Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/933: Von Paris nach Stockholm


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.21/22 vom 7. Juni 2013

Von Paris nach Stockholm

Von David Hunziger



Die sozialen Unruhen in Schweden zeigen auffallende Parallelen zu denjenigen in Frankreich von 2005 und denjenigen in England 2011: Es sind jeweils die an die urbane Peripherie gedrängten Schichten, von denen die Gewaltsausbrüche ausgehen. Der Geograph David Harvey würde darin ein revolutionäres Potential sehen.


In ihrem Beitrag sehen die AutorInnen der "Anarchist Federation Scotland" die heftigen Krawalle in Stockholm, die einen Sachschaden von über neun Millionen Franken verursacht haben, als Reaktion auf die sozialen Angriffe, die nun auch Skandinavien erreicht hätten. Zwar richten sich die AutorInnen gegen den Mythos der heilen Welt im Norden, betonen aber dennoch, dass man in Bezug auf "wirkliche progressive Reformen" oder auf "einen unterschiedlichen Umgang mit dem rücksichtslosen Neoliberalismus" von Skandinavien lernen könne. Sie fordern dementsprechend, die sozialstaatlichen Errungenschaften in den skandinavischen Ländern zu verteidigen. Zumindest als Forderung im defensiven Kampf bleibt der Mythos bestehen.

Eine andere, eher emanzipatorisch ausgerichtete Perspektive kann sich ergeben, wenn man die Krawalle mit dem marxistischen Geographen David Harvey als Aufstand der an den Rand der Städte gedrängten Schichten und damit auch als ein spezifisch urbanes Phänomen begreift. Natürlich geht es in Schweden auch um den Sozialstaat, doch zur Beschreibung konkreter Kämpfe ist diese Feststellung zu abstrakt. Dass die von den sozialen Angriffen bedrohten Menschen an den Stadträndern zusammengedrängt werden, ist die räumliche Bedingung der eben beobachteten Explosion.


Das Paradies ist zu eng

Im Stockholmer Stadtteil Husby, wo die Riots ihren Anfang nahmen, haben über 80 Prozent der BewohnerInnen einen Migrationshintergrund. Sie leben in Wohnblöcken, welche die schwedische Regierung zwischen 1966 und 1974 im Rahmen des "Miljonprogrammet" bauen liess, einem Programm zur Errichtung von einer Million günstiger Wohnungen in neu angelegten Stadtteilen. Die SchwedInnen, die dort einst gewohnt haben, haben den sozialen Aufstieg geschafft, eine neue migrantische Unterschicht ist nachgezogen, die im "sozialdemokratischen Paradies" offenbar keinen Platz findet.

Offensichtliche Parallelen gibt es zu den Unruhen von 2011 in London oder denjenigen von 2005 in Paris und später in ganz Frankreich. Wie in Schweden wurden die Proteste auch dort jeweils von Mordtaten durch Polizisten ausgelöst und richteten sich in der Folge unter anderem gezielt gegen die Polizei und andere staatliche Einrichtungen. Ebenfalls war die urbane Peripherie das Epizentrum der Proteste, die sich in der Folge ausweiteten, sich sowohl in England als auch in Frankreich auf zahlreiche weitere Grossstädte ausdehnten. Die sich räumlich manifestierende Ausgrenzung war das verbindende Element der Kämpfe. Über die räumliche Dimension können die Kämpfe auch als eine zusammenhängende Widerstandsbewegung begriffen werden.

Harvey betont, dass soziale Kämpfe, die nach Wohnorten und nicht ausschliesslich nach Arbeitsorten strukturiert waren, immer wieder revolutionäre Potentiale freisetzen konnten, und dass berühmt gewordene soziale Kämpfe - einschliesslich der Pariser Kommune - immer auch von diesem geographischen Aspekt geprägt waren. Den Erfolg jeder Protestbewegung ausschliesslich Fabrikarbeitern zuzuschreiben, ist für Harvey eine Reduktion. Praktische Konsequenz kann diese Reduktion dann haben, wenn man bestehende revolutionäre Potentiale von eben jenem urbanen Charakter nicht berücksichtigt, der sich in Frankreich, England und jetzt in Stockholm gezeigt hat.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 69. Jahrgang - 7. Juni 2013, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2013