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VORWÄRTS/967: Die Stadt ernähren


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.37/38 vom 25. Oktober 2013

Die Stadt ernähren

Von Mathias Stalder



Gemeinschaftsgärten, Märkte, Hühnerhaltung, Gemeinschaftsküchen und Vertragslandschaften sind Antworten auf die zentrale Frage, wie wir uns heute und erst recht in der Zukunft ernhähren wollen. Ein Rückblick auf den Kongress "Die Stadt ernähren".


An der Tagung "Stadt ernähren - lokale und nachhaltige Strategien", die am 20. September in Biel stattfand, nahmen rund fünfzig Personen aus der Landwirtschaft, der Stadtentwicklung und aus Basisinitiativen teil. Zentrales Motiv: Das ganze Spektrum von Erzeugung, Verarbeitung, Distribution und Entsorgung unter einer nachhaltigen und regionalen Strategie zu vereinen. Umweltverschmutzung, Ressourcenverbrauch und Klimawandel fordern die Städte heraus. Steigende Gesundheitskosten durch Fehlernährung und Übergewicht, Armut und Individualisierung können über die städtische Ernährungspolitik gemindert werden. Es entsteht ein sozialer Kitt. Wie auch der Autor Thomas Gröbly von Neustart Schweiz in seinem Referat "Mut machen mit Nachbarschaften!" aufzeigte.


Nachhaltige Entwicklung

Der Autor Philipp Stierand stellte am Bieler Kongress die Bausteine der Ernährungsstrategien vor und ging der Frage nach, was ein Ernährungssystem zur Entwicklung der Stadt beitragen kann. Sehr viel, wenn wir das Beispiel der Stadt Genf betrachten. Dort gibt es mittlerweile 15 Vertragslandwirtschaftsprojekte, die 4000 Haushalte versorgen. 25 Prozent der Bevölkerung in Genf zeigen gemäss einer Studie Interesse an einem solchen Angebot. Über 200 Bauernbetriebe führen das regionale Label "GenèveRégionTerreAvenir", das für eine transparente und faire Produktion steht. Die mobile Mühle von "Affaire TourneRêve" fördert die bäuerliche Brotherstellung. Das Projekt "Cocorico" bringt die Legehennen in die Stadt. Die erste faire Milch, ein Franken pro Liter für den Produzenten, wurde lanciert. In den Kantinen der Schulen und Horte werden regionale Produkte verarbeitet und gefördert. Die Kommission für Ernährungssouveränität hat in den letzten zehn Jahren erfolgreich diese Projekte erarbeitet. In dieser Kommission finden sich VertreterInnen der KonsumentInnen, der ProduzentInnen; der ArbeitnehmerInnen, des Handels und der Verwaltung. Den Anstoss zur Gründung gab die Initiative der Bauerngewerkschaft "Uniterre". Rudi Berli, Gemüsebauer bei "Jardin de Cocagne" und Sekretär von Uniterre Genf schreibt dazu: "Einzig aus direkter Organisation und Bündelung der Betroffenen entsteht das Potential gesellschaftliche, wirtschaftliche und selbstbestimmte Strukturen zu schaffen. Daraus kann auch gesellschaftliche Macht entstehen, die Entscheidungsprozesse im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu beeinflussen." Ulrike Minkner, Präsidentin von Uniterre, forderte in ihrem Vortrag den Schutz vor Dumping-Importen und den Verzicht auf marktverzerrende Export-Subventionen. Die Bäuerin stellte das Prinzip der Ernährungssouveränität in den Mittelpunkt ihrer Politik. In der wegweisenden "Erklärung von Nyéléni" (Mali), die von 500 Delegierten aus 80 Ländern getragen wurde, steht: Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne.


Stadt als Experimentierraum

Weltweit ermächtigen sich KonsumentInnen, die Nahrungsmittelproduktion, Herstellung und Verteilung in die eigenen Hände zu nehmen. Die KonsumentInnen werden von einfachen WerbeempfängerInnen zu AkteurInnen. Auch die Städte haben das Potential erkannt. Alleine in Kanada haben 64 Kommunen Ernährungsstrategien verankert. Darunter sind Grosstädte wie Vancouver und Toronto. In Grossbritannien wurde im August 2013 von 25 Gründungsmitgliedern das Netzwerk "Sustainable Food Cities" ins Leben gerufen. Kritisch anzumerken ist aber, dass sich Stadtplanung und Stadtentwicklung dieses Instrumentes für die Aufwertung der Quartiere sehr wohl bewusst sind.

Die Städte erarbeiten Chartas, in denen sie ihre ganzheitlichen Ziele für eine nachhaltige Ernährungspolitik festhalten, gründen Nahrungsmittelräte, wo sich die verschiedenen AkteurInnen aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Administration treffen. Sie formulieren gemeinsam Ziele und setzen entsprechende Massnahmen in Gang. Die urbane Landwirtschaft ist mehr als ein Trend, sie wird unsere Städte zukunftsweisend verändern.


Mathias Stalder, Mitorganisator der Tagung "Stadt ernähren" und aktiv in der Vision 2035. Er ist Mitbegründer des Vertragslandwirtschaftsprojektes Terrevision in Biel, arbeitet Teilzeit auf einem Demeterhof auf dem Mont-Soleil, ist zweifacher Vater und lebt in Biel.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 69. Jahrgang - 25. Oktober 2013, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2013