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VORWÄRTS/1109: "Nicht mal Gott weiss, wie wir es ohne Job schaffen sollen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 vom 5. Juni 2015

"Nicht mal Gott weiss, wie wir es ohne Job schaffen sollen"

Von Siro Torresan


Im Herzen der Toskana werden 200 ArbeiterInnen auf die Strasse gestellt. Der Betrieb schreibt zwar fette Gewinne aber der Konzern mit Sitz in Willemstad auf der niederländischen Insel Curaçao hat seine strategischen Interessen neu definiert. Es ist ein Drama für das ganze Tal, das jedoch den Aufstand beschlossen hat, denn auf dem Spiel steht die Zukunft. Eine Reportage.


Saline di Volterra ist eine Kleinstadt mit knapp 9000 EinwohnerInnen im Cecina-Tal in der Provinz Pisa. Die kleine Altstadt liegt auf einer Anhöhe. Der neue Stadtteil hingegen wurde einen knappen Kilometer weiter unten links und rechts entlang der Hauptstrasse erbaut. Schnell wird einem klar, dass in Saline etwas im Gange ist, das die Menschen stark bewegt. Aus mindestens einem Fenster jedes Hauses hängt ein weisses Stofftuch oder eine weisse Fahne. Entlang der Hauptstrasse sieht man Dutzende von Transparenten: "Nein zur Schliessung der Smith Bits", "Für unsere Zukunft, für unsere Würde: Wir kämpfen für den Erhalt der Arbeitsplätze". Von der Neugier gepackt, halte ich vor einer Bar an. Im Lokal komme ich schnell ins Gespräch mit einem Gast. Der Mann, 62 Jahre alt, hat vor rund 20 Jahren auch bei der Smith Bits gearbeitet: "Da waren wir noch 450 ArbeiterInnen. Tag und Nacht haben wir produziert. Und jetzt schmeissen sie die letzten 200 auf die Strasse, wie Hunde." Wer ist "sie", frage ich nach. "Die Smith wurde vor einigen Jahren von einem Weltkonzern gekauft; mit Sitz in Paris oder in den USA. Ich weiss es nicht genau. Die neuen Besitzer haben alles versprochen, aber nichts eingehalten, wie du unschwer feststellen kannst." Der Inhaber der Bar schaltet sich in die Diskussion ein: "Vieles im ganzen Tal hängt mit den Arbeitsplätzen der Smith zusammen. Ein gutes Beispiel bin ja ich selber: Täglich kommen zwischen 15 und 20 ArbeiterInnen der Smith zu mir, konsumieren durchschnittlich für fünf Euro, macht 60 bis 100 Euro am Tag. Dies mal fünf Tage, dann mal vier. Das macht 1400 bis 2000 Euro weniger Einnahmen im Monat." Ich erkundige mich nach dem Weg zur Fabrik. "Folge einfach den weissen Fahnen an den Fenstern der Häuser. Mit dem Auto bist du in fünf Minuten dort", erklärt mir der Barbesitzer.


Nicht gleich, sondern sofort!

Am gut zwei Meter hohen Zaun, der den Privatbesitz des Unternehmens abgrenzt, hängen auch viele Transparente. Auf einem steht: "Zuerst ausgebeutet bis zu den Knochen, dann in die Grube geschmissen." Ich parkiere das Auto auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang zum Werk. Als erstes mache ich ein Foto des Firmenschilds: "Smith Bits. A Schlumberger Company" Einige Stunden später lese ich auf Wikipedia: "Schlumberger ist das weltweit grösste Unternehmen für Erdölexplorations- und Ölfeldservice mit Sitz in Willemstad auf der niederländischen Insel Curaçao und operativen Hauptzentralen in Paris, Houston, Den Haag und London. Das Unternehmen beschäftigt etwa 118.000 Angestellte in zirka 85 Ländern, der Umsatz betrug im Jahr 2012 42,149 Milliarden US-Dollar."

Kaum habe ich das zweite Foto des Werks geschossen, steht ein ziemlich grosser und kräftiger Mann vor mir. "Arbeiten Sie hier, sind sie Angestellter der Smith Bits", fragt er mich. "Nein, ich bin Journalist und mache einige Fotos." Seine Miene verdüstert sich: "Das ist ein privater Parkplatz. Sie dürfen hier nicht parkieren." "Ok, kein Problem. Ich fahre gleich weg." Der unsympathische Typ: "Sie haben mich nicht verstanden: Sie müssen nicht gleich, sondern jetzt sofort wegfahren." Ich fahre weg, parkiere das Auto am Strassenrand.


300.000 Dollar am Tag

Es ist gegen 15.30 Uhr. Vor dem Zaun und dem Eingang zum Privatparkplatz befindet sich ein Zelt, das den Eindruck eines zurzeit verlassenen Streikpostens erweckt. Gleich daneben steht ein Mann. Er scheint auf jemanden zu warten und winkt mich zu sich. Er stellt sich als Fabrizio vor und erklärt mir, dass ich von einem Mitarbeiter einer externen Sicherheitsfirma weggejagt wurde, die seit zwei Wochen das Gelände rund um die Uhr bewacht. Fabrizio ist Abgeordneter des Partito Democratico im lokalen Parlament, legt aber grossen Wert darauf, dass er in erster Linie als "Bürger von Saline" hier steht. Eine zynische Bemerkung über seine Partei, die sich sozialdemokratisch nennt, mit Ministerpräsident Matteo Renzi Italien regiert und vor wenigen Wochen im nationalen Parlament eine landesweite "Arbeitsreform" mit dem Beifall der ArbeitgeberInnen durchwinkte, verklemme ich mir in allerletzter Sekunde. Fabrizio: "Wir stehen vor einer absurden Situation. Dem Unternehmen geht es gut, es schreibt Gewinne und trotzdem..." Er unterbricht, da in diesem Moment zwei Arbeiter aus dem Fabriktor kommen: "Da schau, sprich mit ihnen. Sie können dir die Situation bestens erklären."

Die zwei Arbeiter besprechen kurz etwas mit Fabrizio, dann kommt einer zu mir und stellt sich vor: "Buongiorno, ich bin Mimmo. Ich arbeite seit 26 Jahren hier." Nachdem ich ihm kurz erklärt habe, wer ich bin und dass ich einen Bericht für eine linke Zeitung in der Schweiz schreiben möchte, bedankt sich Mimmo für mein Interesse. Und auch er sagt: "Wir stehen vor einer absurden Situation. Der Betrieb schreibt Gewinne. Die ganze Tragödie hat vor gut sechs Jahren begonnen. Damals wurde das Werk von Schlumberger aufgekauft und erst noch zu einem völlig überrissenen Preis. Es war eine reine Finanzoperation. Der Aktienkurs nahm kräftig zu und einige wenige haben sich daran kräftig bereichert." Mimmo macht eine kurze Pause und erzählt dann weiter: "Ich mach dir einen Vergleich mit der Autoindustrie, damit du besser verstehen kannst: Wir sind so quasi der Ferrari der Branche. Wir produzieren hochwertige Spitzen für Petrol- und sonstige Bohrmaschinen und vor allem jene mit dem grössten Durchmesser. Es ist eine absolute Präzisionsarbeit. Als im 2010 in Chile die 33 verschütteten Kumpels gerettet werden mussten, brauchte es ganz spezielle Bohrspitzen. Nun, die haben wir angefertigt. Aus diesem Fabriktor hier verlassen jeden Tag Bohrspitzen im Wert, von 300.000 Dollar."

Mimmo spricht mit einem breiten Akzent der Region. Das ist nicht immer ganz einfach zu verstehen, denn in der Toskana werden die Buchstaben C und K mit einem H ersetzt. Beispiel: Coca Cola heisst hier Hoha Hola. Daher meine Rückfrage: "300.000 Dollar am Tag?" Mimmo: "Ja, du hast mich richtig verstanden. 300.000 Dollar am Tag. Das ist der Durchschnitt." "Ist ja unglaublich. Und jetzt schliessen sie das Werk und verlagern die Produktion nach China?", frage ich. "Nach China?" Mimmo lacht. "Woher hast du diesen Witz?" "Das hat mir soeben jemand in der Bar erzählt, bevor ich..." Mimmo unterbricht mich. "Nein, was wir hier herstellen, kannst du nicht einfach irgendwohin verlagern, selbst ins Ausland nicht. Die Stärke des Betriebs sind die langjährigen MitarbeiterInnen, die ihr Handwerk den jüngeren beibringen. Wie gesagt, es ist höchste und absolute Präzisionsarbeit." Das Rätsel wird immer grösser: "Ja, aber warum wird das Werk denn geschlossen?" Mimmos Antwort: "Es ist nicht mehr im strategischen Interesse des Konzerns!" Ich schaue ihn ungläubig, verstört und fassungslos an: "Ist das die offizielle Begründung?" "Ja, das ist sie", bestätigt mir Mimmo. "Am 27. April sind wir normal zur Arbeit gegangen. Uns wurde kommentarlos die Kündigung in die Hand gedrückt. Darin steht, dass das Werk schliesst, weil das strategische Interesse des Konzerns nicht mehr vorhanden sei. Deshalb schmeissen sie uns raus, alle 193 ArbeiterInnen."


Das SMS aus Rom und ein fetter, schwarzer Mercedes

Ich brauche einige Sekunden, um es in meinem Kopf mindestens halbwegs einordnen zu können: "Was habt ihr dann gemacht?" "Drei Tag später haben wir für einen Tag die Arbeit niedergelegt. Wir forderten die Unterstützung der regionalen Regierung. Die hat relativ rasch diese Notwendigkeit eingesehen, doch sie ist zu schwach. Der Konzern hat Gespräche, geschweige denn Verhandlungen, abgelehnt. Dies mit der Begründung, dass es nichts zu diskutieren gibt. Die regionale Regierung schaffte es immerhin, dass sich das nationale Wirtschaftsministerium in Rom der Sache annahm. Aber die Konzernleitung macht, was sie will. Entschuldige den vulgären Ausdruck, aber die Bosse hier kacken selbst auf die Regierung in Rom!" Ich verstehe nicht ganz: "Wie meinst du das?" Mimmo zieht sein Natel aus der Hosentasche: "Schau, es ist die neueste Nachricht vom Vorsitzenden des Betriebsrats, die wir vor knapp 30 Minuten aus Rom bekommen haben. Er ist dort an einem Krisentreffen mit Vertretern der nationalen und regionalen Regierung sowie der Gewerkschaft." Im SMS steht: "Wir haben soeben erfahren, dass der Verwaltungsrat der Smith das abgemachte Treffen vom Dienstag, 19. Mai ohne Begründung abgesagt hat. Ein neuer Termin wurde uns nicht vorgeschlagen. Mehr wissen wir nicht. Wir reden morgen darüber und entscheiden, wie es weitergehen soll."

In diesem Moment fährt ein fetter, schwarzer Mercedes aus dem Werktor an uns vorbei. Angelo, der andere Arbeiter, der bisher geschwiegen hatte, sagt: "Schau, das ist einer der Handlanger dieser Halsabschneider. Er ist der Personalchef." Angelo macht eine kurze Pause, dann erklärt er: "In den letzten zehn Jahre sind in unserem Tal hunderte von Arbeitsplätzen verschwunden." Er zählt eine Reihe von Betrieben auf, die geschlossen wurden oder den Personalbestand auf ein Minimum reduziert haben: "Früher wurde es das goldene Tal genannt, jetzt sind wir das Tal der Tränen." Doch Angelo scheint die Gabe zu haben, selbst in so einer beschissenen Situation den Humor nicht zu verlieren. Mit einem Lächeln im Gesicht sagt er: "Schau dir Mimmo und mich an. Wir sehen zwar noch jung aus, sind es aber nicht mehr. Wir sind beide über 55. Wir werden keinen Job mehr finden. Nicht mal Gott weiss, wie wir es ohne Job schaffen sollen."


"Wir kämpfen weiter"

Die kurze Pause der beiden Arbeiter ist vorbei. "Komm, wir müssen wieder rein", sagt Mimmo. "Eine Frage habe ich noch: Wie geht es weiter?" Angelo: "Wir geben nicht auf. Wir kämpfen weiter. Ab dem 19. Mai, das ist der kommende Dienstag, werden wir mit einer Mahnwache beginnen und die weiteren Kampfmassnahmen beschliessen. Es geht nicht nur um uns, vieles steht auf dem Spiel, das ganze Kleingewerbe, die Schulen, das Spital, die Zukunft unserer Kinder, die Zukunft des ganzen Tals hier." Die beiden verabschieden sich und bedanken sich nochmals für mein Interesse, für meine Solidarität. Ich wünsche ihnen viel Glück und viel Kraft. Auf der Rückfahrt fahre ich am Transparent vorbei, auf dem zu lesen ist: "Mit der Smith Bits stirbt das ganze Tal." Ich begreife jetzt, was damit gemeint ist.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 71. Jahrgang - 5. Juni 2015, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2015

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