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VORWÄRTS/1293: Familie im Kulturkampf


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20 vom 10. Juni 2017

Familie im Kulturkampf

Von Sabine Hunziker


Während der Oktoberrevolution wurde versucht, die patriarchalische Familie abzuschaffen. Durch die Änderung des Familienrechts veränderten sich die Ehe, die Scheidung, das Erbrecht oder das Vorgehen bei Unterhaltszahlungen. Aktiv wurden auch neue Kinderrechte gefördert.


"Kommunismus ist nicht nur auf dem Land, in der Fabrik, im Schweisse unserer Arbeit. Er ist zu Hause, am Tisch, in der Familie und im täglichen Umfeld", schrieb der Dichter Wladimir Majakowski.

Der Revolutionär Lenin behandelte die Familienfrage nicht isoliert, sondern begriff sie als Teil der wirtschaftlichen Umwälzung - er forderte eine sofortige Neuordnung. Das Familienrecht regelt unterschiedliche Bereiche des Familienlebens. Darunter fallen die Beziehung zwischen Frau und Mann, zwischen Eltern und Kindern oder wie im Fall der oft dazugehörigen Ehe, die Scheidung, die Abtreibung, das Erbrecht oder das Vorgehen bei Unterhaltszahlungen. Mit dem Gesetz der Möglichkeit zur zivilen Ehe von 1917 als eine der Einzelmassnahmen sollte eine gesamte Reorganisation des Alltags der Familie in Gang gesetzt werden, wobei viele Bereiche in staatliche oder kollektive Verantwortung gelegt werden sollten - ohne allerdings die Familie an sich abzuschaffen.

Neben dem darauf eingeführten Recht zur Scheidung musste neu die Frau 16 Jahre und der Mann mindestens 18 Jahre alt sein, um heiraten zu können. Gleichberechtigt war das Paar bezüglich der elterlichen Autorität bei Entscheidungen in der Erziehung. Nicht nur die Erwachsenen, auch die Kinder erhielten Rechte: Künftig wurde nicht mehr zwischen legitimen und illegitimen Töchtern und Söhnen unterschieden. Adoption war nicht erlaubt, weil staatliche Erziehungsanstalten sich besser um die Kinder kümmerten. Das Argument dafür: oft wurden adoptierte Kinder - vor allem auf dem Land - noch stark ausgebeutet bei der Arbeit im Haus und Feld.


Pfeiler des Kapitalismus

Beim Erbrecht wurde festgelegt, dass Kinder keinen Rechtsanspruch auf den Besitz ihrer Eltern hätten - umgekehrt aber auch nicht. Diese Gesetzgebung war schlussendlich eine der wichtigsten der russischen Revolution, denn eine kommunistische Gesellschaft kann nur 'ohne Privateigentum' aufgebaut werden. Friedrich Engels skizzierte in "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", wie urgeschichtlich die Gesellschaft in Gentes (Sippen) organisiert war, die zusammen Eigentum bewirtschafteten. Rechte und Regeln wurden mit Hilfe von Kollektiventscheiden gefällt - so gab es beispielsweise das Erbrecht nicht, weil Güter und Land allen gehörten. Mit der mit technischen Innovationen verbundenen wachsenden Produktivität wurde vermehrt Überschuss produziert und Überschüssiges getauscht, wenn es nicht in der Sippe verwendet werden konnte. Verbunden mit dem Warentausch war auch die Bildung von Reichtum, den die BesitzerInnen bald nicht mehr mit der Gemeinschaft teilten, sondern anhäuften. Grosse Besitztümer sollten für die eigenen Nachkommen mit Hilfe des Erbrechts reserviert werden. Damit entstand das Privateigentum. Es bildeten sich Risse in der Gesellschaft, und bald unterschied man nicht mehr zwischen Gentes, sondern zwischen armen und reichen Familien innerhalb der Sippen.

Während der Revolutionsjahre blieb der Mann der Familie gegenüber zwar unterhaltspflichtig, das eheliche Güterrecht hatte aber das Prinzip der Gütertrennung und der während der Ehe gemeinsam erarbeitete Besitz war gemeinsames Eigentum. Es durften kleine Vermögen an noch lebende Ehegatten vererbt werden.


Befreiung von Mann und Frau

Nicht lange nach dem Inkrafttreten des neuen Familienrechts erschien die Schrift "Die Familie und der kommunistische Staat". Die Autorin Alexandra Kollontai stellte jenen Teil der neuen Rechtssituation ins Zentrum, welche die Situation der Frau grundlegend änderte: das Scheidungsrecht. Viele proletarische Arbeiterinnen begrüssten diese Möglichkeit, andere hatten noch Angst - wirtschaftlich und vielleicht auch emotional abhängig von ihrem Mann -, auch wenn die Beziehung an sich längst unwirtlich geworden war. Die Autorin bestärkte Frauen wie auch Männer darin, grösseres Vertrauen zur Gemeinschaft und auch zum Staat zu entwickeln, statt den Fehler zu machen und sich vollständig auf einzelne Personen zu stützen. Kollontai zeigte im Text auf, dass keine bestimmte Form von häuslichem Leben für immer und ewig festzuhalten war - für sie stand das Verschwinden der klassischen Familie bevor.

Die Umorganisation einer der Hauptfunktionen der traditionellen Familie wie Kindererziehung und Hausarbeit in Form der Kleinarbeit der Hauswirtschaft sollte zwecks Gleichberechtigung von Frau und Mann immer mehr gemeinschaftlich im Kollektiv als sozialistische Grosswirtschaft gemacht werden. Dabei mussten nicht nur die Frauen "befreit" sein, sondern auch die "Erziehung der Männer" war eine politische Aufgabe: Männer sollten ihre Frauen tatkräftig bei der Befreiung unterstützen und selber umdenken lernen. Da Mann wie Frau je länger je mehr in der Produktion tätig sein würden, würde vor allem die Frau eigene Finanzen haben und konnte somit gesamthaft unabhängiger sein. So zerfällt langsam die patriarchalische Familie und der Mann verliert seine Funktion als "Oberhaupt der Familie".


Gesellschafts- statt Kleinfamilie

Lernprozesse auch bei der Frau: Mütter müssen die alte besitzergreifende Haltung oder die allumfassende Aufopferung gegenüber ihren Kindern ablegen. Mit der Zeit sollte nicht mehr zwischen eigenen und fremden Kindern unterschieden werden - im Sinne von: nicht nur das eigene Kind erhält Zuneigung und die anderen sind gleichgültig. Die Gesellschaft ist gemeinsam verantwortlich für die Kinder Russlands. Die traditionelle Kleinfamilie wird also einer grossen Gesellschaftsfamilie Platz machen, bei der in Form von Krippen, Kindergärten, Wasch- und Speiseanstalten die Arbeit geteilt und die Erziehung und das Leben gemeinschaftlich gestaltet wird. Kollontai beschrieb in ihrem Text eine proletarische Version der Überwindung der Kleinfamilie, ohne aber explizit auf die Situation der BäuerInnen einzugehen. Wer keine Familienwünsche anstrebte und eine nicht beabsichtigte Schwangerschaft hatte, für diejenigen bestand kein Zwang mehr zur Austragung. 1920 wurde die Abtreibung legalisiert. Künftig konnten Frauen ohne Begründung und ohne Gebühr in sowjetischen Krankenhäusern einen Eingriff vornehmen lassen.


Unvorbereitet und ungewohnt

Alles in allem sollten diese neuen Rechte und Pflichten eine Übergangsgesetzgebung in einer Übergangszeit sein. Was auf der Gesetzesebene bereits festgehalten war, musste aber noch die Gesellschaft selber durchdringen. Die Revolution hatte Veränderungen in das Familienleben gebracht, doch viele Fragen blieben offen und es stellte sich als grosse Herausforderung heraus, sich von kleinbürgerlichen Bedürfnissen zu lösen. Vorarbeit für diesen Paradigmenwechsel war zwar zuvor geleistet worden, allerdings nur von einem kleinen Kreis von Intellektuellen. So schrieb Maria Vernadskaja, Mitglied der russischen Frauenbewegung, 1862: "Was ist ein Mann? Ein Mensch. Was ist eine Frau? Merkwürdige Frage: natürlich auch ein Mensch. Doch wenn es tatsächlich so ist, wenn man sich entschliesst, die Frau als Menschen anzuerkennen, dann sollte auch alles Menschliche für sie erreichbar sein..."

Viele GenossInnen der neuen revolutionären Sowjetgesellschaft fanden sich plötzlich mit neuen Paar- und Familienmöglichkeiten wieder, ohne gross darauf vorbereitet worden zu sein. Ungewohnt in erster Linie war, dass Frauen neu weniger im Haushalt und zunehmend dort waren, wo sich die Männer vorher aufgehalten hatten. Vermehrt wurden Frauen in die soziale Wirtschaft, in die Verwaltung und Regierung eingegliedert, offen für sie waren auch Kurse und Bildungsanstalten. Realisiert war auch die Forderung, wirtschaftliche und erzieherische Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen. Die Familienmitglieder lebten nicht mehr in ihrem kleinen Kreis, sondern es gab die Auswahl von verschiedenen Anstalten als Unterstützung im Alltag und neue Arbeitsbereiche. Pflicht war das in den ersten Revolutionsjahren nicht: Beide Ehegatten konnten frei zwischen Beruf und Haushaltsführung wählen. In jeder Kleinfamilie fanden sich Wege, um ihr Leben neu auszurichten. Im Tagebuch von Alexandra Kollontai wird die Auseinandersetzung mit den neuen Beziehungsmöglichkeiten dokumentiert: "Liebe, Ehe und Familie, alles waren untergeordnete vorübergehende Erscheinungen. Sie waren da und haben sich immer wieder in mein Leben eingeflochten."


Einheitsschulsystem für alle

Auch Kinder erlebten Emanzipation in den ersten Revolutionsjahren: Erziehungs- und Freizeitangebote ermöglichten jenseits der vorherigen Kinderarbeit und zum Teil schwierigen Verhältnissen in der Kleinfamilie neue Perspektiven. Die. progressive Familiengesetzgebung veränderte stark die Beziehung zwischen Kindern und Eltern und anderen Erwachsenen. Neben dem Adoptionsverbot, Scheidungs- und Abtreibungsrecht waren die Möglichkeiten der Eltern zugunsten der Erziehungspflicht eingeschränkt. Sie durften die Kinder erziehen, wenn sie dazu in der Lage waren - hatten aber kein explizites Recht dazu. Erziehungsanstalten mit gut geschultem Personal wurden aufgebaut. Ab 1918 waren alle staatlich. Die Schule selber im Sinne der umfassenden Volksbildung war neben den marxistischen Prinzipien auch von reformpädagogischen Ideen der "freien Schule" geprägt. In den Anfangsjahren existierten verschiedene Schulmodelle - man führte Schulexperimente durch. Das erste offizielle Programm 1917 zielte auf eine einzige Schule für alle Klassen der Bevölkerung in Form eines Einheitsschulsystems ab, wobei die Produktion eng mit dem Unterricht verflochten war. Selbständigkeit der Kinder wurde hier gefördert und ihre Talente und Neigungen direkt mit produktiver Arbeit verbunden. Neben dem Ausbau der Schule unter anderem mit der Schaffung der Vorschule wurden auch die berufliche Bildung und die Hochschule geöffnet. In Anbetracht der grossen ländlichen Gebiete mit verbreitetem Analphabetismus und den finanziellen Schwierigkeiten blieben viele angedachte Pläne liegen.

Die Anfangszeit in Russland hat gezeigt: eine Kulturrevolution in der Familie ist möglich. Neue Lebensformen durch die Umwälzung des bisherigen Familienlebens wurden mithilfe vieler Möglichkeiten aktiv vorangetrieben. Die Umsetzung der Kulturumwälzung in Form eines Umbaus der Massenstruktur erfordert aber eine sehr lange Zeit des Einwirkens in der Gesellschaft.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20/2017 - 73. Jahrgang - 10. Juni 2017, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2017

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