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VORWÄRTS/1187: Europa vor dem Showdown


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 26. April 2016

Europa vor dem Showdown

Von Michi Stegmaier


Der 1. Mai steht in diesem Jahr unter dem Slogan "Wir sind alle Flüchtlinge", weswegen wir unseren thematischen Schwerpunkt der Festung Europa, der Migration und den Menschen auf der Flucht widmen. Wir beleuchten auf den folgenden Seiten verschiedene Aspekte der migrantischen Kämpfe, berichten über die Situation an den europäischen Aussengrenzen und wagen einen Blick auf die kommenden Monate.


Die Krise in Europa spitzt sich immer mehr zu. Tagtäglich sind wir in den Medien mit einer instabilen Welt als Folge des kapitalistischen Wertesystems konfrontiert. Auf den "Sommer der Hoffnung" folgt nun wieder der nationale Wettbewerb um die mörderischsten Abschottungsstrategien und die repressivsten Gesetzgebungen.

Heute erleben wir eine gesellschaftspolitische Situation, die noch vor zwei Jahren wohl die Wenigsten so erwartet hätten. Einerseits ist eine breite Solidaritätsbewegung mit den Flüchtenden und Elenden der Welt entstanden, was durchaus die Hoffnung auf ein sozial gerechtes und solidarisches Europa von unten weckt. Anderseits eilt die extreme Rechte von Wahlerfolg zu Wahlerfolg, es kommt tagtäglich zu Anschlägen gegen Flüchtlingsunterkünfte und Europa steht immer mehr im Zeichen einer umfassenden nationalen Abschottung.


Jugend ohne Zukunft

Und während die Reichen immer reicher werden, hat sich für alle Anderen das neoliberale Versprechen des "Wohlstands für alle" in Schall und Rauch aufgelöst. Südeuropa versinkt im sozialen Elend, Osteuropa übt sich in ultranationalistischen Tönen und die "weisse" Mittelschicht in Mittel- und Nordeuropa fühlt sich durch die Neuankommenden in ihrer Existenz bedroht. Die sogenannte Flüchtlingskrise, die wir heute erleben, ist letztlich die Folge des globalen Kapitalismus und seiner Kriege, die an den Rändern Europas eine ökonomisch verwüstete Peripherie hinterlassen haben und unter den Betroffenen nur noch einen Gedanken hervorrufen: "Einfach nur noch weg von hier".

Trotz allen Widrigkeiten und Gefahren werden sich im Jahr 2016 noch mehr Menschen auf den risikoreichen Weg Richtung reicher Norden machen, obwohl den meisten sehr wohl klar sein dürfte, was sie hier erwarten wird. Und auch wenn die Fluchtgründe und Ursachen oft sehr unterschiedlich sind, so sind die Flüchtenden doch vereint in ihrem Streben nach einer Zukunft, die eine lebenswerte Existenz in Sicherheit möglich macht.


Der Reichtum und die fleissigen Arbeitsbienen

Die heutigen hegemonialen Formen der Rassismen haben sich seit dem Ende des 2. Weltkrieges verändert und gehen nicht mehr von "Rassen", sondern von unterschiedlichen Kulturen aus, die ein harmonisches Zusammenleben verunmöglichen würden und immer enthemmter ihr zerstörerisches und gesellschaftlich zersetzendes Potenzial entwickeln. Es sind dieser rassistische Diskurs und die Vorstellungen einer Welt, die in oben und unten - mit Europa als zivilisatorischer Bergspitze - eingeteilt ist und es sind die existenziellen Ängste vor einem Zusammenbruch dieser Ordnung, die in der Logik des völkisch-nationalistischen Denkens stets von aussen bedroht und von innen verraten wird. Sei es durch die korrupten, "parasitären" Eliten, die PolitikerInnen als "Volksverräter" oder die "Lügenpresse". Als klassische Mittelstandsideologie grenzt sie sich aber zugleich auch gegen unten, die "faule" Unterschicht, ab. Dahinter verbirgt sich das Selbstverständnis einer Nation, in welcher das protestantische Arbeitsethos hoch gehalten wird und man sich an die Vorstellung klammert, dass unsere Gesellschaft nicht aufgrund jahrtausendelanger Ausbeutung und des kapitalistischen Ressourcenraubs reich geworden ist, sondern ausschliesslich, weil wir alle so fleissige Arbeitsbienen sind. Dieser Reichtum ist nun in Gefahr und muss mit allen Mitteln verteidigt werden. Zynischerweise kämpfen die nationalistischen Bewegungen zwar erbittert gegen die Aufklärung, die Emanzipation oder den Feminismus an, die gemäss der völkischen Logik zu einer "Verweiblichung" und "Verschwulung" der Gesellschaft und somit letztlich zum Aussterben der "Urbevölkerung" führen würden - im selben Atemzug werden diese emanzipatorischen Errungenschaften aber ausgerechnet als politisches Propagandamittel gegen alles "Nichteuropäische" eingesetzt. Gegen innen möchte man lieber schon heute als morgen alle aufknüpfen, die dem völkisch-nationalistischen Weltbild nicht entsprechen, gleichzeitig gibt man sich gegen aussen als VerteidigerInnen der Toleranz und einer sozial gerechten Gesellschaft, die nun durch die Flüchtlinge existenziell bedroht würde.


Und jetzt?

Heute stehen wir in ganz Europa vor einem Rechtsrutsch, dem Wiedererstarken des nationalstaatlichen Denkens und Wettbewerbs sowie der Renovation der Festung Europa. Gleichzeitig hat sich aber in den vergangenen Monaten eine neue Bewegung der Hilfsbereiten und Empörten formiert, auch aufgrund des gesellschaftlichen Rückenwindes, welchen die Bewegten und Engagierten durch die Politik, gesellschaftskritische Stimmen und die Mainstreammedien erfahren hatten. Doch nun hat der Wind plötzlich gedreht, aus den "selbstlosen Helferinnen" werden jetzt plötzlich "gewaltbereite AgitatorInnen", selbst mit dem Papst im Handgepäck.

Es sind entscheidende Wochen und Monate, die auf die Bewegung und die Geflohenen zukommen; eine Zeit, in der das "sichtbar Bleiben" immer überlebenswichtiger werden wird. Wie wird die Willkommensbewegung nun mit diesem immer kälter werdenden Gegenwind umgehen? Schafft sie den selbstkritischen Sprung von der karitativen Hilfe, Gewissensberuhigung und Selbstaufwertung hin zur politischen Praxis gegen die mörderische Politik der Festung Europa? Oder endet sie (einmal mehr) im vorauseilenden Gehorsam und in der selbstgewählten interkulturellen Sackgasse à la "Autonome Schule Zürich"? In Projekten, die zwar sozialpolitisch wichtige integrative Arbeit leisten, aber doch letztlich eng mit politischem Verrat an der Bewegung und den Schutzsuchenden verknüpft sind?

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 72. Jahrgang - 26. April 2016, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2016

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