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VORWÄRTS/999: Die "Charta von Lampedusa" - Ein Horizont der Veränderung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.5/6 vom 14. Februar 2014

Ein Horizont der Veränderung

Von der Autonomen Schule Zürich



Zwischen dem 31. Januar und 2. Februar 2014 fand in Lampedusa ein Treffen statt, bei dem verschiedene Basisgruppen aus Europa und Nordafrika teilnahmen. Dabei wurde die "Charta von Lampedusa" verfasst, die den jetzigen Zustand der Asyl- und Migrationspolitk aufheben soll.


Wir sind vier Personen, die im Namen der Autonomen Schule Zürich (ASZ Badenerstrasse und ASZ-RAF Kochareal) nach Lampedusa gereist sind, um am Ereignis der Charta von Lampedusa teilzunehmen. Einige von uns haben selbst Migrationserfahrung und kennen die schweizerische und europäische Asyl- und Migrationspolitik am eigenen Leibe. Es ist aber vor allem unsere lokale Praxis als AktivistInnen der Migrations- und Gleichheitskämpfe, die uns zu diesem Treffen an einem der symbolischen Orte der barbarischen europäischen Migrationspolitik gebracht hat. Wir sind in der Überzeugung nach Lampedusa gereist, dass ein Bruch mit der aktuellen Situation nötig ist, die von der Kriminalisierung der Migration, den Toten an der Grenze, der Deportation und Internierung von Menschen geprägt ist. Eine euro-mediterrane Perspektive von unten ist nötig.

Unsere Gruppe landete am Abend des 30. Januar auf der kleinen Insel, die 130 Kilometer von Tunesien entfernt liegt. Der italienische Philosoph Antonio Negri nannte diese Treffen von Lampedusa "... eine kollektive Aufgabe der programmatischen Definition, die (...) ein Instrument der Organisation auf europäischer Ebene werden kann". Renato, der Besitzer des Hotels "Mosaico del Sol", wo wir diese Tage hausten, sagte, die Charta sei wichtig für die Würde. Nicht nur jener der MigrantInnen sondern auch jener der EinwohnerInnen der Mittelmeerinsel.


Über Lampedusa in die Welt

Lampedusa lebt fast ausschliesslich vom Tourismus. In den Sommermonaten kommen bis zu 50.000 Menschen hierher auf der Suche nach Erholung. Als die Bilder von überfüllten Booten und angeschwemmten Leichen um die Welt gingen, hat der Tourismus nachgelassen, was für die lokale Ökonomie zum Problem wurde. Die Tragödie vom 3. und 11. Oktober 2013, bei der über 600 Frauen, Männer und Kinder kurz vor der Küste Lampedusas ihr Leben verloren, waren der Auslöser für dieses Treffen.

Am Vormittag des ersten Tages fand ein Besuch der Sekundarschule statt, um die SchülerInnen über die nächsten Tage zu informieren. Wir sind am Abend zuvor von einer italienischen Aktivistin, die in Dublin lebt und deren Grossvater 1940 als Kommunist und Antifaschist in die Schweiz flüchtete und später für den Nebelspalter zeichnete, darauf aufmerksam gemacht worden. Zuerst zeigte ein Kollektiv aus einem selbstorganisierten Migrantenprojekt in Pisa den Dokumentarfilm "CiaLiLaPi", der den Weg einiger Geflüchteten von Tschad nach Libyen über Lampedusa bis nach Pisa nachzeichnete und den Aufbau ihres eigenen autonomen Zentrums und den Widerstand gegen seine Schliessung dokumentierte. Danach stellte Nicola Grigion, Koordinator des Internetkollektivs Meltingpot.org und Mitinitiator der Lampedusa-Tagung die Idee der Charta vor. Die Schulleiterin motivierte anschliessend die SchülerInnen mit folgenden Worten, an der Charta teilzunehmen: "Den Flüchtlingsprozess in Lampedusa gibt es jetzt bereits seit 20 Jahren, ihr, die damit aufgewachsen seid, ihr seid die Hoffnung für eine Veränderung."

Am Freitag um 14 Uhr war der offizielle Beginn der Charta von Lampedusa. Die Versammlung fand im einzigen grossen Konferenzraum der Insel statt, im zweiten Stock des Flughafengebäudes direkt über dem Check-In. Noch während die Mikrofone, Beamer, Bildschirme und das Live-Streaming eingerichtet wurden, begannen sich die ersten Netzwerke, Bündnisse, Organisationen und Einzelpersonen vorzustellen. In den nächsten Tagen würden über 300 Personen aus 11 verschiedenen Ländern und 80 Organisationen am Prozess der Charta teilnehmen. Die Vorstellungsrunde dauerte sechs Stunden.


Für ein anderes Europa

Der Abend stand im Zeichen der BewohnerInnen von Lampedusa. Die Bürgermeisterin Giusi Nicolini hielt eine Rede und sprach davon, wie die Insel durch die europäische Politik dazu verurteilt ist, ein Grenzleben zu führen und wie die Länder Europas durch Heuchelei auf die Tragödien reagierten aber nicht bereit wären, Veränderungen herbeizuführen, um die Toten zu verhindern. "Die Charta sehe ich als eine Metapher für ein anderes Europa", sagte sie. Angelo Mandracchia, Vertreter der Kleinunternehmen Lampedusas, sprach davon, wie die Flüchtlingssituation der lokalen Wirtschaft schadete, gab dabei aber in keiner Weise den Flüchtlingen selbst die Schuld, sondern der europäischen Politik, die diesen Zustand zu verantworten habe. Der Sänger und Künstler Giacomo Sferlazzo, der zusammen mit dem Kollektiv Askavusa in Lampedusa ein Migrationsmuseum aufbaute, sprach vor allem über die Militarisierung der Grenze. Er nannte Lampedusa eine Militärbasis und verwies auf die Millionen von Euro, die in die Agentur Frontex, das Kontrollsystem Eurosur und die Satellitenüberwachung MUOS gesteckt werden.

Der zweite Tag war vollständig der Arbeit am Text der Charta gewidmet. Als Grundlage fungierte ein Entwurf, der in den letzten Wochen online von verschiedenen Leuten geschrieben wurde. Wir gingen nun Punkt für Punkt durch, der gesamte Prozess der Texterarbeitung fand kollektiv statt. Dies war bei rund 200 Anwesenden und den verschiedenen Sprachen nicht ganz einfach. Vor allem diejenigen, die weder Italienisch noch Englisch verstanden, waren auf persönliche ÜbersetzerInnen angewiesen. Nur dank AktivistInnen wie beispielsweise der Italienerin Moira, die in Istanbul lebt und fünf Sprachen spricht, war es letzten Endes möglich, dass einige Angereiste der Diskussion folgen konnten.

Die Charta umfasste am Ende der Tagung zwölf Seiten. Sie ist in zwei Teile gesplittet, welche die Spannung zwischen den Überzeugungen und Wünschen und der Realität der Welt, in der wir leben, widerspiegelt. Der erste Teil umfasst die Prinzipien, welche als Ausgangspunkt für die zukünftigen Kämpfe stehen: Bewegungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Freiheit zu Bleiben und Freiheit zum Widerstand. Der zweite Teil umfasst die Forderung nach der Demilitarisierung der Grenzen, das Recht auf Arbeiten, Wohnen, Gesundheit sowie politische Partizipation. Der Chartatext ist nicht abgeschlossen und soll in Zukunft als Blog weiter bearbeitbar sein.

Am dritten und letzten Tag wurden Initiativen und Aktionen diskutiert, wie die Inhalte der Charta in die Praxis umgesetzt werden sollen. Dabei wurde die Wichtigkeit betont, zuerst die Charta lokal zu diskutieren und zu verbreiten. Danach riefen einige zu gesamteuropäischen und lokalen Aktionen auf. In konkreter Planung ist im Moment die transnationale Karawane Ende Mai von Strassburg nach Brüssel sowie die nächste grosse Demo in Hamburg am 1. März der Gruppe "Lampedusa in Hamburg".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 5/6 - 70. Jahrgang - 14. Februar 2014 , S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2014