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VORWÄRTS/1233: Sich der neoliberal-humanitären Falle entziehen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 21. Oktober 2016

Sich der neoliberaI-humanitären Falle entziehen

Von Salvatore Pittà


Nach der Schliessung der Grenze bei Eidomeni und dem gleichzeitig abgeschlossenen Deal zwischen der EU und der Türkei wurden in Griechenland zweierlei Zonen des Unrechts geschaffen. Ein Bericht aus dem besetzten City Plaza Hotel in Athen, wo die Menschen täglich nicht nur aufzeigen, dass ein anderer Umgang in der Migrationspolitik möglich ist, sondern daraus konkrete politische Forderungen zu ziehen wissen.


Schweizer Abend auf der Dachterrasse des City Plaza Hotels in Athen. Ein wunderschöner Sonnenuntergang rötet den Himmel über dem Lichtermeer der Millionenmetropole an diesem lauschigen Herbstabend bei 25 Grad. Versammelt haben sich an die vierzig Personen, die nun aufmerksam meinen in Englisch vorgetragenen Ausführungen lauschen, die meine Kollegin von "Welcome to Europe Greece" simultan auf Farsi übersetzt. Die Schweiz steht hier gerade obenan als Zielland, insbesondere bei AfghanInnen und IranerInnen, die zu einem Teil schon Mitglieder ihrer Familie dort haben und zu ihnen nachziehen möchten. Selten habe ich eine so aufmerksame Runde um mich sitzen, selten einen solch praxisbezogenen Vortrag gehabt. Ich lerne viel und komme ab und zu an die Grenze dessen, was ich weiss. Mein Entscheid steht fest: Ich werde noch ein paar Tage hier bleiben.


Lange Warteliste

Das City Plaza Hotel in Athen ist ein Symbol der wirtschaftlichen Krise in Griechenland und stand nach dem Konkurs jahrelang leer, bevor es am 22. April dieses Jahres von verschiedenen lokalen antirassistischen Initiativen als Antwort auf die Grenzschliessung in Eidomeni und auf den EU-Türkei-Deal besetzt wurde. Seitdem bietet es 400 MigrantInnen aus acht verschiedenen Nationen, darunter über 100 Kindern, nicht nur eine würdige Bleibe mit drei Mahlzeiten am Tag, eigenem medi-zinischen Dienst, Animations- und Sprachkursen, Bar und Austauschmöglichkeiten, sondern auch die Möglichkeit, sich selbst aktiv am betrieblichen und/oder politischen Prozess zu beteiligen. Einige Zimmer sind für internationale Freiwillige und Unterstützende reserviert, einige für Engagierte aus Athen und Umgebung. Die Warteliste für MigrantInnen ist höllisch lang, die Aufenthaltszeit differiert, wobei etwa die Hälfte der Gäste von Anfang an da ist. Es werden dabei bewusst nicht nur besonders Verletzliche aufgenommen, sondern auch Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die bereit sind, ihr Wissen für die Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, womit der Viktimisierung von Flüchtlingen, die zur Zeit in antirassistischen und humanitären Kreisen grassiert, ein funktionierendes emanzipatives Konzept entgegengestellt wird.


Sich selbst überlassen

Gemäss UNHCR-Statistik leben zur Zeit 60.441 Asylsuchende in Griechenland, davon 15.500 auf dem Festland. Die meisten von ihnen unter prekärsten Bedingungen in zumeist vom Militär geführten Camps ausserhalb der Zentren, wobei registrierte Non-Profit-Organisationen, die nach der Schliessung der Grenze bei Eidomeni ihre Tätigkeiten ins Landesinnere verlegten, die wichtigsten Bedürfnisse mithilfe von Spendengeldern abzudecken versuchen. Wie viele MigrantInnen tatsächlich auf dem Festland leben, bleibt aufgrund des aufwändigen Registrierungssystems und der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit die Camps aufgrund deren Prekarität eiligst verlassen, offen. Nicht selten trifft man auf Personen, die nach fünf Monaten Aufenthalt auf dem Festland erst zur Voranmeldung gekommen sind, worauf sie eine Einladung zur Registrierung ihres Asylgesuchs im Februar 2017 erhielten. Bis dahin gelten sie nicht als Asylsuchende und tauchen daher auch nicht in der UNHCR- Statistik als solche auf.

Wer die Camps verlässt, ist auf sich selbst angewiesen, wer nicht zur Anmeldung erscheint, fliegt automatisch aus dem System und lebt fortan als Sans-Papiers. Viele tun das, weil sie Angst haben, aufgrund des Asylgesuchs in Griechenland bei der Ankunft in einem anderen Dublin-Land wieder zurückgeschickt zu werden. Die wenigsten wissen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte solche Rückschaffungen nach Griechenland verbietet. Nur die Schweiz hält sich nicht daran: Seit letztem Jahr schaffte sie 16 Flüchtlinge und humanitär Aufgenommene aus, die zuvor für längere Zeit in Griechenland gelebt hatten.

Ganz anders die Situation auf den ägäischen Inseln, wo zur Zeit 45.000 Asylsuchende in gefängnisartigen Camps ohne Bewegungsfreiheit und unter schlimmsten Bedingungen leben. Hierbei handelt es sich allesamt um Personen, die erst nach dem 20. März nach Griechenland kamen, da damals aufgrund des EU-Türkei-Deals die Inseln geräumt wurden, um die bereits Angekommenen von denjenigen zu trennen, die seitdem mit wenigen Ausnahmen - besonders Verletzliche sowie KandidatInnen für Familienzusammenführungen oder das Relocation-Programm - in geschlossenen Camps auf ihre Rückschaffung in die Türkei warten müssen. Der griechische Koordinator des entsprechenden Krisenmanagementteams bezifferte Anfang Oktober die Anzahl der bisher dadurch Zurückgeschafften auf 1634, zuzüglich 194 "freiwillig" über die Türkei in ihr Heimatland zurückgekehrte Personen.


Zwei Zonen des Unrechts

"Seit März dieses Jahres wurden zwei verschiedene Zonen des Unrechts in Griechenland geschaffen," fasst Georgios die Situation an der Vollversammlung im City Plaza Hotels zusammen: "In den Hotspots auf den Inseln leben die vom EU-Türkei-Deal betroffenen Personen, die keine Bewegungsfreiheit haben und sich nicht vorregistrieren dürfen. Sie sollen diejenigen abschrecken, die in Zukunft nach Griechenland und Europa gelangen wollen. Auf dem Festland ist die griechische Regierung dafür verantwortlich, dass Menschen monatelang in Militärcamps unter prekärsten Bedingungen tatenlos auf die Entscheide der hiesigen Behörden warten müssen, wobei die meisten es bezeichnenderweise vorziehen, das Weite zu suchen." Kurz vor meiner Abreise diskutieren wir darüber, dass sich in beiderlei Fällen der Staat von seinen eigentlichen Aufgaben entledigt hat und die nun von NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen übernommen wurden. Somit geraten diese gutgemeinten Initiativen in die Falle des von der Troika diktierten neoliberalen Konzepts, das von der Syriza-Regierung auch in anderen Bereichen umgesetzt wird. "Gerade deshalb ist es wichtig, die auf dem Feld gesammelten Erfahrungen politisch zu artikulieren. City Plaza will nicht nur ein erfolgreiches Beispiel dafür sein, dass ein anderer Umgang mit MigrantInnen nötig und möglich ist. Unsere Erfahrungen nutzen wir, um konkrete Forderungen an Staat und EU zu formulieren".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 72. Jahrgang - 21. Oktober 2016, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2016

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