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VORWÄRTS/1572: Massenlinie und die nationale Frage


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 09/10 vom 13. März 2020

Massenlinie und die nationale Frage

von Lukas Arnold


"Critical Whiteness" hat ihren Ursprung in der revolutionären Linken der USA. Ihre Geschichte ab den 1960er Jahren ist geprägt durch das Spannungsfeld von Rassismus, Sexismus und Kommunismus. Ein Beitrag zu einer Debatte, die in der revolutionären Linken in Europa geführt werden muss.


Wenn heute über Themen wie Identitätspolitik, Crititical Whiteness und strukturellen Rassismus gesprochen wird, verziehen sich die weissen Mienen der revolutionären Linken. Akademischer Habakuk oder reformistische Gefühlsduselei, so gängige Vorwürfe; behinderlich für den wahren, revolutionären Kampf, und in den wirren Köpfen akademischer Eliten entstanden, welche sich nicht mit den wichtigen Problemen zu beschäftigen wissen.

Bei all den Abwehrreflexen der Linken, sich mit rassistischen Machtstrukturen in ihren eigenen Reihen auseinanderzusetzen, geht vergessen, dass die Debatte um die Frage von Whiteness und strukturellem Rassismus ihren Ursprung in der revolutionären Linken, in der Beschäftigung mit ihrem eigenen Rassismus selbst hat. Und dies in einer Zeit, als diese Frage zentral für die Bewegung war: In der Debatte der US-amerikanischen anti-revisionistischen Linken der 1970er Jahre, die ebenfalls stark mit einer Auseinandersetzung mit Patriarchat und Sexismus geknüpft war. Und an der sie - zumindest vorerst - scheiterte. Ein ähnliches Schicksal droht der revolutionären Linken in Europa, deren Gesellschaftsstruktur immer noch durch weisse Machthierarchien geprägt ist, wenn sie nicht bereit ist, die Debatten zu führen, die geführt werden müssen.


Schwarzer Widerstand und Neue Linke

Die "langen 60er" in den USA waren geprägt von massiven kulturellen und ökonomischen Veränderungen: Während die Wirtschaft ein starkes Wachstum erlebte, führte die USA den Vietnamkrieg, zu welchem es eine starke Widerstandsbewegung gab. Die "counter-culture", die Gegenkultur der Jugend, formte sich. Ein Ausdruck der "counter culture" war die Hippie-Kultur, deren betontes Auftreten für Frieden - und damit gegen den Vietnamkrieg - ein Kernmerkmal der Bewegung bildete.

Die 1960er Jahre waren aber auch Trägerin einer der wichtigsten Bewegungen der US-amerikanischen Geschichte: der schwarzen Befreiungsbewegung, auch Bürgerrechtsbewegung genannt. Als sich Rosa Parks 1955 weigerte, einen Platz im vorderen Teil des Busses in Montgomery einer weissen Person frei zu geben, war dies ein auslösender Moment für den antirassistischen Kampf der schwarzen Bevölkerung der USA. Bis in die 1960er Jahre formierte sich eine Massenbewegung, welche nicht nur in Konzessionen der Regierung wie dem Civil Rights Act 1964 mündete, sondern auch in militanten selbstorganisierten Gruppierungen, wie namentlich der Black Panthers Party.

Die 1960er war auch die Zeit, in welcher die Studierendenbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Als "Free Speech Movement" formierte sich diese aus (vorrangig weissen) Student*innen an den amerikanischen Elite-Universitäten. Aus einem Bruch mit der alten, moskautreuen kommunistischen Partei entstanden zahlreiche revolutionäre kommunistische Gruppierungen, die sich häufig auf Mao bezogen. Diese hatten gemeinsam, dass sie für eine revolutionäre Veränderung, für den Sturz des Staates und des Kapitalismus eintraten. Schliesslich waren die 1960er auch die Zeit, in der feministischer Aktivismus ihre Wiederbelebung erwirkte: In der Form von "second-wave feminism" waren es Frauen*, welche sich gegen patriarchale Machtstrukturen in den Neuen Linken auflehnten.

Diese vier Bewegungen würden die USA für immer verändern. Aber diese Bewegungen standen auch zum Teil in einem scharfen Widerspruch zueinander.


Wo sind die Massen?

Während auf den Universitäten viel von der proletarischen Revolution und Erhebung der Massen die Rede war, war die Realität folgende: Die revolutionären Parteien bestanden vorrangig aus weissen, männlichen Akademikern. Während sie sich der gleichen Sprache bemächtigten wie die revolutionären Bewegungen in den Befreiungskriegen im Trikont ("dritte Welt") und sich diese mitunter aneigneten, war die gesellschaftliche Realität die einer weiss-mittelständischen. Dies, während durch die schwarze Befreiungsbewegung eine tatsächliche Massenbewegung auf den Strassen vorzufinden war, zu welchen aber nur schwache Bindungen bestanden.

Der fehlende Massenbezug der studentischen Bewegung wurde von dieser auch erkannt, und bildete Gegenstand von zwei Ansätzen: Der separatistische Ansatz wollte Rassismus als eigenständige Form der nationalen Unterdrückung bekämpfen, und diesem auch dem Vorrang über den Klassenkampf einräumen. Der fusionistische Ansatz sah eine Einheit von antirassistischem und antikapitalistischem Kampf vor und vertrat die Auffassung, dass mit dem Sturz des Kapitalismus auch der Rassismus verschwinden werde; deshalb sei in erster Linie gegen den Kapitalismus zu kämpfen, von welchem Rassismus lediglich ein Ausdruck war. Vertreter*innen der ersten Linie war die Revolutionary Youth Movement (RYM), aus welchen die Weather Underground, aber auch die Revolutionary Communist Party um Bob Avakian entsprangen. Vertreterin der letzten war die Revolutionäre-Kommunistische Progressive Arbeiter*innen-Partei (Progressive Labor, PL). Alle waren Teil der Students for a Democratic Society (SDS), welche das Sammelbecken der studentischen Linken bildeten.


Gegen den Weissen Chauvinismus

In dieser Konstellation verfasste Noel Ignatiev, damals Mitglied der maoistischen Revolutionary League, 1966 das Pamphlet "White Blindspot" als Kritik an die PL: "Die grösste ideologische Schranke zu proletarischem Klassenbewusstsein, ist heute - und war geschichtlich - weisser Chauvinismus", schrieb er. Er kritisierte scharf, dass PL die rassistische Einstellung der Weissen als subjektiven Faktor ignorierten. Er plädierte darauf, dass als Voraussetzung für eine revolutionäre Bewegung Weisse ihren Chauvinismus überwinden sollen. Damit brachte Noel Ignatiev einen "toten Winkel" der Linken zur Sprache: Die Vorurteile, das Bias und damit der Rassismus waren ein Hindernis zur Bildung einer Massenbewegung. Die subjektiven Faktoren, also die Verankerung einer rassistischen Kultur in den Köpfen der Weissen, wurden zur Sprache gebracht. Und damit in der kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Weiss-Sein der Ansatz für eine revolutionäre Massenbewegung gesehen - "Critical Whiteness" war geboren. Übrigens: Noel Ignatiev war damals Fabrikarbeiter.

Die Auseinandersetzung mit weissem Chauvinismus breitete sich damit auch auf andere Teile der revolutionären Linken aus: Die kommunistischen Organisationen setzten sich aktiv mit Rassismus und internen Hierarchien auseinander: PL, zuerst vom Vorwurf des Rassismus überrascht, setzte die Einheit des Kampfes in den Vordergrund, und gliederte Schwarze und People of Color in die Führung ihrer Organisation ein. RYM vertrat die Auffassung, dass die Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe die oberste Aufgabe der kommunistischen Bewegung sei. Auch kleinere maoistische Organisation wie das OK schrieben: "Unsere kommunistische Bewegung hat die Ideologie des bürgerlichen Liberalismus geerbt. Sie sieht nationale Minderheiten in fast jeder Hinsicht als minderwertig an, nicht weil sie von Natur aus so sind, sondern wegen des Rassismus der weissen Arbeiter und der Tatsache, dass sie nicht die Gelegenheit hatten, von den "guten" Weissen hochgehoben zu werden." Dass Rassismus ein Problem war und ist, war in der Mitte der revolutionären Linken angekommen.


Sexismus vs. Rassismus?

Eine ähnliche Entstehungsgeschichte erfuhr der Feminismus des "second-wave feminism", welcher nicht gegen weisse, sondern gegen männliche Machtstrukturen innerhalb der Neuen Linken ankämpfte. Statt jedoch gemeinsam gegen weisse, männliche Hierarchien in der Neuen Linken anzukämpfen, prägten Widersprüche das Verhältnis des radikalen Feminismus zu den Antirassist*innen.

Dies kulminierte im historischen - letzten - Kongress der SDS 1969. Der Kongress fand in Chicago statt und daran teil nahmen Hunderte von Aktivist*innen von verschiedenen Organisationen aus den ganzen USA. Auf der einen Seite waren dies die Organisationen um die RYM, auf der anderen Seite PL. RYM betonte die Unterstützung antikolonialer Befreiungskämpfe, und lud den Sprecher der Black Panthers Party, Jewel Cook, ein. Während dieser die Wichtigkeit des antirassistischen Kampfes betonte, vertrat er auch krasse männliche-chauvinistische Aussagen: "Frauen haben ihre Rolle in der Revolution - liegend", sagte er, wonach er von PL mit Parolen niedergeschrien wurde, die ihm Sexismus vorwarfen. PL wurde aufgrund ihrer mangelnden Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe weisser Chauvinismus und konterrevolutionärer Verrat vorgeworfen.

Nach beidseitigen heftigen Vorwürfen, spaltete sich die SDS schliesslich: Auf der einen Seite stand PL, auf der anderen Seite die verschiedenen Fraktionen der RYM, woraus die Weatherman hervorging, aber auch die Avakianer. Die nationale Frage - also Rassismus - bildete den Hauptspaltungsgrund. Der Tendenz, dass Unterdrückte einer Unterdrückungsform stärker an anderen Unterdrückungsformen partizipieren, um ihre eigene Unterdrückung zu kompensieren, wurde aber nichts entgegengesetzt: Indem männlicher Chauvinismus innerhalb der antirassistischen Bewegung toleriert wurde, legte sie selbst einen Grundstein für ihren späteren Niedergang.


Die Negation der Negation: Intersektionalität

Nach der Spaltung der SDS versank die progressive Bewegung in den USA in einer Schwäche aus Sektierertum und Kleinkriegen, womit sie an gesellschaftlichem Einfluss einbüsste. Dies ist eine Folge der Unfähigkeit, weissem und männlichem Chauvinismus zu begegnen. Während feministische Kräfte, welche männlichen Chauvinismus ansprachen, und antirassistische Kräfte, die weissen Chauvinismus ansprachen, als Spalter*innen aus den Neuen Linken abgestempelt wurden, verlor die Neue Linke ihre Legitimität. Deren Parolen waren häufig Worthülsen und Phrasendrescherei, während sich rassistische und patriarchale Strukturen im Inneren hemmungslos reproduzieren konnten.

Einen Ansatz zur Überwindung dieser Widersprüche kam erst zehn Jahre später, als Kimberlé Crenshaw einen Artikel zu Intersektionalität publizierte. Dieser zeigte auf, dass Menschen, die an der Schnittstelle (intersection) von verschiedenen Diskriminierungsformen stehen, nicht durch antirassistische beziehungsweise antisexistische Praxis für sich geschützt sind. Dies lässt sich in der Praxis so verstehen, dass Menschen, die von mehrfachen Unterdrückungsformen - wie Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Islamophobie, Antisemitismus etc. - betroffen sind, auch ein stärkeres Interesse an der Beseitigung von allen Formen der Unterdrückung haben, und halt an weniger Unterdrückungsformen selbst partizipieren. Damit bilden sie die Grundlage dafür, eine antirassistische Praxis zu entwickeln, die nicht gegenüber männlichem Chauvinismus tolerant ist und eine feministische Praxis zu entwickeln, die nicht an rassistischen Unterdrückungsmechanismen partizipiert.

Ob die revolutionäre Linke in der Lage ist, Rassismus, Sexismus und andere Formen des Chauvinismus bei sich handzuhaben, und die Strukturen zu überwinden, wird wegweisend dafür sein, wie sie sich entwickelt. Parolen zu schreien, ist einfach. Den Parolen gemäss zu handeln, ist es nicht.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 09/10 - 76. Jahrgang - 13. März 2020, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2020

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