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VORWÄRTS/1551: Zurück auf Anfang?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 20. Dezember 2019

Zurück auf Anfang?

Interview mit Viktor Györffy von Florian Sieber


30 Jahre ist der Fichenskandal nun her. Direkt nachdem die Bespitzelung der Wohnbevölkerung publik wurde, tat sich im Bereich Überwachung was. Doch die Fortschritte wurden wieder rückgängig gemacht und nun werden wieder die Kompetenzen des Staatsschutzes ausgeweitet. Ein Gespräch mit dem Grundrechts-Aktivisten und Juristen Viktor Györffy.


vorwärts: 1989 wurde der Fichenskandal aufgedeckt. Was war damals los?

Viktor Györffy: Man hat ja schon lange gewusst, dass der Staatsschutz sehr viele Leute und Organisationen beobachtet. Und ein Telefonat der damaligen Bundesrätin Kopp mit ihrem Mann hat dann dazu geführt, dass eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement EJPD durchleuchtet hat. Und diejenigen, die die Untersuchung der PUK da in Auftrag gegeben hatten, haben dann auch in weiser Voraussicht beschlossen, dass auch der Staatsschutz in die Untersuchung mit einbezogen werden soll. Und dann hat man unter anderem auch untersucht, in welchem Ausmass der Staatsschutz eigentlich Überwachung betrieben hat. Dieses Ausmass hat dann eigentlich die schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Und hat auch insbesondere einige Parlamentarier*innen schockiert, die gemerkt haben, dass sie selber oder auch politisch aktive Familienmitglieder fichiert sind.


vorwärts: In der Zeit des Kalten Krieges war es eigentlich nichts Ungewöhnliches mit der Überwachung. Mal ganz doof gefragt: Was war so besonders problematisch an der Überwachung hierzulande?

Viktor Györffy: Gemessen an der Grösse der Bevölkerung sind in der Schweiz auch für damalige Verhältnisse ungewöhnlich viele Menschen überwacht worden. Dass die Tätigkeit des Staatsschutzes damals von der Logik des Kalten Krieges geprägt war, hat einen nicht überrascht. Aber wie weit das gegangen ist, dass beispielsweise weite Teile der Sozialdemokratie erfasst waren, dass man generell Friedensbewegung, Feminismus und viele andere Bewegungen und Organisationen im Blickfeld hatte, dass es sehr viele Personen gegeben hat, die einen Zusatz in der Fiche hatten, der bedeutet hätte, dass man sie in einer Krisenzeit oder im Kriegsfall sofort interniert hätte, das ging selbst in der Logik des kalten Kriegs extrem weit. Und es bedeutete für ganz viele Leute, die sich politisch engagiert haben, die ein konkretes Anliegen hatten oder sich für einen Fortschritt einsetzen wollten - auch wenn sie das auf demokratischen Weg gemacht haben und nichts anderes -, dass sie deshalb vom Staatsschutz als Staatsfeinde abgestempelt wurden.


vorwärts: Die ganzen Fragen von Fichen und Überwachung sind ja Kernthemen von grundrechte.ch. Warum?

Viktor Györffy: Unsere Vorgängerorganisation war ja das Archiv Schnüffelstaat Schweiz, das aus diesem Skandal heraus entstanden ist und das sich dann um die politische Aufarbeitung von dem Skandal bemüht hat. Auch um sicherzustellen, dass festgestellt werden kann, wie viele Menschen und in welcher Form sie von so einer Überwachung betroffen waren. Aber auch damit diese Fichen weiterhin, zum Beispiel für die Forschung, zugänglich sind.


vorwärts: Welche Menschen waren damals besonders von der Überwachung betroffen? Und wie sieht das heute so aus?

Viktor Györffy: Ein Teil von der Überwachung hat sich stark gegen die ausländische Bevölkerung und gegen Exilorganisationen in der Schweiz gerichtet. Aber ein beträchtlicher weiterer Teil hat sich praktisch gegen das gesamte progressive politische Spektrum gewandt, was dann teils sogar bis in eigentlich bürgerliche Kreise weiter ging. Politisches Engagement, das nach einer Veränderung strebte und in dem man sich auch mit anderen politischen Akteur*innen und Organisationen vernetzte, war a priori einmal verdächtig. Sie wurden in der Tendenz dann auch überwacht, wobei der Ansatz war, sehr breit und unterschiedslos zu überwachen. Es wurde daher nicht einfach nur dort überwacht, wo handfeste Beweise für eine gewalttätige oder terroristische Tätigkeit bestanden.

Was man auch erwähnen muss: Die Überwachung war ja nur ein Aspekt des Ganzen, gerade wenn man diese Kalte-Kriegs-Logik berücksichtigt. So wurden oft Daten, die der Staatsschutz oder nahestehende Kreise erhoben, ausgetauscht und verbreitet. Das Ganze hat dazu geführt, dass viele Leute beruflich Probleme bekamen, einen Karriereknick erlebten oder gar ein Berufsverbot bekamen. Das hat insbesondere Lehrer*innen betroffen, Gewerkschafter*innen aus den verschiedensten Branchen oder auch Journalist*innen und in Druckereien Beschäftigte. Wenn man jetzt heute schaut, welche Personen und Organisationen erfasst sind, bei denen eigentlich eine Überwachung nicht angemessen ist, stellt sich eben auch die Frage: Was genau ist eigentlich der Fokus beim Staatsschutz? Weswegen werden diese Leute erfasst? Und genau da kann man nur schwer Aussagen machen, da der Nachrichtendienst sich nicht in die Karten schauen lassen will. Aber eine Tendenz kann man schon feststellen: Dass politisch Engagierte, vor allem jene, die etwas ändern wollen, in diesem Land, besonders schnell erfasst werden. Wohl auch, weil man versucht, einen Zusammenhang zu militanteren Gruppen herzustellen. Und da bewegt man sich im gleichen Kontext wie schon vor dem Bekanntwerden des Fichenskandals, wo man eben hingeschaut hat: Haben die Grünen etwas mit den Kommunisten zu tun? Hat die Frauen*bewegung mit denen von ganz links zu tun? Und das ist bedenklich: Jedesmal, wenn man schaut, was der Staatsschutz macht, musste man feststellen, dass er eben die nötigen Schranken nicht setzt.


vorwärts: Aber nach welcher Logik geht das auf? Hatten diese Menschen aus Sicht des bürgerlichen Staats kein Anrecht auf diese Grundrechte?

Viktor Györffy: Solche Überlegungen spielten in der Praxis des Staatsschutzes keine Rolle. Da war einerseits, wie schon erwähnt, eine Logik des Kalten Kriegs, aber darin verpackt eben auch ein Machterhalt der tonangebenden, primär bürgerlichen Kreise. Die Auseinandersetzung des Kalten Kriegs wurde hier dann eben auch durch den Staatsschutz geführt. Welche Rechte der Betroffenen dadurch verletzt wurden, nur schon dass der Staatsschutz für seine Arbeit eine korrekte rechtliche Grundlage bräuchte, das hat damals alles keine Rolle gespielt.


vorwärts: Und was ist bisher in dem Bereich geschehen?

Viktor Györffy: Das Bekanntwerden der Fichen sorgte für grosse politische Empörung. Es war auch die Zeit rund um den Mauerfall. Im ersten Moment wurde der Staatsschutz recht zurückgebaut. Als man dann aber ein paar Jahre später das Vorgängergesetz zum heutigen Nachrichtendienstgesetz ausarbeiten wollte, war der Widerstand aber bereits wieder beträchtlich zurückgegangen. Es standen andere Themen wieder mehr im Vordergrund. Es war auch eine Zeit, die stärker von einem Sicherheitsdenken geprägt war, wo auch das Schlagwort von der 'inneren Sicherheit' wieder eine grössere Rolle spielte. Einige Überwachungsmethoden, insbesondere die Überwachung von Post und Telefon, blieben allerdings dem Staatsschutz verwehrt. Heute ist ein Nachrichtendienstgesetz in Kraft, in dem auch so ein wenig als Spätfolge zum 11. September 2001 dem Staatsschutz wieder mehr Rechte zugestanden werden. Das beinhaltet dann eben Überwachung von Post und Fernmeldegeräten oder auch die Vorratsdatenspeicherung. Aber andere Überwachungsmassnahmen, beispielsweise auch computergestützte Massenüberwachung des gesamten Datenverkehrs bestimmter Internetleitungen, ist darin enthalten, so dass der Nachrichtendienst ein wenig Mini-NSA spielt.


vorwärts: In Hinblick auf die Skandale der Vergangenheit - hat sich die Situation verbessert?

Viktor Györffy: Also, es landeten damals ja viele Banalitäten in den Fichen, weil unterschiedslos gesammelt wurde. Damit verbunden waren aber auch abwertende Urteile. Der berühmt gewordene Satz 'trinkt abends gerne einmal ein Bier' war eigentlich eine Unterstellung, dass jemand alkoholkrank sei. Ich denke, heute wird nicht mehr ganz so breit und unterschiedslos gesammelt. Was man aber auch sagen muss: Das Arsenal, mit dem heute überwacht werden kann, ist sehr viel grösser als damals. Man hat dem Staatsschutz ähnliche Mittel, wie damals gegeben und zusätzlich hat der Nachrichtendienst heute auch noch weitergehende Mittel. Mit den Möglichkeiten von Datenspeicherungen und Datenverarbeitungen kann ein Staatsschutz mit vergleichbaren Informationen einfach viel mehr anfangen als noch früher, indem er die Informationen computergestützt auswerten und verknüpfen kann.

Insofern ist mit mehr Überwachung zu rechnen und diese Mini-NSA-Methode, sie nennt sich 'Kabelaufklärung', betrifft uns alle. Das kann alle treffen, die über eine Leitung kommunizieren, welche von der 'Kabelaufklärung' erfasst ist. Und über welche Leitung die eigene Kommunikation geht, kann man nicht beeinflussen.

Der Fokus hat sich entsprechend der ganzen politischen Landschaft und dem Fokus des Nachrichtendienstes zufolge verschoben. Es sind nach wie vor sicher viele Ausländer*innen und Exilorganisationen betroffen. Dort muss man weiterhin von einer sehr breit angelegten Überwachung ausgehen.

Was auch wichtig ist: Neu ist ja mit dem aktuellen Gesetz festgelegt, in welchen Bereichen der Staatsschutz eigentlich überwachen darf und in welchen nicht. Im Fokus steht zum Beispiel Terrorismus. Auch mit gewalttätigem Extremismus darf sich der Staatsschutz befassen, dort stehen ihm aber nicht alle Mittel zur Verfügung. Generell darf er die Ausübung politischer Grundrechte nicht überwachen. Allerdings: Jedes Mal, wenn man hingeschaut hat, hat sich gezeigt, dass sich der Staatsschutz nicht an solche Schranken hält. Vor ein paar Jahren wurden ja einige Fälle bekannt. Da wurde beispielsweise Balthasar Glättli erfasst, weil er Bewilligungsinhaber einer friedlich verlaufenen Demo war. Im Verlauf der letzten zwei, drei Jahre wurden wieder neue Fälle bekannt, was dazu führte, dass viele Akteur*innen und Organisationen Einsicht in die Akten verlangen. Und hier wurde wieder klar, dass viele überwacht werden, die in den Computern des Staatsschutzes nichts zu suchen haben.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 75. Jahrgang - 20. Dezember 2019, S. 16
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2020

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