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VORWÄRTS/690: Roma brauchen Hilfsorganisationen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44/2010 vom 19. November 2010

Roma brauchen Hilfsorganisationen

Von Silvia Nyffenegger


Wo immer in Tschechien Roma leben, sind sie verrufen. Seit der Samtenen Revolution 1989 setzen sich private Hilfsorganisationen für die diskriminierte Minderheit ein. Auf einen gerechten sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Status der Roma hinzuarbeiten, ist das erklärte Ziel.


Das Urteil fiel hart aus. Der regionale Gerichtshof in Ostrava, Osttschechien, verurteilte drei junge Täter zu je 22 Jahren sowie einen Vierten zu 20 Jahren Haft. Die Männer müssen ihre Strafe in einem Hochsicherheitsgefängnis absitzen. Sie waren der Komplizenschaft bei versuchtem Mord sowie der Eigentumsbeschädigung für schuldig befunden worden. Das war am 20. Oktober 2010. Das Gericht hatte schon im Mai die rechtsextreme "Arbeiterpartei", zu der die Verurteilten gehörten, als verfassungswidrig aufgelöst. In den Gerichtsunterlagen sollen sich Hinweise auf die Nazi-Gesinnung der Schuldigen befinden. Die Tat: Die Männer hatten im April 2009 in Vitkov drei Mitglieder einer neunköpfigen Romafamilie im Lauf eines Brandanschlags ernsthaft verletzt. Ein kaum zwei Jahre altes Mädchen erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades an über 80 Prozent ihres Körpers. Mit seinem aussergewöhnlich harten Urteil setzte der Gerichtshof ein Zeichen, dass in der Tschechischen Republik rassistisch motivierter Extremismus nicht geduldet wird.

Kein sachliches Gespräch über Roma kommt ohne den Hinweis auf deren tiefgreifenden Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft aus. Symptomatisch dafür ist beispielsweise, dass niemand weiss, wie viele Roma überhaupt in Tschechien leben. 11.000 sind es gemäss der Volkszählung von 2001. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge sind es aber weit mehr, nämlich zwischen 150.000 und 300.000. In den anderen Ländern Osteuropas, wo Roma leben, ist dies nicht wesentlich anders.


Die Isolation überwinden

Der gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Ausschluss zeigt sich da, wo Roma leben. Hier sieht es heruntergekommen aus und die Kriminalität ist höher als anderswo. In einer einzigen Strasse in Brünn gibt es nicht weniger als 24 Glücksspielsalons. Das wenige Geld, welches die Roma haben, fliesst zum Teil hier aus ihren Taschen. Brünn ist die Hauptstadt des Landesteils Mähren in Osttschechien, wo wie auch anderswo tschechische Roma wohnen.

Zum anderen grenzen offizielle Institutionen, Verwaltungsstellen, soziale Dienste und Schulen Roma aus der Gesellschaft aus. "Es gibt Schulen mit bis zu 90 Prozent Romakindern. Romakinder werden auch gerne Schulen für Behinderte zugewiesen. Die Mehrheitsgesellschaft schliesst die Roma in sich selber ein", erklärt Veronika Vankova einige Mechanismen des gesellschaftlichen Ausschlusses. Vankova ist Leiterin des Ausbildungsprogramms von IQ Roma Service in Brünn, einer privaten Dienstleistungsstelle für sozial ausgegrenzte Minderheiten.

Auch "Poradna - die Beratungsstelle für Staatsbürgerschaft, Zivil- und Menschenrechte" in Prag lässt die Vorstellung der gesellschaftlichen Segregation aufleben, wenn Martina Stepankova, Rechtsanwältin bei Poradna (übersetzt: die Beratungsstelle) von der wichtigsten Zielgruppe, den Roma, spricht. Die Beraterin schätzt die Anzahl Roma in Tschechien auf 200.000. Auch hier "besuchen nichtstaatliche Sozialarbeitende die ausgegrenzten Gebiete, leisten Rechtsberatung zu Fragen der Arbeitslosigkeit, der Wohnqualität und der Schulden", sagt Stepankova. Zudem setzt sich die Menschenrechtsorganisation für einen systematischen Wandel in der Gesellschaft durch die Veränderung der Gesetze ein. Poradna macht Lobbyarbeit bei Parlament und Regierung. Allen voran wurde 1992 das Versammlungsrecht in Tschechien eingeführt.


Die Probleme professionell angehen

Beide Organisationen, IQ Roma Service und Poradna sind nichtgewinnorientierte Nichtregierungsorganisationen. Das wirft Fragen zu ihrer Entstehung auf. Denn zum Zeitpunkt der Samtenen Revolution 1989 existierten in Tschechien zwar einige wenige Menschenrechtsgruppierungen. Sie waren aber informeller Art. Nach 1989 stiessen neue Leute in den Nichtregierungssektor vor. "Die Organisationen der Zivilgesellschaft vervielfachten sich, sodass es heute um die 30.000 Nichtregierungsorganisationen gibt", schätzt Martina Stepankova das monumental anmutende Wachstum der Organisationen der Zivilgesellschaft ein.

Ein neues Themenspektrum bildete sich. Zum Beispiel wurden ökologische und kulturelle Fragen aufgegriffen. Finanzierungen durch den Staat wie auch durch Privatunternehmen entstanden. "Die wichtigste Veränderung ist jedoch die Professionalisierung der Organisationen. Heute sind die Mitarbeitenden ausgebildete Fachpersonen", beschreibt Stepankova den Wandel in der Berufswelt. Poradna sei mit 20 Angestellten finanziell gut abgesichert. Andere Organisationen hätten ebenso viele oder auch nur fünf bis zehn Angestellte. Wieder andere leisten Freiwilligenarbeit.

Bei IQ Roma Service lassen sich die beeindruckenden Entwicklungen detailliert beschreiben. 1997 motivierte eine Kindergärtnerin aus gebildeter Romafamilie zur Gründung einer Freiwilligenorganisation. Ab 2003 profilierte sich die Dienstleistungsstelle als komplett professionalisierte, nicht gewinnorientierte Anlaufstelle für Sozial- und Rechtsberatung sowie für Rechtshilfe für Roma. Das Aufsuchen von Roma an deren Wohnorten ist ebenfalls fester Bestandteil der Arbeit von IQ Roma Service. 2006 waren 35 Personen angestellt. Heute arbeiten 59 Fachpersonen als Angestellte und 20 Freiwillige in den drei Zentren der Organisation in und um Brünn.

Hilfsorganisationen wie IQ Roma Service und Poradna arbeiten auf eine Gesellschaft hin, in der Roma ihren verdienten Platz einnehmen können. Dieses Ziel ist weit gesteckt. Die Hoffnung der Roma, eines Tages respektierte BürgerInnen nicht nur in Tschechien, sondern in ganz Europa zu sein, ist jedoch realistisch.


Wir sind keine Rassisten

Roma erleben eine ethnische Zuordnung. Die Mehrheitsgesellschaft schert sie alle über einen Kamm. Die Frage nach der Identität der Roma in der Tschechischen Republik stellt sich. Es gibt die Sinti, die Rumungi, die Vlachice und andere Romagesellschaften. Die einzelnen Romagesellschaften unterscheiden sich nach ihrem Ursprung. Der wichtigste Pfeiler der Tradition ist jedoch bei allen die patriarchale Familie, Onkel, Cousins, Cousins der Cousins bis weit zurück in der Zeit. Roma besassen nie ein eigenes Territorium und damit weder eine eigene Nationalität noch politische Repräsentanten. Vor einigen hundert Jahren teilten sie jedoch einen gemeinsamen Lebensstil.

Heute betrachten sich einige als Roma, andere als Tschechen. Trotz aller Unterschiede sind Roma aufgrund ihres Aussehens erkennbar. Die Mehrheitsgesellschaft sagt zwar, "wir sind keine Rassisten in der Tschechischen Republik." Doch es ist eine Tatsache, dass man Roma beim Einkaufen schräg ansieht, weil sie stehlen könnten.

Tatsache ist auch, dass die Romas schon der mörderischen Gewalt der deutschen Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten ausgeliefert waren. Die Hassgewalt der Rechtsextremisten in Vitkov schreibe sich in diese faschistische Tradition ein. Entsprechende Unterlagen sollen im Besitz des Gerichts sein.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44/2010 - 66. Jahrgang - 19. November 2010, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2010