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VORWÄRTS/656: Warum die Kartonfabrik Deisswil sterben mußte


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 22/23/2010 vom 11. Juni 2010

INLAND
Warum Deisswil sterben musste

Von Rainer Thomann


Mayr-Melnhof verkauft die Kartonfabrik an "Schweizer Investoren" - unter der Bedingung, dass in Deisswil kein Karton mehr produziert wird. Es fehlt eine gesellschaftliche Macht, die das Unternehmerdiktat umstossen könnte.


Wie kommt jemand dazu, eine Kartonfabrik zu kaufen, die - erst vor wenigen Wochen stillgelegt - voll funktionstüchtig und rentabel ist, die aber nicht betrieben werden darf, sondern verschrottet werden muss? Es gibt nur eine einleuchtende Erklärung: Der Käufer, der seine neu erworbene Fabrik nicht zur Kartonherstellung verwenden darf, erzielt einen Spekulationsgewinn mit der Verschrottung der Maschinen und der voraussichtlichen Umzonung des Geländes, auf dem die Fabrik steht. Dieser Vorgang ist im niedergehenden Kapitalismus alltäglich. Das Besondere in Deisswil besteht darin, dass das schmutzige Geschäft durch den Widerstand der Belegschaft gestört worden und anscheinend im Zeitplan durcheinander geraten ist.


Sich den Betrieb aneignen

Das Beispiel Deisswil beweist, dass auch rentable Betriebe geschlossen werden, wenn die Kapitalbesitzer es so miteinander aushandeln. Deisswil musste sterben, weil der MM-Konzern keinen Konkurrenten neben sich duldet. Eine hochmotivierte Belegschaft darf keinen Karton mehr produzieren und 250 Familien verlieren ihr Brot (ganz abgesehen von allen andern, die direkt oder indirekt mit der Kartonfabrik zu tun hatten!), weil der zweite Kapitalist, hauptsächlich am Grundstück interessiert, dieses Produktionsverbot und damit das Todesurteil für Deisswil unterzeichnet. Die Leute zu entlassen, braucht er nicht. Das hat bereits der andere für ihn erledigt. Einzig mit den aufsässigen DeisswilerInnen, die ihr Herzblut für diese Fabrik gaben, musste er fertig werden. Denn zum Zeitpunkt, als der Verkauf publik wurde, blockierte die Belegschaft noch immer die Werktore.

Die Parallelen zur INNSE Mailand sind offensichtlich. Auch dort hätte eine funktionierende und rentable Fabrik geschlossen werden sollen, um Platz zu machen für die Immobilienspekulation. Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, dass in Mailand eine kampferprobte Belegschaft sogleich die Fabrik besetzte, gegen den Willen des Besitzers weiterproduzierte, solange es ging, und nach 16 Monaten hartem Kampf schliesslich gewonnen hatte. In Deisswil fehlten jegliche Kampferfahrungen. So musste die Belegschaft alles von Grund auf lernen, wie ein Kind bei den ersten Gehversuchen. Und so ist es verständlich, dass die von einem erstaunlichen Widerstandswillen beseelten DeisswilerInnen um den unermüdlichen Betriebskommissions-Präsidenten Manfred Bachmann herum immer wieder übertölpelt worden sind.

Sah es Mitte Mai noch so aus, als würden die Sozialplanverhandlungen trotz einiger spektakulärer Aktionen auch in Deisswil nach dem üblichen Ritual ablaufen, kam am Mittwoch, 26. Mai, die überraschende Wende, als Corrado Pardini, Mitglied der Unia-Geschäftsleitung, vor laufender Fernsehkamara die Belegschaft theatralisch dazu aufrief, sich den Betrieb gewissermassen "anzueignen": "Ihr müsst euch organisieren, alles hier drinnen gehört ab jetzt uns!" Jener kämpferische Teil der Belegschaft, dem es bis anhin nicht gelungen war, sich Gehör zu verschaffen, liess sich das nicht zweimal sagen und besetzte sogleich die Werktore.


Nichts zu verlieren ausser ihren Ketten

Den gemässigten Leuten um Manfred Bachmann erging es nun genau gleich wie zuvor der kämpferischen Minderheit: Weder wurden sie um ihre Meinung gefragt, noch konnte an einer Betriebsversammlung über die unterschiedlichen Standpunkte diskutiert und anschliessend über ein gemeinsames Vorgehen beschlossen werden. Die offene Spaltung der Belegschaft in eine gemässigte Mehrheit und eine kämpferische Minderheit von überwiegend migrantischen Arbeitern schien unmittelbar bevorzustehen. An einer inoffiziellen "Betriebsversammlung" am darauffolgenden Samstagvormittag verkündete dann Pardini den wenigen anwesenden Arbeitern die wiedergefundene, wenigstens formelle Einheit: ein von Betriebskommission und Unia gemeinsam unterzeichnetes Schreiben, worin festgehalten wird, die Betriebsversammlung habe den Entscheid zur Blockade "einstimmig gefällt"...

Der Unia-Spitzenfunktionär war mit seinem Vortrag kaum zu Ende, da meldete sich ein einfacher Arbeiter zu Wort. Pardini war sichtlich unangenehm berührt, als der seinen eigenen Vorschlag zu einem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen vortrug: Man solle Hörmanseder (CEO des MM-Konzerns) einfach so lange gewaltsam festhalten, bis er die geforderten Millionen gesprochen habe... Wie lange hätte die Unia-Führung diese migrantischen Arbeiter, auf die sie sich während der Blockade stützte, unter Kontrolle halten können? Arbeiter, von denen jeder seine eigene Geschichte von erlebter Diskriminierung, von täglichen Schikanen, Ungerechtigkeiten und jahrelang zurückgehaltener Wut im Bauch zu erzählen hat. Eine Wut, die endlich Gelegenheit findet, sich einen Weg zu bahnen und sich zu äussern. Menschen, die angesichts drohender Arbeitslosigkeit und einem erneuten sozialen Abstieg nichts mehr zu verlieren haben als ihre sprichwörtlichen Ketten.


Jeder für sich selbst?

Nach den hinfällig gewordenen Sozialplanverhandlungen vom Dienstag, 1. Juni lag es in der Luft, dass die Blockade der Werktore demnächst zur Besetzung des Betriebs ausgeweitet würde. Doch das ist offensichtlich nicht im Sinne der Unia-Führung, die bereits in Geheimverhandlungen mit den anfänglich anonymen Investoren steht. An der Betriebsversammlung am folgenden Tag verspricht Corrado Pardini den Leuten das Blaue vom Himmel herunter: Alle würden zu den gleichen Bedingungen weiterbeschäftigt, und die andern bekämen einen Sozialplan, wenigstens werde er sich dafür einsetzen, wie auch dafür, dass diejenigen; die aktiv an der Blockade mitgewirkt haben, bevorzugt würden. Nachher stehen die Leute an und wollen sich in die Listen für die Blockade eintragen lassen. So muss halt, wenn der solidarische Kampf von unten fehlt, jeder für sich selber schauen, dass er nicht zu kurz kommt... Der Unia-Spitzenfunktionär ist längst weg, als es den Ersten dämmert, dass selbst bei einer Weiterbeschäftigung zu den alten Vertragsbedingungen wegen des Wegfalls der Schichtzulagen die Lohneinbusse so gross würde, dass es nicht mehr reicht. Und Schicht kann keine mehr gearbeitet werden, wenn kein Karton mehr produziert werden darf.

Nachher geht alles sehr schnell: Bereits zwei Tage später löst die Unia die Blockade auf. Die Vereinbarung mit den Investoren ist bereits unterschrieben. Den Mitarbeitenden soll ein neuer Arbeitsvertrag zu den alten Bedingungen angeboten werden, was für viele Schichtarbeiter weniger wäre als das Arbeitslosengeld. Zudem gibt es gar keine Arbeit, abgesehen von den geplanten 20 bis 40 Stellen im Altpapierhandel. Die über Nacht eilends aus dem Hut gezauberte Lösung hat vor allem ein Ziel erreicht: den Widerstand einer Belegschaft zu brechen, die sich für schweizerische Verhältnisse mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit zur Wehr gesetzt hat. Doch dafür hätten die DeisswilerInnen etwas Besseres verdient als weiterhin leere Versprechen und vage Hoffnungen.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 22/23/2010 - 66. Jahrgang - 11. Juni 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2010