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VORWÄRTS/693: 50 Jahre Widerstand gegen Sozialabbau


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46/2010 vom 3. Dezember 2010

INLAND
50 Jahre Widerstand gegen Sozialabbau


mic. Am 4. Dezember feiert die Zürcher Sektion der AVIVO im Volkshaus ihr 50-jähriges Bestehen. Ein guter Grund, um mit dem 83-jährigen Ehrenpräsident Waldemar Lippmann ein Interview über die Geschichte und die Zukunft der "Vereinigung zur Verteidigung der RentnerInnen" zu führen.


FRAGE: Lieber Waldemar. Du bist schon seit fast 15 Jahren bei der AVIVO aktiv und bist nun Ehrenpräsident. Was sind eure Anliegen?

WALDEMAR LIPPMANN: Wir kämpfen derzeit vor allem dafür, dass es bei der AHV zu keinem Leistungsabbau kommt und setzen uns ein für die Rentnerinnen und Rentner. Es geht heute vor allem darum, im Minimum das zu erhalten, was in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft worden ist. Die erste Sektion wurde 1950 in Genf gegründet. Gründungsmitglieder waren damals unter anderem der spätere Genfer PdA-Regierungsrat Dafflon und der spätere SP-Nationalrat Karl Dellberg, auch bekannt als der "Löwe von Siders". Damals hatte die AVIVO alleine in Genf rund 30.000 Mitglieder. 1943 wurde eine Petition für die Einführung der AHV lanciert und am 1. Januar 1948 wurde die AHV schliesslich eingeführt. Bei der Gründung der AVIVO ging es damals - wie auch heute - darum, die erkämpften Errungenschaften zu schützen und aufrechtzuerhalten.

FRAGE: Wie ist die Situation für RentnerInnen heute? Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert?

WALDEMAR LIPPMANN: Heute ist sicher einiges besser als noch vor ein paar Jahrzehnten. In der Stadt Zürich wird schon auch eine gute soziale Politik gemacht, nur ist die nicht vom Himmel gefallen, sondern letztendlich das Resultat jahrelanger sozialer Kämpfe für die Rechte der Rentner. Und zufrieden kann man nie sein. Heute geht es aber vor allem darum, die erkämpfte Rechte zu verteidigen und sich generell gegen Sozialabbau zu wehren, weil heute viele soziale Errungenschaften bedroht sind. Gleichzeitig kämpft aber auch die AVIVO mit dem zunehmenden politischen Desinteresse und es ist schwieriger geworden, die RentnerInnen zum Mitmachen zu motivieren. Das hängt aber unter anderen auch damit zusammen, dass heute eine neue Generation von RentnerInnen kommt.

FRAGE: Nun hört man aber immer wieder von den "reichen Alten". Und in den Medien ist immer wieder zu lesen, wie gut es unseren Alten finanziell gehen würde. Was sagst du dazu?

WALDEMAR LIPPMANN: Das halte ich für ein totales Klischee, welches nicht der Realität entspricht. Sehr viele RentnerInnen sind auf Zusatzleistungen der IV angewiesen und es geht hier effektiv um eine Existenzfrage. Man sollte aber nicht vergessen, dass es sich dabei um keine Almosen handelt. Die Sicherung der Altersvorsorge wird durch die Schweizer Verfassung garantiert. Natürlich gibt es reiche Rentner, nur ist das eine verschwinden kleine Zahl und die engagieren sich ja logischerweise auch nicht bei der AVIVO.

FRAGE: Neben den politischen Aktivitäten, macht die AVIVO ja auch Beratungen, hilft anderen Rentnern beim Ausfüllen der Steuererklärung und organisierte verschiedenste kulturelle und soziale Anlässe. Kannst du noch ein wenig dazu erzählen?

WALDEMAR LIPPMANN: Zum Einen ist es uns ein wichtiges Anliegen, die Leute zu sensibilisieren, aufzurütteln und Interesse für soziale Themen zu wecken. Zum anderen organisieren wir aber auch viele Anlässe. So gehen wir zum Beispiel jeden Dienstag wandern und es kommen manchmal bis zu fünfzig Personen. Es geht der AVIVO auch darum, die anderen zu ermuntern, sich nicht zurückzuziehen und abzukapseln. Dass die Menschen auch im hohen Alter geistig aktiv bleiben und am gesellschaftlichen Leben beteiligen, das ist uns ein grosses Anliegen.

FRAGE: Am 30. November wird über die Ausschaffungsinitiative der SVP abgestimmt. Nun hat das Thema Migration indirekt durchaus etwas mit dem Thema "alt sein" zu tun. Zum Einen weil ja viele migrantische Menschen im Pflegebereich arbeiten, aber auch, weil die Schweiz und Europa wegen der allgemein sehr tiefen Geburtenrate eigentlich auf Einwanderung angewiesen ist. Inwieweit sind solche Überlegungen bei den Rentnern Thema?

WALDEMAR LIPPMANN: Eigentlich gar nicht. Das hat vor allem mit der Angstmacherei und das ausschliesslich die Nachteile und negativen Auswirkungen der Migration aufgebauscht werden, zu tun. Viele Alte haben auch das beklemmende Gefühl, dass die Fremden uns etwas wegnehmen würden. Dieser Einfluss und dieses Denken sind sehr stark verbreitet. Es hat aber ebenso mit politischem Desinteresse und der heutigen Konsumgesellschaft zu tun.

FRAGE: Du bist ja schon sehr lange aktiv. Was denkst du über die heutige politische Landschaft in der Schweiz und wo siehst du Handlungsbedarf?

WALDEMAR LIPPMANN: Die Linke wäre weitaus stärker, wenn sie etwas mehr mit den Füssen auf dem Boden wär und den Kontakt zur Basis nicht verloren hätte. Etwas mehr Bodenständigkeit und weniger Elfenturm wäre wichtig. Und die verschiedenen Organisationen sollte mehr sachbezogen arbeiten und versuchen einen gemeinsamen Nenner zu finden, statt die Unterschiede zu betonen. Sich also mehr auf die Suche nach den Gemeinsamkeiten und den gemeinsamen Nenner machen. Aber auch die intellektuelle Überhöhung und Hochmütigkeit einiger Leute finde ich erschreckend. Es sollte auch wieder mehr eine Sprache gewählt werden, die auch ein einfacher Arbeiter versteht, dann wäre schon viel gewonnen.
Ich halte den Egoismus und die die Individualisierung der Gesellschaft für eines der zentralen Probleme. Und letztendlich müssen wir uns bewusst sein, dass wir die heutigen Probleme nicht isoliert betrachten können, sondern weltweit Sozialabbau auf dem Buckel der Schwächsten betrieben wird.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46/2010 - 66. Jahrgang - 3. Dezember 2010, S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2010