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VORWÄRTS/1474: Zu schön um wahr zu sein?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 31. Mai 2019

Zu schön um wahr zu sein?

von Fabian Perlini


Eine Gesetzesvorlage will das Steuersystem revolutionieren: Würde der enorm angewachsene elektronische Zahlungsverkehr automatisch mikrobesteuert, könnten dadurch alle anderen Steuern ersetzt werden. Vier Wirtschaftsspezialisten erklären, dass es Zeit wird, den immens gewordenen Geldfluss ins Visier zu nehmen.


Hinter dem revolutionären Steueranliegen stehen vier Akademiker, die sich seit einigen Jahren intensiv damit beschäftigen: Der Finanzunternehmer Felix Bolliger, Wirtschaftsprofessor Marc Chesney (UZH), Professor für Elektrotechnik Anton Gunzinger (ETH) sowie Alt-Vizekanzler Oswald Sigg (SP): Nicht mehr die einzelne (natürliche oder juristische) Person soll besteuert werden, weder für ihre Arbeit, noch ihr Kaufverhalten, sondern neu soll lediglich der gesamte elektronische Zahlungsverkehr besteuert werden.

Eine solche automatische Mikrosteuer ist einfach zu verstehen und zu erheben. In der Verfassung soll stehen: "Der Bund erhebt auf dem bargeldlosen Zahlungsverkehr eine Mikrosteuer mit einem einheitlichen Satz auf jeder Belastung und jeder Gutschrift" (BV Art. 128a, Abs 1). Gemäss diesem Gesetzesvorschlag würde also bei der Verbuchung jeglicher Zahlung automatisch ein einheitlicher Mini-Betrag abgezogen. Die Initianten meinen, dass damit die Stempelsteuer und bald darauf genauso die Mehrwertsteuer und die direkte Bundessteuer ersetzt werden könnten. Die Mikrosteuer sei so ergiebig, dass sie sogar alle Steuern ersetzen könnte. Das Leben würde für die meisten Bürger*innen billiger und erst noch müsste niemand mehr eine Steuererklärung ausfüllen. Klingt zu gut, um wahr zu sein.


Ein Promille würde genügen

Das kapitalistische Finanzsystem überdehnt den Faktor Kapital, indem es via Kredit mit starker Hebelwirkung operiert. Insbesondere das letzte Vierteljahrhundert ist geprägt von einer vielschichtigen Finanzialisierung der Wirtschaft (financialisation of the economy), ein Phänomen, das den Zahlungsverkehr massiv aufbläht. Allein via Swiss Interbank Clearing (SIC), die Plattform von PostFinance, Banken und Nationalbank, wurden bereits zwischen 2002 und 2010 jährlich 41.000 bis 52.000 Milliarden Franken abgewickelt. Und ab 2011 nahmen die Transaktionsvolumen markant zu: Sie belaufen sich für 2011 auf 63.000 Milliarden und 2012 waren es bereits 95.000 Milliarden.

Damit ist die Finanzwirtschaft in eine Dimension vorgestossen, die mit der real produzierenden Wirtschaft keinesfalls mehr deckungsgleich ist. Wenn nun aber diese Transaktionen steuerlich belastet würden, wäre dies enorm ergiebig. Bei 100.000 Milliarden Franken Zahlungsverkehr genügt rund ein Promille Mikrosteuer pro Belastung und pro Gutschrift, um den Finanzbedarf der öffentlichen Haushalte von Bund, Kantonen, Gemeinden und öffentlichen Sozialversicherungen abzudecken (aktuell insgesamt etwa 230 Milliarden Milliarden). Die Folge: "Der gegenwärtige Wirrwarr an direkten und indirekten Steuern und Abgaben kann durch eine einzige, nationale und schmerzfreie Mikrosteuer ersetzt werden", halten die Initianten fest.


Wer bezahlt die Zeche?

Alle vier wehren sich dagegen, dass harte Arbeit und Unternehmertum heute bestraft, und die ärmsten Bevölkerungsschichten mit Konsumsteuern belastet werden, anstatt entlastet. Nicht zuletzt ist die heutige Form der Steuererhebung nicht nur für Bürger*innen und Unternehmen, sondern auch für den Staat mit gewaltigem Aufwand verbunden.

Aber wenn von diesem neuen Steuersystem sowohl Arbeiter*innen als auch Unternehmer*innen profitieren würden, wer bezahlt dann die Zeche? Nicht profitieren würden Leute, die Spekulationsgeschäfte in astronomischer Höhe betreiben: der hochfrequentierte und logarithmierte Handel mit Aktien, Derivaten und Devisen. Doch dieser ist ohnehin mit kaum kalkulierbaren System-Risiken verbunden. Ein Abbremsen dieses Hochfrequenzhandels wäre sinnvoll.

Ein weiterer Vorteil der Mikrosteuer wäre die damit ermöglichte Transparenz der Finanzströme. "Auf Transparenz haben wir Anrecht", fordern die Initianten, "denn im Krisenfall haften unsere Steuergelder für das Finanzsystem." Dies sah man in der Finanzkrise 2008, als Regierungen und Notenbanken auf dem falschen Fuss erwischt wurden und die Allgemeinheit für den Schaden aufkommen musste.

Ob die Initiative erfolgreich sein wird, ist dennoch fraglich. Die Gefahr der Abwanderung ins Ausland wurde im Verfassungsentwurf zwar berücksichtigt, doch gibt es auch viele Gestalten, die aus dem undurchsichtigen und ungerechten Steuersystem ihren Nutzen ziehen. Auch den vier Initianten ist bewusst: "Steuerauflagen und Steuergeschenke gehören zum Machtinstrumentarium der politischen Parteien."

Weitere Infos: mikrosteuer.ch

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18 - 75. Jahrgang - 31. Mai 2019, S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2019

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