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VORWÄRTS/861: Den Rahmen sprengen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.35/36 vom 28. September 2012

Den Rahmen sprengen

Von Siro Torresan



Ende Jahr wird der Bundesrat bekannt geben, wie er die AHV-Revision gestalten will. Auch ohne magische Kristallkugel ist jetzt schon klar, dass es eine massive Sparübung werden wird. Bleibt die AHV-Debatte im Rahmen der Fürsorge im "Sozialstaat", ist die AHV zum Tode verurteilt. Es ist daher nötig, die Diskussion auf eine höhere Ebene zu bringen.


Der grosse Feldzug gegen die AHV hat begonnen und die Aussichten auf Erfolg scheinen so rosarot wie noch nie in der Geschichte zu sein. So frohlockt der Tagesanzeiger am 14. September: "Sozialdemokraten haben es einfacher, an Sozialwerken zu rütteln, als Bürgerliche". Und als bräuchte diese Binsenweisheit eine weitere Bestätigung: "In Deutschland hat nicht Angela Merkel die Altersvorsorge umgebaut, sondern Gerhard Schröder". Die logische Schlussfolgerung davon: "So gesehen ist die Konstellation personell günstig, wenn der Bundesrat Ende Jahr die Eckpunkte für eine umfassende Reform der AHV und der zweiten Säule vorlegen wird: Die Reformzügel hat SP-Innenminister Alain Berset in der Hand, unterstützt wird er von Jürg Brechbühl, dem ebenfalls sozialdemokratischen Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV)". Alles klar?


Die Scheindebatte

Wie immer, wenn ein massiver Sozialabbau vor der Tür steht, wird frühzeitig der Geldteufel an die Wand gemalt. Laut BSV braucht die AHV im 2030 je nach Wirtschaftswachstum und Zuwanderung zwischen 5,1 und 11,4 Milliarden Franken mehr, um die Renten zu bezahlen. Wie dieses Geld beschaffen werden soll, ist jetzt schon klar: Höheres Rentenalter, höhere Lohnabzüge und Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Die Frage der Finanzierung der AHV ist eine Scheinfrage und dient vor allem dazu, das Volk zu verblenden und die tatsächlich hinter der AHV stehenden Verhältnisse zu verschleiern. 4,3 Prozent der Bevölkerung besitzen ein Vermögen von über eine Million Franken. Diese Wenige kommen gemeinsam auf 59 Prozent des gesamten in der Schweiz deklarierten Privatvermögens. 0,18 Prozent besitzt ein Vermögen von über 10 Millionen Franken und verfügen gemeinsam über 24 Prozent des gesamten Privatvermögens in der Schweiz. Die 0,1 Prozent der Reichsten besitzen 495-mal mehr als 95 Prozent der Bevölkerung. Besteuert man die Millionäre im Lande der Eidgenossen mit einer progressiven Steuer von eins bis drei Prozent, fliessen locker über zehn Milliarden Franken in die Staatskasse, und das "Finanzierungsproblem" der AHV ist gelöst. Wäre die Partei der Arbeit an der Macht, wäre die Besteuerung der Millionäre eine sichere Antwort auf die Finanzierungsfrage. Oder ohne parteipolitische Wunschträume des Schreibenden: Die Finanzierung der AHV ist ganz einfach und simpel eine Frage des politischen Willens! So könnten sich Herr Innenminister Berset und seine Parteifreunde zum Beispiel auch fragen, warum die AHV nur durch die Bestrafung der Lohnabhängigen (Erhöhung des Rentenalters), durch die Besteuerung der Arbeit (Lohnabzüge) und des Konsums (Mehrwertsteuer) finanziert werden muss. Man könnte - politischer Wille vorausgesetzt - auch die Finanztransaktionen und/ oder die Produktionsmittel besteuern.


Warum fehlt der politische Wille?

Die Frage ist daher, warum der politische Wille fehlt, den aktuellen Rahmen der Finanzierung der AHV zu sprengen. Die Antwort finde man, indem man dem aktuellen Modell eine Alternative gegenüber stellt. Heute versteht sich die AHV und somit auch die konkret ausbezahlte Rente als eine Fürsorgeleistung im Sinne einer Versicherung innerhalb des "Sozialstaates". Die Alternative besteht darin, diesen Rahmen zu sprengen, in dem nicht die AHV als Versicherung, sondern die eigentliche Rente ins Zentrum der Debatte gestellt wird. Dabei wird der Zweck der Rente so quasi auf eine höhere Stufe gehoben. Konkret: Die Rente fungiert nicht mehr als Fürsorgeleistung, sondern sie wird zu einem Mittel, um sich einen Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts und des vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums anzueignen. So gesehen kann die Rente mit der wöchentlichen Arbeitszeit verglichen werden: Eine Erhöhung des Rentenalters entspricht einer Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit ohne entsprechende Lohnerhöhung. Wird das Rentenalter gesenkt, kommt es einer Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohneinbusse gleich. Wer wann profitiert, liegt auf der Hand.

Der politische Wille ist daher eng an die Fragen gekoppelt, ob man im Rahmen des "Sozialstaats" bleiben, oder darüber hinaus politisieren will und ob man mit der AHV-Debatte grundsätzliche Fragen verbinden will, um den kapitalistischen Rahmen zu sprengen. Dass die Bürgerlichen dies nicht tun, liegt in der Natur der Interessen, die sie vertreten und verteidigen. Dass es die SP nicht tut, spricht Bände, ist aber alles andere als eine Überraschung.


Ein Abfallprodukt des Kapitalismus

Sicher, die politischen Machtverhältnisse sind alles andere als günstig, um der AHV-Debatte eine neue Dimension zu verleihen. Doch genau so klar ist Folgendes: Mag die AHV heute noch das "wichtigste Sozialwerk der Schweiz" sein, führt ihre reine Verteidigung als Fürsorgeversicherung im Sozialstaat zwangsweise zurück in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts, als der Bund einen kleinen Beitrag an die Vorläuferorganisation der Pro Senectute überwies, welche alte Bedürftige unterstützte. Die AHV wird so als ein zwar nettes, aber vorübergehendes Abfallprodukt des Kapitalismus in die Geschichte eingehen. Denn Sinn und Zweck des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist nicht der Wohlfahrtsstaat für möglichst viele, sondern nach wie vor die Schaffung von Mehrwert zur Sicherung und Vermehrung des Reichtums für wenige.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36/2012 - 68. Jahrgang - 28. September 2012, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2012