es fast genauso regelmäßig wie Todesfälle im Polizeigewahrsan. Normalerweise werden sie von Freunden und Angehörigen der Toten und von langjährigen AktivistInnen aus der Gegend organisiert (was ganz anderes als "Community-Führer"), die berechtigte Vorbehalte gegen die Einmischung von Linken haben. Sie schließen aber niemals (zumindest nach meiner fast 20jährigen Erfahrung) Menschen nach "ethnischen" oder anderen sozialen Kriterien aus. Einige nicht-opportunistische "linke" Gruppen. z.B. Harington Solidarity, haben sich immer beteiligt.

(3) Bekannter Slogan in "politischen" Riots seit dem 18. Juni 1999

(4) Leute, die runtergekommene Buden unter beschissenen Bedingungen an diejenigen vermieten, die keine anderen Optionen haben, entweder weil sie illegal sind oder ein extrem niedriges Einkommen haben. Sie tun das nicht im großen Stil, sondern handeln z.B. im Auftrag von einem oder zwei Ladenbesitzern, die über ihren Geschäften Lagerraum angemietet haben, und den dann als Wohnung weitervermieten.

(5) Hier werden drei Männer überfahren, als sie ihr Familienunternehmen bewachen; der Fahrer flüchtet; die Familie der Opfer, die Rache und Krieg zwischen den Communities nachdrücklich von sich weist, sagt, der Zusammenhang zwischen dem Mord und den anderen Ereignissen sei unklar.

(6) Der Streit, ob laut Marx Kleinhändler Kapitalisten sind und/oder für ihre Gläubiger arbeiten, ist nicht unwichtig, aber an diesem Abend wahrscheinlich nicht in Erwägung gezogen worden.

(7) Die britische Tageszeitung The Guardian ist voller Kommentare der Art: "Ich billige diese Gewalt nicht, aber... ich hab doch gesagt dass so etwas passieren würde, wenn ihr mein paternalistisches 'Beratungsprogramm' kürzt!"

(8) Antisoziale Solidarität, WC 83, http://www.wildcat-www.de/aktuell/a072; Staatliche Kontrolle und proletarische Reproduktion, WC 84; Unbeschränkte Haftung oder nichts zu verlieren? WC 90, www.wildcat-www.de/wildcat/90/w90_england.html

(9) Es ist statistisch belegt, dass seit den Riots 1981 und 1985 aggressive, präventive Machttechniken gegenüber bestimmten "ethnischen" Gruppen zugenommen haben, das wird aber kaum beachtet. Bezüglich der Klassenzugehörigkeit gibt es keine Statistiken, weil die Polizei danach nicht fragt, wenn sie bei einer Kontrolle deine Identität ermitteln.

Foto: Occupy London Stock Exchange!, Oktober 2011

Raute

"Alle waren auf der Straße"
(aus Hackney)

Manche nahmen sich Dinge wegen ihres Geldwerts, andere verwüsteten Wettbüros, teure Restaurants und Polizeiwachen. Ich sah Jugendliche in Kapuzenpullis und Frauen um die vierzig. Einige hatten sich über ihre Blackberrys organisiert, andere waren zufällig vorbeigekommen. Manche waren wütend, andere waren fröhlich. Obwohl Zorn der Auslöser war (schon wieder hatte die Polizei jemanden getötet), gab es an vielen Orten auch eine freudige und aufgeregte Stimmung wie beim Karneval. Die Alltagsregeln waren aufgehoben und wir konnten tun, was wir wollten. Am Montag um 19 Uhr in Mare Street waren alle gut drauf Keine Autos, keine Bullen, kein Laden offen, außer denen, die zum Plündern geöffnet worden waren. Wir lächelten einander an, als hätten wir eine geheime Party gefunden. Wir hatten die Grenze überschritten, und niemand wusste, was wir auf der anderen Seite finden würden.

Sehr bemerkenswert war die bunte Mischung auf der Straße - schwarz und weiß, jung und alt, Männer und Frauen. Das Bild vom anti-sozialen, desillusionierten jungen schwarzen Mann im Kapuzenpullover haut nicht hin. Nach den Riots wurden Leute von elf bis fünfzig Jahren angeklagt, Arbeitslose, aber auch Kadetten von der Armee und Studenten oder selbständige Köche und Elektriker... Alle waren auf der Straße. Viele Gebiete bullenfrei, weil sie nicht schnell genug überall hinkommen, während die Leute sieh leicht bewegen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Ein verrücktes Gefühl, am Leben zu sein. Auch furchterregend traurige Geschichten, verängstigte Leute. Einige hatten Angst vor den Bränden, einige wurden aus ihren Autos gezogen und diese abgefackelt, einige kleinere Läden geplündert. Niemand (außer uns) mit Kindern auf der Straße. Die meisten jung - aber aus allen möglichen Schichten, schwarz, weiß und alles dazwischen. Ein intensives Gefühl lag in der Luft. Sowas habe ich noch nie erlebt in London (wo ich aufgewachsen bin und mein Leben lang immer wieder gewohnt habe). Wie das Gefühl zum Schluss einer guten Demo oder Aktion, wenn dir die Straßen gehören - aber überall in London. An jeder Ecke stehen Leute auf der Straße und gucken und warten...

Später bin ich in der Clarence Road beim Pembury Estate. Das Gefühl der Abwesenheit von Gesetzen und ebenso von sozialen Konventionen wird etwas kribbeliger. Die üblichen linken Demo-Verhaltensregeln gelten hier nicht. Mir ist nicht länger klar, ob ich hier mit meinen Kindern noch sicher bin. Ein älterer Schwarzer rät mir abzuhauen, ich sehe, wie andere, schwarze Frauen sich mit ihren Kindern auf den Weg machten. Sekunden später gehen viele Autos in Flammen auf. Als jemand im Tante Emma-Laden an der Ecke, der schon ausgiebig geplündert ist, Feuer legt, gehen einige Genossen rein und löschen - niemand stoppt sie oder greift sie deswegen an. Es ist eine chaotische Situation mit einer Unzahl von Einzel- und Gruppenaktionen. Es gab auch Geschichten von Leuten, die in Hackney durch den Park radeln und denen ihre Fahrräder gestohlen werden, und meine Freundin wurde Opfer eines Taschendiebs - der Typ machte sich davon mit zwei Romanen! Es gab Plünderungen aller Art - Leute gingen in Läden, die bereits offen standen, und nahmen sich eine Kleinigkeit, andere fuhren eher strategisch organisiert mit Transportern zu großen Elektromärkten. Obwohl einige kleinere Läden geplündert wurden und Wohnungen in Flammen aufgingen, gab es keinerlei Berichte über absichtliche Brandstiftung bei Wohnhäusern (außer, Ironie der Geschichte, einen versuchten Brandanschlag ein paar Tage danach auf die Wohnung eines Aufrührers).


Was sagen die Beteiligten und die AnwohnerInnen?

Die folgenden Auszüge aus Interviews mit Leuten aus der Arbeiterklasse vor Ort stammen von youtube und dem Guardian:

Tottenham, Sonntag, 7. August:
"Hier geht es jetzt nicht nur um Schwarze. Wenn ihr euch die Bilder anseht, sind da alle möglichen Leute dabei. Das taugt nicht als Ausrede. Die können nicht einfach sagen 'Die Schwarzen schlagen zurück.' Es ist nicht schön, was ablief aber man muss Feuer mit Feuer bekämpfen."

Hackney, Montag, 8. August:
"Alle hier haben ihre Erfahrungen mit der Polizei. Ich, er, ... die Hälfte aller Männer hier in der Straße haben eigene persönliche Erfahrungen mit Polizeibrutalität. Dann kommen die in unsere Straßen, wir sind alle zusammen, und die sagen uns, was wir zu tun haben. Was erwarten die denn? Wir gehen nirgendwohin. Und das einzige, was sie draufhaben, ist auf unsere Fragen mit Gewalt zu antworten. Ich bemühe mich, anständig zu leben, ich habe hier keineswegs mit Gewalt angefangen, und dann hetzen sie ihre Hunde auf mich als wäre ich ein Tier."

"Das ist eine beschissene Welt. Anderer Leute Eigentum niederbrennen und Läden, für die sie hart arbeiten. Sie arbeiten hart, um ihre Läden zum Laufen zu kriegen, und ihr Bande meint, ihr müsst sie abfackeln? Für was? Euch geht es nicht um einen Mann, den sie in Tottenham totgeschossen haben, euch geht es darum, auf der Straße Spaß zu haben und alles kaputt zu machen, nur damit ihr sagen könnt, wir sind im Krieg, und wir sind sehr böse."

Manchester, Montag, 8. August:
Interviewer: "Warum verstecken Sie ihr Gesicht? Wenn Sie die Gesetze befolgen, haben Sie nichts zu verbergen."
Junger Mann: "Ich bin nicht gesetzestreu. Ich bin hier, um den Bullen auf den Sack zu gehen. Ich will Geld. Heute ist Zahltag, denn heute können sie uns nix. Die Polizei kann nichts machen. Tag der Freiheit. Heute kannst du tun, was du willst."

Croydon 9 Uhr morgens am Dienstag:
"Alle waren einfach voll drauf. Voll verrückt. War aber gut so. Durchgeknallt. Natürlich macht das Spaß. Alkohol umsonst. Wir haben die ganze Nacht gesoffen. Die Schuld der Regierung. Und es hat der Polizei gezeigt, dass wir machen können, was wir wollen. Und das haben wir jetzt."
Interviewer: "Denken Sie, dass es heute nacht weitergehen wird?"
"Hoffentlich. Bestimmt. Es sind die Reichen. Wegen denen passiert das alles hier. Wir zeigen den Reichen, dass wir machen können, was wir wollen."


Nach den Unruhen

"Man kann nichts Normales tun, damit alles gut wird, damit sich was verändert. Hier geht es um Jugendliche, die keine Zukunft haben, die nicht mal ne Chance auf ne Zukunft haben. Haufenweise Leute sind arbeitslos, und ihre Jugendzentren haben sie geschlossen. Sie sehen, was normal so abläuft, die Banker kommen mit den Sachen durch, mit denen sie hält durchkommen, und das Land verliert Geld. Das ist eine Botschaft hier. Eine Botschaft für die Regierung. Aber die kümmert das nicht. Die reden da nicht mal drüber. Die reden darüber, Schläger haben dies gemacht, Schläger haben jenes gemacht, sie reden gar nicht über das wirkliche Problem, das diese Gesellschaft hat. Sie haben keine Perspektive, und das ist ihre Reaktion darauf Sie tun mir leid. Diese Jungen, die sind achtzehn und finden keinen Job, das ist schlimm... Diese Leute müssen ihre eigene Welt opfern, damit sie gehört werden. So kann man nicht leben."

"Es ging darum, die Polizei mal ihre eigene Medizin kosten zu lassen. Es gab Leute, die plünderten, um Munition zu kriegen. Als in den Recycling-Stationen keine Flaschen mehr waren, gingen die Leute an die Läden. Neunundneunzig Prozent dieser Polizisten sind Schläger. Sie respektieren deine Rechte nicht. Sie falten dich ein bisschen zusammen. Foltern dich, ohne Würde. Eine Menge Leute hasst die Polizei deswegen. Ich war hinten drin in so ner Wanne, und sie haben mich volle Kanne verprügelt. Haben mir ins Gesicht getreten. Ich habe das selbst erfahren. Ich weiß, wie schmutzig die Polizei werden kann. Nach den Unruhen hatten sie richtig Schiss.

Junge Leute wollen Spaß. Sie wollen angeben, sie wollen Mercedes Benz, Louis Vuitton, Armani, sie wollen, wollen, wollen, aber sie haben nicht mal ne gescheite Matratze zum Schlafen. Das Bildungssystem ist ein Witz. Die Knastindustrie ist ein Witz. Wir sind pleite hier draußen. Wir sind richtig am Verhungern. Selbst mit Job ist die Kohle knapp. Und die meisten kriegen gar keinen Job. Oder ne Ausbildung, wie kannst du aufs College gehen und studieren, wenn du nicht mal den Bus bezahlen kannst oder das Essen?

Und das Wohnungsproblem. Was auch immer es braucht, damit wir aus diesen verdammten Schachteln rauskommen, die sie Wohnsiedlungen nennen. Mit allen Mitteln wollen wir da raus. Und Gefängnis? Wen kratzt das Gefängnis? Wenn du pleite bist, bist du doch schon im Gefängnis. Ohne Geld bist du im Knast besser dran. Zumindest kriegst du dort dein Essen. Manche Tage haben wir nicht mal Lebensmittel oder Strom. Das Gefängnis ist manchmal ne bessere Option, als draußen auf der Straße zu bleiben. Natürlich ist das traurig und verrückt, aber es ist die Wahrheit."


Die Rassenfragen

Die Medien haben versucht, die Leute nach Rasse zu spalten, und sind damit gescheitert. Zum Beispiel, indem sie versuchten, die türkische Gemeinde in Dalston (einem Teil von Hackney in London) als die guten Bürger zu präsentieren, die ihre kleinen Geschäfte vor der bösen schwarzen Jugend schützen. Aber einige türkische politische (Stadtteil-)Gruppen gaben Erklärungen ab, dass sie nicht als Wächter auf der Seite des Staates gesehen werden wollen und auf der Seite der schwarzen Jugend gegen die Bullen stehen.

Auf der anderen Seite kamen einige erstaunlich rassistische Sachen aus den Mainstream-Medien. Zum Beispiel behauptete der berühmte Historiker David Starkey im öffentlichen Fernsehen, die Unruhen seien ausgebrochen, weil die jungen Weißen sich den Schwarzen zuwandten und Patois sprächen. Oder die BBC-Nachrichtensprecherin, die den beinahe 70jährigen Darcus Howe (einen renommierten schwarzen Schriftsteller) als Rioter ansprach - was er allerdings cool konterte: sie sei ein Idiot und solle etwas Respekt haben vor einem älteren Neger.

In vielen Gebieten stellten die Jugendgangs ihre gegenseitigen Kämpfe ein - und weiße und schwarze Jugendliche handelten gemeinsam. Die einfache rassenpolitische Rechnung von den unterdrückten Schwarzen, die revoltieren, geht nicht auf.


Das böse Erwachen

In England hat es seit 1998 33 Tode im Polizeigewahrsam gegeben und kein einziger Polizist ist dafür verurteilt worden. Allein in der Woche nach den Riots gab es mindestens drei Tote, die von der Polizei mit Taserknarren angeschossen worden waren. In derselben Woche gab es knapp zweitausend Verhaftungen. Leute, die bereits bekannt waren, wurden mit Überwachungskameras identifiziert, andere wurden verpfiffen, manche stellten sich selbst. Der schockierende Verfall der 'Familie als Wert' führte sogar dazu, dass Eltern ihre eigenen Kinder verrieten. Das öffentliche Fernsehen zeigte uns, wie in den Tagen nach den Riots fünfzehn Bullen die Türen von Arbeiterwohnungen aufbrachen und Kinder mit geplünderten Heimtrainern rauszerrten.

Die Gerichte tagten rund um die Uhr, und kaum jemand kam auf Kaution frei. Wer schuldig gesprochen wurde, erhielt die Höchststrafe. Zum Beispiel sechs Monate Gefängnis für den Diebstahl kleiner Dinge wie Wasser in Flaschen im Wert von drei Pfund fünfzig (etwa vier Euro) oder ein paar Tüten Süßigkeiten. Oder vier Jahre für einen Aufruf auf Facebook zu einem Riot, der nicht einmal stattfand.

Es gibt jetzt Berichte über die angespannte Stimmung in den Gefängnissen.

Einige Familien sollen aus ihren Sozialwohnungen geräumt werden, und die Medien fordern, dass Verurteilte ihren Anspruch auf Sozialleistungen verlieren. Es hätte nicht besser laufen können für den Staat als Ausrede fürs Durchgreifen. Ein großer Teil der Volksmeinung unterstützt den Einsatz von Wasserwerfern und Gummigeschossen und ein Vorgehen der Polizei gegen Verschlüsselungstechnologien (z.B. Blackberry Messenger) - aufgepeitscht von den Medien, die die Randalierer als Tiere bezeichnen, als verkommene, gefährliche Barbaren usw. In den Tagen nach den Riots sprach ich mit Leuten aus der Arbeiterklasse, die sagten, man hätte die Armee einsetzen sollen. Die Bilder von den Bränden und von denen, die nur knapp mit dem Leben davon kamen und die alles verloren haben, sind machtvoll.

Es gab ein paar "Friedensmärsche" wie den in Birmingham oder die Wand des Friedens in Peckham. Oft geleitet von religiösen Führern, 'Community-Führern' und Lokalpolitikern. Viele tränenreiche Aufrufe zum Ende der Gewalt und Frieden in der Community. In Birmingham oder der Gegend von Tottenham und Croydon, wo viele Leute ihre Wohnungen verloren haben, ist es schwierig, das Konservative daran herauszuarbeiten, weil man dann Brandstiftung und Gewalt zu rechtfertigen scheint. Es gab Geld- und Kleidersammlungen für die Notleidenden. In der Clarence Road gab es eine Teeparty, zu der die örtliche Kirche und andere aufgerufen hatten, zu der aber alle möglichen Leute kamen und wo sich eine offene Diskussion entwickelte.

Abgesehen von ein paar linken Demos entstanden keine Eltern-, Freundes- oder Nachbarschafts-Gruppen gegen die Repression. Angesichts der Brutalität des Gegenschlags sagt das etwas darüber aus, wie dünn der gesellschaftliche Zusammenhalt hinter den Unruhen ist. Die "Einheitsdemos" waren meistens von Linken organisiert. Ich ging zur "Give our Kids a Future" [Gebt unseren Kindern eine Zukunft] in Tottenham. Der Aufruf kam von örtlichen Linken und den türkisch/kurdischen Communities, und die TeilnehmerInnen waren sehr gemischt, einschließlich vieler Schwarzer aus dem Stadtteil. Es endete mit einer Versammlung mit offenem Mikrofon, wo eine Reihe von Punkten angesprochen wurde, plus einige politische Stimmen der Sozialisten, der türkisch/kurdischen Marxisten und schwarzer AktivistInnen aus dem Stadtteil, und dann riefen einige uns auf, nach 'Der Liebe' zu streben - bis wir alle unter ihrer Anleitung 'One Love' sangen. Die Botschaften kamen aus tiefem Herzen und waren gefühlsbetont. Dass wir zu den jungen Leuten stehen müssen, dass wir uns organisieren müssen, so dass unsere Antworten effektiver werden als solche Unruhen. Die Leute sprachen über Ungleichheit, über mangelnde Chancen und Polizeischikanen. Aufrufe zum Zusammenkommen und Organisieren wurden bejubelt und beklatscht. Leute bezeichneten die Jugendlichen als tapfer und sahen sie an der Front.

Die Plünderungen sind eine Antwort auf die krasse soziale Ungleichheit in direkter Nachbarschaft, in diesem Sinne sind sie "politisch". Es gibt aber keine politisch korrekte Randale, die sich auf Polizeiwachen beschränkt - das ist anarchistische Ideologie. Positiv gesehen war es ein Aufschrei der Unterklasse. Das Ende oder die zeitweise Aufhebung der Bandenkriege könnte vielleicht eins der besten Resultate der Unruhen sein. Als ihre positive Folge könnte auch jeder Moment, wo Leute zusammenkommen und mit ihren NachbarInnen diskutieren, gesehen werden. Die Isolation und den Status quo aufbrechen und anfangen, über die Situation zu reden, wie sie wirklich ist, über die Wut und darüber, was wir tun können und sollten. Ich hatte in den Tagen nach den Unruhen mehr offene Diskussionen über die Situation in London als je zuvor.

Viele von uns haben das unangenehme Gefühl, dass wir nicht ausreichend verstehen, was vor sich geht, weil wir vor Ort nicht genug in unseren Communities unterwegs sind. Wenn wir die Entwicklung des Geschehens mit beeinflussen wollen, ist es jetzt Zeit dafür.


Randnotiz

www.youtube.com/watch?v=biJglLxGK0o Das Interview machte Fiona Armstrong für BBC News an 9. August 2011. Es lief gar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte, denn Howe insistierte, das sei "ein Aufstand der Massen", ein "historischer Moment", schließlich fragte sie: "Für Sie sind Riots nichts Fremdes, Sie haben selbst an welchen teilgenommen." Howe antwortete: "Ich habe niemals an einen Riot teilgenommen. Ich war bei Demos dabei, die in Konflikte mündeten. Zeigen Sie ein bisschen Respekt für einen alten Neger aus der Karibik, und hören Sie auf, mich als Rioter zu bezeichnen! Sie wollen nur, dass ich ausfallend werde, aber Sie klingen idiotisch."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Tee-Party in der Clarence Road;
- Premierminister auf Tätersuche
- Demo in Hackney;
  Protest gegen die Zwangsräumung wegen angeblicher Beteiligung an den Riots im August;
  Transparent vor der St. Paul's Cathedral bei der 'Besetzung' der City im Oktober
- Streikende Elektriker blockieren am 19.10. zusammen mit Protestierenden von Occupy London Stock Exchange! eine Baustelle

Raute

Hungerstreiks in US-Knästen

The Living Hell in Pelican Bay

"Seit klar geworden ist, dass die Gerichte mich und uns alle hier sterben lassen werden, haben wir darüber nachgedacht, wie wir uns wehren können. Unsere gemeinsame Schlussfolgerung war, dass der Hungerstreik unser einziges Mittel ist."

Die USA haben mit 2,5 Millionen weltweit die meisten Gefangenen, ein großer Teil davon sind Schwarze. Masseneinknastung und rassistische Hetze sind Mittel, eine zerfallende Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Hochsicherheitstrakte und Isolationshaft sollen Widerstand und Unruhen in den Gefängnissen von vornherein ausschalten. Manuel La Fontaine von der Prisoner Hunger Strike Solidarity Coalition: "Sobald du die Haftbedingungen kritisierst oder andere anregst, über ihr individuelles Schicksal hinaus darüber nachzudenken, was zu ihrer Einknastung geführt hat, die soziale, politische und ökonomische Unterdrückung hier in Amerika und weltweit, wirst du als Kandidat für die SHU gesehen." Die Security Housing Unit (SHU) ist der Hochsicherheitstrakt im nordkalifornischen Gefängnis Pelican Bay. Die Gefangenen verbringen dort 22-23 Stunden am Tag in winzigen, ständig überwachten, fensterlosen Zellen. Die Neonröhren werden niemals abgeschaltet. Das Essen ist schlecht bis ekelhaft, die Gefangenen frieren. Fünf Stunden pro Woche dürfen sie in einem "Sportplatz" genannten Käfig verbringen, allein. Besuche und Telefongespräche sind selten oder unmöglich. Misshandlung durch die Wärter ist allgegenwärtig. Wenn ein Einzelner auffällt, werden alle bestraft.

Im Mai hatte das oberste Gericht entschieden, dass die Zustände in den kalifornischen Gefängnissen gegen die Verfassung verstoßen, und die Zahl der Gefangenen in zwei Jahren um 32.000 reduziert werden muss. Schon vorher war vor Gericht festgestellt worden, dass alle sechs bis sieben Tage ein Gefangener unnötigerweise stirbt. Isolationshaft führt sehr schnell zu körperlichen und psychischen Problemen. Sie wird als vorübergehende Maßnahme angeordnet, aber die Gefangenen bleiben Jahre und Jahrzehnte dort: Von den 1111 Gefangenen in der SHU in Pelican Bay waren im September 2011 544 mehr als fünf Jahre, 513 mehr als 10 Jahre und 78 schon über 20 Jahre dort.

Die Begründung dafür, Gefangene in die SHU zu schicken, ist meistens 'Mitgliedschaft in einer Gang'. Die Beweise dafür sind oft an den Haaren herbeigezogen, ein Foto, ein Gruß, eine durch Erpressung zustande gekommene Falschaussage...

Die einzige Möglichkeit, aus der SHU rauszukommen, ist am "Debriefing" teilzunehmen, das heißt alles über die eigene Gang, andere Gangs und Mitgefangene zu erzählen, was man "weiß" oder sich unter diesen Umständen ausdenkt. Und es sind genau solche erzwungenen Aussagen, mit denen andere in Isohaft gesteckt werden.

"Wenn jemand das Verhör-Zimmer betritt, ist er gebrochen worden bis zu dem Punkt, wo er alles behauptet, nur damit der Schmerz aufhört... Ich bin in keiner Weise suizidal oder drauf aus, mir Schaden zuzufügen. Doch der einzige Weg unter diesen Bedingungen heißt "Aussagen machen oder sterben"! Ich möchte keins von beidem tun. Ich hab mich entschieden, unbeugsam und aufrecht zu stehen, zu schweigen und durch Hungerstreik zu protestieren." (Brief von einem Gefangenen in der Pelican Bay SHU, 13.6.2011)

Auch die medizinische "Betreuung" ist für viele ein Grund, ihr Leben im Hungerstreik aufs Spiel zu setzen. Ein Gefangener schreibt, dass er beim Aufwachen aus einer OP zu Aussagen gedrängt wurde. Sein krebskranker Freund war eine Nacht lang aus einer Operationswunde blutend liegen gelassen worden. "Ich habe nie an Hungerstreiks geglaubt, weil ich sie für kontraproduktiv hielt. Aber als die Gang-Unit anfing, mit der medizinischen Abteilung zusammenzuarbeiten, hab ich mich entschieden mitzumachen."

Eine übliche Foltermethode ist es, Gefangene unter dem Vorwand, sie hätten Drogen oder anderes verschluckt und ihr Stuhlgang müsse kontrolliert werden, vier bis fünf Tage in Windeln auf eine Liege zu fesseln. Laut einem Bericht von 2010 wurde ohne konkreten Verdacht jeder, der in einer Schlägerei o.ä. aufgefallen war, derart misshandelt.

Die Organisation des Hungerstreiks ging vom sog. Short Corridor Collective aus, den Leuten auf dem Flur mit den schlimmsten Bedingungen in Pelican Bay. Dort sollen alle, die nach Jahrzehnten in der Isolationshaft noch nicht gebrochen worden sind, zu Aussagen gezwungen werden. Einer von ihnen sagt, gegen die ständigen vorsätzlichen Angriffe hätten sie den "unbegrenzten Hungerstreik organisiert, um die entmenschlichende Behandlung zu bekämpfen, der Gefangene aller Rassen täglich ausgeliefert sind."

Die Gruppe stellte fünf Forderungen auf:
- Abschaffung von Kollektivstrafen,
- Abschaffung des "Debriefing" und jeder darauf beruhenden Beschuldigung der Gang-Mitgliedschaft, die zu Isolationshaft führt,
- die Empfehlungen der Kommission zu Sicherheit und Missbrauch in Gefängnissen müssen befolgt werden:
   Isolationhaft darf nur das letzte Mittel sein, Langzeitisolierung muss beendet werden.
- angemessenes Essen, Sonnenlicht und medizinische Behandlung,
- die Möglichkeit, Selbsthilfe, Arbeit, Bildung, religiösen und anderen produktiven Tätigkeiten nachzugehen.

Der Streik begann mit Hilfe von Unterstützergruppen am 1. Juli. In Pelican Bay machten fast alle aus der SHU und viele aus anderen Abteilungen mit. In anderen Knästen beteiligten sich viel mehr Gefangene, als man erwartet hatte. Selbst die zuständige Behörde musste unwillig zugeben, dass zeitweise 6600 Gefangene in mindestens 13 Gefängnissen mitmachten.

Viele der Streikenden wurden in der ersten Woche nicht medizinisch versorgt. Mit Fehlinformationen und moralischem Druck versuchte man sie zu spalten. Viele der Initiatoren wurden in noch isoliertere Trakte und eisige Zellen verlegt, durften keinen Anwalt sehen und nicht auf den "Hof". Chad, Streikender aus Pelican Bay: "Um meinen Streik zu brechen, entzogen sie mir meine Schmerzmedikamente. Ich erinnerte sie daran, dass es eine Straftat ist, einen Patienten mit chronischen Schmerzen auf kalten Entzug zu setzen. Dann gaben sie mir gerade soviel, dass sie keine Probleme kriegen konnten, aber das war so wenig, dass ich außergewöhnlich starke Schmerzen hatte, vom Entzug und der Krankheit zugleich. Dann schickten sie mich in die Krankenabteilung, und da ist es viel viel schlimmer als in der SHU. ­... Als ich mich weigerte mitzukommen sprühten sie ein Gas in meine Zelle, das mir die Luft nahm. Dann warfen sie eine Art Gasbombe rein..."

Aber nach zwei Wochen waren noch immer Tausende im Streik. Die zuständige Behörde CDCR (California Department of Corrections and Rebabilitation) ließ verlauten, der Streik beweise nur den großen Einfluss der Gangs und damit die Notwendigkeit der Isolationhaft, und verweigerte zunächst jede Verhandlung - die Leute könnten doch sterben, wenn sie das wollten. Die medizinische Versorgung blieb schlecht, nach zwölf Tagen wurde bekannt, dass Streikende der Dehydration, dem Zusammenbruch und Nierenversagen nahe waren. Nach 14 Tagen kam es dann doch zu Verhandlungen mit vagen Versprechungen, die das Short Corridor Collective zurückwies. Die CDCR drohte dann einerseits mit Zwangsernährung, und vermittelte andererseits den Eindruck, den Gefangenen in allen fünf Forderungen entgegenzukommen. Am 20. Juli wurde der Streik ausgesetzt. Weil die Versprechungen nicht eingehalten wurden, nahmen die Gefangenen den Hungerstreik wie angekündigt am 26. September wieder auf Offiziellen Zahlen zufolge nahmen in den ersten Tagen 12.000 Gefangene teil, und das trotz heftiger Repression nach dem ersten Streik! Gefangene hatten ihre Jobs verloren, waren in Isolationshaft verlegt worden und verschärften Durchsuchungen und Misshandlungen ausgesetzt.

In Pelican Bay wurde der Streik am 13. Oktober beendet, die CDCR hat eine umfassende Prüfung der vermeintlichen Gang-Mitgliedschaft jedes Gefangenen zugesagt. Für andere Gefängnisse fehlen solche Zusagen noch, obwohl es auch dort Isolationshaft gibt. In Calipatria etwa, wo viele auf einen Platz in einer SHU "warten". Dort wurde der Streik Mitte Oktober wegen gesundheitlicher Risiken und Repression unterbrochen.

Der Streik setzt die Kämpfe in US-amerikanischen Gefängnissen fort. Im Januar 2011 traten drei Männer in Ohio in den Hungerstreik, um ein Ende ihrer Isolationshaft zu erreichen. Sie gehören zu den Lucasville 5, die 1993 an einem Knastaufstand beteiligt waren. Wenige Wochen vorher hatte es einen Knaststreik im Bundesstaat Georgia gegeben, bei dem Gefangene in mindestens 30 Gefängnissen die Arbeit verweigerten. Wie in Georgia betonen Gefangene und UnterstützerInnen in Kalifornien die Solidarität und den Zusammenschluss über Rassengrenzen hinweg. Ein Gefangener meinte: "Ich will euch sagen, dass jede Rasse hier in Pelican Bay - und überall im kalifornischen Gefängnissystem - dass wir bei diesem Hungerstreik in Solidarität zu einer Faust vereint sind!"

Quellen/Weiterlesen: News&Letters, Juli 2011, Beilage zum Hungerstreik

Aktuelle Infos: http://prisonerhungerstrikesolidarity.wordpress.com/

Raute

UPDATE SPANIEN

Die soziale Landschaft Spaniens ist in kürzester Zeit in extreme Turbulenzen geraten. Nichts belegt vielleicht deutlicher die Tiefe des Umbruchs als der Umstand, dass Spanien nach Jahrzehnten der Einwanderung, mit Rekordquoten seit 2004, in diesem Jahr per Saldo erstmals wieder zum Auswanderungsland wird. 90 Prozent derer, die das Land verlassen, sind Immigranten, aber immer mehr junge SpanierInnen packen ebenfalls die Koffer.

Die in der Wildcat 90 beschriebenen Entwicklungen dominieren weiterhin die Situation:

1. Schuldenkrise und Staatsapparat

Mit der Entfaltung der Krise als Staatsschuldenkrise sind die staatlichen Sozialleistungen und der Öffentliche Dienst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt. Der gesamte Staatsapparat gerät unter Druck. Einerseits soll er die Kürzungen durchsetzen, andererseits selber schrumpfen. Dabei brechen Widersprüche zwischen den verschiedenen Ebenen auf insbesondere zwischen Zentralstaat und kommunaler Verwaltung. Bis zu den Wahlen am 20. November haben die großen Parteien eine Art Friedensabkommen geschlossen, damit nicht der Verdacht politischer Instabilität aufkomme. Dazu gehört vor allem die im Schnellverfahren in die Verfassung gehievte "Schuldenbremse". Das Haushaltsdefizit wird das anvisierte Limit eindeutig übersteigen, wozu neben dem Widerstand gegen die Sparmaßnahmen der double-dip und die wegen der "widrigen Umstände" vorläufig abgeblasenen Privatisierungen von Flughäfen, Lotterie und Staatsbetrieben beitragen.

2. Bewegung "15-M"

Seit Mai entfaltet sich eine diffuse Bewegung zivilen Ungehorsams, die mit gewaltfreien Aktionen, Demonstrationen und öffentlichen Versammlungen der weit verbreiteten Empörung gegenüber der gesellschaftlichen Sklerose Ausdruck verleiht. Das soziale Spektrum reicht von proletarisch bis proletarisiert, wobei die "blockierten" Jungakademiker-Innen und die professionellen AktivistInnen aus dem Antiglob-/NGO-Milieu ebenso wie die Militanten aus der radikaleren Alternativszene versuchen, ihren Einfluss geltend zu machen. Stoßrichtung und Selbstverständnis reichen von "radikaldemokratisch" bis systemkritisch, wobei ein verkürzter Begriff von Kapitalismus, Krise und Staat in beiden Lagern Forderungen nach mehr oder weniger weitreichenden Reformen begünstigen. Es ist denkbar, dass der mehr an politischen als an sozialen Reformen interessierte Flügel in Bälde mit einer spanischen Piratenpartei aufwartet.

Die Bewegung hat das soziale Klima stark politisiert, viele Leute haben erste Protesterfahrungen gesammelt. Sie hat zur Vernetzung und Ausweitung organisierter Strukturen beigetragen, die zu einer Plattform zur Artikulation von Grassroot-Gegenmacht werden. Diese Strukturen bleiben relativ prekär, was als Ausdruck der sozialen Heterogenität der AktivistInnen verstanden werden kann. Dennoch hat sich 15-M als Protestkultur etabliert und stellt eine schwer zu berechnende Komponente spontaner Mobilisierungsfähigkeit dar. Die Bewegung hat mit verschiedenen Aktions- und Agitationsformen experimentiert: punktuellen Kampagnen gegen parlamentarische und andere Institutionen, Stadtteilversammlungen, Solidarität mit betrieblichen Konflikten, Verhinderungen von Wohnungsräumungen.

Bereits im Zuge der Mobilisierungen im Mai entstanden in einigen Städten "Kommissionen empörter ArbeiterInnen", die in ein Bündnis mit der gewerkschaftlichen Dissidenz und den kleinen, radikaleren ("combativos") Gewerkschaften mündeten, gleichzeitig aber offen bleiben für alle unabhängigen Arbeiterproteste. Neben den gelegentlichen Solidaritätskampagnen mit den Belegschaften einzelner Betriebe, die beispielsweise gegen Entlassungen protestieren, verschmilzt die Bewegung mit der wachsenden (und teils stark aus ihren Reihen unterstützten) Mobilisierung gegen die Kürzungen vor allem im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen. Bislang kommen die meisten Leute jedoch auf eigene Initiative zu den Versammlungen dieser Kommission und repräsentieren kaum eine Aufbruchstimmung in den Betrieben.

Alle berichten von der allgemeinen Unzufriedenheit, es herrschen aber auch viel Verunsicherung und große Ratlosigkeit. Gerade dieser Widerspruch drückt sich in der großen Mobilisierungsfähigkeit der Bewegung 15-M aus. Während sich in den Betrieben außer in einigen Teilen des Öffentlichen Dienstes kaum eine kollektive Initiative formiert, gehen die Leute als individuelle Bürger in Scharen zu den größeren Demos. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass diese bislang kaum den Charakter einer Protestparty oder eines Wutbürgerauflaufs überwinden konnten.

Am internationalen Protesttag 15. Oktober waren in ganz Spanien wieder viele auf der Straße: um die 150.000 allein in Barcelona und über 50.000 in Madrid. In Barcelona nehmen sehr viele Leute in Kleinstgruppen mit FreundInnen oder der Familie teil. Auf unzähligen kleinen Plakaten verleihen sie ihrer Sorge um alles Mögliche Ausdruck - eine Art walking speaker's corner. Aus dieser Menge werden keine Parolen gerufen und keine Rituale zelebriert. Es ist ein stummer Protest, aber die Leute sind froh, hier eine Form zu finden, um ihren tiefen Frust auszudrücken, und sie fühlen sich als Teil einer Bewegung, einer untergründigen gesellschaftlichen (und globalen) Kraft, die noch auf der Suche nach der eigenen Identität ist. Die Stimmung ist nicht ganz so partyhaft wie zum Beispiel auf der letzten Großdemo im Juni mit 100.000 Leuten, vielleicht weil Dosenmucke und Sambabands weniger dominant sind. Die Demo macht einen völlig unstrukturierten Eindruck. Im Verlauf des kilometerlangen Marsches sind dann aber doch immer wieder Blöcke und größere Gruppen zu erkennen, die auf die Präsenz einzelner Kollektive von ArbeiterInnen, SchülerInnen, StudentInnen und politischen Organisationen hinweisen.

3. Repression

Die Reaktionen des Staatsapparats auf die Aktionen der Bewegung schwanken zwischen Prügeln und passiver Ausgrenzung. Die jüngste Welle von 22 Vorladungen und einigen kurzfristigen Festnahmen von AktivistInnen aus Barcelona wegen einer vier Monate zurückliegenden Blockade des katalanischen Parlaments richtete sich jedoch eindeutig gegen die organisierteren Strukturen der Bewegung. In unmittelbarer Reaktion zogen mehrere Demos von ein- bis dreitausend Leuten vor das Innenministerium und durch die Stadt. Die größten Sorgen dürfte den Hütern der herrschenden Ordnung diese anhaltend breite und spontane Mobilisierungsfähigkeit bereiten. Das hat das Potential, jeden sozialen Konflikt zu verstärken und grundsätzlich die Bereitschaft dazu zu stimulieren. Die bloße Existenz der Bewegung markiert einen Bruch in der Gesellschaft, dessen politische Konkretisierung allerdings noch offen bleibt.

4. Gewerkschaften gegen die Selbstorganisation der ArbeiterInnen

Die großen staatstragenden Gewerkschaften geraten weiter unter Druck. Sie sind genauso diskreditiert wie die Parteien und die staatlichen Institutionen. Mit dem Verschwinden des Spielraums zur Vermittlung von Produktivitäts- und Einkommenszuwächsen reduziert sich ihre Rolle immer offener darauf, die Verschlechterungen abzunicken. Einige konservativ regierte Provinzen haben die Freistellungen für gewerkschaftliche Tätigkeiten reduziert und damit den Gewerkschaftsapparat selbst angegriffen.

Besonders bitter war es für die Gewerkschaften, dass die großen Parteien die Schuldenbremse im Alleingang verfassungsrechtlich festgeschrieben haben. Sie versuchen nun, die Kontrolle über die wachsende Militanz in den Belegschaften zu behalten, ohne wirklich die Staatsräson und ein Schuldendebakel zu riskieren. Das wird jedoch zunehmend schwieriger.

Seit Juni wurden etliche Dienste im Gesundheitswesen weiter eingeschränkt. In Katalonien wurden daraufhin teilweise oder ganz von Schließung bedrohte Ambulatorien besetzt und Straßen blockiert. Die "Restrukturierung" wird jetzt noch ausgeweitet: von 185 Ambulatorien mit 24-Stunden-Diensten wurde in 99 die nächtliche Notaufnahme gestrichen, in 31 wurden die Öffnungszeiten gekürzt und 4 Zentren ganz geschlossen. Der Protest dagegen wird getragen von AktivistInnen aus der 15-M-Bewegung, von den Beschäftigten und vor allem von den AnwohnerInnen der betroffenen Einrichtungen, die nun im Notfall erheblich weitere Wege und häufig längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.

5. Kampf der LehrerInnen

Mit Beginn des neuen Schuljahres wurden in fünf Provinzen die Pflichtstundenkontingente (die reinen Unterrichtsstunden) der LehrerInnen von 18 auf 20 erhöht, wodurch nach Berechnungen der Gewerkschaften unmittelbar 12.000 Springerlnnen überflüssig werden. Die SpringerInnen werden jeweils zu Schulbeginn auf die Schulen verteilt und decken spezifische Unterrichtsfächer ab. Nun müssen diese Fächer vom festen Personalstamm der Schulen abgedeckt werden. Da viele LehrerInnen diesen Stoff seit Jahren nicht mehr unterrichtet haben, trägt die Maßnahme direkt zur Verschlechterung der Ausbildung an den Schulen bei. Zum ersten Mal seit 30 Jahren werden die Ausgaben für den Bildungssektor gesenkt.

Gesundheits- und Schulwesen unterliegen weitgehend der Autorität der Provinzregierungen. Mit der zunehmenden Gleichzeitigkeit und Koordinierung der Mobilisierungen wird diese Spaltung aber teilweise überwunden. In einigen Provinzen organisieren sich die LehrerInnen nach 15-M-Schema in unabhängigen Versammlungen.

Eine deutliche Zuspitzung der Konfrontation zeichnet sich im Großraum Madrid ab. Dort organisierten am 5. September 200 LehrerInnen auf dem Platz Puerta de Toledo eine erste gewerkschaftsunabhängige Versammlung. Die aktuell angekündigten Rationalisierungsmaßnahmen betreffen die LehrerInnen der Sekundarstufe (Institutos, 7.-12. Schuljahr). Ähnliches wurde in der Primarstufe bereits letztes Jahr durchgesetzt, ohne dass der Unmut der Basis die gewerkschaftlichen Hinhaltetaktiken überwinden konnte. Die unabhängigen LehrerInnen der Sekundarstufe organisieren sich als Plattform Soy Pública ("Ich bin öffentlich"). Sie haben sich via Internet koordiniert und die Abhaltung von Versammlungen in den Schulen organisiert. Mit Hilfe eines Fragebogens wurden einerseits die Auswirkungen der Rationalisierung und die Situation in den Zentren ermittelt und andererseits die Bereitschaft zum Widerstand sondiert. So wurde festgestellt, dass unmittelbar 3200 Arbeitsplätze in der Sekundarstufe bedroht sind. Gleichzeitig konnten sie ein Netz von regulären schul- und stadtteilbezogenen Treffen (asambleas) etablieren. Die Unabhängigen präsentierten schließlich auf einer gewerkschaftlich einberufenen Versammlung als Ergebnis ihrer Untersuchung die Forderung nach sofortigem Aufruf zu einem unbefristeten Streik im Turnus von einem Tag pro Woche, um die finanzielle Situation der LehrerInnen zu berücksichtigen. Dieser soll von einer permanenten Kampagne begleitet werden, um die Forderungen bekannt zu machen und SchülerInnen und Eltern in den Kampf einzubeziehen. Außerdem forderten sie, dass die Hälfte der Delegierten im Streikkomitee nicht der Gewerkschaft angehören darf Und schließlich wollen sie eine gemeinsame Kampagne mit dem Primarschulbereich, in dem zuletzt ebenfalls Versammlungen stattfanden, von denen Delegierte in die Vollversammlungen der SekundarschullehrerInnen geschickt wurden, um das Bedürfnis nach einem gemeinsam organisierten Kampf deutlich zu machen.

Am 29. September organisierte die Gewerkschaft CCOO (comisiones obreras) auf Druck der Basis eine Vollversammlung der Delegierten der gesamten Provinz von Madrid. Mit den üblichen Winkelzügen wich die Gewerkschaft den Forderungen der Basis aus und erreichte, dass die Entscheidung über Kampfmaßnahmen einer erneuten Vollversammlung am 7. Oktober übertragen wurde. In der Zwischenzeit wurden wieder in allen Zentren Versammlungen abgehalten, um die Basis zu befragen. Abzustimmen war über verschiedene Modelle eines unbefristeten Streiks: zwei oder drei Tage wöchentlich oder zweiwöchentlich. Aus den vorangegangenen selbstorganisierten Umfragen ging hervor, dass die meisten (73 Prozent) das Modell "drei Tage pro Woche" favorisierten und hofften, die SchülerInnen würden an den beiden anderen Tagen (Montag und Freitag) selbst einen Streik organisieren. Zudem wurde mit weiteren Streiks bei Beschäftigten der Universitäten, der Gesundheitsdienste und der Feuerwehr gerechnet. Die großen Gewerkschaften setzten nun ihren ganzen Apparat in Bewegung, um die Stimmung in den Schulen zu beeinflussen. Als Ergebnis der erneuten Umfrage stimmten die LehrerInnen an 3205 der 4497 Sekundarschulen mehrheitlich für einen Streik nach dem Modell "2-0-2-0" (2 Tage alle 2 Wochen). Für die Versammlung am 7. Oktober hatten die Gewerkschaften fast klandestin in einen viel zu kleinen Raum eingeladen. Die Manöver, mit denen sie die endgültige Entscheidung über Kampfmaßnahmen einer weiteren gewerkschaftlichen Ausschusssitzung vorbehalten wollten, stießen aber auf heftigen Protest. Nachdem die Gewerkschaften am 11. Oktober trotzdem nur drei isolierte Streiktage beschlossen, organisierten die Unabhängigen am 12. Oktober eine regionale Vollversammlung, an der nicht nur über 50 Prozent aller gewerkschaftlichen Delegierten teilnahmen, sondern auch etliche direkte VertreterInnen aus den Basisversammlungen der LehrerInnen, Delegierte der alternativen Gewerkschaften - und viele LehrerInnen im eigenen Auftrag. Beschlossen wurde der Streikbeginn nach dem 2-0-2-0-Modell für den 19. Oktober (der siebte Streik in diesem Schuljahr) im gesamten öffentlichen Schulwesen im Großraum Madrid. Am 19. Oktober streikten dann auch die SchülerInnen und zogen vor das Bildungsministerium. Am 20. Oktober sollten auf einer weiteren Vollversammlung die entsprechenden Organe zur weiteren Durchführung des Streiks gebildet werden. Eine Koordination der Springer-LehrerInnen hat am 22. Oktober zum unbefristeten Streik im gesamten Schulwesen aufgerufen. Am selben Tag demonstrierten außerdem über 70.000 Personen in Madrid zur Verteidigung des öffentlichen Schulwesens. Die Teilung in zwei Züge machte die Spaltung zwischen Mehrheitsgewerkschaften und unabhängiger Mobilisierung einmal mehr deutlich.

Die Mobilisierung der LehrerInnen wird von Eltern und SchülerInnen überwiegend begrüßt. In Madrid ist besonders deutlich geworden, dass die Angriffe gegen die LehrerInnen einhergehen mit einem strategischen Plan, den Sektor privater Bildungsangebote zu stärken. Dasselbe gilt für die Kürzungen der katalanischen Regionalregierung im öffentlichen Gesundheitswesen. Vor diesem Hintergrund können die Beschäftigten rüberbringen, dass der Kampf um ihre Arbeitsbedingungen auch einer zur Verteidigung der Qualität der öffentlichen Dienste und des Zugangs zu ihnen ist. In Spanien gilt der (kosten)freie Zugang aller Einkommensschichten zu diesen Leistungen als wesentliches Merkmal des Sozialstaats und des erreichten Wohlstands schlechthin. Man begreift das als wesentliche Errungenschaft der Arbeiterbewegung, und die seit Monaten andauernde Bewegung der chilenischen SchülerInnen ruft deutlich in Erinnerung, dass die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft immer auch historischer Abdruck der Klassenverhältnisse sind. Private Dienstleistungen werden stattdessen als die warenförmige Organisation der Reproduktion im Interesse der Profitabilität gesehen.

Eine darüber hinaus reichende Kritik an den Institutionen und Inhalten von Bildung und Gesundheit ist jedoch nur im Rahmen einer fundamentalen Kritik an den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsformen möglich. In der Krise erfährt gerade "Bildung" eine mythische Aufwertung, die weder den tatsächlichen täglichen Qualen in ihren institutionellen Tretmühlen, noch der realen Wertsteigerung des Preises der Arbeitskraft gerecht wird. Davon können ganze Generationen "überqualifizierter" beziehungsweise unterbeschäftigter und unterbezahlter Protestlerlnnen der Bewegung 15-M ein Lied singen.

24. Oktober 2011

Raute

Kampf bei Maruti Suzuki in Indien:

Wilde Streiks, Fabrikbesetzungen und Protestcamps

"Meine Frau und ich haben das Ganze durchgesprochen. Wir entschieden, dass wir jung genug sind, um die Geschichte auszukämpfen. Was haben wir zu verlieren? Wenn wir gewinnen, brauchen wir nicht mehr wie Sklaven zu arbeiten. Wenn wir verlieren, werde ich woanders Arbeit finden."
(Maruti-Arbeiter Joginder Singh, 28)

Seit Juni 2011 kämpfen 3500 ArbeiterInnen bei Maruti Suzuki in Manesar. Ihr Streik sprang auf andere Automobilfabriken des Industriekorridors über und legte das weltweit drittgrößte Autowerk im benachbarten Gurgaon lahm. In der wohl bedeutsamsten Klassenkonfrontation in Indien seit zwei Jahrzehnten haben die Arbeiter an mehreren Punkten die Spaltung in Festeingestellte und LeiharbeiterInnen durchbrochen. Somit greift der Kampf den harten Kern des indischen Entwicklungsmodells an und stellt dieses in Frage: Einbindung in die globale Produktion auf höchstem technologischem Niveau, bei schärfster Prekarisierung der ArbeiterInnen mit allen Mitteln. Das geht von lokalen Sklavenhändlern, die mit Schrotflinten auf sie losgehen bis zur individuellen SMS aufs Handy jedes Streikenden (beim 10millionsten Maruti hatte die Firma jedem eins geschenkt).

Der Kampf entwickelte sich in vier Phasen.

Phase 1: Besetzung

Vom 4. bis 17. Juni haben die ArbeiterInnen das Montagewerk besetzt, nachdem das Management den Versuch zur Gründung der Gewerkschaft MSEU sabotiert hatte. Sie blieben zwei Wochen in der Fabrik und wurden in der Zeit von FreundInnen und Angehörigen versorgt. Prekäre Verladearbeiter schlossen sich dem Streik an und forderten dieselbe Lohngruppe wie die LKW-Fahrer. Mehrere Gewerkschaftsverbände riefen zu einem Solidaritätsstreik am 14. Juni auf, bliesen diesen aber in letzter Minute ab. Das größere Maruti-Montagewerk im 20 km entfernten Gurgaon lief weiter. Die Besetzung endete mit einem Abkommen, in dem Maruti Suzuki nur vage Zugeständnisse in der Gewerkschaftsfrage machte, den ArbeiterInnen aber eine Strafe von zwei Tageslöhnen pro Streiktag aufbrummte.

Phase 2: Untergrund

Vom 17. Juni bis 28. August köchelte der Konflikt untergründig weiter. Arbeiter berichteten, dass direkte Vorgesetzte nach der Besetzung erstmal sehr viel freundlicher waren. In der ersten Woche wurden täglich nur 1100 statt 1200 PKWs produziert. Ende Juni wies der Staat Haryana den Antrag auf Gewerkschaftsgründung aus formalen Gründen ab. Die ArbeiterInnen boykottierten die Gewerkschaftswahlen der Maruti-Unternehmensgewerkschaft MUKU. Das Unternehmen begann, neue Facharbeiter aus Kanpur und anderen ITI-Ausbildungsstätten anzuheuern; gleichzeitig wurden die Grünflächen, die während der Besetzung als Versammlungsorte gedient hatten, durch Zäune abgesperrt - Vorbereitung auf eine mögliche Aussperrung. Am 28. Juli kamen Bullen in die Fabrik und nahmen vier Arbeiter mit ins Bürogebäude, weil es laut Unternehmenssprecher zu 'tätlichen Angriffen auf Vorgesetzte' gekommen war. Die Arbeiter legten sofort die Arbeit nieder und versammelten sich. Das Unternehmen stoppte die Busse für die B-Schicht und ließ ankommende Arbeiter nicht in den Betrieb. Die A-Schicht weigerte sich, die Fabrik zu verlassen. Nach einer Stunde ließ das Management die B-Schicht an die Arbeit.

Anfang August forderten Leiharbeiter, dass zusätzliche Leute eingestellt werden, weil die Arbeit nicht zu schaffen war. Als der Abschnittsleiter sie deswegen runtermachte, legte die gesamte Abteilung aus Solidarität die Arbeit nieder. Der Abschnittsleiter entschuldigte sich vor den versammelten Arbeitern. Laut Unternehmensangaben wurden am 24. August statt den geplanten 1230 PKWs lediglich 437 produziert, von denen es nur 96 durch die Qualitätskontrolle schafften. In diesen Tagen wurden vier weitere Arbeiter suspendiert und 40 Leiharbeiter abgemeldet.

Phase 3: Aussperrung/Protestcamp

In der Nacht zum 28. August rückten rund 400 Sondereinsatzbullen in die Fabrik ein und richteten sich dort ein. Das Unternehmen errichtete eine Metallbarriere und forderte alle ArbeiterInnen auf; eine individuelle Einvernehmenserklärung zu unterschreiben, dass sie auf Sabotage, Langsamarbeiten und anderes disziplinloses Verhalten verzichten. Nur zwei Dutzend ArbeiterInnen unterschrieben, die restlichen errichteren ein Protestcamp vor der Fabrik, machten Demos und Kundgebungen. Maruti versetzte Ingenieure und Vorarbeiter vom Gurgaon-Werk nach Manesar und fing an, neue Facharbeiter auf Zeitbasis einzustellen. Bis zum Ende der 33tägigen Aussperrung wuchs die Anzahl der ArbeiterInnen im Werk durch Neueinstellungen auf rund 1300.

Am 12. September streikten 1200 Zeitarbeiter in der benachbarten Munjal Showa Fabrik, einem Hersteller von Motorradstoßdämpfern. Ihr Ausstand gefährdete die Produktion bei Honda und Hero Honda. Am Tag darauf versprach das Unternehmen, 125 Arbeiter festeinzustellen und beschwerte sich über den negativen Einfluss der Maruti-Arbeiter.

Am 14. September streikten mehrere tausend Beschäftigte bei Suzuki Powertrain, Suzuki Castings und Suzuki-Motorcycles in Manesar. Bei Suzuki Castings und Powertrain sind die separaten Unternehmensgewerkschaften unter dem Druck der Fabrikbesetzung des Hauptwerks im Juni anerkannt worden, sie sind dem Dachverband HMS angeschlossen, während sich die MSEU des Montage-Werks in Manesar der AITUC (Gewerkschaft der KP) angliedern will. Die Arbeiter stellten eigene Forderungen auf; forderten aber auch eine Rücknahme der Aussperrung und Suspendierungen beim Suzuki-Werk in Manesar. Suzuki Powertrain produziert nicht nur für Manesar Motoren, Getriebe und Achsen, sondern auch für Gurgaon: nach einem Tag stand dort die Produktion. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil Maruti mit der Rückverlagerung eines Modells von Manesar nach Gurgaon spekuliert hatte, um die Verluste der Aussperrung zu kompensieren. Am 16. September blies der Gewerkschaftsverband HMS den Streik ab, weil ein Teil seiner Forderungen anerkannt worden sei.

Die Aussperrung in Manesar zog sich bis zum 30. September hin, schließlich empfahlen die Arbeitervertreter den Arbeitern, die Einvernehmenserklärung zu unterschreiben, im Gegenzug nahm Maruti 18 der suspendierten Auszubildenden zurück und wandelte die restlichen 44 Entlassungen in 'Suspendierungen' um. Beide Seiten erklärten, für harmonische Arbeitsbeziehungen sorgen zu wollen.

Phase 4: Wiederbesetzung!

Am 3. Oktober sollte die Produktion in Manesar wieder anlaufen, das Unternehmen ließ die festemgestellten Arbeiter in die Fabrik - in der Zwischenzeit waren viele Arbeiter innerhalb der Fabrik "umgesetzt" worden -, verweigerte aber rund 1200 ZeitarbeiterInnen, die an Besetzung und Protestcamp teilgenommen hatten, den Zutritt.

Der enorme Lohnverlust hat die Ressourcen vieler Arbeiter aufgebraucht. Rund 100 Zeitarbeiter haben nach dem 3. Oktober frustriert eine andere Arbeit gesucht. Am 7. Oktober besetzten die festemgestellten Arbeiter das Montagewerk in Manesar. GenossInnen vor Ort berichteten, dass sie sich nicht zuletzt durch den Druck der Zeitarbeiter zur Besetzung entschieden. Aber nicht nur die Arbeiter des Montagewerks, sondern auch die Arbeiter bei Suzuki Powertrain, Suzuki Castings und Suzuki Motorcycle antworteten auf den Spaltungsversuch Marutis mit Sit down-Protesten in ihren Werken. In acht weiteren Fabriken gab es Solidaritätsstreiks. Ein Teil der während der Aussperrung neueingestellten Zeitarbeiter, die sich nun ebenfalls in der Fabrik befanden, solidarisierten sich mit den draußen demonstrierenden ausgesperrten Zeitarbeitern.

Am 9. Oktober tauchten lokale Leiharbeits-Kontraktoren in einem Jeep vor dem Suzuki Motorcycle-Werk auf und bedrohten streikende Arbeiter; einer der Kontraktoren schoss, es gab Verletzte. Die ArbeiterInnen in den besetzten Werken forderten die Wiedereinstellung der LeiharbeiterInnen, die Rücknahme der Suspendierungen, das Ende der Umsetzungen und die Wiederaufnahme des Unternehmensbusverkehrs, den Maruti nach der Aussperrung eingestellt hatte. Der Staat Haryana beschuldigte die ArbeiterInnen, die vertragliche Abmachung vom 30. September gebrochen zu haben und gab ihnen 48 Stunden für eine Erklärung. FreundInnen berichteten, dass vermehrt 'private Gorillas' zusammen mit Bullen an Straßensperren standen und Leute davon abhielten, ins Industriegebiet zu gehen. Anfang Oktober liefen die Wahlen in Haryana, der Polizeiapparat war deshalb überfordert. Am 10. Oktober produzierte Maruti nur noch 1000 statt 2800 PKWs in Gurgaon, es fehlten Teile von Powertrain, zwei Tage später kündigte das Unternehmen dort eine Werkschließung an.

Am 14. Oktober, nach den Wahlen, räumten die Bullen die Streikküche, die die rund 4000 BesetzerInnen der drei Fabriken versorgt hatte. Gleichzeitig stockte der Staat die Polizeikräfte innerhalb des Werks in Manesar auf 1500 auf, versiegelte Kantine und Toiletten. In der Nacht verließen die Arbeiter das Montagewerk, am nächsten Morgen endeten auch die zwei anderen Besetzungen. Der Streik wird nun draußen fortgeführt. Im Laufe der Besetzung wurden mehr als SO weitere Arbeiter entlassen. Am 16. Oktober verkündete Maruti, dass die Produktion auf unterem Level wieder anlaufe. Am selben Tag begannen 1500 ArbeiterInnen beim Solarzellen- und DVD-Hersteller Moser Baer im benachbarten Noida einen Streik ihr höhere Löhne.


Wer sind diese Arbeiter und was wollen sie?

Die Verwertungspyramide
Das Montagewerk in Manesar wurde 2007 angefahren, Maruti stellte neue Facharbeiter aus diversen ITI-Schulen in Nordindien ein. Ein Großteil der Arbeiter ist unter 30. Ursprünglich aus dem Hinterland Haryanas oder Uttar Pradeshs leben sie nun in den Schlafdörfern Manesars und Gurgaons, oft zu mehreren in einem Zimmer. Rund 1000 der Maruti-Arbeiter sind festeingestellt, 800 sind sogenannte Trainees [Anzulernende], weitere 400 Azubis, und rund 1200 sind Leiharbeiter. Trainees und Azubis arbeiten ganz normal in der Produktion. Die Festeingestellten verdienen monatlich rund 13.000 bis 17.000 Rupien (Rs), die Trainees um die 8000, die Leiharbeiter 6500, die Azubis etwa 4000. Der Lohn der Festeingestellten setzt sich aus rund 5000 Rs Grundlohn (das ist der staatliche Mindestlohn) und 8000 Rs Prämien für Anwesenheit, Pünktlichkeit und Produktivität zusammen.

Damit verdienen die jungen Festeingestellten in Manesar sehr viel weniger als die Festeingestellten im alten Werk in Gurgaon oder die in der benachbarten Honda Motorrad-Fabrik in Manesar, die jeweils mit 30.000 Rs und mehr nach Hause gehen. Maruti in Gurgaon wurde 1980 eröffnet und war Teil der "Volkswagen-Vision" von Sanjay Gandhi. Vor zehn Jahren sind die Maruti-Arbeiter in Gurgaon durch eine ähnliche, mehrwöchige Aussperrung gegangen. Damals hatte das Unternehmen ihre Niederlage dazu genutzt, einen Großteil der 5500 Festeingestellten durch Zeitarbeiter zu ersetzen. Heute arbeiten noch 2300 Festeingestellte in Gurgaon, die Lohndifferenz, sprich Klassenspaltung, wird durch die Gewerkschaft MUKU verwaltet. Die jungen Arbeiter in Gurgaon sahen sich von dieser nicht vertreten und suchten einen Ausweg in der Gründung einer eigenen Gewerkschaft.

Die neuen Forderungen
Den jungen ArbeiterInnen geht es um Konkretes: Mehr Geld, weniger Arbeit. Sie vergleichen ihre Löhne mit denen in anderen Autofabriken. Sie beklagen, dass Maruti bei der kleinsten Verspätung oder (ungenehmigten) Abwesenheit die Zulagen kürzt, für einen Tag 'Urlaub' rund 2200 Rs. Sie beschweren sich über das enorme Arbeitstempo, das keine Zeit zum Luftholen lässt. Die halbe Stunde Pause reiche nicht, um in der 400 Meter entfernten Kantine zu essen; man brauche Genehmigungen, um auf die Toilette zu gehen. Sie sind wütend über die verschiedenen Warteschleifen bis zum Festvertrag (Azubi, Trainee, Leiharbeiter, junior workman...). Aber sie haben diese konkreten Anliegen nicht in den Vordergrund ihres Kampfs gestellt. Damit hätten sie eine Brücke zu den anderen 150.000 IndustriearbeiterInnen Manesars geschlagen. Stattdessen forderten sie offiziell die Anerkennung der Gewerkschaft bzw. die Wiedereinstellung der Entlassenen. Sie kämpfen mit härtesten Bandagen für ein Stück Papier, das sie allerdings als Symbol der Einigkeit, Stachel im Fleisch des Unternehmers und als Festschreibung des Erkämpften sehen.

Suzuki in der Profitklemme
Die Kämpfe seit Juni trafen Maruti hart: Ausfall von über 50.000 PKWs bei 100.000 offenen Bestellungen für den neuen Swift, die Wartezeit für Kunden hat sich jetzt auf "unverkraftbare" acht Monate verlängert. Mitte Oktober verkünden die Wirtschaftsblätter, dass sich der finanzielle Verlust für Maruti und Zulieferer seit Juni auf 30 Milliarden Rs [rund 450 Millionen Euro] belaufen soll. Das rüttelt auch am globalen Unternehmen Suzuki: die indische Tochter sorgt für 55 Prozent der weltweiten Betriebseinahmen des Konzerns, und Manesar ist der einzige Produktionsstandort für das Weltauto A-Star (wird in Europa von Nissan als Pixo vertrieben). Gleichzeitig wird der Druck auf dem indischen Markt stärker, die Konkurrenz schläft nicht und die indische Zentralbank hat seit März 2010 zwölfmal die Zinsen erhöht, rund 80 Prozent der Autokäufe laufen über Kredit.

Aufgrund der Aussperrung nahm Maruti die 'Fabrik B' in Manesar bereits im September 2011 in Betrieb, drei Monate früher als geplant. Mit diesem stärker automatisierten Werk hat allein Maruti Suzuki in Gurgaon/Manesar eine Gesamtkapazität von 1,7 Millionen Autos, mehr als der indische Binnenbedarf. Im Juli hatten Ford und PSA angekündigt, jeweils neue Montagewerke in Gujarat zu eröffnen. Im September setzte die Gewerkschaft UAW in den USA das 'Two-Tier'-System um, nach dem Neueingestellte in den Autowerken lediglich die Hälfte der Alten verdienen - ein gewaltiger Druck auf die globale Lohnkaskade von Norden nach Süden.

Konflikt-Management
Zunächst verlief die Auseinandersetzung nach dem Drehbuch der 'industrial relations' Gurgaons der letzten zwei Jahrzehnte: Wenn man die Lage nicht unter Kontrolle bekommt, fokussiert man den Kampf auf die Frage der Vertretung, versucht diese zu zerschlagen oder die Vertreter zu kaufen. Gelingt das nicht, bereitet man die Aussperrung vor. Man provoziert die Arbeiter, z.B. durch Hinauswurf der Führungspersonen. Um den Vorwurf einer illegalen Aussperrung zu verhindern, verlangt man individuelle Einvernehmenserklärungen. Dabei kann man darauf zählen, dass die Hauptgewerkschaften den 'traditionellen Weg' gehen: keine Unterschriften, Kampf außerhalb der Fabrik, "Kampf um unsere Vertreter". Man hält die Produktion halbwegs aufrecht, um Verluste zu vermeiden und die Arbeiter zu demoralisieren. Man attackiert die Arbeiter zwischenzeitlich. Es kommt zu einem Abschluss, man schichtet die Arbeitskraft um, z.B. indem man Leiharbeiter nicht wiederbeschäftigt oder Leute umsetzt. So gingen die meisten Arbeiterkämpfe der letzten Zeit verloren und die Umstrukturierung voran.

Ausbruch aus den 'industrial relations'
Durch die Besetzung sind die Arbeiter Maruti Suzuki zuvorgekommen. Nach einer Woche stand aufgrund von mangelnden Lagerkapazitäten die Produktion bei rund 200 Maruti-Zulieferern still, oder die Arbeit lief auf Minimalbasis. Aus mehreren Gründen kam eine Räumung nicht in Frage. Abgesehen von möglichen Sachschäden, liegt das Werk in einer Industriezone mit rund 500 größeren Fabriken. Die Räumung hätte zum Fanal werden können. Außerdem war der indische Staat in diesen Wochen mit verschiedenen Wellen der Anti-Korruptionsbewegung konfrontiert. Streikende Maruti-Arbeiter hatten sich in Interviews positiv darauf bezogen. Die Besetzung im Juni konnte vor allem dank der Unerfahrenheit der ArbeiterInnen und der beruhigenden Intervention der Hauptgewerkschaften in eine 'Niederlage auf dem Papier' verwandelt werden. Die ArbeiterInnen mussten nicht nur Lohnverlust, sondern auch eine moralische Schlappe in Form von zwei Tageslöhnen Strafe pro Streiktag hinnehmen (ein ziemlich unerhörter Fall in Indien). Aber sie waren nicht geschlagen, das zeigte sieh in der unruhigen Zwischenzeit.

Restrukturierung mit Begleitmusik
Während der Aussperrung standen zwei Dinge infrage: lässt sich ein modernes Montagewerk tatsächlich relativ schnell in Bewegung setzen? Halten sich in dieser Zeit die Gewerkschaften und die ArbeiterInnen an die üblichen symbolischen Protestformen? Maruti Suzuki beschränkte sich beim versuchten Produktionsanlauf auf ein einziges Modell, den Swift, die anderen beiden Modelle lagen während der Aussperrung auf Eis. Am 31. August, dem dritten Tag der Aussperrung, startete das Unternehmen mit 50 Ingenieuren und 290 Vorarbeitern, die teilweise aus dem Gurgaon-Werk abgezogen worden waren. Sie wurden mit 120 befristet neueingestellten Bandarbeitern aufgestockt. Die 460 Personen sollen angeblich 60 Autos produziert haben. Mit Blick auf Aktienkurse und Kundengefühle ließ Maruti täglich neue Produktionsrekorde vermelden. Am 3. September sollen 840 Arbeiter rund 200 Autos produziert haben. In einem Kommuniqué vom 5. September stellte die ausgesperrte MSEU solche Zahlen als pure Propaganda dar. Am Ende der Aussperrung sollen 1200 neueingestellte Bandarbeiter zusammen mit den Ingenieuren der neu angelaufenen 'Fabrik B' den Swift wieder auf Vollkapazität produziert und sich sogar an eins der zwei anderen Modelle gewagt haben.

Das Pulver wird trockengehalten
Die Aussperrung dauerte lange genug, um demoralisierend zu wirken. Zweimal hätte Marutis Strategie kippen können, beim Streik bei Munjal Showa am 12. und beim Streik bei Suzuki Powertrain am 14. September. Der erste wurde mit Zugeständnissen sofort beigelegt. Den zweiten beendete die Gewerkschaft HMS, sobald in Gurgaon die Bänder stillstanden.

Am 30. September verhandeln die MUKU, die mittlere Führungsebene der AITUC und drei Funktionäre der bisher nicht anerkannten MSEU mit dem Management nach 33 Tagen Aussperrung über deren Ende. Eine zweite Niederlage auf dem Papier: Sie empfehlen den Arbeitern, die Einvernehmenserklärung zu unterschreiben, die ihnen bereits Disziplinarstrafen androht, wenn sie nicht gut rasiert zur Arbeit erscheinen oder während der Arbeit singen. Weder war die neue Gewerkschaft formal durchgesetzt, noch waren die Entlassenen zurückgeholt. Als am 3. Oktober die Produktion wieder anlaufen soll, verweigert Maruti den 1200 kämpferischen Zeitarbeitern den Zutritt. Bis dahin war alles nach dem erwähnten Drehbuch verlaufen. Aber die Wiederbesetzung und die Solidaritätsstreiks am 7. Oktober überrumpelten das multinationale Management und schlagen womöglich ein neues Kapitel im Klassenkampf auf dem indischen Subkontinent auf.

Am 21. Oktober beenden die Maruti-Arbeiter ihren Streik zunächst, nachdem die Unternehmensleitung zugesichert hatte, die 1200 Zeitarbeiter wieder aufzunehmen und 64 Suspendierungen zu annulieren. Kurz darauf setzen sie den Streik doch noch fort, da die neue Gewerkschaft bei Suzuki Powertrain ihre Forderungen noch nicht gegenüber dem Unternehmen durchgesetzt hat. "Wir haben den Streik zusammen angefangen, wir beenden ihn auch zusammen." Die Powertrain-Arbeiter fordern die gleichen Löhne wie bei Maruti Suzuki.


Nachtrag vom 25.10.:
Alle Streiks sind beendet. Die 1200 Leiharbeiter werden wieder aufgenommen, allerdings ohne Zusagen für die Zukunft. 33 Suspendierungen bleiben bestehen.

Weitere Infos auf Englisch findet Ihr hier:
www.gurgaonworkersnews.wordpress.com

Fußnoten:

ITI: Industrial Training Institutes; staatliche Zentren für technische Ausbildung

Zeitgleich mit den Aufständen in Nordafrika entstanden in Indien 'Anti-Korruptionsbewegungen' unter der Führung des "spirituellen Führers" Ramdev und des Politikers Harare. Diese Bewegungen sind eine Antwort auf massenhafte Korruption (aktuell: Vergabe von Telekom-Lizenzen, Aufträge für Erdgasunternehmen), die rasante Inflation und den 'jobless growth' des indischen Booms. Die Bewegungen erinnern in ihrer Form (öffentliche Proteste, Straßenblockaden, Hungerstreiks, Suizid-Versuche) an die populistischen Bewegungen Mitte der 1970er, die das indische Regime in den Ausnahmezustand trieben.

Raute

Iran

Streik der Petrochemiearbeiter gegen das Leiharbeitssystem

Die dritte Runde eines Streiks von Leiharbeitern in der südiranischen Petrochemie, diesmal in Bandare-Imam in der Nähe von Mahshahr, ist nach 14 Tagen am 9. Oktober zu Ende gegangen. Hauptforderung war auch hier - wie in vielen neuen Arbeiterkämpfen - die Direkteinstellung.

In den letzten Jahren sind Verleihagenturen im Iran wie Pilze aus dem Boden geschossen. Bereits früher hatten Arbeiter des Hüttenwerks in Isfahan und der Autoindustrie in Teheran (Konzern Iran Khodro) Festeinstellung gefordert; in der Petrochemie von Täbris hatte man dafür im März 2011 elf Tage lang gestreikt. Davor waren nur kleinere Betriebe im Iran von solchen Arbeitskämpfen mit dem Angelpunkt der Leiharbeit betroffen. Dass nun in dieser Sache auch bei Großbetrieben gestreikt wird, beweist eine neue Qualität.

Leiharbeit, Zeit- und Blankoverträge zwischen Kaspischem Meer und Persischem Golf

Das iranische Sklavenhändlersystem liegt in der Mitte zwischen dem deutschen und dem italienischen Caporalato-System, (siehe Artikel zum Streik der Tagelöhner in Nardò im Heft): Die sog. Kontraktfirmen (Verleiher) schließen Verträge mit (Entleih-)Betrieben über bereitzustellende Arbeitskraft - oft mit Laufzeiten zwischen drei Monaten und einem Jahr. Danach werben sie ArbeiterInnen an, mit kurzfristigeren Verträgen und zu einem Bruchteil der Lohnsumme, die von der Entleih-Firma vorher an den Verleiher gezahlt worden war. Zahlungen für Kranken- und Rentenversicherung, gelegentlich auch für Fahrtkosten, sackt der Verleiher meist zusätzlich ein. Beispielsweise bekommt eine Agentur 850.000 Toman (ca. 600 €) für einen Arbeiter und gibt ihm davon 360.000 weiter. Noch dazu werden in der Regel die Löhne mit zwei- bzw. mehrmonatiger Verspätung bezahlt. Manche Verleihagenturen verwenden Blankoverträge und ändern die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden nachträglich ab.

Nach Angaben des Ölministeriums sind gegenwärtig 120.000 Menschen in Leiharbeitsverhältnissen für die Ölindustrie tätig, davon 2500 am Ende der Produktionskette in den Ölexportstellen. Dort bilden sie 2/3 der Arbeitskräfte bei 1/3 Festangestellten.

Die früheren Streiks in Mahshahr gingen teilweise mit Erfolg zu Ende. Im Februar 2011 haben die Arbeiter bei der Ferimco-Verleihagentur in der Petrochemie Mahshar mit fünftägigem Streik durchgesetzt, dass ihr seit sechs Monaten ausstehender Lohn bezahlt und der Agenturboss entlassen wurde.

Fünf Monate später entwickelte sieh hier der zweite Streik, diesmal getragen von den Arbeitern bei Kharazmi, einer anderen Verleihfirma. Der Ausstand dauerte elf Tage. Er wurde mit dem Versprechen beendet, dass in drei Monaten die Arbeiter fest angestellt würden. Nachdem das Versprechen der staatlichen Stellen und der Unternehmensleitung zur Ausschaltung der Verleihagenturen nach Monaten nicht verwirklicht worden war, hat im September ein Teil der Leiharbeiter von Bandare-Imam gestreikt. Sie beziehen sieh auch auf Zusagen des Ahmadinedschad-Kabinetts von vor sechs Jahren; damals war von höchster Stelle verkündet worden, Verleihfirmen verbieten zu wollen.

In der Petrochemie Bandare-Imam arbeiten gegenwärtig 6500 Arbeiterinnen und Arbeiter, davon insgesamt 4300 als Leiharbeitskräfte, davon 300 Frauen. Die Beschäftigten sind in der Mehrzahl Araber. (40 Prozent der Einwohner von Mahshar gehören zum arabischen Bevölkerungsteil des Iran.)

Obwohl viele mit dem Streik einverstanden waren, haben ihn nur 300 bis 400 Leiharbeiter aktiv getragen, von ungelernten Arbeitern bis zu den Technikern, die auch jeden Tag vor dem Verwaltungsgebäude der Firma demonstrierten und Sitins veranstalteten. Festangestellte haben auf Druck der Chefs die Arbeiten der Streikenden teilweise miterledigt; auch haben sieh die Frauen nicht aktiv am Streik beteiligt.

Im Laufe der Streiks wurden drei Arbeiter festgenommen, die später durch Proteste und Demos freikamen. Anderen wurde der Zutritt zum Fabrikgelände verwehrt. Und allen, von den Chefs bis zum Arbeiter, wurde verboten, mit Medienleuten zu sprechen. Parallel dazu hat man Reis an Arbeiter verteilt, und Stammesführer eingeschaltet, damit sie auf Streikende einwirken. Am Ende haben Staat und Firmenleitung durch völlige Ignoranz und Missachtung der Streikaktionen die Arbeiter zur Aufgabe zu bewegen versucht.

Trotz alldem und trotz der Versuche, Streikbrecher auch von außen zu holen, oder die Löhne der Festangestellten zu erhöhen, wurde der Streik fortgesetzt. Viele noch agierende Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen im Iran sowie Aktivisten im Ausland unterstützten die Streikenden. Viele Diskussionen wurden mit anderen Petrochemie- und Öl-Arbeitern besonders aus der Ölprovinz geführt, denn ihre Unterstützung wäre wichtig gewesen. Doch nach weiteren Versprechungen der staatlichen Stellen nahmen die Leiharbeiter die Arbeit wieder auf.

Trotzdem wurde das neue Niveau der Kämpfe in diesem hoch wichtigen Sektor der iranischen Wirtschaft deutlich.


*


Ein Arbeiter erzählt: "In einer bekannten Arzneimittel-Fabrik (Tolidaru Pharmaceutical Company), wo ich 30 Jahre gearbeitet habe, wurde nach manchem Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter erst 2007 eine kleine Abteilung mit 12 Arbeitskräften einer Kontraktfirma überlassen, eigentlich testweise, um zu ermitteln, wie solche Unternehmen Kostenreduzierung auch in allen anderen Abteilungen durchsetzen könnten. Die ersten Reaktionen der Arbeiter folgten dem Schema des hinhaltenden Widerstands, es gab aber auch spontane, mehr individuelle Auseinandersetzungen mit den Verleihfirmen. Der Produktionsbetrieb versuchte dann, die Herstellung von Hygieneartikeln nach anderswo auszulagern. Als sie 200 ArbeiterInnen in Rente schickten, darunter besonders klassenbewusste und kämpferische Frauen, und durch Leiharbeiter ersetzten, war unsere Kampfkraft gelähmt. Die Leiharbeiter hatten keinen Kontakt mit uns. Wenn wir uns in der Kantine trafen, kamen wir wie von unterschiedlichen Sternen. Sie blieben auch nicht lange, die Verleihfirmen feuerten sie einfach, wenn sie z.B. die verlangte Menge Arbeit am Tag nicht erledigen konnten oder wollten. Mit keinem von ihnen haben wir Freundschaft schließen können. Bevor wir ein Gespräch anknüpfen konnten, kam ein anderer an seiner Stelle. Von den damals etwa 1500 Arbeitern sind heute nicht mehr als 330 übrig, davon noch 120 festangestellt. Wir hatten damals mit zwölf Leuten z.B. 19.000 Stück eines Produkts hergestellt. Heute macht eine Sklavenfirma mit neun Leuten 22.000 Stück davon."


Fußnoten

Leiharbeit = Sklaverei!

Zu Iran-Khodro siehe "Iran: Geschlossen gegen das soziale Erdbeben" Wildcat 74, Sommer 2005

Raute

Tomatenernte in Nardò/Apulien: der erste selbstorganisierte Streik der Tagelöhner

Von Mimmo Perrotta, Devi Sacchetto

Als sich im Morgengrauen des 30. Juli 2011 eine Gruppe von etwa 40 afrikanischen Migranten auf den Feldern von Nardò (Lecce) weigert, weiterhin Tomaten zu ernten, denkt niemand, dass damit der erste selbstorganisierte Streik(1) von ausländischen Tagelöhnern in der italienischen Landwirtschaft für bessere Arbeitsbedingungen beginnt. Die Gruppe von Tagelöhnern widersetzt sich der Forderung eines caporale,(2) eine weitere Tätigkeit zu verrichten, nämlich die grünen Tomaten von dem wertvollen roten Gold zu trennen - alles für einen Durchschnittslohn von 3,50 Euro pro 300-Kilo-Behälter. Der caporale, der die Migranten angeworben hat, hofft, dass die Sorge um ihre Bezahlung sie vorsichtig macht. Schließlich ist die Wirtschaftskrise auch in der Landwirtschaft angekommen. Aber er täuscht sich. Die Tagelöhner kehren zur Masseria Boncuri zurück und bauen zusammen mit ihren Kumpeln, insgesamt sind es etwa 60 Leute, eine Straßensperre auf. In dem ehemaligen Gehöft organisieren der Verein Finis Terrae und die aktiven Solidaritätsbrigaden seit zwei Jahren eine Zeltstadt, die die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft aufnimmt. Die Tagelöhner, die hergekommen waren, um Wassermelonen zu ernten, waren enttäuscht worden, weil die Firmen wegen zu niedriger Marktpreise die Früchte nicht ernten ließen. Zu Beginn der Tomatenernte hofften sie nun endlich auf einige Tage Arbeit und wollten es nicht hinnehmen, dass der Akkordsatz unter dem des Vorjahrs lag. So nimmt ein Streik seinen Anfang, der ungefähr zwei Wochen dauern sollte und an dem sich zumindest in den ersten Tagen praktisch alle Migranten der Masseria, ca. 350 Personen, beteiligen, und dessen direkte Folgen auch in den Wochen danach noch spürbar waren.

Die etwa 350 ausländischen Tagelöhner sind alle Männer zwischen 20 und 40 Jahren, viele haben einen Aufenthaltsstatus oder haben den Flüchtlingsstatus beantragt. Sie kommen aus Tunesien, dem Sudan und aus Westafrika (aus Benin, Burkina Faso, Ghana, Mali, Togo). Unter den afrikanischen Arbeitern sind welche, die aus den Fabriken in Norditalien entlassen wurden und nun ein Einkommen während der Sommermonate suchen; junge Studenten oder Schulabgänger einer Berufsschule, die im Norden wohnen und eine Anstellung für ein paar Wochen suchen; Flüchtlinge, die erst vor kurzem in Italien angekommen sind, auf der Flucht vor dem Krieg in Libyen; junge Tunesier, die das Land nach dem Sturz von Ben Ali verlassen haben. Die große Masse sind moderne Tagelöhner, die "den Weg durch die Hölle" gründlich kennen, d. h. die verschiedenen Erntekampagnen, die in ganz Süditalien Monat für Monat aufeinander folgen: Foggia, Palazzo San Gervasio, Rosarno, Castelvolturno. Sie kombinieren bisweilen die Arbeit in der Landwirtschaft mit anderen Tätigkeiten in der Industrie, auf dem Bau oder in der Logistik. Sie sind prekarisierte Arbeiter im vollen Sinn des Wortes.

Nur ein kleiner Teil verfügt tatsächlich über eine Aufenthaltsgenehmigung, der größere Teil wird nur aus humanitären Gründen geduldet oder wartet auf den Flüchtlingsstatus. Die Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung sind am verwundbarsten und deshalb gezwungen, die schlechtesten Löhne zu akzeptieren. Das sind die gewöhnlichen Folgen des Bossi-Fini-Gesetzes,(3) die von den Fabriken im Norden bis zu den grünen Fabriken im Süden von Italien zu spüren sind.

Staubecken für Arbeitskraft

Der Streik hat von seiner Organisation und Dimension her sogar die Aktivisten der Vereine überrascht, die seit zwei Jahren die Kampagne "Stell mich ein! Gegen die Schwarzarbeit!" unterstützen. In diesem Zipfel des Salento schienen die Bedingungen der Landarbeiter nicht groß anders zu sein als in den letzten 20 Jahren und vergleichbar mit anderen Gegenden des Mezzogiorno: in den Zeiten der großen Erntekampagnen (in Nardò hauptsächlich Wassermelonen und Tomaten) ist die Nachfrage nach Arbeitskräften sehr groß. Befriedigt wird sie zum größten Teil von den ausländischen Arbeitern, die häufig schwarz oder "grau" im Akkord bezahlt werden.

Besonders hoch ist der auf ein paar Monate konzentrierte Bedarf an Arbeitskräften in den ausgedehnten Ebenen von Apulien. Wohl nicht zufällig ist dieses Gebiet übersät mit Auffanglagern für Migranten (Zentren für Verwahrung und Identifizierung). Viele der Streikenden haben schon Erfahrungen mit Auffanglagern, die als Schleuse und Filter für den Arbeitsmarkt fungieren. Diese Durchgangsorte für Migranten und Flüchtlinge scheinen unter anderem auch die Funktion zu haben, eine vorübergehende Unterbringung zu garantieren gemäß den Erfordernissen des Arbeitsmarktes. Es handelt es also nicht einfach um "Nicht-Arbeitsämter" (uffici dell'anti-collocamento), wo man darauf abgerichtet wird, niedrigste Löhne zu akzeptieren, noch bevor man überhaupt eine Arbeit gefunden hat, sondern es um wahre Kompensationskammern für den Arbeitsmarkt.

In diesen Disziplinierungszentren und -lagern (die Namen variieren) nimmt das Staubecken für Arbeitskraft Form an, entsprechend den Just-in-time-Erfordernissen von Industriebetrieben, Landwirtschaft und Baustellen; wenn der Immigrant das Lager verlässt, sucht er häufig Arbeit in der Umgebung - über Freunde oder Verwandte oder indem er sich an einen caporale wendet. Die Zentren sind also ein wichtiger Ort für den Arbeitsmarkt, weil sie die Entlassungen auf der Basis der Erfordernisse des lokalen oder regionalen Arbeitsmarktes "steuern" können.

Das caporalato

In dieser Art von Landwirtschaft spielen die caporali die Rolle der Vermittler zwischen den Betrieben auf der einen Seite, die oft im Würgegriff der großen Supermarktketten sind; da es ihnen wenig lohnenswert erscheint, die Ernte zu mechanisieren, versuchen sie, die Arbeitskosten zu reduzieren. Auf der anderen Seite sind die Tagelöhner, die oft gezwungen sind, in verlassenen Häusern oder großen "Ghettos" weit ab von den Dörfern zu leben. In Nardò gibt es sechs oder sieben große Betriebe, von denen jeder 600-700 Hektar bearbeitet und die bisweilen die Ernte verpachten, aber nur zehn kleinere Firmen.

Der Streik von Nardò wurde zweifellos erleichtert durch die Wohnbedingungen der Tagelöhner: die in der Masseria Boncuri errichtete Zeltstadt unterscheidet sich sowohl vom Modell des "Ghettos" (zum Beispiel das grand ghetto von Rignano, eine riesige afrikanische Barackensiedlung auf halbem Weg zwischen Foggia und dem Gargano) als auch vom militarisierten und für "irreguläre" Migranten versperrten Auffanglager (wie es zum Beispiel in Alcamo in Sizilien erprobt wird). Der tägliche Kontakt mit den italienischen Freiwilligen hat die Isolation durchbrochen, in der sich die ausländischen Tagelöhner gewöhnlich befinden, und hat dafür gesorgt, dass die Migranten über ihre Rechte und die Lohnsätze in den Tarifverträgen informiert sind. Die Bedingungen in der Zeltstadt waren sicherlich prekär und viele schliefen im Wesentlichen im Freien; aber "immer noch besser hier zusammen als in den verlassenen und isolierten Höfen von Foggia", meint Salim aus Tunesien, der schon die Runde bei allen Ernten im Süden gemacht hat und der weiß, dass die caporali in diesen verlassenen Höfen leichtes Spiel haben, jede aufkommende spontane Forderung zu ersticken.

Die Zeltstadt war sicherlich ein Ort der Vergesellschaftung, des Austauschs und der Unterstützung während des Streiks. Hier war das Triebwerk, aber auch seine Grenze, als es den caporali nach einigen Wochen gelang, ausgerechnet aus dem Innern des Camps heraus über einige ihrer Männer den Protest aufzuweichen. Aber wie bei anderen Gelegenheiten hat die Möglichkeit zu dauerhaften sozialen Beziehungen die Leute zusammengebracht. Eine der interessantesten Auswirkungen des Streiks war der Bruch mit der Aufspaltung in ethnische Gruppen, da die Sprecher nicht nach nationaler Zugehörigkeit, sondern nach Sprachkenntnissen gewählt wurden, so dass sie mit möglichst vielen Migrantengruppen kommunizieren konnten. Der gemeinsame Kampf hat dann den weiteren Austausch begünstigt, wie der Sudanese Mohamed bemerkt: "Am Anfang ging jeder zur Arbeit und dann schlafen und wusste nicht einmal, was im Camp vor sich ging. Seit der Streik begonnen hatte, gab es mehr Kommunikation und Diskussion." Die Kämpfe und Forderungen der letzten Jahre hinterlassen langsam Spuren im Gedächtnis dieser Tagelöhner-Arbeitskraft: die Mobilisierungen der maghrebinischen Tagelöhner im Ghetto von San Nicola Varco in der Sele-Ebene (Salerno) im Herbst 2006; die beiden Revolten der afrikanischen Zitruspflücker in Rosarno(4) im Dezember 2008 und Januar 2010; das Bestreiken der Kreisverkehre in Castelvolturno und den umliegenden Dörfern (wo der "Arbeitsstrich" für die Tagelöhner stattfindet) am 8. Oktober 2010. Dort hatte es schon im September 2008 nach der Ermordung von sechs Afrikanern durch die Camorra eine wütende Demonstration gegeben. In den letzten Jahren wurden die Schlangen der Tagelöhner auch durch die Krise immer länger: Es kamen viele aus den Fabriken im Norden entlassene Arbeiter, die ihre Erfahrungen mit gewerkschaftlichen Mobilisierungen einbrachten. Die Revolten in Nordafrika zeigten schließlich, dass man durch Kämpfe Veränderungen durchsetzen kann: In Nardò gab es sowohl Tunesier, die erst seit wenigen Monaten in Italien waren, als auch Afrikaner von südlich der Sahara, die auf der Flucht vor dem Konflikt in Libyen waren.

Es waren also Leute, die die Migrations- und die Wirtschaftspolitik zunächst in ihren Herkunftsländern, dann in den verschiedenen Ländern, die sie passiert haben, und zu guter Letzt im fälschlicherweise "Aufnahmeland" genannten Italien an eigener Haut erfahren haben. Insbesondere Libyen war ein gutes Trainingscamp, denn viele hielten sich hier monatelang auf, bisweilen sogar mehrere Jahre; sie arbeiteten und versuchten, der Zwangsausweisung und den schlimmsten Formen der Diskriminierung zu entgehen. Mit ihrer Auswanderung hofften die afrikanischen Arbeiter, den Entwertungsprozessen zu entkommen, denen sie in den letzten 20 Jahren in ihren Herkunftsländern ausgesetzt waren. Aber sie haben schnell verstanden, dass die "Abstimmung mit den Füßen", also die Flucht aus dem Herkunftsland, nicht ausreicht.

Es stimmt, dass mangels glaubwürdiger politischer Konzepte für viele Tagelöhner der Hauptweg zur Verbesserung ihrer eigenen Bedingungen nicht der Kampf ist, sondern die individuelle Emanzipation aus der Landwirtschaft im Süden, d.h. das Finden einer besseren Beschäftigung in anderen Sektoren der Produktion oder in anderen Gegenden.

Die Forderungen streikenden Tagelöhner waren moderat: reguläre Arbeitsverträge, Vermittlung durch das örtliche Arbeitsamt statt durch die caporali, die Möglichkeit, Ausweispapiere mit sich zu führen, mehr Kontrollen durch die Institutionen, bessere Wohnbedingungen. Vor allem forderten sie, dass für einen Behälter gepflückter Tomaten 6 Euro statt 3,50 Euro bezahlt werden. Ihr Protest hat zumindest in der Anfangsphase nicht die Bezahlung nach Akkord infrage gestellt, die ihnen offensichtlich gelegen kommt: Weil sie kräftig sind, hoffen sie, einen Tageslohn zu erhalten, der über der Bezahlung im Stundenlohn liegt, den der gültige Tarifvertrag der Provinz vorsieht. In Wirklichkeit kommt der Akkord dem Arbeitgeber entgegen, der die Arbeitskosten für die Ernte sicher kalkulieren kann. Für den Arbeiter bedeutet er hingegen ein hohes Arbeitstempo sowie häufig eine Ausdehnung des Arbeitstages, aber sicher keine Erhöhung des Gesamtlohns. Die Forderung nach einer Erhöhung des Akkordsatzes stand im Widerspruch zur Forderung nach regulären Arbeitsverträgen, aber sie erwies sich als schwerlich akzeptabel für Betriebe, die versuchen müssen, "am Markt zu bleiben".

Besonders hart war der Widerstand der caporali (in Nardò vor allem Tunesier und Sudanesen): Die etwa 30 entschlossensten Tagelöhner haben sechs Tage lang ab drei Uhr morgens, ausgerüstet mit aufgeschichteten Steinen, Straßensperren rund um das Camp errichtet, um die Durchfahrt der Transporter zu verhindern. Sowohl in den Tagen des Streiks als auch danach gab es viele individuelle und kollektive Anzeigen gegen die caporali: "Ich habe als Erster Anzeige erstattet und einen caporale auf die Polizeiwache gebracht", erzählt Monchef, Tunesier. "Er hatte meine Papiere mitgenommen und sie acht Tage lang behalten, um mir angeblich einen Arbeitsvertrag zu geben. Den habe ich aber nicht bekommen. Und ich weiß, wenn es keine Lohnabrechnung gibt, gibt es keinen Vertrag. Und wenn ich nach der Lohnabrechnung frage, sagt er mir, dass die Arbeit beendet sei." Dieser Aspekt des Kampfes berührt einen zentralen Punkt; denn die caporali, vor allem die afrikanischen, versuchen oft, ihre eigene Rolle in der Ausbeutungskette zu verschleiern durch ein Geflecht von Verwandtschafts- oder Community-Beziehungen zu den Tagelöhnern, die häufig ihre Landsleute oder "Freunde" sind. Vielen Migranten ist die Figur des caporale verhasst: "Für den Transport bezahlt man drei Euro, aber dann auf den Feldern lassen sie dich auch noch für belegte Brötchen, Wasser oder Zigaretten zahlen", sagt Abdellah, Tunesier; aber der caporale kann eben Arbeit besorgen, und deshalb bleibt es eine komplizierte Sache, diese Bindungen zu durchbrechen.

Gerade das Handeln der caporali hat dazu beigetragen, nach der ersten Streikwoche einen Keil in die Streikfront zu treiben, während die Agrarbetriebe nicht öffentlich auftraten. Die caporali haben nicht nur die aktivsten Streikenden direkt und indirekt bedroht und zig Streikbrecher aus der Gegend von Foggia angeworben, sondern sie haben auch starken Druck auf ihre Landsleute ausgeübt, dass sie zur Arbeit zurückkehren und in verlassene Höfe auf den Feldern umziehen, um die Straßensperren rund um die Masseria zu umgehen: ein offenes Ohr fanden sie vor allem bei einigen Migranten, die keine Aufenthaltserlaubnis hatten, stärker erpressbar waren und sich von dem Streik weniger erhofften. Andererseits haben caporali auch einigen Arbeitern einen Vertrag gegeben, in einigen Fällen wurde sogar der Lohn pro Behälter erhöht -beides Streikforderungen der ersten Stunde. Betriebe und caporali, die letztlich weiterhin die Organisation der Arbeit bestimmten und bestimmen, fassten sich nach den ersten Tagen der Desorientierung wieder, aber sie haben auch kapiert, dass sich etwas verändert hat und sie sich zumindest dieses Jahr damit arrangieren müssen.

Nach mehr als einer Woche Streik begannen Schlichtungsgespräche, zuerst in der Präfektur in Lecce, dann in der Regionalverwaltung in Bari, die die Streikenden, die Vereine der Masseria Boncuri und die FLAI-CGIL - die als einzige Gewerkschaft den Streik von Beginn an unterstützt hat - und wichtige Vermittler wie zwei regionale Assessoren miteinbezogen; die Arbeitgebervereinigungen, sowohl die am Verhandlungstisch wie die Coldiretti als auch die nicht anwesenden wie die Cia haben schlicht geleugnet, dass ihre Vereinigungen für die irreguläre Ausbeutung verantwortlich seien, und stützten sich auf die caporali. Am Verhandlungstisch wurde ein Einvernehmensprotokoll unterzeichnet, das die versuchsweise Einrichtung von Einschreibelisten für die eingewanderten Saisonarbeiter beim Arbeitsamt von Nardò vorsah, aus denen die Unternehmer ihre Arbeitskräfte auswählen sollten, während die Gemeinde Nardò den kostenlosen Transport auf die Felder garantierte, soweit sie über diese Listen eingestellt würden. Das Ziel sowohl der Regionalverwaltung als auch der CGIL war die Ausarbeitung einer Vorlage, die man dann in anderen Ernteregionen wie der Capitanata (Umland von Foggia) in den nächsten Jahren anwenden könnte. Fast alle Tagelöhner aus der Masseria haben sich in die Listen eingetragen, aber nur ein paar Betriebe haben etwa 20 Arbeiter aus der Liste ausgewählt und regulär eingestellt. Mittlerweile war es August und die Tomatenernte in Nardò fast beendet.

Die institutionellen Verhandlungen haben jedoch die Aufmerksamkeit vom Streik "auf dem Feld" abgelenkt, der nach und nach schwächer wurde, wo doch die gewerkschaftliche Unterstützung einigen Gruppen von Tagelöhnern vielleicht unmittelbar eine Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen, Arbeitsverträge und reguläre Löhne ermöglicht hätte. Viele Tagelöhner haben, auch aus materieller Notwendigkeit, nach der ersten Streikwoche die Arbeit wieder aufgenommen, und an Ferragosto (15. August) war der Streik im Grunde beendet, auch wenn einige erklärten, bis Anfang September der Arbeit fernzubleiben, also über die offizielle Schließung des Camps von Boncuri hinaus. Wie es so ist, traten in den Tagen nach Streikende wieder Neid und Verdächtigungen in den Vordergrund, zum Teil kräftig geschürt von den caporali und ihren Lakaien im Camp - Dinge, die im Elan des Streiks weniger wichtig geworden waren. Gleichzeitig konnten die Protagonisten des Streiks ihre Mobilisierung in vielen Zusammenhängen vorstellen und für sie eintreten: in der "Nacht der Taranta" in Melpignano, in verschiedenen Versammlungen und im grand ghetto in Rignano.(5)

Das einzige konkrete Ergebnis für die kämpfenden Migranten war die Verabschiedung des Gesetzesdekrets am 12. August, das das caporalato zu einem Straftatbestand macht. Das ist ein wichtiger Schritt, derjedoch das aktuelle System in der Landwirtschaft nicht auflösen wird, aber wenigstens seine gewalttätigsten Formen mildern kann. Doch wir denken, dass es auch andere Ergebnisse gibt, auf die wir mittelfristig den Blick richten sollten: Migranten, die an harte Arbeit, niedrige Bezahlung und armselige Unterbringung gewöhnt sind, haben versucht, ihre Bedingungen verändern. Sie haben Kommunikationsebenen hergestellt, wie sie noch vor einigen Wochen undenkbar waren, und gezeigt, dass sie nicht nur "Arme"(6) sind, gerade gut genug für die Ernte.

Nach den Vorfällen in Rosarno im Januar 2010 bestätigt der Streik von Nardò, dass die ländlichen Gebiete Süditaliens von einem latenten Konflikt durchzogen sind, der sicherlich in einem anderen Erntegebiet von Neuem explodieren wird. Die Wirtschaftskrise, die sowohl auf den Migranten als auch auf den in Süditalien ansässigen ItalienerInnen lastet, trägt zur Zuspitzung dieser Konflikte bei. Mit dem Streik haben diese Tagelöhner den gesellschaftlichen Konsens aufgebrochen, dass den Einwanderern, insbesondere denen aus Afrika, die schlechtesten Arbeits- und Lebensbedingungen vorbehalten sind. Der Kampf scheint bewirkt zu haben, dass sie sich ihrer Macht stärker bewusst geworden sind: Wir werden sehen, welche Früchte dieses Bewusstsein in der nächsten Erntesaison tragen wird. Natürlich nicht nur für die afrikanischen Arbeiter.


Anmerkungen

(1) Auf www.wildcat-www.de/aktuell/a089_nardo.html haben wir den Streikverlauf im August fast tagesaktuell dokumentiert.

(2) Das "caporalato" ist ein süditalienisches, mafioses Ausbeutungssystem. Der caporale hat einen Kleintransporter und sucht frühmorgens auf den Dörfern Tagelöhner zusammen, die er dann auf die Felder oder auf illegale Baustellen transportiert. Dafür streicht er meistens zwischen 50 und 60 Prozent des Lohns ein. Häufig hat er vom Agrarbetrieb die Ernte gepachtet und arbeitet auf eigene Rechnung. Inzwischen sind viele caporali selbst Einwanderer.

(3) Das 2003 in Kraft getretene Gesetz hat die Situation der Einwanderer erheblich verschärft und gleichzeitig den Bedürfnissen des Marktes untergeordnet. Das Recht, in Italien zu wohnen, ist an ein Arbeitsverhältnis gebunden. Wer entlassen wird und innerhalb eines halben Jahres keine Arbeit findet, muss das Land verlassen - auch wenn man schon mehrere Jahre in Italien ist. Die Dauer der begrenzten Aufenthaltsgenehmigung beträgt ein Jahr. Nach zwei Jahren Saisonarbeit gibt es die Möglichkeit einer dreijährigen Genehmigung für Saisonarbeit (das Visum wird jedes Jahr neu erteilt). Die Unternehmer haben das Schicksal der Einwanderer in der Hand, die somit leicht erpressbar sind.

(4) Zu Rosarno gab es zwei Artikel in wildcat 86, Frühjahr 2010.

(5) Die "Nacht der Taranta" ist ein Konzert mit vielen SängerInnen, das jedes Jahr im Salento vor 100.000 ZuschauerInnen stattfindet (die taranta-tarantella ist auch eine Musikrichtung). Das grand ghetto ist ein Ort in der Nähe von Foggia, wo während der Tomatenernte über eine große Fläche verteilt einige tausend Einwanderer leben.

(6) Das italienische Wort "bracciante" für Tagelöhner kommt von "braccia", Arme.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Zeltstadt rund um das ehemalige Gehöft Boncuri, das die Gemeinde dem Verein Finis Terrae bis zum 31. August zur Verfügung gestellt hatte. Hier gab es Wasser und Strom.

Raute

Private Laster, öffentliche Tugenden

Von Paolo Giussani

Nur durch ein Mittel konnte die provisorische Regierung alle diese Ungelegenheiten beseitigen und den Staat aus seiner alten Bahn herausschleudern - durch die Erklärung des Staatsbankerotts. Man erinnert sich, wie Ledru-Rollin in der Nationalversammlung nachträglich die tugendhafte Entrüstung rezitierte, womit er diese Zumutung des Börsenjuden Fould, jetzigen französischen Finanzministers, von sich abwies. Fould hatte ihm den Apfel vom Baume der Erkenntnis gereicht.
Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850


Zwar wusste man es schon vorher, doch jetzt ist auch der letzte Zweifel verschwunden: Es gibt offenkundig auf der ganzen Welt keine Kraft mehr, die den Kapitalismus von seiner Flugbahn abbringen kann. Wie in einer Tragödie von Aischylos nimmt nun der unabwendbare Mechanismus der Selbstzerstörung seinen Lauf, und wie in einem neapolitanischen Theaterstück haben sich sogar Schauspieler gefunden, die bestens spezialisiert sind auf die grotesken Rollen, wie sie heute notwendig sind, da die Situation überaus tragisch, aber überhaupt nicht ernst(1) zu nennen ist, und die sich deshalb hervorragend für das zu erwartende tragikomische große Finale eignen.

Die gewaltige Krise 2007-2008 führte zum virtuellen Zusammenbruch des gesamten weltweiten Finanz- und Kreditsektors und ließ das Weltbruttosozialprodukt zunächst weitaus stärker schrumpfen als in der Großen Depression. Seine Wiederbelebung wurde schnell auf den Weg gebracht, indem man die privaten Schulden durch öffentliche Schulden ersetzte und die relativ hohen Defizite der öffentlichen Haushalte beibehielt - nicht nur, weil die Steuereinnahmen proportional zur Verringerung der Nationaleinkommen niedriger ausfielen, sondern auch, weil man versuchte, den drohenden Zusammenbruch der Gesamtnachfrage irgendwie aufzufangen.

Sowohl die Zentralbanken als auch die Regierungen haben beachtliche Anteile der Titel des darniederliegenden Finanzsektors übernommen praktisch alle, die in der Bilanz nun auf null stehen -, dem so wie durch ein Wunder neuer Lebenssaft eingeflößt wurde und der nun glauben macht, er sei rechtzeitig zurückgekehrt, um wieder in großem Stil in das Spekulationsgeschäft einzusteigen - als sei nichts geschehen. Das globale Finanzkapital ist im Handumdrehen von einer ausweglos scheinenden Zahlungsunfähigkeit zur Realisierung handfester Profite gelangt.

Die Vernichtung eines beachtlichen Teils seiner Liquidität, also der Zahlungsmittel, hat das normale Funktionieren des Finanzsektors und des Kredits gewaltsam zum Halten gebracht und die sogenannte Realakkumulation plötzlich gestoppt (siehe Grafik 1)(2). Die Wiederaufnahme der Spekulation in großem Stil mittels der eigenen Schattenbanken gebietet nun in gleicher Weise dem Fall des Bruttoinlandsprodukts Einhalt und scheint wieder zu neuem Wirtschaftswachstum zu führen.

Dass es sich hierbei um ein Trugbild handelt, sieht man jedoch schnell, wenn man das Bruttoinlandsprodukt um den Umsatz des Finanzsektors bereinigt, der zusammen mit anderen Posten zu Unrecht(3) hinzu gezählt wird, und die anfänglichen sogenannten Konjunkturprogramme abzieht. Dann haben wir nämlich, wohlwollend gesagt, ganz einfach eine Tendenz zur Stagnation der Produktion (siehe Grafik 2).

Gleichzeitig und dank des Bail-out des Finanzsektors konnte die Spekulation gegen die öffentliche Verschuldung nicht anders als im wahrsten Sinne des Wortes zu explodieren. Der Finanzsektor wurde praktisch an der Hand geführt, um gegen die öffentlichen Finanzen genau das Geldkapital einzusetzen, das der Staat ihm netterweise überlassen hat - ein Effekt, der genau vorherzusehen war. Die Erhöhung der Staatsschulden zur Rettung des Finanzkapitals - und des Kapitals im Allgemeinen - geschah unter Anwendung der eigenen Dogmen, die der Expansion des Finanzkapitals den Weg ebnen sollen. Man hat also zu einem Gutteil auf die Monetisierung der Staatsschulden verzichtet, also den sofortigen Aufkauf von neu ausgegebenen Staatsanleihen durch die Zentralbank, sondern auf dem Finanzmarkt Kredite aufgenommen. Mit dieser von der Politik der Regierungen und der Zentralbanken eingeleiteten Bewegung wurden unter den heutigen, vor allem in der Europäischen Union eingeführten, rigiden Einschränkungen praktisch zugunsten des spekulativen Kapitals die Voraussetzungen für die Wertpapierspekulation auf Baisse und die Ausnutzung der wachsenden Gefälle zwischen den Zinsraten der verschiedenen Staatsanleihen geschaffen. Dies führte zu dem unglaublichen Ergebnis, dass zum ersten Mal in der Geschichte des auf der nicht konvertiblen Zentralbankwährung basierenden Systems eine Situation nahe dem Bankrott geschaffen wurde. Eine wahrhaft bewundernswerte Performance, wenn man die lange und gewundene geschichtliche Entwicklung des Währungs- und Kreditsystems betrachtet, die seinerzeit in die Nationalisierung des Geldes mündete, um eben einen Staatsbankrott theoretisch unmöglich und den Kredit bis ins Unendliche ausdehnbar zu machen.

Der Euro

Verschärft wurde dieser Verlauf durch die eigentümliche Natur des Euro. Der Theorie nach ist der Euro genau wie der Dollar, das (wenig) respektable Pfund oder der Yen nicht konvertierbares Kreditgeld, das von einer Zentralbank emittiert wird - nur dass es die mit dieser Aufgabe befasste Bank nicht gibt oder besser gesagt: Sie ist keine Zentralbank, sondern eine Bank, die das Monopol auf die Emission hält, ohne jedoch eine Zentralbank zu sein, aber dennoch diesen Status genießt. Wer den Standpunkt vertritt, dass die moderne Zentralbank trotzdem eine Bank sei, wenn auch besonderer Art, liegt daneben; die moderne Zentralbank ist nur eine als Bank getarnte besondere Regierungsabteilung, die mittels ihres Emissionsmonopols für Geld agiert, das ein Hybrid aus Kredit und Zwangskurs darstellt. Sie kann nicht in Konkurs gehen, weil sie keine wirkliche Bilanz vorlegen muss und es kein Mittel gibt, wie sie zahlungsunfähig werden könnte. Wenn eine Pseudobank dieser Art sich von der Regierung unabhängig macht und autonom wird, dabei aber weiterhin die Macht des Emissionsmonopols der nicht konvertierbaren Währung aufrechterhält, wird sie deshalb nicht schon zu einer Bank - wie es eine Zentralbank alten Stils war, zum Beispiel die von Marx im dritten Band des Kapital diskutierte Bank of England, sondern zu einem Moloch, der alles Mögliche zerstören kann, seinerseits aber selbst von nichts zerstört werden kann.

Genau solch einen Hintergrund brauchte der Euro; denn er sollte ja weniger eine europäische Devise werden, sondern eine im Wesentlichen spekulative Devise, deren eigene Stärke sie tendenziell gegenüber ihren Rivalen (hauptsächlich dem Dollar) aufwerten würde, um wachsende Geldkapitalflüsse in die Europäische Union zu lenken. Dahinter stand die Idee, eine europäische Wall Street auf die Beine zu stellen in enger Konkurrenz zu New York, um die größtmöglichen Vorteile aus dem weltweiten spekulativen Boom zu ziehen.

Damit ein solcher Coup gelingen kann, ist es unbedingt notwendig, die Finanzierung der Staatsschulden mittels Aufkaufen neuer Staatsanleihen durch die Zentralbank mit einem Bann zu belegen, damit die Inflationsrate praktisch bei null und die Kreditzinsen unterhalb denen des Feindes bleiben, was die Kreditaufnahme insbesondere für das Finanzkapital so günstig wie möglich macht. Aber nicht einmal das hat funktioniert, es ist sogar genau das Gegenteil eingetreten, weil jede Aufwertung des Euro gegenüber dem Dollar und den anderen Währungen, anstatt größere Kapitalflüsse nach Frankfurt zu lenken, sie immer mehr ins Ausland getrieben hat, bis hin zum spekulativen Einsatz in der Wallstreet und Umgebung, und dies paradoxerweise genau wegen der erhöhten Kaufkraft des Euro gegenüber der amerikanischen Währung und ihrem Finanzmarkt.

Was nun folgte, stand von vornherein fest und war deshalb nicht einmal einer Überprüfung wert: Nach der Verschlimmerung der öffentlichen Verschuldung und wachsenden Zinsunterschieden für nationale Staatsanleihen hat das weltweite spekulative Kapital stark gegen den Nominalwert der europäischen Staatsschulden gewettet. Die EZB hat daraufhin völlig im Einklang mit ihrer Mission als Agent des europäischen spekulativen Kapitals (das es eigentlich nicht gibt, sondern das nur ein Anhängsel des amerikanischen ist) automatisch fast alle europäischen Regierungen erpresst, um ihnen das zu gewähren, was eine Zentralbank normalerweise tut, ohne überhaupt auf deren Anfrage zu warten: [nämlich die Finanzierung der Staaten sicherzustellen und in diesem Fall Staatsableihen aufzukaufen], und die Regierungen haben die Erpressung bekanntermaßen vervielfacht und dann an ihre eigene Bevölkerung weitergegeben.

Die Politik der Regierungen ist in der ganzen Welt gleich, aber besonders hirnrissig ist die jüngste Politik der deutschen Regierung und ihr nachgeordnet der französischen. Die deutschen und französischen Banken halten einen sehr hohen Bestand an Staatsanleihen der europäischen Staaten, die nicht in der Lage sind, sie allein aus Steuermitteln zurückzuzahlen, weil sich durch die Krise das Verhältnis von Staatsverschuldung und Bruttoinlandsprodukt verschlechtert hat. Wenn die Rückzahlung der Staatsanleihen nicht mehr geleistet werden kann, müssten ein oder mehrere Staaten ihre Zahlungsunfähigkeit erklären. Schlimmer aber würde es für die Banken enden, denn sie müssten bankrott gehen, was wegen der alle verbindenden Kreditkette die Bankrotte der Banken und des ganzen Rests auslösen würde. Offensichtlich haben klandestine Kerne gewiefter Kryptobolschewisten in einer geheimen Aktion die EZB und die beiden oben genannten Regierungen unterwandert; denn diese bringen ausgerechnet jetzt alle in ihrem Besitz befindlichen Mittel in Anschlag, damit sich die Verschuldung der europäischen Staaten im Übermaß erhöht (siehe Griechenland), die Zinsraten steigen, die Regierungen die Zahlungsunfähigkeit erklären, der Euro auseinanderfliegt und mit ihm der Weltfinanzsektor (zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit: nicht schlecht). Und Deutschland, das sein aktuelles Überleben auf Dumping und Stundenlöhne von 4,80 Euro stützt, ermöglicht durch den phantastischen Mix aus Wiedervereinigung, Auslagerung und Einheitswährung, schmeißt die Brocken hin und findet sich wieder mit der D-Mark bei einem Wechselkurs weit oberhalb des Normalkurses des Euro. Öffentlich spielen die deutsche und die französische Regierung gegenüber den stärker verschuldeten Ländern die Harten wie aus dem amerikanischen Kino - schließlich sind nächstes Jahr Wahlen -, während sie dem spekulativen Kapital gegenüber willfährig sind und in seiner Gesellschaft wie in einem Zug, der den Lokführer verloren hat, die zweite Etappe des Desasters zurücklegen.

Defizit und Ökonomie

Die Konsequenzen der fiskalischen Manöver, die die Defizite der Staatshaushalte beeinflussen, sind keineswegs banal - die offenkundige wachsende Verschlechterung der Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerungen einmal beiseitegelassen. Die akute Phase der Krise gilt den keynesianischen und postkeynesianischen Ökonomen als Gelegenheit, sich nach vielen Jahren der Verbannung in die Besenkammer sichtbar in den Vordergrund zu drängen und das Ende des "Neoliberal Capitalism" und die Rückkehr zum ersehnten "Big Government" zu proklamieren. Praktisch alle Mitglieder der keynesianischen Partei, die nunmehr den großen Tag ihres Gegenangriffs kommen sieht, haben sich sofort beeilt, urbi et orbi das eigene Rezept vorzulegen, wie man den Kapitalismus wieder zum Laufen bringt. Im keynesianischen Lager gibt es viele Abteilungen, Fraktionen, Nuancen und so weiter, aber beim Ausbruch der Katastrophe waren nunmehr alle davon überzeugt, dass schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme das politisch beste Mittel seien, um die Krise zu überwinden und die Bedingungen für ein stabiles Wachstum des Nationaleinkommens neu zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Das Ergebnis ist, dass nach fast vier Jahren Krise das deficit spending als Mittel der offiziellen Politik nicht nur wieder ausgedient hat, sondern sogar per Gesetz geächtet werden soll wie Diebstahl oder Drogenhandel.

Die Erhöhung des Haushaltsdefizits mittels wachsender öffentlicher Ausgaben hat im Widerspruch zum keynesianischen Dogma keine wirklich antizyklische Funktion, sondern ersetzt nur den Tod des Patienten durch eine Agonie ohne Ende, indem sie über die akute Krise die Stagnation legt. Die Politik des verlängerten Defizits verhindert nicht nur die Beseitigung der Überakkumulation, sondern hemmt die Wachstumsmöglichkeiten, weil sie tendenziell die Kapitalakkumulation durch unproduktiven Konsum ersetzt - es sei denn, der Staat dringt weiter vor und ersetzt komplett die Privatkapitalisten und ihre Funktionen, was natürlich nichts zu tun hat mit dem Staatshaushalt und Fiskalpolitik. Das unverändert zitierte zentrale keynesianische Dogma lautet, dass "Konjunkturprogramme nicht abgebrochen werden dürfen, bevor die Ökonomie nicht in der Lage ist, von selbst ein Einkommensniveau zu generieren, das ausreicht, um alle produktiven Ressourcen zu beschäftigen und in der Folge mehr oder weniger automatisch die zusätzlich geschaffene öffentliche Verschuldung abbauen": Aber niemand ist in der Lage aufzuzeigen, wie und wann dies geschehen könnte. In Wirklichkeit hat sich noch nie eine Krise dank des Impulses des deficit spending in ihr eigenes Gegenteil verwandelt; solange die defizitäre Ausgabenpolitik fortgesetzt wird, treibt die Ökonomie an der Grenze zur Stagnation dahin, ohne zu nachhaltiger Akkumulation und Wachstum zurückzukehren, und die Krise setzt unvermeidlich ihr zerstörerisches Werk fort. Kaum sind die Konjunkturprogramme beendet, kehrt die Ökonomie wieder zum kritischen Zustand zurück - es sei denn, andere, vom deficit spending unabhängige Mechanismen funktionieren wieder.

Akkumulation

Es gibt Leute, die denken,(4) der gegenwärtige Kapitalismus habe sich nie von den Krisen der 70er und 80er Jahre erholt, deren Ursache die während der gesamten Nachkriegszeit sinkende Profitrate gewesen sei, und dass die aktuelle Krise nur die deren Weiterführung in anderer Form sei. Das größte Hindernis für das Wiederaufblühen der Akkumulation und eine neuen Phase analog zum Nachkriegsboom sei die antizyklische keynesianische Politik. Diese hätten die Regierungen entgegen ihrer Propaganda immer in kritischen Situationen angewandt und so die Zerstörung des überakkumulierten Kapitals blockiert. So könne aber die Profitrate nicht steigen, was aber die unverzichtbare Voraussetzung für einen Anstieg der Investitionen im Verhältnis zum Nationaleinkommen und damit für einen andauernden Boom sei.

Dies mag alles stimmen, aber es hat wenig Bedeutung. Schließlich kann niemand sagen, ab welcher Höhe der Profitrate die Akkumulation voranschreiten kann und unterhalb welcher sie anhalten muss. Zu behaupten, die Profitrate sei zu hoch oder zu niedrig, ist ein Satz ohne genauen Inhalt.(5) Aber nicht nur das. Tatsächlich reicht eine fallende Profitrate nicht aus, um die Akkumulation zum Stillstand zu bringen - dann hätte es nie eine Akkumulation gegeben. Eine steigende Profitrate führt nur dann zu einem neuen Boom von produktiver Akkumulation und Entwicklung, wenn sie verbunden ist mit einem Mechanismus, der dem einzelnen Kapitalisten keinen anderen Ausweg mehr lässt als die Bildung von neuem Kapital und die Erhöhung der Produktion. Die Vorstellung, die Akkumulationsrate sei eine direkte Funktion der Profitrate,(6) ist nicht ganz falsch, aber verkürzt; denn die Konversion der Profitrate in die Akkumulationsrate ist vermittelt durch den Druck der Konkurrenz zwischen den Einzelkapitalen. Ohne Konkurrenz, die in Richtung Bildung von neuem fixem Kapital drängt, kann das akkumulierte Geldkapital irgendwo angelegt werden - das konnten wir gut in der gerade vergangenen Phase spekulativer Expansion beobachten, in der der Konkurrenzmechanismus die Kapitale von der Akkumulation abgebracht und in die Pseudo-Finanzzirkulation gelenkt hat.

Schon gar nicht besteht die Alternative zwischen unproduktivem Konsum und Investitionen. Das denken zwar viele Antikeynesianer - zum Beispiel jenes Schurkenpack, das sich im Eurotower in Frankfurt eingenistet hat, - doch diese Möglichkeit gab es noch nie, das wird nur als ideologische Propagandawaffe eingesetzt gegen eine Intervention des Staates in die Wirtschaft, die dem spekulativen Kapital Sauerstoff entzieht. Den westlichen Kapitalismus unserer Zeit quält vielmehr die Alternative zwischen Stagnation und spekulativem Boom. Dabei handelt es sich aber weniger um eine Alternative als um den Übergang von einer Phase zur anderen; und die Krise 2007-2008 hat sich zur Aufgabe gemacht, auch die Voraussetzungen für diesen möglichen zyklischen Ablauf zu beseitigen [nämlich: relativ schwaches Wachstum, beherrscht von Spekulation; auf Boom-Phasen folgen Phasen der Stagnation; die Möglichkeit, die Verschuldung im Verhältnis zum Nationaleinkommen stark auszuweiten]. Man hat den Finanz- und Kreditsektor wie Lazarus von den Toten auferweckt und damit nur die Tendenzen reproduziert, die schon vor der Krise wirksam waren, aber dies auf einer sehr viel schwächeren Basis. Eine ernsthafte Krise muss zwingend die Verschuldung beseitigen, eine gewaltige Menge an Kapital in Konkurs gehen lassen, den gesamten Buchwert reduzieren, proportional die Profitrate erhöhen und am Ende mehr oder weniger automatisch die überlebenden Kapitale dazu bringen, die Akkumulation wieder aufzunehmen. Nichts von alldem ist geschehen oder geschieht. Der gigantische amerikanische und weltweite Bail-out hat den äußert raschen Wiederaufschwung der spekulativen Zirkulation herbeigeführt, mit der der Finanzsektor und die Banken ihre eigenen Profite erhöht haben. Dank des Indien Summer der Konjunkturprogramme hat auch der Nicht-Finanzsektor einen bemerkenswerten Schub erhalten, um einerseits die eigenen Profite in großen Massen in kurzfristigen Wertpapieren zu thesaurieren und andererseits den Weg der Verschuldung einzuschlagen, was er im Unterschied zum Finanzsektor und zu den Privathaushalten im Verlauf des langen spekulativen Booms bisher eher vermieden hatte.

Die Gesamtverschuldung ist nicht gefallen, sie ist nur aufgehalten worden und steigt nun langsam wieder an. Diesmal rücken die Derivate direkt ins Rampenlicht, die nun weltweit beim Fall der Aktienkurse führend sind und demnächst verschiedene amerikanische und nicht-amerikanische Finanzfirmen [Investmentfonds, Versicherungen, Broker usw.] und Banken, die too big to fail sind, in die Zahlungsunfähigkeit stürzen werden. Der erste Crash wurde durch die suprimes ausgelöst, für den zweiten stehen schon einige Kandidaten bereit: Kreditkarten, Studentenkredite, Kredite für Ladengeschäfte, Kredite für Arztkosten und, wie schon erwähnt, eine ganze Reihe von großen Finanz- und Bankinstituten.(7) Und was tun die Regierungen der westlichen Welt in Erwartung der nächsten Offensive des Generals Verschuldung gegen das Kapital? Sie entmachten sich selbst und entledigen sich des einzigen Mittels, das ihnen zur Verfügung steht, um eine Ausweitung der Krise in eine akute allgemeine Depression zu vermeiden; aber vielleicht haben sie gute Gründe: Ein Ende mit Schrecken ist sicher besser als ein Schrecken ohne Ende.

September 2011


Das italienische Original Vizi privati, pubbliche virtù kann auf www.wildcat-www.de nachgelesen werden. Für die deutsche Übersetzung wurde der Text leicht gekürzt.

Anmerkungen

(1) Die Show des Monsterpärchens Merkel & Sarkozy, die sich als Hauslehrer der Europäischen Union aufspielen, kann man als Stück aus einer Film-Anthologie des Absurden betrachten, besser als The Naked Gun.

(2) In Wirklichkeit sind die Dinge etwas komplizierter gelaufen. Wie man in Grafik 1 sieht, war die Liquidität des amerikanischen Nicht-Finanzsektors bereits seit dem ersten Quartal 2006 absolut zurückgegangen, also vorder Krise. Genauer gesagt lieferte die Verlangsamung der Aktivität des Nicht-Finanzsektors (die sogenannte Realwirtschaft) der US-Wirtschaft den Zünder für die Explosion der Suprime-Kredite, die dann im gesamten Finanzwesen Blüten trieb. Die Krise hat ihrerseits den Liquiditätsverlust beschleunigt, bis Anfang 2009 die Intervention von Onkel Sam die Umkehrung der Bewegung veranlasst hat. Die Quellen von Grafik 1 sind Flow of Funds, erarbeitet von der Federal Reserve (www.federalreserve.gov/releases/z1/current/) für die Liquidität des Nicht-Finanzsektors und die NIPA des Bureau of Economic Analysis (www.bea.org) für die Änderungsrate der realen Wertschöpfung des Nicht-Finanzsektors.

(3) Vg. D. Basu and D. Foley, Dynamics of Output and Employment in die U.S. Economy (2011), SCEPA Working Paper 2011-4, New York, nachzulesen unter:
www.economicpolicyresearch.org/working-papers/287-dynanics-of-output- and-employnent-in-the-us-exonony.html

(4) Siehe z.B. A. Kliman, The Persistent Fall in Profitability Underlying the Current Crisis: New Temporalist Evidence. (2010). Marxist-Humanist Initiative, New York. Eine Vorversion ist verfügbar unter
http.//akliman.squarespace.com/storage/Persistent%/20Fall%20whole%20primo%2010.17.09.pdf

(5) Im dritten Band des Kapital wird tatsächlich eine Theorie entwickelt, die das Anhalten der Akkumulation als Effekt einer lang anhaltenden Verringerung der Profitrate ansieht (siehe den dritten Abschnitt des XV. Kapitels des zweiten Bandes des Kapital und die Schrift von Henryk Grossman, The Theory of Economic Crisis [1919], nachzulesen unter
http://www.marxists.org/archie/grossman/1922/crises/index.htm), die die fallende Tendenz der Profitrate quantitativ nachweisen will. Die anhaltende Verringerung der Profitrate muss an einem bestimmten Punkt auch zu einem Fall in der absoluten Masse an realisiertem Profit führen und deshalb von diesem Punkt an die Kompensation der Verringerung der Profitrate mittels des Anwachsens seiner Masse unmöglich machen. Erst an diesem Punkt kann man behaupten, dass das Kapital überakkumuliert sei, weil der Fall der Masse an erzielbarem Profit eine Entwertung des akkumulierten Kapitals mit sich bringe und dieser Umstand die Fortführung der Investitionen irrational mache.

Abgesehen davon, dass eine derartige Theorie in der Praxis von niemandem akzeptiert wird, der vorgibt, die Krise mittels Bewegungen der allgemeinen Profitrate zu erklären, kann man die ausgeführte Überlegung nur auf Krisen anwenden, die auf einen langen Zeitraum folgen. aber sicher nicht auf kurze Zyklen, auch wenn beide Arten der Bewegung sich sicherlich überschneiden und beeinflussen - und dieser Umstand ist sicherlich sehr wichtig. Bisher ist das Maximum an theoretischer Aussage, zu dem die Vertreter dieser Theorie gelangen: "weil die Profitrate sinkt, muss die Krise kommen".

(6) Zum Beispiel eine mehr oder weniger konstante Proportionale der Profitrate.

(7) Siehe R. Wray, Lessons We Should Have Learned from the Global Financial Crisis but Didn't (2011), Levy Economics Institute of Bard College, Working Paper n. 681. http://levyinstitute.org/tiles/downlosd.php?file=wp_681.pdf&pubid=1402

Grafiken der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht:
- US-Nicht-Finanzsektor Liquidität Wertschäpfungsrate 1. Quartal 2000 - 1. Quartal 2011
- Bruttoinlandsprodukt der USA: Prozentuale Veränderung und Verhältnis Defizit/BlP 1. Quartal 2005-2. Quartal 2011

Raute

Eurokrise, Eurobonds, Kampf um die Schulden ein Beitrag zur Debatte

Von Raffaele Sciortino

Die Krankheit breitet sieh aus. Mit der Seelenruhe eines Menschen, der sich selbst aus irgendwelchen Gründen für immun hielt, hat man in kurzer Zeit die Defacto-Pleite Griechenlands, die drohende Zahlungsunfähigkeit mittlerer Länder wie Spanien und Italien, die Zweifel in bezug auf die französischen Banken und schließlich in den letzten Tagen die beginnende Panik an den Börsen erlebt. Aber mit der Infektion und den damit verbundenen Maßnahmen hat auch die Diskussion über Schulden und Zahlungsausfälle begonnen, und zwar nicht nur unter "Experten". Während von oben die immer gleichen Rezepte vorgelegt werden, um die Krise bei der Wurzel zu packen, beginnt man von unten nicht nur nach den sozialen Kosten der Schuldenwirtschaft zu fragen, sondern auch danach, wie sie erzeugt wurde, wer davon profitiert, wo dies hinführt - und hier wie dort erblühen Zweifel daran, ob es richtig ist, diese Schulden zu bezahlen, oder ob dies nicht letztlich bedeutet, das Übel zu nähren statt es zu heilen, wenn man die Kosten trägt. Anders als vor einem Jahr scheinen heute sowohl der Euro als auch die Europäische Union ernsthaft gefährdet.

Im Folgenden ein paar Hypothesen, um den Blick dafür zu schärfen, wo es zu einem Kampf um die Schulden kommen könnte, nicht allgemeiner Art, sondern innerhalb der vielfältigen Fluchtlinien und Zusammenstöße des aktuellen Krisenverlaufs, und als Widerstand, der womöglich auch eine Perspektive einer Neukonstitution von unten enthält.

1. Das Epizentrum der globalen Krise sind noch immer die USA. Die unglaublichen Finanzspritzen durch die Federal Reserve in der letzten Jahren , zuletzt durch das sogenannte Quantitative Easing 2, haben zwar so weit einen erneuten großen Zusammenbruch der Börse sowie Kettenkonkurse im Bankensystem der Staaten verhindert, das voller fauler Kredite ist. Sie konnten jedoch keinen Aufschwung der Produktion generieren und schon gar nicht des Konsums. Das Spiel, das Bush nach dem Platzen der Dot-com-Blase und auf der Welle des 11. September noch gelungen war, will bei Obama nicht funktionieren. Der Punkt ist, dass es trotz Entschuldung seit der Lehmann-Pleite noch zu viele Schulden gibt und zwar auf allen Ebenen: öffentlich (auf Bundes-, Staats- und kommunaler Ebene) wie privat (Unternehmen und Familien). Mit solch hohen und weit verbreiteten Schulden wird es keinen Aufschwung geben, aber ohne die monetären Stimuli, Zinssätze unter null und folglich höhere Auslandsverschuldung wären die Probleme noch viel größer: Das ist die ausweglose Situation, die die Federal Reserve nur immer weiter verschiebt. Die Obama-Administration steht möglicherweise vor einer zweiten Rezession, dem gefürchteten double dip, zumindest aber einer Stagnation, während die Munition zu ihrer Bekämpfung größtenteils verschossen ist. Das innenpolitische Klima wendet sich derweil zum Schlechteren, wie sich am Streit um die Erhöhung der Schuldenobergrenze des Bundes und der entschlossenen Wende Obamas hin zur Politik der Kürzung von Sozialausgaben zeigt.

2. Die genannten Rahmenbedingungen bilden die unmittelbare Vorgeschichte zur Staatsschuldenkrise in Europa, die sich momentan zuspitzt. Sie hat einen wichtigen geopolitischen Aspekt.

2.1 Beginnen wir mit Letzterem. In Libyen hat Washington derzeit zwei wichtige Ergebnisse erzielt. Zum einen haben die USA gekonnt die Möglichkeiten des arabischen Frühlings genutzt, um den regime change "diktatorischer" Regimes (natürlich nur der unbequemen) zu beschleunigen, und dabei eine Radikalisierung der Welle von Revolten blockiert, die es verstanden haben, ihre Despoten von unten und ohne doppeldeutige "humanitäre Hilfe" zu stürzen. Zum anderen wurde China und Russland eine schallende Ohrfeige verabreicht und Europa gespalten, indem die USA entschieden in dessen wichtigsten energiepolitischen Einflussbereich eingedrungen sind. Obama hat dem Pfau Sarkozy die Show in der Rolle des nützlichen Idioten überlassen - die Strategie des leading from behind - und erneut bekräftigt, dass die USA auf militärischer Ebene keine Rivalen haben und darum der einzig mögliche Garant globaler "Ordnung" sind. Hat all dies womöglich etwas mit der Aufteilung der Kosten der Schuldenökonomie zu tun?

2.2 Erst mit der Staatsschuldenkrise der Nationen in der Euro-Peripherie und der Gefahr des Kurzschlusses mit den Bilanzen der europäischen Banken wird offensichtlich, dass es sich um eine Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen handelt, der auf den Finanzmärkten stattfindet und gleichzeitig durch sie vermittelt. Die Defizite der USA, Großbritanniens, von Japan ganz zu schweigen, sind nicht nur wesentlich höher als durchschnittlich in der EU oder gar in ihren Kernländern. Es wird immer deutlicher und es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Initiative dabei von den großen angelsächsischen Spekulations- und Geldfonds ausgeht, die begonnen haben, heftig gegen den Euro zu wetten - unter Mithilfe der US-Behörden. Nicht nur gegen das europäische Bankensystem, sondern vor allem gegen die deutsche Regierung wird Druck aufgebaut. Eine bezeichnende Mahnung, explizit wie nie zuvor, kam von Lawrence Summers, der im Juli von Europa einen "entschiedenen Richtungswechsel" verlangt hat, auch auf das Risiko hin, Europa die Bedingungen diktieren zu müssen. Von Berlin speziell verlangte er, mit den eigenen Ressourcen für neue Schuldtitel der gefährdeten Länder zu bürgen. Kein Geringerer als George Soros forderte Deutschland auf, den Euro vor den Finanzmärkten (!) zu verteidigen, den europäischen Schutzschirm (EFSF) zu erhöhen und sich perspektivisch mit Eurobonds abzufinden (darauf kommen wir später zurück). Zuletzt hatte US-Finanzminister Geithner ins gleiche Horn gestoßen, als er sich selbst zum ECOFIN-Gipfel Mitte September in Polen einlud, wo er eine trockene Zurechtweisung des deutschen Finanzministers einstecken musste.

3. Spannungen also, wenn nicht gar offene Konflikte auf Finanzebene, Divergenzen in der Außenpolitik, hauptsächlich zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland. Worum geht es dabei? Für Washington geht es erstmal darum, "ungeordnete" Zahlungsausfälle mit realen Verlusten für die Finanzfonds zu verhindern - diese konnten zwar bisher noch immer auf Rettungsaktionen durch die öffentliche Hand zählen, nun stehen aber auch sie vor möglichen Kettenreaktionen mit Auswirkungen auf das ganze System. Nun muss auch der deutsche Staatshaushalt die Zeche zahlen, oder besser: die "Steuerzahler" und Empfänger von Sozialleistungen (zusätzlich, versteht sich, zu den dramatischen Verschlechterungen der Lebensbedingungen in der europäischen Peripherie, so weit sind sich Washington und Berlin einig). Dies würde in Kürze die Fähigkeit des "deutschen Blocks", auf den Märkten Kapital zu beschaffen, verschlechtern und die Möglichkeit der Finanzzentren, erpresserischen Druck auszuüben, vergrößern. Somit wären die US-Staatsanleihen für den verunsicherten globalen Anleger weiterhin der "sichere Hafen", der finanzielle Ressourcen zu (beinahe) negativen Zinssätzen sammeln kann und damit ein darniederliegendes Bankwesen am Leben erhält, während der Euro als Reserve- oder gar alternative Weltwährung zumindest in seiner Konkurrenz zum Dollar bedeutend geschwächt wird. Dies untergräbt vor allem perspektivisch deutsche (und europäische?) Bestrebungen hin zu einer Wirtschaftspolitik, die unabhängiger vom atlantischen Partner und mehr auf Russland und China ausgerichtet ist. China selbst würde dabei an Verhandlungsmacht gegenüber den USA einbüßen, und sein (bislang) schüchterner Versuch, den double bind an den US-Markt durch Diversifizierung aufzuheben, würde zurückgeschlagen. Das gilt aber nur für den Fall, dass die EU und der Euro überleben. Wenn aber die Infektion Italiens, das einen zu großen Brocken darstellt, um für eine Rettung in Frage zu kommen, oder ein anderer Vorfall in der Eurozone zu einem allgemeinen Chaos führen würde, wären der Euro und Europa definitiv aus dem Spiel und Washington könnte Peking mit drastischeren Maßnahmen drohen oder diese sogar ergreifen (eine Monetisierung der Schulden à la Nixon?) und/oder eine Art Schocktherapie in Gang setzen und die Kosten der Krise auf die anderen abwälzen, indem es die Vorzüge der Rolle des "Systemgaranten" ausnutzt.

4. Hier soll kein neues Great Game heraufbeschworen werden zwischen anglophilen, antideutschen imperialistischen Mächten einerseits und antiamerikanischen, eurasiatischen Sympathien andererseits, oder auch in einer anderen Konstellation. Die Frage stellt sich politisch wie theoretisch vollkommen anders. Dies hängt mit der Natur der Krise und ihrem möglichen Ablauf zusammen.

4.1 Die wiederholten Börsenabstürze und die sich dieser Tage häufenden schlechten Nachrichten aus der Produktion zeigen eines sehr deutlich: Nach drei Jahren Rettungsaktionen, die die Staatshaushalte in nicht für möglich gehaltenem Maße belastet haben, ohne die Probleme der Privathaushalte lösen zu können, rückt rasant und unausweichlich der Moment näher, an dem deutlich wird, dass ein Schuldenschnitt unumgänglich ist. Für die globale Bourgeoisie ist es unvermeidbar, die Kapitalbestandteile, die sich als "fiktiv" erwiesen haben (nicht nur die "spekulativen", sondern auch die der Unternehmen) zu entwerten; denn ohne entsprechende Basiswerte, die die Verwertung garantieren, reduzieren sich die Profitaussichten auf ein Minimum. Nur wenn diese Entwertung von Kapitalen mit jener kolossalen Entwertung der Arbeit und der sozialen Kooperation verbunden wird, die in den jetzigen Austeritätsplänen enthalten ist, wird es vielleicht möglich sein, die Maschine des Profits oder besser des "Wachstums" wieder anzuwerfen. Und hier liegen die beiden großen Probleme. Es wird nicht mehr möglich sein, das Absinken der Löhne durch einen Konsum auf Pump (oder auch nur die Hoffnung auf Konsum) zu kompensieren: Werden die oberen Etagen und die politische Klasse mit den sozialen Konsequenzen umzugehen wissen?

Vor allem aber stellt sich die Frage, wer gezwungen sein wird, mehr Kapital zu verbrennen, nicht einklagbare Kredite abzuschreiben, Teile des eigenen Bankensystems zu verlieren, damit auf die Abschöpfung des globalen Wertflusses zu verzichten, die Ersparnisse der eigenen Bevölkerung anderen zur Verfügung zu stellen und so fort.

4.2 Mit all dem wird aber kaum das Grundproblem der kapitalistischen Entwicklung gelöst werden, das diese Krise offengelegt hat: Ist "Wachstum" ohne "exzessive" Schuldenausweitung möglich oder ist das System nicht vielmehr an einem point of no return angelangt, also an einer Grenze, die einerseits die extremen Schwierigkeiten der Bourgeoisie aufzeigt, von der Finanzorgie zu produktiven Investitionen zurückzukehren, andererseits den Widerstand der arbeitenden Klassen gegen eine Absenkung des globalen Lohns unter die "moralische" Schwelle.

5. Deutschland befindet sich also im Zentrum des Zyklons, noch bevor es voraussichtlich von einer erneuten Rezession überrollt werden wird. Die Eurokrise gefährdet seine Fähigkeit, sieh zum Mittelpunkt der Industrieproduktion und des freien europäischen Warenverkehrs zu machen, sie verstärkt die Zentrifugalkräfte (siehe Libyen!), aber auch die Unzufriedenheiten innerhalb in der EU. Deutschland ist dem Druck der internationalen Finanz ausgesetzt, für die die auf dem Kontinent starken europäischen Banken noch immer eher Statisten als Protagonisten sind. Berlin befindet sich zwischen dem Amboss eines industriellen Apparats ohnegleichen, der jedoch stark von äußeren Absatzmärkten abhängig ist, und dem Hämmerchen einer scheiternden Finanzialisierung europäischer Art. Die Einheitswährung und die Niedrigzinspolitik der EZB mit dem damit einhergehenden leichten Zugang zu Krediten für die Länder der Peripherie - genau das, was heute den "Verschwendern" vorgehalten wird - erschienen als Quadratur des Kreises zum Vorteil der deutschen Exporte, durch die dieser Kreis geschlossen wurde (wer von deutschem Neomerkantilismus spricht und dabei bloß auf die Handelsströme blickt, täuscht sich also). Aber die dabei entstandenen Spekulationsblasen platzen nun eine nach der anderen und reißen das überschuldete mitteleuropäische Bankensystem mit, das sich möglicherweise mit dem brennenden Streichholz in der Hand wiederfindet.

5.1 Diese Widersprüche fließen in die strategischen Optionen ein, die in der Diskussion sind. Berlin verfolgt natürlich strikt die eigenen Interessen - vor allem die Rettung der eigenen Banken durch die extrem harten "Rettungen" Griechenlands, Portugals usw. - weiß aber auch, dass es mit einem Zusammenbruch des Euro alles verlieren würde. Die der deutschen Regierung von Summers, Geithner und Soros vorgeschlagene Alternative, sich zum bedingungslosen Garanten der europäischen Staatsschulden zu machen, würde zwar formal das vereinigte Europa aufrechterhalten, es faktisch aber der internationalen und US-Finanz unterwerfen, mit der ernsthaften Gefahr, wie Japan zu enden. Deshalb wird mit halben Maßnahmen vorgegangen und das kleinere Übel gesucht - was auch nicht leicht ist: die EU in zwei Teile aufspalten und den Euro behalten? Den Euro aufgeben? Griechenland aus der EU werfen oder ihm weiterhin tröpfchenweise "Hilfen" (!) zukommen lassen, um zu verhindern, dass sein Bankrott eine auch politisch gefährliche Kettenreaktion auslöst?

5.2 Sicher ist, dass der auf die Schulden-Kredit-Kreisläufe gegründete Pakt zwischen den "Tugendhaften" der EU und den Bourgeoisien der Peripherie an seiner ökonomischen Basis zusammenbricht. Das europäische Konstrukt aufrechtzuerhalten würde aus Sicht der Eliten dessen Neuformulierung voraussetzen, aber in welcher Richtung? Der (fragile) Sozialpakt zwischen dem europäischen Konstrukt und den arbeitenden Klassen zerbricht. Mit zwei direkten und politisch quer zueinander verlaufenden Folgen, auf die wir uns einstellen müssen: das Abladen der Verantwortung vom Norden auf den Süden à la Lega Nord sowie nationalistische und souveränistische Abwehrhaltungen bis hin zu entschieden antieuropäischen Tönen in den Ländern, die von der Krise überrollt werden. Aber auch in Deutschland dürfte die Suche nach externen Sündenböcken schwierig werden, sobald die Krise auch dort hart zuschlägt. Der herrschende Diskurs, "Wir müssen die faulen Griechen retten", wird dann schnell verdrängt werden von der Erkenntnis, dass die deutschen Banken die tatsächlichen Empfängern der EZB-"Hilfen" sind.

5.3 Diese komplexe sich ständig verändernde Problematik steht hinter der Frage der Eurobonds als möglichem Instrument zur gemeinsamen Lösung der europäischen Schuldenkrise. Sie stehen auch ein wenig als Metapheri für die mögliche Aufrechterhaltung und Neugestaltung der europäischen Einheit auch als politische Union.

Vereinfacht gesagt gibt es bisher drei "politische" Varianten dieses Vorschlags. Die erste kommt, wenig überraschend, vom US- und transnationalen Polit- und Finanzestablishment: praktisch eine Transferunion mit der Aufgabe, das Fließen europäischer Ressourcen in Richtung der großen internationalen Gläubiger zu garantieren. Eine zweite, ebenso reaktionäre, aber wesentlich armseligere Variante, die sogar bereit ist, sich dem Teufel zu unterwerfen, macht sich unter den verzweifelten herrschenden Klassen der europäischen Peripherie breit. Diese eint ausschließlich das Ziel, die politische und ökonomische Rechnung für das Desaster nicht bezahlen zu müssen, zu dem sie mit ihren gewaltigen Ausgaben ohne jegliches Konzept beigetragen haben. Zuletzt sei die "seriöseste" und europäischste Variante à la Prodi genannt (eurounionbond), der ganz in neoliberaler Kontinuität zu Maastricht vorschlägt, Deutschland als Gegenleistung für dessen Hilfe die Teilhabe an den Energieversorgungsbetrieben Italiens, Spaniens usw. und sogar das Gold der Zentralbanken zuzusichern. Es ist jedoch bei weitem nicht ausgemacht, dass Deutschland die Bedingungen und Auflagen einer Herausgabe von Eurobonds akzeptiert. Falls ja, dann würden die heutigen Litaneien über Merkels Kurzsichtigkeit durch den Groll über die eiserne deutsche Faust abgelöst werden.

6. Den Ausweg aus der Krise "von unten und nach links" können wir sicher nicht in dieser Richtung suchen. Welche Variante von Sparpolitik zum Schuldenabbau sich auch durchsetzt, sie wird sozialen Kahlschlag bedeutet (der Eurobond ist schließlich als Instrument gedacht, um die Schulden an eine strengere Haushaltsdisziplin zu binden); zu einer politischen Europäischen Union mit gemeinsamer Finanzpolitik wird man sich wahrscheinlich nicht durchringen können. Für die Bewegungen ist die Überwindung nationalistischer und lokalistischer Perspektiven fundamental. Dies kann aber nur gelingen, wenn der tatsächliche Inhalt des von Brüssel und Frankfurt dominierten Europa hinterfragt wird. Wir müssen auf einem möglichen gemeinsamen Terrain in den sozialen Dynamiken und Kämpfen, die sich mit der Verschärfung der Krise ergeben, eine Antwort finden, die die Tendenzen zu einem Krieg aller gegen alle blockiert. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es ist absolut verständlich und legitim, dass die Gefühle in Richtung Berlin, die auf den griechischen Straßen laut werden, nicht gerade liebevoll sind. Aber der Widerstand der deutschen Bevölkerung, die Kosten zu bezahlen, die fälschlicherweise dem mediterranen dolce vita zugeschrieben werden, ist auch ein Widerstand gegen das Bezahlen der Krisenkosten. Er kann sich zu einer Abwehrhaltung nach Art der Lega Nord entwickeln, aber auch zu einem wertvollen und sogar unverzichtbaren Faktor im Kampf gegen die Schulden, auf dass sich der ganze Kontinent zu einem Konfliktraum entwickelt, der sich bis in die Regionen des arabischen Frühlings ausbreitet.

6.1 Der Kampf gegen die Schulden kann dieses gemeinsame Terrain bilden, je klarer es wird, dass gerade das Bezahlen die Mechanismen der Krise schmiert und ernährt und sie somit verlängert und verschlimmert. Man kann nicht davon ausgehen, dass diese Einsicht in den Schichten der Gesellschaft, die nun auf die Straße gehen werden, schon geteilt oder überhaupt erkannt wird - im Übrigen gibt es genau so viele Arten von Schuldenabhängigkeit wie von Lohnabhängigkeit. Auch wird nicht unbedingt sofort die Forderung nach einem Recht auf Zahlungsausfall aufkommen, zum einen wegen der negativen Konnotation, die ein Bankrott in der sozialen Vorstellungswelt hat, vor allem aber deswegen, weil er in den Händen von Staat und Betrieben eine Waffe sein kann und historisch auch meistens gewesen ist. Wir dringen auf unbekanntes Terrain vor und brauchen einen Gegen-Diskurs, den wir innerhalb der Mobilisierungen konstruieren, organisieren und ermitteln können - auch wenn wir diese in einigen Punkten kritisch sehen, wohl wissend, dass Stimmungen und Reaktionen von unten sich nicht geradlinig "wie der Nevskij-Prospekt" entwickeln.


Zum Schluss einige Anstöße zu einer Debatte, die noch am Anfang steht

• Entscheidend in den vor uns liegenden Konflikten wird die potentielle Dynamik einer Abspaltung der sozialen Reproduktionsformen von der finanziellen Erpressung 55cm (die in gewisser Hinsicht die Erpressung durch Arbeit subsumiert hat). Diese Dynamik kann auch verworren und widersprüchlich sein; anstatt die Bezahlung der Schulden rundweg abzulehnen, wird man sich am Anfang wahrscheinlich die Aufgabe stellen, wie man ihr weiteres Wachstum verhindern oder sie sogar abbauen kann; und zwar auf der Ebene eines "Reformismus von unten", der nicht von vornherein Opfer ablehnt. Hier wird der entscheidende Konfliktpunkt sein: Opfer wofür und auf wessen Kosten?

• Aus dem Kampf gegen die Schulden heraus muss der konstituierende Diskurs entwickelt werden, um gegen die Gebote der Finanzialisierung, die bereits weit in das Leben jedes Einzelnen eingedrungen ist, eine andere Systemperspektive erarbeiten und vorschlagen zu können, Wie kann man ohne Schuldenökonomie leben? Der Keynesianismus der Alten Linken in all seinen Varianten taugt hier nicht und ist sogar schädlich: erstens, weil er Lösungen heraufbeschwört, die heute nicht mehr praktikabel sind, und sich an Subjekte wendet, die es nicht mehr gibt; zweitens, weil er sich darauf versteift, Staatsausgaben als "soziale" Ausgaben zu verteidigen wo doch die Mechanismen der Finanzialisierung diese Bindung vollauf zerstört haben -; drittens, weil er nicht zur Diskussion stellt, was es hieße, für die Gesellschaft und nicht auf deren Kosten zu "produzieren". Dagegen müssen wir jene Ansätze voranbringen, die über ein kapitalistisches "Wachstum" hinausschauen, dessen destruktive Aspekte jetzt mehr und mehr wahrgenommen werden. Dabei können wir uns nicht auf ein Programm von "small is beautiful" oder "grüner" Industrialisierung zurückziehen, so etwas könnten allerhöchstens Durchgangsmomente sein. Wir brauchen einen großen Gegen-Entwurf der De-Akkumulation: Lebensentwürfe schmieden, die nicht durch den Mechanismus von Profit und Kapitalakkumulation hindurchmüssen, um sich zu reproduzieren, ohne dass wir dabei Innovation und produktive gesellschaftliche Kooperation über Bord werfen. Ein ziemliches Problem...

• Das lässt sich offensichtlich nicht am Schreibtisch lösen, sondern muss sich aus der sozialen Praxis entwickeln. Extrem schwierig, aber auch eine große Herausforderung ist, dass ein Verteidigungskampf, beispielsweise auf Lohnebene, tendenziell nicht mehr möglich ist, ohne sich mit diesen Problemen zu befassen - sowohl wegen Inhalts als auch wegen des Aufbaus sozialer Bündnisse. Wie verteidigst du eine Fabrik, die während einer umfassenden Krise geschlossen werden soll, ohne an Formen von Aneignung oder "Selbstverwaltung" zu denken -nicht des Unternehmens, sondern im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld? Wie verteidigst du den Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst vor dem Hintergrund von Ausverkauf und Privatisierung, ohne dich dem Problem zu stellen, was überhaupt ein "öffentlicher Dienst" ist, und dich genau darum mit der Verwaltung auseinanderzusetzen? Ohne mit einer anderen Organisation zu beginnen, Güter neuer Art herzustellen, zusammen mit denen, die dir bislang als "Kunden" und "Nutzer" gegenüberstanden? Sozialstaat und Arbeit sowie deren Verteidigung ändern sich genauso radikal wie das, was man unter "Gewerkschaft" zu verstehen hat. Denn die gesellschaftlichen Subjekte, die Organisationsformen, die Diskussionsorte und die Beziehung zur Macht haben sich radikal verändert...

23. September 2011


Die italienische Originalfassung mit vielen Fußnoten ist nachzulesen auf infoaut:
http://www.infoaut.org/index.php/blog/prima-pagina/item/2705-eurocrisi-eurobond-lotta-sul-debito-un-contributo-al-dibattito. Die deutsche Übersetzung ist leicht gekürzt.

Eine ausführlichere Version des Artikels erscheint demnächst im Verlag Asterios, Trieste, unter dem Titel: Eurocrisi, eurobond, lotta sul debito. Uscire dalla crisi "dal basso, a sinistra".

Raute

Occupy Frankfurt!

Die Occupy-Bewegung hat viele Grenzen. Aber viele sehen in ihr ein Hoffnungszeichen und einen Anlass, sich selber einzumischen und mitzudiskutieren. Es ist eine Bewegung, die sich ausweitet, verändert und neue Formen entwickelt. Und morgens wirst du nicht mehr nur von den neuesten Pleiten und Perfiditäten angeblicher Krisenbekämpfung überrascht, sondern von neuen Zelten irgendwo auf der Welt: jüdisch-arabische Camps in Israel, gemeinsame Demo mit streikenden Elektrikern in London, Occupy Hongkong... Die Bewegung ist ganz selbstverständlich global. Auf dem Tahrirplatz bauten die Leute sich behelfsmäßige Unterkünfte, in Spanien begannen die Protestierenden auf öffentlichen Plätzen zu campen, in den USA gibt es mittlerweile in 500 Städten Occupy-Aktionen...

Natürlich sind die Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung zwischen Ägypten und den USA wichtig, sie gelten aber fast in gleichem Ausmaß für die USA selber. Dort haben Zeltstädte eine ältere Geschichte. Schon lange haben Obdachlose auf diese Art ihr Überleben gesichert. Seit Krisenausbruch sind viele, die aus ihren Häusern geflogen sind, dazugekommen und in Zelte, Hütten und Caravans gezogen. Das Zelt ist damit nicht nur Symbol für das Spektakel auf der Wall Street, sondern auch für tiefe Umbrüche in der amerikanischen Gesellschaft, für das Ende der Illusion von einer "Mittelklasse", für alte und neue Armut. Eine wichtige Frage für die Zukunft der Bewegung wird sein, ob sie sich in dieser sozialen Realität erdet. Genossen aus den USA äußern sich über die besetzte Rathauswiese in Los Angeles extrem kritisch: das Besetzungskomitee jagt Straßenverkäuferinnen weg, von der Bühne aus wird der Polizei gedankt, Meerjungfrauenkostüme und Energiefeldergedöhns nerven.

Sie sagen trotzdem: "Diese weltweite Welle von Demonstrationen darf man nicht unterschätzen: Es gibt Andere 'wie uns'. Viel mehr, als du gedacht hast. Wir müssen deutlich machen, dass die Anderen nicht 'we the people', die 'BürgerInnen', die 'SteuerzahlerInnen' und sicher nicht die 'KonsumentInnen' sind, sondern ArbeiterInnen, und keineswegs identisch mit ihren Gewerkschaften, ihren PolitikerInnen, ihren Parteien, 'we the people'."

Die BRD hinkt mal wieder hinterher. Es gibt zwar auch einige Camps und Demos, aber von einer Bewegung kann keine Rede sein. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt auch nur bei neun Prozent - in Italien bei 27, Spanien bei 46, Griechenland bei 43 Prozent...

Nur in der Ausweitung sehen die OrganisatorInnen des Frankfurter Camps eine Perspektive. "Es müssen sich so viele anschließen, dass wir nicht mehr vereinnahmt werden können", sagt B. im Interview. Weil die soziale Dynamik fehlt, gerät das Camp schnell in die Defensive, die Selbstorganisation wird zur Last, die OrganisatorInnen zu DienstleisterInnen. Ob das Camp so an Ausstrahlung gewinnt, ist fraglich. Aber die Gelegenheit, viele Leute zu treffen, die ihren Unmut ausdrücken und dafür den Alltag ein stückweit in Frage stellen, könnte auch genutzt werden, um sich über diesen Alltag auszutauschen, sich darin zu organisieren und Angriffspunkte zu finden. Damit würde auch die Gefahr geringer, als Rechtfertigung für Reformen im Finanzsystem herhalten zu müssen.

Wir haben mit zwei Leuten gesprochen, die am Frankfurter Camp teilnehmen.

P.S.:
Neben Beifall und Umarmungsstrategie kommt es in den USA momentan aber auch zu verschärftet Repression, s. den Bericht aus Oakland.


*


Interview mit B. und M. am 20. Oktober im Camp von Occupy Frankfurt! vor der EZB

Wie ist es dazu gekommen, dass du hier zeltest?

Vor vier Wochen hin ich ins Studierendenhaus zu einer Gruppe namens Acampada Frankfurt gegangen. Da saßen Leute, die auch die Bewegung in Spanien viel mehr mitgekriegt hatten als ich. Ich dachte schon, huh, vielleicht eine politische Gruppe oder so was, aber ich habe gemerkt, dass da Leute sind, die von sich aus kommen. Und dann kamen so Infos wie: die Wall Street soll besetzt werden am 17.9., und der 15.10. soll groß in bestimmten Medien angesprochen werden. Nach so was hatte ich in den letzten Monaten gesucht, nach etwas, das noch ein bisschen unstrukturiert ist, aber wo Handlungsbedarf besteht.

Dann haben wir uns gefragt, wie können wir uns am 17.9. mit Occupy Wall Street solidarisieren? Da kam dann der Vorschlag auf, die alte Börse zu besetzen. Wir haben das angemeldet und gemacht. Aber wir waren nur sechs Zelte und zehn Leute, die da geschlafen haben. In den fünf Tagen sind vielleicht 500 Leute vorbeigekommen und haben sich informiert. Dann haben wir gesagt: Bevor die Polizei uns räumt, und das können sie ganz leicht, gehen wir freiwillig.

Auf der Demo am letzten Samstag, die von Attac angemeldet worden ist, war es ganz anders, da waren 8000 Leute. Im Vorfeld hatten wir uns gefragt: 'Wollen wir vor der EZB zelten?' Als wir gesehen haben, dass jemand sein Zelt hier aufbaut, haben wir unser Zelt auch ausgepackt und uns dahinten hingestellt. Und dann haben immer mehr Leute ihre Zelte aufgebaut, und jetzt ist die ganze Wiese voll. Es war schon ein Selbstläufer.

Hier sind die unterschiedlichsten Leute mit dem unterschiedlichsten Wissensstand, mit unterschiedlichen Forderungen, Vorstellungen... Nach außen hin kommt das vielleicht momentan noch sehr gut an. Meine Bedenken sind aber, dass es nicht mehr so lange bleibt. Es heißt die ganze Zeit: wir brauchen die Vernetzung nach außen, zu den Medien, zu den anderen Occupy-Bewegungen, aber mir persönlich fehlt hier im Camp noch die Vernetzung untereinander.

Unsere Gruppe hatte vor dem Camp beschlossen, eine Plattform zu bilden, für Leute, die Probleme haben, dass sie zu uns kommen können, oder überhaupt miteinander reden können. Dass die Kommunikation zwischen den Leuten wieder stattfindet, dass man sich informiert, dass man aufmerksam wird auf die Probleme, die es global gibt... Eine Plattform für jeden, der was zu sagen hat. Wir distanzieren uns von Parteien, von Organisationen, Vereinen, möchten aber keinen ausgrenzen, diese Gruppe ist superoffen, die will auch hören, über was du dich empörst. Ich hab versucht, viele Leute in meinem Umfeld zum Mitmachen zu motivieren.

Unsere Basislektüre war das Manifest aus Spanien und zum Teil auch dieses "Empört euch!" Wir variieren von 6 bis 15 Leuten, es ist echt noch sehr klein. Seit den fünf, sechs Tagen, die wir hier sind, gibt es auch das Bedürfnis, dass wir uns untereinander treffen, weil wir den Faden zueinander verloren haben, jeder ist in was anderes involviert. Und es ist wichtig, dass wir zueinanderkommen.

Das Camp selber organisiert sich über AGs, Workshops und asambleas...

Genau. Es gibt am Tag zwei General-Asambleas. Da sammelt man erst Themen für die Agenda, bzw. mittlerweile treffen sich Leute vorher, die bereiten das vor. Das Modell kommt aus Spanien: es gibt Leute die moderieren, andere führen Protokoll, und alle kommunzieren über bestimmte Handzeichen...

AGs haben sich zu allen möglichen Punkten gebildet, die machen auch nochmal ein Plenum unter sich. Es gibt die AG Infrastruktur, die AG Respekt, dass es ganz wichtig ist, dass wir verständnisvoll miteinander umgehen, dass Kommunikationsformen beibehalten werden, dass Aggressivität und Gewalt fehl am Platz sind. Die AG Kommunikation, zu den Medien nach außen, aber auch innerhalb des Camps, die AG Info, AG Kunst&Kultur... Es gibt hält für alles, was so eine Parallelgesellschaft braucht, Arbeitsgruppen.

Bei der Börse wart ihr noch unter euch. Wie ist das hier mit den vielen Leuten?

In den ersten Tagen dachte ich: 'Was ist denn hier los? Wie viele Leute möchten was verändern, lassen ihr normales Leben einfach stillstehen, kommen hierher und schlagen ihr Zelt auf und sind nonstop da?' Ich wohne ja hier und hab die Möglichkeit, kurz in mein normales Leben abzuhauen. Aber viele Leute kommen gar nicht aus Frankfurt... Einer kommt aus Spanien, der hat die ganze Bewegung in Spanien mitgemacht. Der teilt sein Wissen mit uns, und es ist supergut, dass der da ist. Es stellt sich in den letzten Tagen schon raus, dass es superchaotisch ist und jeder ne andere Vorstellung bat. Er sagt: 'Wir sind noch ganz unten, wir können noch nicht erwarten, dass sich morgen das System komplett umkrempelt. Sondern wir müssen da Schritt für Schritt dran arbeiten.' Ich versuche, dem noch ein bisschen kritisch gegenüberzustehen und immer noch realistisch zu bleiben - es kann ja auch sein, dass das in zwei Wochen alles weg ist. Ich war wirklich in den ersten Tagen sehr euphorisch, und dachte, geil, das ist ja hier eine Parallelgesellschaft, die wir hier versuchen vorzuleben. Dass es hier funktioniert, dass wir hier alle versorgen können, dass hier alle schlafen können, dass auch jeder, der keinen Schlafplatz hat, zu uns kommen kann.

Wer kommt dazu?

Obdachlose schließen sich uns natürlich viele an... Die sehen, hier sind seit sechs Tagen Leute, die schlafen hier, es gibt eine Essensausgabe... Das wird von vielen Campteilnehmern auch noch kritisch gesehen. Ich hab von Anfang an gesagt: 'Wir haben gesagt, wir sind offen für alle. Also versuchen wir auch diesen Leuten einen Schlafplatz anzubieten, sie mit Essen zu versorgen, oder uns mit denen zu unterhalten.' Ich hab mich mit vielen Obdachlosen unterhalten und gefragt, wie kam es dazu, dass du hierhergekommen bist? Es kommt darauf an, wie ansprechbar jeder einzelne ist. Aber viele wollen sich davon distanzieren: 'Wir sind doch nicht die Wohlfahrt!' Das ist hält schwer, es kann keiner sich hier hinstellen und für alle sprechen. Wir wollen einen Konsens finden, was hier passiert und worauf wir hinarbeiten möchten, und das ist sehr schwer. Und der nächste Samstag ist nicht weit!

Da soll wieder ne Demo sein?

Ja. Und wir haben beim Ordnungsamt rausgekriegt, dass schon eine andere Demo angemeldet ist vom "Aktionsbündnis direkte Demokratie". Hört sich ja erstmal gut an, aber das geht in die rechte Schiene. Partei der Vernunft, freie Union... Deshalb steht auf unserem Flyer: 'Wir distanzieren uns von diesem Aktionsbündnis', damit niemand denkt, wir gehören zusammen.

Was glaubst du, was würde der Bewegung zu Erfolg verhelfen?

Auf jeden Fall die Masse erstmal. Wenn das immer weiter und immer größer wird. Dass dann auch keiner mehr drauf einwirken kann. Wir wollen ja nicht nur bis zum 29. bleiben. Ich hoffe, dass wir hier länger bleiben können, dass es ein freier Platz wird. Dazu müssen noch mehr Leute kommen. Von zu Hause aus unterstützen uns ja auch viele, die nicht die Möglichkeit haben, hier zu campieren, weil sie fünfmal die Woche arbeiten gehen oder Kinder haben. Die kommen ab und zu her, spenden auch - wir haben ja so viele Spenden! In der ersten Nacht kam eine Frau und hat vier Kannen Kaffee vorbeigebracht. Leute kommen mit fünf Paletten frischem Gemüse.

Hier hängen ja auch diese Plakate, 'wir sind 99%'. Ich kann mich damit nicht identifizieren, weil ich die 99 Prozent hier nicht sehe. Wir sind ein Prozent der Welt oder noch weniger. Die Demo war groß, aber es ist nur ein kleiner Teil übrig geblieben.

[M. kommt dazu]

Nützt es was, Druck auf die Politik auszuüben?

M.: Ich sehe es so, dass wir keine Forderungen stellen sollten. Ich hab keine Forderungen an die Politik oder irgendwelche Führungspersönlichkeiten, weil ich denke, dass wir uns unabhängig machen sollten von Repräsentanten. Hier bildet sich eine kleine Gemeinschaft, wir haben unsere Organsiationsgruppen, wir produzieren Ideen, Gedanken, machen Aktionen. Wir bauen sogar. Wir haben eine kleine gemeinschaftliche Gesellschaft. Und es kommen Leute aus der kranken Gesellschaft hier rein und werden hier ein bisschen gesünder. Die Obdachlosen, weil sie mal wieder mit anderen Leuten in Kontakt kommen, nicht nur unter sich oder ganz allein. Auch die Obdachlosen sind cool. Manche schreien zwar rum, weil die vom Alkohol so fertig sind...

Könnt ihr von denen auch was lernen?

M.: Manchmal sind sie sehr kaputt, kriegen nur vier, fünf Wörter raus, aber das wird besser wenn man dabei bleibt und sich nicht gleich abgrenzt. Von manchen kann man aufjeden Fall lernen. Manche sehen aus wie Obdachlose, und dann denkt man: boah, von dem kann man richtig was lernen, der ist Professor... Aber auch von anderen kommt was, die analysieren das vielleicht nicht so, sprechen aber ihre Probleme an. Davon kann man lernen, auch von ihrem Verhalten.

Kommt Ihr mit der inneren Dynamik klar? Klappt die Selbstorganisation?

In den letzten Tagen ist einiges schief gelaufen. Leute sind ausgelaugt, können sich ihre Arbeit nicht einteilen, sind so motiviert, dass sie sich selbst vernachlässigen und damit merkwürdig auf die Gruppe erscheinen. Tagsüber sind hier superviele Leute, nach außen macht es einen friedlichen Eindruck, aber nachts ist es schwieriger, Alkohol spielt dabei eine Rolle. Manche stellen sich hier mit ner Flasche Hochprozentigem hin und sind in einer halben Stunde so im Arsch, dass du gar nicht mehr mit denen reden kannst. Und dann musst du hält Verantwortung übernehmen, obwohl du möchtest, dass die auch Verantwortung für sich selbst übernehmen.

Ihr habt ja schon gesagt, es haben viele über euch berichtet. Was hat euch daran gestört?

M.: Nachdem ich gestern einen Bericht von N24 online gesehen hab, hab ich gar keinen Bock mehr darauf. Die haben es "Occupy Kindergarten" genannt. Wie sie uns meinen zu verstehen ist schon mal völlig daneben, und auch wie sie die Situation von Politik, Finanzwirtschaft usw. einordnen, finde ich viel zu vereinfacht. Oft wird es so dargestellt, dass wir den Konflikt zwischen Politik und Banken kritisieren, oder dass wir sagen, die Banken sind schuld und ihr nehmt uns unser ganzes Geld weg. Aber wir suchen uns nicht einen Feind aus, einen Akteur, der verstaatlicht oder reguliert werden soll. Es geht um viel mehr. Ich will den ganzen Scheiß nicht mehr, keine Herrschaft mehr von oben, sondern Basisdemokratie.

Redet ihr auch über Probleme in eurem eigenen Leben? Dass man seinen Job verloren hat, das Studium nervt...?

Hut ab vor den Leuten, die ihr Alltagsleben aufgegeben haben, um hier zu sein! Ich bin vielleicht noch nicht so in der Lage, das aufzugeben, was ich davor hatte. Vor ein paar Tagen war ich an dem Punkt, wo ich hätte arbeiten gehen müssen, das aber nicht mehr konnte. Wenn ich weiß, was im Hintergrund von diesem Unternehmen für Fäden gezogen werden, kann ich da nicht arbeiten, wenn ich eigentlich hier sein könnte. Zum Glück bin ich krank geworden... Ich werde ab nächster Woche auch wieder in die Uni gehen und versuchen müssen, mich wieder auf mein Studium zu konzentrieren und zu fokussieren. Obwohl ich das Gefühl hab, es könnte funktionieren, wenn ich alles aufgebe. Denn es funktioniert doch gerade! Ich kann hier leben, wir können anfangen, uns hier selber zu versorgen. Wenn das Studium vorbei ist, muss ich mich dann mit Sachen wie Arbeiten gehen auseinandersetzen, dann hab ich vielleicht keine Arbeit, und dann steh ich da... Ich hab schon Angst vor der Zukunft, weil ich nicht weiß, wo es hingeht. Das bewegt mich die ganze Zeit, auch schon bevor ich zu dieser ganzen Bewegung gekommen bin. Und das ist bestimmt ein Grund, warum ich hier bin und wozu ich mich bilden möchte.

Hörst du von vielen Leuten, dass sie ihren Job oder ihr Studium aufgeben möchten?

Bisher reden wir darüber eher mal nachts am Lagerfeuer. Denn worauf läuft das hinaus, das nochmal so aufzuknüpfen? Aber wenn wir eine Anlaufstelle anbieten wollen, wo Leute über solche Dinge reden können, dann sollten wir sie auch selber nutzen; die die organisatorisch eingebunden sind, sollten auch sagen, was sie selber beschäftigt.

M.: Ich hab hier auch schon wahnsinnig interessante Gespräche gehabt. Wie mit einem guten Freund konnte ich hier mit Leuten sprechen über meine Vergangenheit, was mich hierhergebracht hat, was meine Ziele sind. Darüber gibt es Gespräche, und über Politik.., das ist auch angenehm, der Begriff Gemeinschaft passt gut. Ich hab hier noch nie schlechte Laune gehabt, immer wenn ich draußen bin, hab ich schlechte Laune. Wenn ich zur Uni gehe oder so, hab ich schlechte Laune.

Hier macht man freie Arbeit, für sich und die Gemeinschaft, und draußen macht man das für andere, die profitieren. Hier hat man totalen Freiraum, kann machen was man will. Die Leute lösen sich schon, wollen hierbleiben. Die wollen nicht wieder in den Alltag, das alte System.

Macht es gute Laune, solange man hier ist, oder ändert sich auch was für das Leben danach?

M.: Das kann ich so nicht voraussagen. Ich hoffe, dass der Alltag auch außerhalb ein anderer ist. Sicherlich, draußen ist man wieder in diesem Leben. Aber ich bin so optimistisch zu sagen: Wir werden eine ganz andere Gesellschaft schaffen. Wir sind gerade in einem riesigen Umbruchprozess, und werden diese ganze Konkurrenz- und Leistungskacke nicht mehr haben.

Deshalb haben sie in Spanien ja gesagt: wir hören auf mit Zelten und tun jetzt was gegen Zwangsräumungen. Könnt ihr euch sowas vorstellen, vom Campen überzugehen dazu, sich zu organisieren, im Alltag zu verhindern, dass sich die Bedingungen verschlechtern?

Einer war hier aus Zypern, der hat den Vorschlag gebracht, dass man doch aufhören könnte, Miete zu zahlen. Dass das was erreichen würde, wenn es kollektiv passiert. Um zu erreichen, dass es hier wirklich ein Umbruch wird.

Ich bin seit Wochen überrascht, was ich mache. Dass ich angefangen habe, mich mit so vielen Sachen zu beschäftigen. Und dass es noch viel mehr Sachen gibt, mit denen ich mich beschäftigen muss. Und das hier nutzen will, um Informationen über alles mögliche zu bekommen. Aber wenn es Workshops zu irgendwelchen Themen gibt, kommt irgendwas organisatorisches dazwischen. Eigentlich rufe ich seit gestern dazu auf, nach Hofheim zu fahren, weil da Sperrmüll ist, um Möbel zu besorgen. Das muss ich gleich mal in die Wege leiten.


Nachtrag vom 26.10.

Weil es in Frankfurt keinen bezahlbaren Wohnraum gibt, haben StudentInnen am 20.10. ein Haus besetzt. Wenige Stunden später wurden sie von der Polizei geräumt.

Das Camp ist auf knapp 100 Zelte angewachsen. Auf der Demo am 22.10. waren ca. 4000 Leute. Das Ordnungsamt hat das Camp für weitere zwei Wochen genehmigt.

Raute

Israel:

Und dann plötzlich die Bewegung, die alles weggewischt hat

(Interview, 5.9.2011)

Eine arabische Revolte hat die nächste ausgelöst und Leute auf der ganzen Welt inspiriert. Als es sogar in Israel losging, haben sich trotzdem viele die Augen gerieben. Die israelische Gesellschaft ist stärker als die meisten anderen in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt, die sich voneinander abgrenzen. Die Sorge um die "Sicherheit" Israels überdeckt alle anderen sozialen und politischen Fragen. Das hat nicht nur Siedlungspolitik und Klientelwirtschaft, sondern auch eine jahrzehntelange Umverteilung nach oben möglich gemacht. Die Steuern für Unternehmen sind niedrig, die Steuern auf Löhne und Waren dagegen hoch. Dafür sind die Löhne niedrig und die Preise steigen. Gesundheits- und Bildungssytem werden herabgewirtschaftet. Öffentlichen Wohnungsbau gibt es kaum noch, Sozialwohnungen werden mit Unterstützung der Regierung privatisiert, teuer saniert und weiterverkauft. Reiche Leute aus dem Ausland legen sich Immobilien zu, um Steuern zu sparen und die jüdischen Feiertage in Israel zu verbringen. Die Mieten sind deutlich gestiegen, in Tel Aviv innerhalb eines Jahres um 32 Prozent, in Jerusalem um 17 Prozent. Nicht mehr allein Mizrachim (Juden mit arabischem Hintergrund) und PalästinenserInnen, sondern auch bessergestellte Israelis und StudentInnen haben Probleme, bezahlbare Wohnungen zu finden. In einer aufsehenerregenden Protestwelle sind im Sommer viele unterschiedliche Leute gemeinsam auf die Straße gezogen und haben die Kriegstreiberei von der Tagesordnung gefegt.

Es hat damit angefangen, dass Dafni Leef, eine junge Frau aus Tel Aviv; wie viele andere keine bezahlbare Wohnung finden konnte und auf Facebook ankündigte, aus Protest gegen die hohen Mieten am 14. Juli mit einem Zelt auf dem Rothschild-Boulevard zu campen. Weitere StudentInnen schlossen sich an und zogen mit ihren Zelten auf die Straße. Am folgenden Tag verzehnfachten sich die BewohnerInnen der Zeltstadt, und wenige Tage danach standen schon 160 Zeltstädte im ganzen Land. An vielen Orten gab es große Demos, der bisherige Höhepunkt der Bewegung war am 3. September, als 450.000 Menschen (ungefähr sieben Prozent der israelischen Bevölkerung) am größten Protest in der Geschichte des Landes teilnahmen.

Die Bewegung, zunächst von jungen Frauen und Männern aus der Mittelschicht (vorwiegend mit europäischem Hintergrund, sog. Ashkenasi) getragen, verbreitete sich schnell unter anderen Gruppen: Mizrachim, äthiopischen Juden, palästinensische Israelis und teilweise auch in den ultra-orthodoxen Gemeinden. Die Camps erstreckten sich vom Norden bis nach Eilat im Süden, es gab auch welche in arabischen Dörfern. In manchen wohnen zum großen Teil arme Leute, im Norden von Tel Aviv sind es ganz klar Leute mit akademischer Ausbildung. Parallel kam es in den vergangenen Monaten verstärkt zu Streiks und Protesten für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Innerhalb einer Woche ist eine Bewegung gegen den Neoliberalismus und für einen Sozialstaat entstanden.

Mit der Hauptparole "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit" wurde der Begriff "Volk" umgedeutet. Waren damit bisher nach religiösen und rassischen Kriterien nur JüdInnen gemeint, soll er nun alle BürgerInnen des Staates (mitsamt den palästinensischen Israelis) in Abgrenzung zu den politischen und ökonomischen Eliten umfassen. Der Bezug auf die besetzten Gebiete bleibt dabei brenzlig. Da die Besetzung lange Jahre alle anderen Themen überlagert hat, finden es viele für sinnvoll, nun an einem anderen Punkt anzufangen. Dennoch schwebt die Frage nach der Notwendigkeit einer "Politisierung" der Bewegung im Hinblick auf den Israel-Palästina-Konflikt ständig im Raum. Sie steht im Widerspruch zu Tendenzen einiger AktivistInnen, sozialdemokratische Ideale zu unterstützen, die lediglich auf Juden begrenzt wären.

Als Antwort auf angeblich aus Gaza stammende Angriffe auf Israelis bombardierte die israelische Armee am 18. August Gaza. Die Gefahr einer militärischen Eskalation, die die soziale Bewegung einschüchtern und ablenken würde, war vielfach vorhergesagt und diskutiert worden, und sie bleibt weiter präsent. Die Bewegung setzte sich zunächst dennoch fort, wenn auch die nächste Demonstration zu einem Schweigemarsch wurde.

Nachdem nun die Zeltlager abgebaut sind, ist die Frage offen, wie die Bewegung weitergeht. Viele AktivistInnen glauben an eine Institutionalisierung und sogar an eine parteiähnliche Struktur als einzigem Weg, ihre Anliegen in die israelische Politik einzubringen. Andere sehen im Gegenteil den bisherigen Erfolg der Bewegung in ihren nicht-hierarchischen Strukturen und ihrem weiten Spektrum, das eine Partei oder Organisation nie hätte erreichen können.

Wir haben Anfang September mit Y. gesprochen, einem Israeli, der schon seit Jahren in Berlin lebt, aber mehrere Monate in Israel verbracht hat, um sich an der Bewegung zu beteiligen. Am Schluss gibt es ein Update vom 7.10.


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Welche Entscheidungsstrukturen hat die Bewegung?

Es beteiligen sich viele Unorganisierte, aber im Entscheidungskomitee stehen Jugendorganisationen im Vordergrund, etwa die zionistische sozialistische Jugendvereinigung und die stockkonservative Studentenvereinigung, auch sozialdemokratische Think Tanks, die kommunistische Partei, UmweltaktivistInnen sind beteiligt. Es ist unklar, was der demokratische Charakter der Bewegung ist. Hat die Studentenvereinigung mehr Rechte, weil sie so groß ist und so viel Geld hat? Jede Zeltstadt sollte zwei Repräsentanten wählen und eine Asamblea haben, die demokratisch entscheidet. Das ist aber nicht wie in Spanien: sie benutzen die gleichen Handbewegungen, aber es geht um die Mehrheit, es gibt kein Veto. Die Initiatorin des Rothschild-Camps ist am 14. Juli aus Spanien zurückgekommen und hat allen die Sachen, die sie auf der Puerta del Sol gelernt hat, weitergegeben. Aber viele Leute haben erst hinterher von den Protesten in Spanien gehört.

Die Leute, die die Bewegung gestartet haben, und denen das auch schnell zu Kopf gestiegen ist, nennen wir "die geheimen Sieben". Es gibt viel Kritik an ihnen, ich finde sie eigentlich ganz okay. Sie bestehen darauf, Teil des Entscheidungsprozesses zu sein. Es gab den Versuch, dass die Gewerkschaft reinkommt. Aber weil Histadrut sich in den letzten zwei Jahren völlig unmöglich gemacht hat, viele Arbeiter verraten hat, ist das gescheitert. Das war ein sehr positives Signal. Die alternative Gewerkschaft, die eher links ist, ist dabei. Was nicht publiziert wird: die Leute von der kommunistischen Partei haben sich, sehr leninistisch, eingeschleust und sind an vielen wichtigen Punkten. Es gibt ganz viel Chaos, gleichzeitig wissen alle: wir müssen zusammenhalten. Die Machtverhältnisse ändern sich die ganze Zeit, es gibt Kämpfe darum, wer entscheidet.

Welche Rolle haben die Bewegungen in Nordafrika gespielt?

Ich war von Januar bis März in Israel. Damals wurden Tunesien und Ägypten heftig diskutiert, aber es hat noch nicht gewirkt. Wir haben eine Demo gemacht: "Nach Mubarak kommt Netanjahu". Es kamen nur 50 Leute, obwohl es wirklich nicht besonders linksradikal war, es gab sogar Israelfahnen. Aber jetzt sind die arabischen Länder der Haupteinfluss, auch bei den Parolen: "Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit." "Das Volk" hat man so früher nie gesagt, das kommt aus der arabischen Übersetzung, der Rhythmus wurde auch übernommen.

Die Bewegung hat ja auch in Israel selber eine Vorgeschichte, die Proteste gegen die hohe Lebensmittelpreise, der Boykott von Hüttenkäse...

Die Atmosphäre in Israel vor den Protesten: es ist wie 1932 oder 33 in Deutschland, der Reichstag wird bald brennen. Die israelische Regierung ist extrem faschistisch. Es gab eine Welle antidemokratischer Gesetze: das Anti-Boykott-Gesetz; das Gesetz, was den Charakter des Staates Israel von einem "jüdischen demokratischen Staat" zu einem "jüdischen Staat mit demokratischer Regierung" ändert; dass Arabisch nicht mehr als offizielle Sprache anerkannt wird... Liberman als Außenminister, die Flotillen-Geschichte... das Gefühl war: alles ist verrückt. Viele meiner Freunde haben beschlossen, auszuwandern. Zumindest für Juden gab es vorher Meinungsfreiheit, die ist weggekippt. Und dann plötzlich die Bewegung, die alles weggewischt hat.

Der Hüttenkäse-Boykott, das war zwei Wochen davor, es war eine Facebook-Initiative, wir haben damals oft darüber gelacht. Er war 60 Prozent teurer geworden, die Veganer-Aktivisten haben gesagt: der ist sowieso unvertretbar. Aber die Mobilisierung war ein Zeichen für das, was kommen würde. Die Linke kommt aus dem Mittelstand, wir sind nicht gewohnt, über uns zu sprechen, sondern über die Opfer. Wir sind für die Flüchtlinge da, für die Palästinenser, für die Miszrachim... "Links zu sein heißt für andere zu kämpfen" war ein wichtiger Satz, auch wenn das Bullshit ist. Mit der faschistischen Regierung war es erst recht wichtig, den nicht-Radikalen zu sagen: Wir sind nicht die Opfer, die Palästinenser sind die Opfer. Wir müssen uns einschränken, aber man sollte nicht über uns als die neue Opfergruppe sprechen.

Ist es für junge Leute schwieriger geworden, Jobs zu finden?

Vor allem ist alles ist teurer geworden. Man kann immer noch einen Job finden in Tel Aviv, das ist leichter als in Berlin, es sind auch nicht immer die schlimmsten Jobs. Aber dein Geld ist nichts mehr wert. Die Regierung hat gesagt: Die Ökonomie ist in Ordnung, es ist nicht wie in Spanien oder Griechenland, wir haben eine starke, erfolgreiche neoliberale Ökonomie.

Wenn alles teurer wird, sind das ja de facto Lohnsenkungen?

Die Lebenshaltungskosten und die Mieten sind sehr hoch. Leiharbeit ist ein riesiger Sektor, in Schulen, in vielen Bereichen ist es die einzige Möglichkeit Arbeit zu finden... Aber es ist ein großes Problem mit der Bewegung, dass viele sagen: Wir brauchen einen besseren Kapitalismus. Es ist wirklich so, dass es ein Monopol von 15 Familien gibt, die alles kontrollieren. Sie verhandeln auch die Preise unter sich, sie und die Banken machen sehr viel Geld, weil es keine wirkliche Konkurrenz gibt. Das klingt wie verkürzte Kapitalismuskritik. Es gibt auch noch viele andere Ideen in der Bewegung, aber viele sagen: Wenn schon Kapitalismus, dann soll es ein freier Markt sein. Aber das ist eine neoliberale Sicht.

In Ägypten und Spanien ist ein Teil der Bewegung gut ausgebildet, kämpft für einen Job und eine Zukunft, und ein anderer Teil hat diese Chancen gar nicht.

Ja, das gibt es in Israel auch, das wird auch in der Bewegung sehr stark diskutiert. Die Medienaufmerksamkeit richtet sich auf den Rothschild-Boulevard, damit wird vergessen, dass die meisten Camps in ärmeren Vierteln und Städten sind. Die "geheimen Sieben" haben das verstanden, sind sehr oft dort und versuchen, die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken. Die ersten beiden riesengroßen Demos waren in Tel Aviv, aber es gab auch in anderen Städten große Demos. 35.000 in Haifa, das ist unglaublich, in Kiryat Shmona im Norden, wo 20.000 Leute wohnen, haben 10.000 demonstriert. Dann haben sie gesagt: wir machen eine Demo unter dem Motto: "Wir sind alle die soziale Peripherie." Also nicht in Tel Aviv demonstrieren, sondern in Jaffa, in Be'er Scheva - dort war die Hauptdemo -, in Afula, in Tayyibe - das ist eine palästinensisch-israelische Stadt. Die Bewegung hat es als Problem erkannt. Aber die Medien sind Mittelschicht, auch die, die den Protest nicht kritisieren, sondern unterstützen, vor allem aus Tel Aviv. Das ist für uns sehr ärgerlich.

Abgesehen von den Medien ist es ja auch eine Frage für die Bewegung: geht eine Dynamik von unten in eine egalitäre Richtung weiter, oder geht es eher in Richtung NGOs, Parteien...

Es geht in alle Richtungen, daher ist die Bewegung schwer zu beschreiben. Mich hat es sehr positiv überrascht, dass die Mittelschicht nicht sagt: "Wir wollen Oberschicht werden", sondern: "Wir wollen die Unterschichten hochziehen". Die Hauptforderung ist eigentlich ein Sozialstaat.

Gibt es in Israel ein Bewusstsein von der Krise? Hier würde man sich ja fragen, ob es gerade überhaupt die Möglichkeiten gibt, sozial aufzusteigen.

Es gibt die Krise in Israel schon, Israel ist keine Insel, aber man hat das Gefühl, dass es möglich ist. Die Krise macht auch ein bisschen Wut, denn den 15 reichen Familien wurde in der Krise geholfen. Aber alles beruht auch auf dem Gefühl, dass Israel stark ist. Wenn es eine große Krise in Israel gäbe, hätten die meisten keine Antworten. Die Kapitalismuskritik ist sehr sozialdemokratisch, die Forderung nach dem Sozialstaat richtet sich gegen 20 Jahre neoliberaler Politik. Aber in Israel können sozialdemokratische Forderungen revolutionär sein. Bis vor wenigen Wochen haben die Sozialdemokraten nur auf linksradikalen Webseiten geschrieben. Denn die Arbeiterpartei ist nicht mehr sozialdemokratisch. Die Leute in den Zelten wollen zuhören und diskutieren, aber es gibt weniger utopische, revolutionäre Gespräche als solche darüber, dass sozialdemokratische Forderungen möglich sind.

Stimmt es, dass Grenzen einbrechen und es viel mehr Forderungen für alle Leute gibt, die in Israel leben, nichtfürjuden oder Araber getrennt?

Früher waren mit "Volk" nur die Juden gemeint, der israelische Volksbegriff war noch krasser als der deutsche. Man muss ihn ablehnen. Jetzt sind damit die Bürger von Israel gemeint. Einige meinen auch alle, die in Israel wohnen, auch die Flüchtlinge, aber meistens sind die israelischen Staatsbürger gemeint. Es war das erste Mal, dass ich in Israel war und Spaß hatte. Ich hasse Israel, so wie deutsche Linke Deutschland hassen, aber durch die Bewegung konnte ich mich zum ersten Mal positiv auf die Leute beziehen. Das finde ich wichtig, ich habe auch immer die Antideutschen kritisiert, nicht nur, weil sie für Israel sind, sondern auch, weil sie elitär sind.

Man muss aber zwei Sachen im Kopf haben: Den Palästinensern wird von der Protestbewegung angeboten, Bürger mit gleichen Rechten in Israel zu sein. Israel ist aber ein jüdischer Staat mit einer unbestrittenen jüdischen Hegemonie, und viele israelische PalästinenserInnen wollen nicht einfach toleriert werden, sondern wirkliche Gleichberechtigung. Das ist in diesem Kontext nur durch nationale Autonomie und Anerkennung möglich, und da wird es schwierig. Es ist also auch eine palästinensische Bewegung, aber sie ist in der israelisch-palästinensischen Bevölkerung noch nicht verankert. Sie nehmen teil, aber nicht alle. Viele von ihnen denken: Man muss doch auch über uns sprechen! ...

Die israelische Gesellschaft ist in verschiedene Gruppen aufgeteilt: die Araber, die Ultraorthodoxen, die Nationalorthodoxen (vor allem die Siedler), die Russen, die Äthiopier, die Mizrachim, die Ashkenasi, die Kibbuzim... Alles ist aufgeteilt in Gruppen. Hinter der grünen Linie gibt es Sozialdemokratie - die meisten Siedler sind ja auch dort, weil es ökonomisch gesehen für sie besser ist. Es gab immer den Versuch von Linksbürgerlichen zu sagen, dass die Besatzung uns viel Geld kostet. Aber auch wenn die Besatzung nichts kosten würde, würden im Neoliberalismus die armen Viertel arm bleiben. Die Frage ist, wer profitiert. Früher wurde darüber nicht gesprochen, nun aber schon!

Auf Fotos und im Fernsehen sieht man immer viele Frauen...

Frauen sind auf allen Ebenen der Organisierung und Repräsentation stark beteiligt, das ist ein überraschendes und besonderes Merkmal. Vor der ersten großen Demo Ende Juli in Tel Aviv wurde in dieser diffusen Bewegung, die weder klare Strukturen noch formulierte Botschaften hatte, heftig um die Auswahl der RednerInnen gestritten. Die AktivistInnen befürchteten, dass der Protest von Parteien und etablierten PolitikerInnen ausgenutzt werden könnte, aber auch, dass sich ein Machtkampf innerhalb der Bewegung entwickeln würde. In der hektischen Stimmung wurde der Vorschlag einer Aktivistin angenommen: Es sollten nur Frauen sprechen, die persönlich von der ökonomischen Situation betroffen sind. Auch bei den folgenden Demonstrationen, und nicht nur in Tel-Aviv hielten oft mehr Frauen als Männer Redebeiträge, dazu auch viele, die keinen europäischen Hintergrund haben.

Trotzdem wird wenig über Frauen als eine Gruppe mit spezifischen Interessen gesprochen. Tatsächlich ist das Besondere an den Protesten der zum Teil erfolgreiche Versuch, alle "Sektoren" der Gesellschaft unter einer Forderung zu integrieren. In diesem Zusammenhang wirkte die Forderung von FeministInnen, die spezifische Diskriminierung von Frauen zu bekämpfen, sektiererisch. Dennoch gab es solche Forderungen, und zwar vor allem von Nicht-EuropäerInnen in der sozialen Peripherie. Das allgemeine Bild von Feminismus als eine Angelegenheit akademischer und privilegierter Frauen wurde dadurch in Frage gestellt. Die Bewegung muss weiter den gemeinsamen Nenner unter der Differenzen suchen, ohne sie zuzudecken. Wie in Ägypten auf dem Tahrir-Platz verhielten sich auch in den israelischen Zeltstädten viele Männer und Frauen plötzlich anders zueinander.

Wie geht es weiter?

Nach sechs Wochen Zeltlager sind viele müde, auch wenn die meisten nicht die ganze Zeit zelten, nur die Obdachlosen und die Flüchtlinge, in einigen Zeltlagern sind viele Flüchtlinge dabei. In den letzten Wochen hat sich die Idee ausgebreitet, dass man von Zeltlagern zu Hausbesetzungen übergehen sollte. Gestern gab es eine in Jerusalem... Es gibt überall den Versuch, Stadtteilversammlungen zu gründen. Es ist superchaotisch, deshalb ist es so schön und erfolgreich.

Es gab einige große Streiks in den letzten Monaten. Von den Sozialarbeitern, auch in Fabriken. Das läuft parallel zur Protestbewegung, aber es gibt Verbindungen. Interessant ist, dass eine klare Opposition zu den großen Gewerkschaften entstanden ist, und die linke Gewerkschaft kriegt mehr und mehr Mitglieder. Viele Arbeiter haben ohne Histadrut weitergestreikt. Die jungen Ärzte im Praktikum haben sich in ihrem Kampf von den Ärzten getrennt, sie haben alle ihren Job gekündigt. Der Staat behauptet jetzt vor Gericht, dass die Kündigung unrechtmäßig ist. Als ob sie Sklaven wären! Es gibt einen Notstand in den Krankenhäusern. Viele andere wollen auch streiken, die meisten Jobs sind schlecht bezahlt.

Wie organisieren die ArbeiterInnen sich ohne Gewerkschaft?

Sie gründen ein Arbeiterkomitee und streiken ohne die Gewerkschaft. Zum Beispiel die Sozialarbeiter, und die Arbeiter bei Haifa Chemicals, das ist ein sehr großes Unternehmen. Da hat die Gewerkschaft einen sehr schmutzigen Krieg gegen die linke Gewerkschaft geführt. Die hat aber einen Prozess gewonnen, dass sie die Arbeiter vertreten darf. Eine andere ganz kleine Gewerkschaft organisiert gerade zum ersten Mal Palästinenser in den besetzten Gebieten, in einer israelischen Fabrik.

Klar gibt es auch viel Hetze gegen die Gewerkschaften. Im Elektrizitätsbereich und in der Waffenindustrie sind sie sehr stark. Die Leute kriegen hohe Löhne, sie sind einfach an Orten, wo der Staat Milliarden verliert, wenn sie streiken, zum Teil verdienen sie 5000 Euro im Monat. Durch die Protestbewegung wird es noch mehr Streiks geben. Es gibt auch immer die Forderungen, den Mindestlohn von 800 auf 900 oder 1000 zu erhöhen...

Es gab den Versuch eines Generalstreiks. Das war nicht so erfolgreich, aber es war lustig, nett. Ich denke auch, es wird noch weitere Versuche außerhalb der Gewerkschaften geben...


Update vom 17.10.2011

Wie ist es nach der großen Demo Anfang September weitergegangen?

Fast alle Zeltstädte wurden aufgelöst oder geräumt. Ab September haben dort vor allem Obdachlose gewohnt, die sich im Protest organisiert und politisiert haben. Nach einigen Räumungen in Tel Aviv gab es gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei einer Demo vor dem Rathaus wurden 40 Menschen festgenommen. Bei Tel Aviv ist ein Obdachloser, der in einer Zeltstadt wohnte, wegen mangelnder medizinischer Behandlung gestorben, was für sehr viel Wut unter den AktivistInnen gesorgt hat.

Auch die Hausbesetzungen in den großen Städten wurden fast alle geräumt. Auf dem Rothschild-Boulevard gibt es ein "Squat" namens "Das Volkshaus", das vom Besitzer geduldet wird. Dort werden jeden Tag Aktionen und Veranstaltungen organisiert.

Die Trajtenbergkommission, die von der Regierung beauftragt wurde, Vorschläge für die Verbesserung der sozialen Lage zu machen, hat eine komische Mischung von Vorschlägen veröffentlicht. Sie vereinnahmt die Sprache der Bewegung, fügt einige kleine positive Änderungen (z.B. wird die Unternehmenssteuer erhöht, die Steuerreform zugunsten der Reichen eingefroren) und viele neo-liberale Pläne hinzu. Aus der gesamten Bewegung und darüberhinaus wurden diese Vorschläge als reine Kosmetik kritisiert. Andererseits hat Netanyahu sogar Probleme, diese Vorschläge in der Regierung durchzusetzen. Die Gegenkommission der Bewegung hat ihre eigenen Vorschläge publiziert, die sehr links-sozialdemokratisch sind, aber trotzdem die Vorschläge der Regierung als Bullshit entlarven.

Gab es weitere Demos und Streiks?

Seit dem 3. September gab es keine Massendemonstrationen mehr. Seit dem 10. Oktober gibt es kein anderes Thema mehr als die Freilassung von Gilad Shalit. Am 15.10. haben sich trotzdem 2000 AktivistInnen in Tel Aviv und 1000 in Haifa versammelt, Diskussionen geführt und eine kleine Reclaim the Streets-Party (auf dem Gehweg) gemacht. Die wurden von der Polizei ziemlich gewalttätig aufgelöst.

Allein in den letzten fünf Wochen gab es Streiks bei Haifa Chemicals, wo die Arbeiter am 6.10. die Eingänge blockiert haben; bei den Pflegeeinrichtungen für Holocaustüberlebende, die privatisiert werden sollen; am Nationaltheater; bei der Bahn, wo der Streik vom Gericht verboten wurde; und in einer Lebensmittelfabrik. Diese Streiks hatten mäßige Erfolge oder gar keine. Die Arztpraktikanten sind nach Yom Kippur der Arbeit ferngeblieben. Anfang Oktober hat Histadrut zum ersten mal gefordert, dass alle LeiharbeiterInnen vom Staat eingestellt werden sollen, sonst werde gestreikt.

Die Medien hatten entschieden, dass nach dem 3. September alles vorbei sein soll, was aber nicht der Fall ist. Es ist klar, dass die Bewegung sich ändert, andere Ziele und Diskurse annimmt und nicht jede Woche einen riesigen Hype schaffen kann. In diesem Sinn gab es einen Wendepunkt, gewollt oder nicht gewollt, wohin weiß aber niemand. Die Ereignisse in den USA machen gerade viele Leute enthusiastisch, sie können vielleicht wieder etwas bewegen. Auch die Drohungen, dass im September der Palästina-Konflikt eskalieren würde, haben sich nicht verwirklicht. Der israelische Mainstream interessiert sich immer noch mehr für die soziale Fragen und findet sich nicht so schnell wieder im Sicherheitsdiskurs ein.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Demo am 6.8.2011; Transparent: "Haut ab! Ägypten ist hier!";
- Zelt in Be'er Sheva mit Plakaten für bezahlbaren Wohnraum; Hausbesetzung in Jerusalem

Randnotiz

Das im Juli 2011 verabschiedete Anti-Boykott-Gesetz verbietet es, öffentlich zum Boykott israelischer Produkte, Betriebe oder Universitäten aufzurufen.

Raute

Occupy Oakland!

Am 10. Oktober hat sich Oakland (Kalifornien) der Occupy-Bewegung angeschlossen: Mehrere hundert Zelte auf der Oscar Grant Plaza vor dem Rathaus der Stadt, deutlich weniger im Snow Park ein paar Blocks entfernt.

Von den 420.000 EinwohnerInnen der Stadt waren im Zuge der (Immobilien-)Krise in den USA in den letzten drei Jahren um die 30.000 von Zwangsvollstreckungen betroffen. Hinzu kam die "übliche" städtische Kürzungsorgie: Entlassungen, Schließung von Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Bibliotheken. Im Monat vor der Platzbesetzung hatten mehrere hundert Familien eine Sitzung der Schulbehörde gestürmt, um weiteren Schulschließungen entgegenzutreten. Ein Zentrum der Aktivitäten auf dem Platz war dementsprechend die Organisation von freiem Unterricht, Kinderbetreuung, einer Bücherei, Essen.

Mehrere hundert Bullen räumten in der in der Nacht vom 25. auf 26.10 beide Camps. Mit Tränengas und Blendgranaten wurde der Platz gestürmt, um die hundert Leute festgenommen, viele verletzt, zumindest eine Person ist noch im Krankenhaus. Die gesamte Infrastruktur und die Zelte wurden kaputt gemacht, die Camps weniger geräumt als zerstört.

Auch in Atlanta wurde ein Camp geräumt, in anderen Städten gab es Angriffe durch die Polizei, die BesetzerInnen werden wütender und zeigen Durchhaltevermögen.

Inzwischen ist der Platz wieder besetzt, für den 2. November hat die Versammlung einen Generalstreik angesetzt. Von hier und heute aus ist es schwer zu sagen, was tatsächlich passiert und was es politisch bedeutet. Versuchen die Gewerkschaften, sich an die neue Mobilisierung dran zu hängen? Kommt es tatsächlich zu einer Ausweitung der Bewegung und einer stärkeren Thematisierung der Arbeitsbedingungen?

Zu den Ereignissen in Oakland haben wir nach der Räumung Post bekommen:

Bei der Demo gegen die Zerstörung von Occupy Oakland gestern gab es fünf massive Tränengaseinsätze. Ich hab hier in der Region von San Francisco erst einmal Tränengas erlebt, 2009 bei den Oscar-Grant-Riots. Für heute waren wieder Demos und eine Versammlung auf derselben Kreuzung geplant. Als die Demo um sechs Uhr abends anfing, war kein Bulle zu sehen - nur einige unten in der U-Bahn-Haltestelle.

Ich kam ein paar Minuten zu spät an. Die Oscar Grant Plaza war mit einem Gitterzaun abgeriegelt worden, aber der wurde gerade systematisch abgebaut, die Einzelteile ordentlich gestapelt. Die Masse kam, und kam... Die Versammlung fand im Amphitheater statt. Auf dem Höhepunkt nahmen ungefähr 3000 Leute teil. Es gab den Vorschlag, einen Generalstreik auszurufen. Wir teilten uns in Gruppen auf um darüber zu diskutieren.

Meine Gruppe war ziemlich gemischt, viele junge Proletarier aller "Rassen", aber auch ein paar ältere Leute. Einer führt einen Haushaltswarenladen, ein anderer mit seiner Frau zusammen einen Blumenladen. Die beiden vom Blumenladen waren für den Generalstreik, aber der Haushaltswarentyp benahm sich, als hätte er von so was noch nie gehört. Trotzdem diskutierte er wohlwollend und offen mit. Eine junge Frau erwähnte Details über den Generalstreik von 1946, dass damals die Kneipen geöffnet bleiben durften, solange sie bloß Bier verkauften und ihre Jukeboxen auf die Straße stellten. Eine andere Frau um die 30, alleinerziehende Mutter, fand die Idee gut, wollte aber lieber bis mittags arbeiten gehen und dann ihre Tochter von der Schule abholen.

Als ich dran war - alle waren so verdammt höflich und respektvoll, dass ich es schon unheimlich fand - erklärte ich, dass damals beim Generalstreik der komplette Handel dicht gemacht wurde und darin die Stärke lag. Ich erwähnte auch, dass der Vorschlag, ab mittags oder nach Feierabend zu streiken, benutzt worden war, um den Migranten-Streik am 1. Mai 2006 zu unterlaufen, vor allem in Los Angeles, wo die katholische Kirche, Gewerkschaften und Latino-Stadtbeamte mit ganzer Kraft verhindern wollten, dass es ein wirklicher Streik würde. Sie waren für eine symbolische Demo um fünf Uhr nachmittags, so dass niemand bei der Arbeit fehlen würde. Aber der harte Kern an der Basis ließ sich nicht klein kriegen, so dass am 1. Mai gleich morgens ein erheblicher Teil der Arbeiterklasse in L.A. auf der Straße war.

Die Debatten gingen hin und her, schließlich wurde von einem Konsens für den Generalstreik gesprochen. Meiner Meinung nach waren ca. drei Viertel dafür, ein Viertel dagegen, aber da so viele Leute da waren ist es schwer zu sagen. Ich bezweifele, dass es einen Generalstreik geben wird, aber die Idee wurde immerhin in die Weit gesetzt. Die Krise vertieft sich, und wer weiß, wie lange es noch dauert, bis sie umgesetzt wird und es den dritten Generalstreik in der Geschichte von Oakland geben wird.

Zur Unterstützung der Hafenarbeiter, die im September mit wilden Streiks und Sabotageaktionen in mehrern Städten die Häfen lahmgelegt hatten, soll am 2. November auch der Hafen von Oakland blockiert werden.


Randnotiz

In Oakland gab es bisher zwei Generalstreiks. Einmal 1934, damals ging es in San Francisco los und breitete sich über die Bay bis Oakland aus; und 1946, als beim letzten von sechs stadtweiten Streiks der gesamte Handel und die bürgerliche Presse still standen. Ein halbes Jahr später wurde das Taft-Hartley-Gesetz verabschiedet. Dieses Gesetz "regelt" die Arbeitsbeziehungen und funktioniert als Anti-Streik-Gesetzgebung, z.B. kann bei jedem Streik eine "Abkühlungszeit", d.h. eine sofortige Wiederaufnahme der Arbeit erzwungen werden, wenn er angeblich die nationale Sicherheit bedroht. Das wird auch angewendet, z.B. von der Regierung Bush gegen streikende Hafenarbeiter an der Westküste 2002.

Raute

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Quelle:
Wildcat 91 - Herbst 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011