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VORWÄRTS/987: Guatemala - Zementstaub auf Blumenfeldern


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 3/4 vom 31. Januar 2014

Zementstaub auf Blumenfeldern

von Andreas Boueke



Am Valentinstag, dem Tag der Liebenden, sind Blumen besonders begehrt. Blumen können ein Zeichen für Zuneigung sein. Aber für die Menschen in einem kleinen Dorf in Guatemala sind Blumen die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Deshalb leisten sie Widerstand gegen den geplanten Bau einer Zementfabrik.


Ihren Namen möchte sie nicht sagen. Nennen wir sie "Valeria", das passt: die Stärke, die Mutige. Auch mutige Menschen können Angst haben, aber sie handeln trotzdem. "Wir werden verfolgt und angefeindet", sagt Valeria. "Das passiert nicht nur in Guatemala-Stadt, sondern auch in unseren Dörfern. Wenn sie deinen Namen kennen, beginnen die Einschüchterungen. Du wirst bezichtigt, irgendein Vergehen begangen zu haben." Die siebzehnjährige Valeria stammt aus dem Mayavolk der Kakchiquel. Sie lebt nahe der Ortschaft San Juan Sacatepequez, keine zwei Stunden Autofahrt von der Hauptstadt entfernt. Der Weg führt über eine Schotterpiste entlang einer Hügelkette, auf der vor kurzem mit dem Bau einer Zementfabrik begonnen wurde. Zwei Kilometer entfernt liegt das Dorf Santa Fe Ocaña. Es ist umgeben von Wald und steilen Fusswegen.

Die meisten der älteren EinwohnerInnen des Dorfes sind Analphabeten. Sie sind nie zur Schule gegangen. Die junge Generation hat mehr Bildungschancen. Valeria hat gerade die Sekundarschule in San Juan abgeschlossen. Sie würde gerne an der öffentlichen Universität in der Hauptstadt Jura studieren. Als Rechtsanwältin möchte sie ihre Gemeinde gegen Übergriffe und Rassismus verteidigen. Das Vertrauen ihrer Nachbarin Olinda Katok hat sie schon. Die alte Frau hat sich als eine der ersten Frauen der Protestbewegung gegen den Bau der Zementfabrik angeschlossen. Sie kennt Valerie seit Jahren. "Ich habe gesehen, dass Valeria reden kann. Sie ist ja zur Schule gegangen. Aber heutzutage gibt es auch andere Frauen, die Interviews geben können. Wir dürfen keine Angst haben. Wir müssen sprechen, denn nur so können wir uns verteidigen und unser Recht durchsetzen."

Es geht um den Bau der grössten Zementfabrik Mittelamerikas. Ab 2017 sollen dort jährlich 2,4 Millionen Tonnen Zement produziert werden. Der Konzern Cementos Progreso hat schon vor sieben Jahren mit den Bauvorbereitungen begonnen. Die AnwohnerInnen der Umgebung fürchten, dass durch die Zementproduktion bald ihre Umwelt, die Luft, das Wasser und ihre Äcker verschmutzt werden. Valerias Familie lebt von der Landwirtschaft, so wie die meisten Menschen der Gegend. Viele der BauerInnen haben sich auf ein Produkt spezialisiert: Blumen. "Mein Vater ist Landwirt", erzählt Valeria, "Er baut Rosen an, Nelken, Chrysanthemen und auch Gemüse. Damit verdienen wir das Geld, das die Familie braucht. Doch in letzter Zeit haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir immer weniger produzieren können, weil das Wasser knapp wird." Anfangs haben die DorfbewohnerInnen den Dialog mit der Konzernführung gesucht. Ein runder Tisch wurde eingerichtet. Der hat es der Firma leicht gemacht, die Wortführer der Gemeinden zu identifizieren. Wenige Tage später wurden mehrere Männer festgenommen. Einige blieben über ein Jahr lang im Gefängnis, ohne formale Anklage. Daraufhin reagierten viele DorfbewohnerInnen mit Wut. Sie haben Protestmärsche organisiert und Strassensperren gebaut, um die Fortsetzung der Bauarbeiten zu verhindern. Der Konflikt eskalierte. "Ich habe mich an einem 14. Dezember dem Kampf angeschlossen", erinnert sich Valeria. "Das war der Tag, als die Polizei das erste Mal unsere Dörfer überfallen hat. Sie haben den Frauen gesagt, sie sollten ihre Röcke hochheben und ihre Hemden ausziehen. Sie sagten, sie würden nach Waffen suchen, aber wir haben keine Waffen."


Die Zementfabrik

Heute koordiniert Valeria die Öffentlichkeitsarbeit des örtlichen Entwicklungskomitees. Dabei sieht sie sich in der Tradition des Widerstands ihrer Vorfahren. Seit der Invasion der Spanier vor fünfhundert Jahren leidet die indigene Bevölkerung Mittelamerikas unter Ausbeutung und Unterdrückung. "Es geht mir um die Verteidigung der Rechte meines Volkes, die Verteidigung unseres Landes und unserer Territorien. Mich motiviert, dass so viele Männer und Frauen ihr Leben geopfert haben, um unsere Rechte zu verteidigen. Wenn ich ihre Geschichten höre, dann frage ich mich: Wieso kann ich nicht auch für mein Volk arbeiten? Wenn ich es nicht tue, wer tut es dann?"

Cementos Progreso ist eines der ältesten Industrieunternehmen Lateinamerikas. Über hundert Jahre lang hat der Konzern den Zementhandel in Guatemala monopolisiert. Die Besitzerfamilie Novella gehört zu den mächtigsten und reichsten des Landes. Eric Zepeta ist leitender Angestellter von Cementos Progreso. Auf seiner Visitenkarte steht: "Direktor für nachhaltige Entwicklung". Sein Schreibtisch ist im sechsten Stock der Konzernzentrale in Guatemala-Stadt. Von dort aus kann er auf ein exklusives Stadtviertel blicken. In einigen Gärten sind Schwimmbecken. In weitläufigen Hauseinfahrten parken teure Autos.

Eric Zepeta und die anderen Mitglieder der Firmenleitung sind es nicht gewohnt, dass ihre Entscheidungen in Frage gestellt werden, schon gar nicht von den BewohnerInnen eines armen Mayadorfes in den Bergen. Der Geschäftsmann tritt selbstsicher auf. Den Umweltschutz bezeichnet er als eine der Prioritäten seines Unternehmens. "Wir wollen eine Anlage mit der modernsten Technologie bauen. Wir werden die weltweit striktesten Normen in Sachen Umweltschutz einhalten. Gleichzeitig werden wir Entwicklungspole für die benachbarten Dorfgemeinschaften einrichten."

Erst seit wenigen Jahren steht der Naturschutz auf der Agenda der guatemaltekischen Politik. Noch gibt es in diesem Bereich nur wenige Gesetze und deren Einhaltung wird sehr lasch überprüft. Eric Zepeta aber hat keine Vorbehalte: "Unsere Pläne sind sehr positiv für die Entwicklung der Region. Es geht uns um Wiederaufforstung. Dann kommt auch das Wasser zurück. Wir haben nie wirklich verstanden, warum die Leute so viel Angst haben. Wir haben die Zukunft des Landes im Blick und die Entwicklung der Nation. Wenn wir es gut machen, dann ist das nachhaltig. Wir respektieren die Kultur von allen, denn wir alle sind Guatemalteken."

Valeria ist nicht überzeugt. Sie bezweifelt, dass sich die Leute von Cemento Progresso wirklich für den Umweltschutz und die Lebensbedingungen der Menschen in den Mayadörfern interessieren: "Dieses Entwicklungsmodell passt nicht zu uns. Sie reden von einem Modell, das ihrem Denken entspricht und das wir übernehmen sollen. Aber uns geht es um die Einheit der Gemeinde, um Harmonie und die Möglichkeit, unsere Blumen zu produzieren, unser Gemüse. Wir wollen weiter hier leben können, mit genügend Wasser."


Da stand mal ein Wald

Der Konzern hat das Gelände, auf dem die Zementfabrik gebaut werden soll, von einem Grossgrundbesitzer gekauft, der kein Interesse an einer Kultivierung des Landes hatte. Früher gab es dort einen Wald, in dem die Leute Feuerholz, Kräuter und Beeren sammeln konnten. Heute sind die Hügel abgeholzt.

Während einer Autofahrt zu dem Baugelände kauert sich Valeria tief in ihren Sitz und legt ein Tuch über ihr Haar. Sie möchte vermeiden, dass das bewaffnete Sicherheitspersonal der Firma sie erkennt. Die Männer patrouillieren auf der Strasse. Traurig schaut Valeria aus dem Fenster. Doch trotz der offensichtlichen Waldzerstörung findet sie nicht, dass der Kampf der zwölf Dörfer gegen den mächtigen Konzern völlig erfolglos war. "Wir haben es geschafft, dass die Bauarbeiten aufgehalten wurden. Ohne unseren Kampf würden hier schon heute die 36 verschiedenen Mineralien abgebaut werden, nach denen sie suchen."

Die DorfbewohnerInnen fürchten, dass der Konzern nicht nur Zement herstellen will. In benachbarten Gebieten werden schon längst Metalle abgebaut, unter anderem Nickel, Silber und Gold. Dabei kommen giftige Chemikalien zum Einsatz, die das Grundwasser verschmutzen. Aber die Verantwortlichen von Cementos Progreso bestreiten, dass sie nach Mineralien schürfen wollen.


Valerias Kampf

Valeria kämpft nicht nur gegen die Zementfabrik. Sie meint, die ganze Gesellschaft müsse verändert werden. Vor allem aber möchte sie zeigen, dass auch Frauen und Mädchen einen wichtigen Beitrag leisten können. Gerade Frauen wie Valeria, die aufbegehren, werden Opfer brutaler Verbrechen. In Guatemala werden täglich so viele Frauen umgebracht, dass selbst die Staatsanwaltschaft davon spricht, die Gesellschaft erlebe einen Femizid.

Über die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas sind Angehörige eines Volkes der Mayas. Trotzdem leben die meisten weitgehend ausgeschlossen von der politischen und wirtschaftlichen Macht. Wer sich dagegen auflehnt, riskiert Repression und Gewalt. "Wir nennen das 'schwarze Kampagnen'", erklärt Valeria. "Einmal sind in meinem Dorf Flugblätter mit meinem Namen aufgetaucht. Da stand mit scheusslichen Worten, ich hätte behauptet, die Polizei habe mich vergewaltigt, die Soldaten hätten mich sexuell missbraucht. Doch das habe ich nie gesagt. In Wirklichkeit habe ich von den Misshandlungen gesprochen, die unsere Dorfgemeinden ertragen müssen. Die Flugblätter haben mich sehr erschrocken. Da standen noch andere Sachen und Drohungen. Aber meine Kameraden haben mir geholfen. Sie haben mir gesagt: 'Schau mal, so ist das eben. Das wird wieder passieren. Vergiss deine Angst einfach. Von jetzt an werden sie dich immer wieder angreifen.'"

Neben Valeria gibt es noch ein paar weitere junge Frauen, die sich in der Bürgerinitiative engagieren. Eine von ihnen ist die vierundzwanzigjährige Norma, Valerias Freundin. Norma ist beeindruckt von Valerias Engagement. Aber sie macht sich auch Sorgen: "Ein junges Mädchen wie sie braucht Zeit für Spass mit ihren Freundinnen. Aber diese Zeit nimmt sich Valeria viel zu selten. Anstatt auszugehen, bereitet sie sich auf eine Pressekonferenz vor oder organisiert irgendein Treffen. Sie ist wirklich tapfer."

In Santa Fe Ocaña leben viele Mädchen in Valerias Alter mit einem Mann zusammen. Einige haben Kinder. Auch Valeria möchte nicht immer allein bleiben: "Manchmal frage ich mich, ob ich eines Tages jemanden finden werde, der mich versteht. Ich hoffe schon. Wenn er mich wirklich mag, dann wird er auch akzeptieren, was ich tue. Aber wenn jemand meine Arbeit nicht akzeptiert, dann klappt auch die Beziehung nicht."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 3/4/2014 - 70. Jahrgang - 31. Januar 2014, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2014