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VORWÄRTS/1082: Resistenza in Ticino!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 5/6 vom 13. Februar 2015

Resistenza in Ticino!

Von Jonas Komposch


Das Tessin hat schweizweit die tiefsten Löhne. Jetzt versuchen viele Bosse, noch weniger zu zahlen - mit Verweis auf die Frankenstärke. Doch es gibt Widerstand gegen die Lohndrückerei. Zwei Belegschaften streikten, 600 Leute demonstrierten in Bellinzona und in Giubiasco wollen sich ArbeiterInnen partout nicht In- und AusländerInnen spalten lassen.


Seit der Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Nationalbank vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Industriebetrieb neue Sparmassnahmen bekannt gibt. Entlohnung in Euro, Mehrarbeit, Ferienreduktion, Lohnsenkung, Entlassung oder gar Werksverlagerung ins Ausland; das sind die Rezepte der KapitalistInnen, mit denen sie die Betriebe "konkurrenzfähig" und ihre Rendite aufrecht erhalten wollen. Nun sind die Löhne in grenznahen Regionen ohnehin schon tief. Denn die Unternehmen werben bereitwillig günstige "Frontalieri" (italienische GrenzgängerInnen) an und drücken so das allgemeine Lohnniveau. Im Tessin liegt der durchschnittliche Lohn eines Beschäftigten ohne Führungsaufgabe bei nur 4664 Franken, das sind rund 1000 Franken weniger als im Schweizer Schnitt. In der Industrie wird allerdings weit weniger bezahlt.


Keine Maloche für 15 Franken pro Stunde!

Bei der Exten SA in Mendrisio etwa, einem Plastikfolienhersteller, verdient ein Dreher mit Wohnsitz im Ausland gemäss UNIA 3200 Franken (x13). Das ist kein Sonderfall in der Branche ohne GAV. Speziell war bei Exten jedoch die angekündigte Lohnkürzung. Sage und schreibe um 26 Prozent für Frontalieri und um 16 Prozent für Einheimische wollte Firmenchef Luigi Carlini die Saläre kürzen. Auch ein anderer Folienhersteller, die italienische Fabbri Group SA, senkt die Löhne an seinem Tessiner Standort (-5 Prozent für Einheimische, -15 für Frontalieri). Zu viel war es aber für die Arbeiter der Exten. Ein Streikender sagte: "10 oder 15 Prozent hätten wir akzeptiert, aber 26 Prozent ist zu viel!" Also ersuchten sie die UNIA anonym um Hilfe. Einzeln mussten zuvor schon alle beim Chef vorstellig werden. Dieser legte ihnen das Dokument mit dem neuen Lohn zur Unterschrift vor. Die meisten unterzeichneten aus Angst vor Repressalien. Dennoch traten am frühen Donnerstagmorgen des 19. Februars alle hundert Arbeiter der Exten mit Unterstützung der UNIA in einen unbefristeten Streik. Chef Carlini, der jeweils mit seinem Maserati vorfuhr, zeigte sich kompromisslos. Seine Devise lautete: Entweder akzeptieren die Arbeiter die Lohnkürzung oder das Werk wird schliessen. Acht lange Tage blockierten die Arbeiter die Zufahrt zum Werk, bis der Streik Wirkung zeigte. Die Parteien einigten sich in einer Vermittlung durch FDP-Staatsrätin Laura Sadis auf eine Verhandlungsphase bis Ende April, in der die Finanzlage des Unternehmens offengelegt wird. Bis dahin wird die Lohnkürzung zurückgenommen, eine Betriebskommission gegründet und sowohl den Arbeitern als auch der UNIA garantiert, dass keine Repressalien folgen werden.

Der Streik war ein beachtlicher materieller und moralischer Erfolg für die Arbeiter. Nach der Beendigung des kräftezehrenden und mit Risiken verbundenen Arbeitskampfs zeigten sie sich so erfreut, dass sie mit dem ebenso erleichterten Chef Carlini sogar für ein Gruppenfoto posierten. Carlini dazu: "Dieser Konflikt machte uns stärker und mehr vereint."


Ihr entlasst? Wir streiken!

Kaum war der eine Brandherd abgekühlt, entfachte sich in Biasca ein neuer. Beim Metallteilehersteller SMB sahen sich die ArbeiterInnen am Freitag den 27. Februar mit folgender Neuregelung konfrontiert: Wöchentlich vier Stunden Mehrarbeit bei gleicher Bezahlung. Dem widersetzten sich drei Arbeiter, darunter der Präsident der Personalkommission. Flugs erhielten sie die Quittung für ihre Opposition. Allen wurde gekündigt. Das erzürnte die Belegschaft aber derart, dass sie am Montag sogleich in den Streik trat. Dieser dauerte nur einen Tag, da das Management, UNIA und die christlich-soziale Gewerkschaft OCST nach siebenstündiger Verhandlung gemäss gemeinsamer Pressemitteilung eine "Vereinbarung getroffen haben, die den sozialen Frieden garantiert." Konkret werden die vorgesehenen Arbeitszeitverlängerungen zurückgenommen, die Kündigungen annulliert aber auch Kurzarbeit beantragt.


Spaltungsversuch scheitert an Arbeitersolidarität

Beim Metallbauunternehmen Ferriere Cattaneo SA in Giubiasco werden auch Güterwagen hergestellt. Davon jedoch nur noch etwa hundert pro Jahr, zehnmal weniger als im neueren Werk in der Slowakei. Wegen der Frankenaufwertung meinte das Unternehmen Ende Februar, die Lohnkosten senken zu müssen. Diese Massnahme hätte besonders die GrenzgängerInnen getroffen. Deren Löhne hätten um sieben Prozent reduziert werden sollen. Doch auch die schwächer betroffenen einheimischen ArbeiterInnen (minus 3 Prozent) wehrten sich an einer Personalversammlung gemeinsam mit den italienischen KollegInnen gegen den Entscheid der Chefetage. Tags darauf kam die prompte Antwort von Aleardo Cattaneo, Patron des Werks und zudem Vizedirektor des Unternehmerverbands Swissmem: Die Güterwagenproduktion in Giubiasco werde eingestellt, 20 Stellen seien betroffen. Doch es kam anders. Knapp zwei Wochen später, zweifellos unter dem Eindruck der erwähnten Streiks, krebste Cattaneo zurück. Jetzt heisst es, es werde weder Lohn noch Personal abgebaut und auch Kurzarbeit werde es nicht geben. Die Güterwagenproduktion will Cattaneo dennoch auslagern.

Die Tessiner Situation brachte am 28. Februar immerhin rund 600 Menschen auf die Strasse. Unter der Parole "Die Arbeit verteidigen!" demonstrierten sie an einer von der SP organisierten Kundgebung in Bellinzona. Die Gewerkschaften hielten derweil in einem Solidaritätsaufruf für die Exten-Arbeiter fest: "Die Art und Weise, in der die Abkommen unterzeichnet, psychische Gewalt ausgeübt, und die Problemlösungsvorschläge der ArbeiterInnen ausgeschlossen wurden, gibt es so in Dutzenden Betrieben unserer Region." Ganz anders sieht das natürlich etwa ein Daniele Lotti, Präsident des kantonalen Industrieverbands. "Unternehmer werden kriminalisiert; Gewinn zu machen, wird als Verbrechen gesehen", echauffiert er sich über die angeblich vorherrschende Stimmung im Tessin. Eine neue Phase der Kämpfe scheint eröffnet.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6 - 71. Jahrgang - 13. Februar 2015, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2015

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