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VORWÄRTS/752: "Die Verhältnisse sind eine Zumutung"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.29/30 vom 26. August 2011

"Die Verhältnisse sind eine Zumutung"

Von Thomas Schwendener


Dieses Jahr findet vom 28. August bis zum 8. Oktober in Bern und Solothurn die erste antikapitalistische Kampagne statt. Unter dem Titel "In Bewegung bleiben - Kapitalismus abschaffen!" werden verschiedene Anlässe organisiert. Der vorwärts sprach mit den OrganisatorInnen.


VORWÄRTS: Was hat euch zur antikapitalistischen Kampagne bewogen?

ORGANISATOR/INN/EN: Wir finden, dass die Verhältnisse, unter denen wir leben, eine Zumutung sind. Die Kampagne soll einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Menschen über ein System Gedanken machen, in dem täglich Tausende verhungern oder burn-outen, während andere Golf spielen und Milliarden anhäufen. Wir wollen mit der Kampagne darauf hinweisen, dass der Kapitalismus für die Natur und die meisten Menschen und Tiere schädlich ist, er kein unumstössliches Naturgesetz ist und es Alternativen ohne ihn gäbe. Wir wollen also die Menschen letztendlich davon überzeugen, sich gegen das kapitalistische System zu erheben.

VORWÄRTS: Warum habt ihr euch vom antifaschistischen Konzept hin zu einer antikapitalistischen Kampagne bewegt? Und ist von euch künftig vermehrt eine Aktivität in diese Richtung zu erwarten?

ORGANISATOR/INN/EN: Dazu ist zu sagen, dass nur ein (zugegebenermassen grosser) Teil der beteiligten AktivistInnen aus dem klassischen Antifa-Spektrum stammt. Bei den InitiatorInnen der Kampagne hat sich allerdings die Einsicht durchgesetzt, dass es nicht die Neonazis sind, die für den Grossteil der Widrigkeiten unserer Zeit verantwortlich sind. Die demokratisch organisierte, politische Herrschaft und die kapitalistische Wirtschaftsweise zerstören weit mehr Existenzen, als die verhältnismässig kleinen Neonazibanden. Es ist ja nicht der organisierte Faschismus, der momentan an den Schalthebeln der Macht sitzt und etwa die Menschen in In- und AusländerInnen teilt, AusländerInnen ausschafft oder ArbeiterInnen entlässt, sprich ihnen die Löhne kürzt. Von uns sind deshalb auch künftig weitere Aktivitäten mit dieser Stossrichtung zu erwarten.

VORWÄRTS: Ihr schreibt, dass die kapitalistische Produktion auf die Umwelt keine Rücksicht nimmt und erklärt das aus dem Prinzip des Kapitalismus, einzig nach den Kriterien des Profits zu wirtschaften. Könnt ihr das genauer erklären?

ORGANISATOR/INN/EN: Der Kapitalismus fusst auf dem Prinzip von Profit und Konkurrenz. Um aus diesem Prinzip als GewinnerInnen hervorzugehen, muss der oder die ProduzentIn die Produktionskosten so tief wie möglich halten, um einen möglichst hohen Profit zu erzielen. In den Produktionskosten sind neben Lohn- und Materialkosten auch die Kosten der Abfallentsorgung und der Sicherheit dabei. Umgekehrt heisst das, je niedriger die Produktionskosten, umso schädlicher und gefährlicher ist dies für unsere Lebensgrundlage. Giftige Abfälle werden in die Natur gekippt. Die natürlichen Ressourcen werden ohne Rücksicht erschöpft. Meeresgebiete werden "leergefischt" ohne Rücksicht darauf, ob sich die Fischbestände wieder erholen können, "weil die Konkurrenz ja ohnehin weitermacht. Jahrtausendalte Urwälder werden für kurzfristigen Gewinn abgeholzt. Gemüse, Getreide und Früchte werden mit schädlichen Pestiziden überzogen, um eine möglichst ertragreiche Ernte zu erhalten. Öl wird auch dort gefördert, wo es wegen dem Stand der Technik schlicht unvernünftig ist und eine Umweltkatastrophe sehr wahrscheinlich. Atomkraftwerke werden gebaut, trotz den bestehenden Risiken und dem ungelösten Abfallproblem.

VORWÄRTS: In eurem Aufruf lässt sich nichts zur aktuellen Krise und den massiven Angriffen der herrschenden Klasse auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse finden. Zudem sind auch die in diesem Kontext stattfindenden Kämpfe in verschiedenen Weltregionen kein Thema. Wieso habt ihr diese für die radikale Linke doch sehr interessante weltweite Entwicklung ausgelassen?

ORGANISATOR/INN/EN: Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Uns war es wichtig, dass wir die Kampagne auf der Grundlage eines gemeinsamen "Minimalkonsenses" lancieren konnten. Deshalb wurde als erstes auf Grundlage der Texte diskutiert, die von den jeweiligen Gruppen und Einzelpersonen eingebracht wurden. Welche Texte zur Diskussion gestellt wurden, hat jede Gruppe selber entschieden. Die Themen Krise und Kämpfe wurden einerseits ausgelassen, weil parallel dazu genau diese im "Projekt Kritik und Klassenkampf" diskutiert wurden. Andererseits hat auch die Überlegung eine Rolle gespielt, aufzuzeigen, dass es genug Gründe gegen den Kapitalismus gibt, auch wenn gerade keine Krise ist.

VORWÄRTS: Ihr schreibt in eurem Aufruf, dass ihr vor allem einen Beitrag dazu leisten möchtet, "dass sich die Menschen Gedanken machen über das System". Denkt ihr, dass ein Picknick, ein Einkaufswagenrennen, Guerilla-Gardening oder ein Fussballturnier dazu geeignete Mittel sind? Stand der Gedanke Pate, dass ihr damit möglichst viele Leute erreichen wollt?

ORGANISATOR/INN/EN: Unsere Aktionen dienen als "Gateopener", sollen die Leute auf uns, und damit auf das, was wir zu sagen haben, aufmerksam machen. Wir wollen unsere Inhalte an den Mann/die Frau bringen, inner- und ausserhalb der Bewegung. Da ist es uns schon wichtig, dass wir viele und auch unterschiedliche Leute erreichen. Während oder nach jeder Aktion besteht die Möglichkeit, mit den Anwesenden zu diskutieren und es werden Broschüren mit den Inhalten zur Kampagne verteilt oder Reden gehalten. Bei einigen "Aktionen", wie bei den Kritikpicknicks oder dem Film, werden also direkt Inhalte rübergebracht, bei anderen, wie der Gummibootdemo oder dem Einkaufswagenrennen, eher "indirekt". Welche Aktionen dazu besser geeignet sind und welche nicht, darüber lässt sich streiten. Andererseits war uns auch wichtig, dass der Fun-Faktor der Beteiligten nicht zu kurz kommt.

VORWÄRTS: Wäre es nicht angebracht, an den Konfliktstellen dieser Gesellschaft zu intervenieren, statt eine Kampagne zu lancieren, die relativ losgelöst von den - zugegeben bescheidenen - Kämpfen zwischen den Klassen funktioniert? Müsste man nicht dort ansetzen, wo sich die Konfliktpunkte im Hier-und-Jetzt zeigen?

ORGANISATOR/INN/EN: Doch, natürlich. Aber die Gegensätze in dieser Gesellschaft zeigen sich doch nicht nur bei den Kämpfen, sondern auch beim "Normalbetrieb" im Alltag. Wir denken, dass ein Bewusstsein von diesen Gegensätzen und ein Bewusstsein von der Lage in der sich die ProletarierInnen befinden, erst recht dabei hilft, solche Kämpfe zu schüren. Es stimmt, dass die Kampagne relativ losgelöst von den arbeitskampfmässigen Konfliktstellen stattfindet. Das hindert uns aber nicht daran, mit den Kampagneninhalten auch an den, wie du richtig sagst, bescheidenen (qualitativ, wie quantitativ) Klassenkämpfen präsent zu sein. An der Bauarbeiterdemo in Bern etwa, je nachdem auch an den darauffolgenden Streik-Aktionen der Unia, oder an anderen Konfliktsituationen in der Region.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30/2011 - 67. Jahrgang - 26. August 2011, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2011