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VORWÄRTS/1339: Mittel zur Aufklärung und Politisierung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 23. November 2017

Mittel zur Aufklärung und Politisierung

von Sabine Hunziker


Der Film im Sozialismus war keine Ware mehr. Am Beispiel des Stummfilms "Streik" von Sergei Eisenstein zeigt sich, wie künstlerisch anspruchsvolles Kino als Medium des dialektischen Marxismus in der jungen Sowjetunion genutzt wurde.


Die kommunistische Partei Russlands wählte den Film zum wichtigsten Medium zur Verbreitung politischer Propaganda. Sergei Eisenstein sagte, dass die Grundlage jeder Kunst der Konflikt ist. Eine Prämisse des Marxismus besagt, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften, Geschichten von Klassenkämpfen sind. Künstlerische Arbeit schien sehr geeignet zu sein, um Aspekte der dialektischen Philosophie darzustellen. Kino bedeutete also modifiziertes Sehen mithilfe der "intellektuellen Montage". FilmpionierInnen experimentierten mit Material, Technik und Methode, um einen Avantgardefilm zu erschaffen, der in erster Linie keine Ware mehr sein musste, sondern ein Medium der Welterkenntnis. Mithilfe der bedeutungsschaffenden Zerteilung und Neuanordnung des Materials durch die Kunst der Montage erhielt die Filmtechnik eine rhetorische Wirkkraft. FilmemacherInnen und WissenschaftlerInnen zugleich: Im Vergleich zu den meisten amerikanischen RegisseurInnen, die höchstens an Memoiren arbeiteten, entwickelten fast alle sowjetischen KünstlerInnen Theorien zum Film. Sergei Eisenstein hatte das Ziel, mit seiner Filmmontage-Technik bildpraktische Philosophie zu betreiben und "Das Kapital" zu verfilmen, um dem Volk Begriffe wie Dialektik als These, Antithese und Synthese vermitteln zu können.


Mobilität und Universalität

Als entscheidendes Propagandamedium, das auf anschauliche Weise komplexe Zusammenhänge vermitteln kann, erreichten die Bilderfolgen auch Menschen, die des Schreibens und Lesens nicht mächtig waren. Den Massen konnten so der Marxismus und die dialektische Methode, die in schriftlicher Form einem Grossteil der Bevölkerung unverständlich war, Schritt für Schritt näher gebracht werden. Anders als zum konkurrierenden Radio, besitzt der Film mit dem bewegten Bild eine sinnliche Dimension mehr. Kino soll durch seinen Massencharakter (massenmedial), durch seine Mobilität und Universalität wirken. Clara Zetkin schrieb: "Sowjetrussland umschliesst grosse, aber bildungshungrige Massen, die in Hunderten fremder Zungen reden. Hier ist der (Stumm-) Film ein Volksbildungsmittel von ungeheurer Wichtigkeit." Sonst hatte Agitation und Propaganda oft Mühe geografische und kulturelle Hindernisse zu überwinden. Gründe dafür waren unter anderem die sprachliche Vielfalt zur Erschwerung der Kontaktaufnahme, der Analphabetismus, die Grossräumigkeit des Landes und der Mangel an medialer Versorgung vor Ort. Durch die Verwendung von aufklärendem Stummfilmmaterial, das erst auf Projektorwagen mit der Eisenbahn durchs Land fuhr, um bei jeder Haltestelle Filmvorführungen zu machen, war erstmals Volksbildung möglich. Später wurden Projektoren fix installiert in Jugend- und ArbeiterInnenclubs oder in den Räumlichkeiten ehemaliger Kirchen. - Nachdem die Ikonen aus dem Gebäude entfernt und der Kirchturm demontiert war, installierte man stattdessen einen mit Glühbirnen versehenen roten Stern.


Eine zeitlose Geschichte

"Ohne Organisation der Massen ist das Proletariat nichts. Organisiert ist es alles." Mit diesem Leninzitat beginnt der Stummfilm "Streik". Arbeitsniederlegung als wichtigstes Kampfmittel der ProletarierInnen bedeutete zu dieser Zeit, in der alle Verbände und Zirkel verboten waren, ein kriminelles Vergehen. Verboten, verfolgt und hart bestraft wurde diese Möglichkeit des Kampfes, und doch schrieb Lenin in "Was tun?": "Gebt uns eine Organisation von Revolutionären und wir werden Russland aus den Angeln heben!" Noch war es nicht soweit, doch Unmut gegen das Kaiserreich machte sich breit. Obwohl "Streik" zeitlich genau eingeordnet werden kann, ist die Geschichte rund um die ProletarierInnen auch genauso zeitlos, sie passt in die Zarenzeit genauso wie auch ins 21. Jahrhundert. Fast schon auf den Leib geschrieben sind den ProtagonistInnen die Rollen im Klassenkampf. Die Konfliktsituation bestehend aus Rede und Gegenrede, Handlung und Gegenhandlung läuft auf ein dramatisches Geschehen ab, das sich zu einem Höhepunkt zuspitzt.


Kapitalist mit Zylinderhut

In sechs Kapiteln ist diese Streik-Chronologie unterteilt, am Anfang noch ist alles ruhig in der Fabrik, obwohl das geübte Auge in den Schwarz-Weiss-Aufnahmen, die kontrastreich Gebäude mit Maschinen und rundherum das Gelände zeigen, erste Anzeichen entdecken kann, dass dies nicht so bleiben wird. Keine Hauptpersonen gibt es in "Streik", wohl aber eine Masse aus ArbeiterInnen, die trotz immer wechselnden Gesichtern erstaunlich menschlich bleibt, fassbar für die ZuschauerInnen. Männer besprechen sich, ziehen sich hinter Maschinenkästen zurück oder sind verdeckt im Gespräch durch Metallröhren. Auch der Kapitalist mit Zylinderhut im grossen Büro - gross ist auch die Hierarchie - ist wachsam und schickt Spione in die überfüllte Fabrikhalle herunter. Eisenstein setzte in seiner Produktion von 1925 noch wenig aufwendige Bildmontagen ein. Vielmehr sind es erste Versuche, die in nächsten Werken noch perfektioniert würden. So filmte er eine Momentaufnahme in einer Wasserpfütze und später eine Miniszene kopfüber in einer Glaskugel. Bildmaterial eines Orgelmanns mit einem Tanzbären ist mitten in die Arbeitskämpfe eingestreut, so dass klar wird, für welche Gruppe welche Figur steht. Auch am Schluss erkennt der/die BetrachterIn unmissverständlich, wer auf den Schlachthof geführt wird, als beim eingeführten Film ein Metzger der Kuh das Messer in den Hals stösst und Wunden ausbluten lässt.


Arbeit wird verweigert

Trotz der schweren Grundthematik lässt der Regisseur auch Humor einfliessen. Auf dem Polizeiposten soll ein Spitzel mögliche Rädelsführer des Streiks benennen, ihre Fotos in den Polizeiakten sind beweglich, die Männer blinzeln und machen Faxen im Fotorahmen. Alles wird anders, als jemand in der Fabrik ein Werkzeug entwendet und man den bestohlenen Arbeiter selbst als Dieb beschimpft. Aussichtslos so eine neue Stelle finden zu können, erhängt sich der Arbeiter in der Fabrik. Der hinterlassene Brief lässt die Arbeiterschaft das tun, was bereits Wochen zuvor in heimlich verteilten Flugblättern angekündigt worden ist: Die Arbeit wird ab jetzt verweigert. Mit erhobenen Fäusten verlässt ein Menschenstrom die Produktionsstätten, Frauen stossen dazu und Kinder. Öffnet die Tore! Sporadisch streute hier der Regisseur marxistische Parolen ins Filmmaterial ein, daneben Forderungen und Schlüsselwörter des Marxismus, zur Untermalung der dazu passenden Darstellung. Spürbar ist in einem nächsten Teil, wie die Menschen ihre Kraft und Macht über das Kapital erfahren, ausloten und auskosten. Leben ausserhalb der Fabrikmauern wird sichtbar, Tanz oder Handorgelspiel, und Väter können mit ihren Kleinkindern Zeit verbringen. Familien finden sich in der neu hinzugewonnenen Zeit, wie das zuvor in schier endlosen Arbeitstagen niemals stattgefunden hat. Mit der Euphorie wird zugleich auch klar, dass es nicht einfach wird, alte Strukturen zu kippen.


Leere Teller

Neben der Szene mit dem Schlachtvieh ist der Teil mit der Zitronenpresse Schlüssel zum Verständnis der Klassenherrschaft: Vier Kapitalisten sitzen sich in Ledersesseln in einem Viereck gegenüber. In der Mitte ein Tisch als Zentrum. Sie versuchen, beim Gespräch der Problematik des Streiks Herr zu werden. Als der Stumpenrauch immer dichter wird, klappt einer die Tischplatte auf, um mithilfe eines komplizierten Mechanismus Getränke, Gläser und eine Zitronenpresse zum Vorschein zu bringen. Unter dem Hebeldruck fliesst der Saft, doch eine Zitronenschale fällt und bleibt auf einem Lackschuh haften. Der Versuch, mit einer Serviette den Abfall zu beseitigen, misslingt, so muss ein Bediensteter gerufen werden, der sie an sich nimmt. Gleichzeitig rüstet sich die Polizei in den Kasernen aus, um den Streik aufzulösen. In den Behausungen der ArbeiterInnen herrscht Katerstimmung, denn das Geld geht aus und erste Gegenstände werden auf dem Flohmarkt verkauft. Hier findet sich erneut eine starke Filmsequenz von Eisenstein, in der ein Kleinkind nur leere Teller im Haus vorfindet. Als es zu weinen beginnt, wirft ihm der Vater, der sich zu dieser Uhrzeit noch im Bett befindet, den leeren Geldbeutel in die Schüssel. Vergeblich beisst das Kind auf dem harten Leder der Börse herum. Solche wiederkehrenden Darstellungen der Verelendung der Masse ab Beginn des Films werden bei Eisenstein als Mittel der Aufklärung und schlussendlich der Politisierung der BetrachterInnen eingesetzt. So ist nachvollziehbar, warum es zum Kampf der Klassen kommt, ohne aber in Klischees abzudriften. Als Gegenzug dazu Arroganz und Verschwendung bei den KapitalistInnen: Der Champagner fliesst, fliesst und schäumt über den Rand des langstieligen Glases.


Klare Botschaft

Weiter geht das Gefecht, Spione sind erneut unterwegs und auch Provokateure. Letztere legen einen Brand und die Feuerwehr rollt ihre Schläuche aus. Nachdem keine Flammen mehr zu sehen sind, wird der starke Wasserstrahl eingesetzt, um die Arbeiterschaft auseinander zu treiben. Der Teil sechs beginnt und zeigt eine getriebene Masse, gejagt und bereits besiegt vom Kapital, im Schlepptau Polizei, Feuerwehr und später Militär. Bis in ihre eigenen Quartiere jagt die berittene Polizei die Streikenden; ein Durcheinander von rennenden Leibern, dem Muskelwerk der Pferden, Schläge und flatternden Betttüchern lässt alle Übersicht verloren gehen. Es genügt den KapitalistInnen nicht, ihre FeindInnen in ihre ärmlichen Quartiere zu treiben: Männer, Frauen und Kinder werden vor die Stadt in die Wiesen getrieben, wo schon Einheiten der Armee warten und schiessen. Bedeckt ist der Boden mit Leichen, das Kapital hat gesiegt. "Ohne Organisation der Massen ist das Proletariat nichts. Organisiert ist es alles." Es gilt sich zu erinnern, was das wahre Wesen des Kapitalismus ist, das will der Film sagen. Und obwohl am Ende eine ganze Belegschaft samt ihren Familien tot auf der Erde liegt, ist die Botschaft klar: Tut euch zusammen, alle, und ihr könnt die Bedingungen dieser Welt verändern; Das sagte hier Eisenstein. Ein paar Jahre zuvor war diese Vision bereits Wirklichkeit geworden.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 73. Jahrgang - 23. November 2017, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2017

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