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VORWÄRTS/1218: "Comics können Geschichte zuspitzen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 9. September 2016

"Comics können Geschichte zuspitzen"

Von Sabine Hunziker


Zum ersten Mal widmet sich in Deutschland ein Museum dem vergleichsweise neuen Thema der "queeren" Comics: Comics mit LGBT-Charakteren. Ein breites KuratorInnenteam gestaltete und organisierte die Ausstellung "Super-Queeroes" - Unsere LGBTI*-Comic-Held_Innen", die bis zum 26. Juni 2016 dauerte und im Schwulen Museum in Berlin gezeigt wurde. Ein Gespräch mit Kevin Clarke.


vorwärts: Welche queeren Comic-Helden gibt es und welche Missionen verfolgen sie?

Kevin Clarke: Die Zahl der geouteten Comic-HeldInnen nimmt ja in den letzten Jahren enorm zu, erfreulicherweise. Man muss da unterscheiden zwischen HeldInnen im Mainstream, die logischerweise mit ihrem Coming-out viel Aufmerksamkeit erregen: also beispielsweise Northstar, Catwoman oder einige der X-Men-Charaktere, Und dann gibt's die Underground-Comic-HeldInnen, die von Anfang an "out" waren, aber nicht an jedem Kiosk zu finden sind: Syperdyke von Roberta Gregory oder Brown Bomber von Rupert Kinnard wären da als frühe Beispiele zu nennen (letzterer war übrigens 1977 der erste offen schwule afroamerikanische Superheld der Comicgeschichte). Daneben gibt es die vielen Mainstream-Comic-HeldInnen, die von Fans "queer" gelesen werden und viel LGBT-Fanfiction inspirieren, mit Batman und Robin als berühmtestem Paar.


vorwärts: Was ist die Funktion von Superhelden in unserer Gesellschaft?

Kevin Clarke:Comics sind Popkultur, entsprechend erreichen sieein grosses Publikum, und die Charaktere in diesen Büchern haben für viele (junge) LeserInnen hohes Identifikationspotenzial. Als Alison Bechdel ihren Comicstrip "Dykes to Watch Out For" rausbrachte, war das für viele lesbische Frauen die erste Darstellung lesbischen Alltags - lange bevor das Thema von TV-Serien oder Hollywood aufgegriffen wurde. Comics können alle möglichen gesellschaftlichen Themen aufgreifen und tun das ja auch. Egal ob es um HIV und Aids geht (z.B. bei Ralf König), um Diskriminierung (bei Howard Cruses "Stuck Rubber Baby") oder um sexuelle Freiheit. Man kann in Comics Geschichte zuspitzen und damit wirkungsvoller machen, als das meist im Fernsehen oder Kino möglich ist. Und es ist auch einfacher, LGBT-Geschichten wirkungsmächtig im Comic zu zeigen, als mit wenig Geld einen Film zu produzieren. (Was gerade im SuperheldInnenbereich unmöglich ist, wegen der teuren Spezialeffekte.)


vorwärts: Warum ist es wichtig, queere Comic-Helden zu haben?

Kevin Clarke: Weil sie als AlltagsheldInnen zeigen, wie schwer es LGBT-Menschen oft haben, aber auch wie grossartig ein LGBT-Leben sein kann. Und weil sie als SuperheldInnen zeigen, dass LGBT-Charaktere die Welt genauso gut retten können wie alle anderen.


vorwärts: Wie reagieren Buchhandel und Buchbranche auf Comics, die queeren Inhalt haben? Sind Verlage offen für diese Themen oder publizieren nur LGBT-spezifische Verlage diese Themen?

Kevin Clarke: Queere Comics sind ein Nischenprodukt, keine Frage. Wobei Comics grundsätzlich in den USA sehr viel intensiver wahrgenommen werden als vollwertiges Kulturprodukt. In Deutschland gibt's da oft Berührungsängste, als seien Comics nicht "ernst" genug. Ausserdem wird in Deutschland der Comicmarkt von Ralf König derart dominiert - immerhin ein schwuler Autor mit deutlich schwulen Geschichten - dass hierzulande kaum jemand mitkriegt, was es sonst noch alles gibt. In den USA ist das anders, da ist das Spektrum breiter gefächert. Da erscheinen auch mehr LGBT-Anthologien, da finden mehr wissenschaftliche Konferenzen statt, da ist das Interesse generell grösser. Deswegen kam einer unserer Kuratoren auch aus San Francisco: Justin Hall ist eine der Ikonen der US-Comicszene, Herausgeber von "No Straight Lines" und ein superkommunikativer Experte, der unsere Runde extrem bereichert hat - auch mit sensationellen Originalzeichnungen, die ihm KünstlerInnen zur Verfügung gestellt haben für die "Superqueeroes-Ausstellung.


vorwärts: Wie gut sind die queeren Themen in der Comicszene verankert? Wie offen ist diese Szene, sind queere Helden an den Comicmessen, den "Comic-Cons", mit dabei?

Kevin Clarke: Bei den Comic-Cons hat sich viel verändert, inzwischen sind in den USA queere Comics ein selbstverständlicher Teil der grossen Comicmessen. In Deutschland habe ich - zumindest bei den Fachmagazinen - eine gewisse Zurückhaltung erlebt in Bezug auf das Thema und die Berichterstattung über unsere Ausstellung. Und die europäischen Comicmuseen, die es ja gibt, haben das Thema "LGBT-Comics" überhaupt noch nicht aufgegriffen. Das finde ich wirklich verblüffend, angesichts der vielen Coming-out-Geschichten bei Mainstream-Verlagen. Aber auf diese Weise konnte das Schwule Museum wenigstens für sich reklamieren, dem Phänomen als erste Institution eine Ausstellung gewidmet zu haben.


vorwärts: Welches ist die spannendste queere Comic-HeldIn?

Kevin Clarke: Ich finde, das kann man nicht verallgemeinert beantworten, weil jedeR LeserIn andere Aspekte spannend findet. Was auch gut so ist. Das Tolle ist, dass es inzwischen derart viele queere Comic-HeldInnen gibt, dass für fast jeden eine Figur dabei ist, die zur Identifikation einlädt, und das betrifft das vollständige LGBT-Spektrum. Da sind Comics deutlich weiter als Fernsehserien, die gehen mit "Diversity" sehr viel kreativer um - und inspirieren damit wieder andere, ihrem Vorbild zu folgen. Das sieht man oft später an entsprechenden Verfilmungen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 72. Jahrgang - 9. September 2016, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2016

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