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VORWÄRTS/1504: An jeder Nachfrage vorbei gebaut


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 6. September 2019

An jeder Nachfrage vorbei gebaut

von Florian Sieber


Wer in eine der grossen Städte der Schweiz ziehen will, hat es im Moment schwer. Dabei wird in der Schweiz wie verrückt gebaut. Es herrscht Bauboom im Bereich von Mietwohnungen. Viele Bauprojekte zielen auf eine gutverdienende Klientel. Es fehlt an günstigem Wohnraum. Dabei stehen Zehntausende Wohnungen im Land leer.


Es ist wieder soweit: Das Herbstsemester an der Universität steht bevor und Zehntausende Studienanfänger*innen in der ganzen Schweiz suchen nach günstigen WG-Zimmern und Wohnungen in den Universitätsstädten des Landes. Besonders in der Preishochburg Zürich sind bezahlbare Wohnungen rar gesät. Wenig erstaunlich also, dass eine Wohnungsbesichtigung im Kreis 4 letzten Monat für eine 300 Meter lange Schlange sorgte. Im November 2018 kam es bei einer Besichtigung in Oerlikon laut einem Bericht im Tagesanzeiger gar zu einem Auflauf von 500 Personen. Um der Situation Herr zu werden, wurde die Polizei aufgeboten.

Besonders betroffen von so einem Ansturm seien laut Tagesanzeiger Genossenschaftswohnungen, bei denen die Mieten entsprechend niedrig seien. Dabei dürfte angesichts des Booms der momentan in der schweizerischen Baubranche herrscht, nach allen Regeln des freien Marktes keine Knappheit an bezahlbaren Wohnungen vorliegen, da seit neun Jahren energisch gebaut wird in der Schweiz. Der Bauboom hat jedoch wenig mit reeller Nachfrage zu tun. Er ist Folge der rekordtiefen Zinsen. Mit dem Zinstief begannen reiche Private und hauptberufliche Spekulant*innen Wohnraum als Anlagemöglichkeit zu nutzen, die höhere Renditen verspricht. So wird munter weiter gebaut, auch wenn die Nachfrage zurückgeht. 2009 wurde noch der Bau von 15.000 Mietwohnungen bewilligt, letztes Jahr waren es bereits 28.000. Mittlerweile stehen in der Schweiz laut Zahlen von einer CS-Studie von 2018 insgesamt 72.000 Wohnungen leer.


Wir bauen uns eine eigne Krise

Dass trotz mangelnder Nachfrage weitergebaut wird, kennt man bereits aus der Vergangenheit. Konkret: Aus der Zeit vor dem Aufbrechen der Immobilienblase, welche für die globale Wirtschaftskrise sorgte, die 2008 begann. Auch damals schien es für die überkapitalisierte US-Baubranche nur einen Weg zu geben - nach oben. Während die Profite und Kurse stiegen, gingen den Spekulant*innen aber die Konsument*innen aus, um die nötige Nachfrage zu schaffen. Banken sprangen in die Bresche und schufen mit faulen Krediten an sogenannte NINJA-Kunden (No Income, No Job or Assets - Kunden ohne Einkommen, Job oder Vermögen) deren Bonität besonders schlecht war, die künstliche Kaufkraft, um die Immobilienmaschinerie am Laufen zu halten. Bis die Kaufkraft auf Pump nicht mehr mithalten konnte und die Blase platzte. Dass die Blase, die auf unserem eigenen Immobilienmarkt entstand, platzt, scheint alles andere als ausgeschlossen. Auch in der Schweiz steigt die Privatverschuldung wie dies in den USA vor Beginn der Krise der Fall war. Mittlerweile sind Herr und Frau Schweizer Weltmeister darin, Schulden anzuhäufen. Besonders grossen Anteil an der Verschuldung haben Hypotheken. Sollten die Zinsen wieder steigen, was zu erwarten ist, könnte das fragile Gefüge auseinanderbrechen. Dadurch würden Immobilienpreise sinken und als Sicherheit angegebene Immobilien könnten Kredite womöglich nicht mehr decken. Für Schweizer Banken, die im Immobiliengeschäft agieren, könnten plötzlich auf unzähligen faulen Krediten sitzen zu bleiben. Im Extremfall würden die Banken dadurch selber zahlungsunfähig.


Entwurzelung aus dem gewohnten Umfeld

Wozu es führt, wenn man das Grundbedürfnis Wohnraum dem freien Markt überlässt, zeigt die Entwicklung in den Städten Deutschlands. Als in den 70ern und 80ern Immobilienbesitzer*innen damit begannen, städtische Wohnungen verfallen zu lassen, um sie als sanierungsbedürftig renovieren zu können, war vielen noch nicht klar, was für eine Preistreiberei mit den Sanierungen einhergehen würde. In den Städten begann damals schon eine richtiggehende Vertreibungs- und Gentrifizierungspolitik, die letztlich in der Hausbesetzer*innenbewegung mündete.

Die Konterrevolution und kapitalistische Restaurierung im Osten Europas sorgte dafür, dass das gut ausgebaute soziale Wohnungsbausystem in der DDR verramscht wurde. In Dresden wurden beispielsweise sämtliche Sozialwohnungen an private Investor*innen verkauft. Und der Prozess hält bis heute an - auch in der Schweiz, wie Fabian Gloor vom Mieterinnen- und Mieterverband (MV) im Gespräch mit dem vorwärts erklärt: "Ja, das mit der Verdrängung ist ein grosses Problem, wegen dem viele langjährige Mieter*innen aus ihren Wohnungen müssen." So würde oft total saniert, wenn eine sanfte Renovierung reichen würde, um höhere Mietzinsen umzusetzen. Angeboten würden nachher Wohnungen, die die meisten Mieter*innen nicht mehr bezahlen könnten. Für viele bedeutet das eine Entwurzelung aus einem gewohnten Umfeld.


Enteignung gegen Spekulant*innen

In Deutschland ist die Wohnraumproblematik im Kern dieselbe, wie in der Schweiz. Nur wird noch mehr am Bedarf vorbei gebaut und die Krise verschärft sich durch die prekäre soziale Lage in der Bundesrepublik. So hat Deutschlands Zahl an Wohnungslosen in den letzten Jahren auch als Folge der Prekarisierungen im Arbeitsrecht durch die Agenda 2010 und den damit wachsenden Niedriglohnsektor extrem zugenommen. 2016 waren es insgesamt 860.000 Personen, die keinen eigenen Wohnraum zur Verfügung hatten. Auf diese kommen insgesamt 2,14 Millionen leerstehende Wohnungen. Als Antwort auf die Notlage bekommt nun die Forderung nach der Enteignung von Immobilienkonzernen in deutschen Grossstädten immer mehr Gehör. Besonders in Berlin wird mit der Kampagne für die Enteignung des Unternehmens Deutsche Wohnen AG mit einem Volksbegehren gekämpft. Die Forderungen des Volksbegehrens gehen aber weiter: So sollen Immobilienkonzerne enteignet und unter Marktwert entschädigt werden, die vergesellschafteten Wohnungen sollen dann in eine nicht-privatisierbare Anstalt öffentlichen Rechts überführt und dann als Gemeineigentum von Mieter*innen und Stadt gemeinsam verwaltet werden. Angesprochen auf die Pläne in Berlin meint MV-Mitarbeiter Gloor: "Ja, das wäre wünschenswert, wenn es so etwas in der Schweiz auch gäbe."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 75. Jahrgang - 6. September 2019, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2019

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