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VORWÄRTS/1580: Schweiz - Liberalisierung des Strommarktes?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14 vom 24. April 2020

Liberalisierung des Strommarktes?
Verstaatlichung der Energiekonzerne!

von Amanda Ioset / Siro Torresan


Während sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Kampf gegen Covid-19 konzentriert, kündigt der Bundesrat seine Absicht an, den Strommarkt vollständig öffnen zu wollen. Er tut dies auf Druck der Europäischen Union und der Lobby der Energiekonzerne. Widerstand ist Pflicht. Die Partei der Arbeit fordert eine radikale Wende in der Energiepolitik.


Der Bundesrat beschloss an seiner Sitzung vom 3. April, den Schweizer Strommarkt vollständig zu liberalisieren. Zu diesem Zweck wird das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) unter der Leitung der sozialdemokratischen Bundesrätin Simonetta Sommaruga bis Anfang 2021 eine Revision des Stromversorgungsgesetzes (StromVG) ausarbeiten. Gleichzeitig leitet die Regierung Konsultationen über einen Entwurf zur Revision des Energiegesetzes (EnG) ein. Dies angeblich mit dem Ziel, die einheimischen erneuerbaren Energien zu stärken. Der gewählte Zeitpunkt, um diesen politischen bedeutenden Coup zu landen, hat es in sich: Während alle und alles sich im Kampf gegen das Corona-Virus befinden, lanciert der Bundesrat ein Projekt, das bereits schon mal von der Bevölkerung abgelehnt worden ist und gegen die vom Volk beschlossene "Energiestrategie 2050" verstösst. Doch der Reihe nach...


Der Mythos der geringeren Kosten

In der Schweiz sind seit 2009 bereits alle grossen Stromkonsument*innen (Jahresverbrauch von mehr als 100.000 kWh) zum freien Markt zugelassen. Die Regierung will nun, dass auch Haushalte und kleine Unternehmen "ihren Stromlieferanten frei wählen können". Eine "Wahlfreiheit", die angeblich allen zugute kommen soll. Werden die Verbraucher*innen wirklich profitieren? "Natürlich nicht", antwortet Gavriel Pinson, Präsident der Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS), auf Anfrage des vorwärts, denn "ausser der Profitgier der Energiekonzerne gibt es keinen Grund für eine solche Reform.". Pinson fügt hinzu: "Es ist offensichtlich, dass die Energielobby in Bern leider beste Arbeit geleistet hat. Die Leidtragenden werden einmal mehr die Arbeiter*innen und die Familien, sprich die breite Bevölkerung."

Zwar beteuert der Bundesrat, dass die Reform zu keiner Erhöhung der Strompreise führen wird. Doch ein Blick nach Deutschland zeigt die Preisentwicklung in einem komplett liberalisierten Strommarkt: Der durchschnittliche Strompreis für Privathaushalte ist seit dem Jahr 2000 von 13,94 auf 30,43 Cent pro Kilowattstunde im Jahr 2019 gestiegen. Dies entspricht einer Steigerung von 118 Prozent, beziehungsweise sechs Prozent pro Jahr. Für das Jahr 2020 wird eine weitere Teuerung von durchschnittlich erneut sechs Prozent vorausgesagt. Es liegt auf der Hand, dass es bei einer vollständigen Öffnung des Strommarktes in der Schweiz zu einer sehr ähnlichen Entwicklung der Strompreise kommen wird. Und zwar ganz einfach deshalb, weil die gleichen, kapitalistischen Marktmechanismen herrschen.


Im Sinne der EU

Die Europäische Union übt seit langem Druck auf die Schweiz aus, damit auch der hiesige Strommarkt komplett liberalisiert wird. In den 1990er-Jahren war das Mantra der europäischen Länder, die Liberalisierung durch sogenannte "Energiepakete" voranzutreiben. Dies ermöglichte es neuen Unternehmen, mit den etablierten Anbieter*innen zu konkurrieren. Im Jahr 2000 verabschiedete die Schweizer Regierung ein Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) mit ähnlichen Richtlinien wie jene der EU. Es sah eine vollständige Marktöffnung der Stromversorgung vor. Das Vorhaben und die bürgerlichen Parteien erlitten jedoch Schiffbruch bei der Abstimmung: Das Vorhaben wurde am 22. September 2002 mit 52,6 Prozent Nein-Stimmen versenkt.

Seit 2007 verhandeln die Schweiz und die EU über ein bilaterales Stromabkommen. Ein Vertrag, der "den grenzüberschreitenden Stromhandel regeln, die Sicherheitsstandards harmonisieren, den freien Marktzugang absichern sowie eine Mitwirkung der Schweiz in den verschiedenen Gremien garantieren" soll, informiert das Uvek auf seiner Website. Auch im Jahr 2007 erfolgt ein erster Schritt zur Angleichung an die EU durch die Verabschiedung des Stromversorgungsgesetzes getan, das einen "wettbewerbsorientierten" Strommarkt schuf. Eine erste Phase der Liberalisierung fand dann 2009 statt mit der Öffnung des Marktes für Grosskonsument*innen. Nun soll der zweite erfolgen - ganz im Sinne der EU und ihrem neoliberalen Credo.


Das grüne Mäntelchen der Regierung

In Zeiten der Klimastreiks und der Klimajugend ist es nicht mehr denkbar, eine Energiereform durchzusetzen, ohne sie mit dem Mäntelchen der "nachhaltigen Entwicklung" zu umhüllen. Weiter muss der Bundesrat zumindest so tun, als würde er "die Energiestrategie 2050" in Tat umsetzen wollen. Zur Erinnerung dazu: Am 21. Mai 2017 nahmen die Stimmbürger*innen der Eidgenossenschaft das revidierte Energiegesetz an. Es sieht unter anderem vor, die erneuerbaren Energien zu fördern. Zudem wird der Bau neuer Kernkraftwerke verboten. "Die Schweiz kann so die Abhängigkeit von importierten fossilen Energien reduzieren und die einheimischen erneuerbaren Energien stärken", ist auf der Website des UVEK zu lesen. Dies soll nun mit der geplanten Revision stattfinden, behauptet die Landesregierung.

"Das ist eine Lüge", hält Gaël Vuillème, Co-Präsident der Kommunistischen Jugend Schweiz (KJS) und Aktivist der Klimajugend gegenüber der westschweizerischen Wochenzeitung Gauchebdo fest. Er erklärt auch gleich den Grund: "Liberalisierung bedeutet, privaten Unternehmen mehr Macht zu geben. Diese sind ganz nach kapitalistischer Logik daran interessiert, kurzfristig maximale Gewinne zu erzielen. Sie werden sich daher nur auf die rentabelsten Investitionen konzentrieren und kaum auf längerfristige, nachhaltige und umweltfreundliche Energieprojekte." Der junge Genosse und Aktivist sagt weiter: "Um die erneuerbaren Energien zu entwickeln, muss man in der Lage sein, die gesamte Energieproduktion im ganzen Land zu kontrollieren und die Produktion auf der Grundlage der Bedürfnisse der Bevölkerung und des Umweltschutzes zu planen". Auf den Punkt gebracht: Die Liberalisierung des Strommarktes widerspricht diametral den Zielen der "Energiestrategie 2050". So viel zur direkten Demokratie.


Radikaler Kurswechsel gefordert

Ohne Widerstand wird die Regierung ihr Vorhaben jedoch nicht in die Tat umsetzen können. Die Grüne Partei, die SP sowie die Gewerkschaften lehnen eine komplette Öffnung ab. Gleicher Meinung ist auch die PdAS, die "entschieden die vom Bundesrat vorgeschlagene Liberalisierung des Strommarktes" ablehnt und einen "radikalen energiepolitischen Wechsel" vorschlägt. In der Medienmitteilung der Partei ist zu lesen: "Wir fordern die Verstaatlichung und somit die demokratische Kontrolle der Energiekonzerne. Nur so kann die Planung und Umsetzung einer Energiepolitik erfolgen, die dazu beitragen muss, unseren Planeten vor der Klimakatastrophe zu retten."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14 - 76. Jahrgang - 24. April 2020, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2020

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