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VORWÄRTS/625: Subjektive Perspektivlosigkeit, objektive Perspektive


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 8. Jan. 2010

Subjektive Perspektivlosigkeit, objektive Perspektive

Von Lukas Arnold


Man sieht und hört sie überall in den bürgerlichen Medien: die Jahrzehnterückblicke auf die 2000er- oder "Nuller"-Jahre. Doch welche Tendenzen haben sich aus unserer Sicht gezeigt? Ein Versuch einer Antwort, und was man weiter machen könnte...


Irak- und Afghanistankrieg, Krieg im Libanon und im Gaza, Rechtsrutsch, Privatisierung, Sozialabbau, Dotcom- und Finanzkrise, sich steigerndes Bruttoinlandprodukt in Indien und in China, Computerisierung, Euro und EU-Osterweiterung, Klimakatastrophen, Kaukasus-Konflikt, Atombomben im Iran und in Nordkorea, Piraterie im Internet und in Somalia, Guantánamo, Globalisierung, Klimaerwärmung, Hunger, Armut.

Das sind Begriffe, welche man mit dem letzten Jahrzehnt in Verbindung bringen kann. Durchaus keine positiven Begriffe. Auch ein bisschen wirr, und sie sprechen für ein eher pessimistisches Zukunftsbild.

Es sind jedoch Ereignisse und Sachverhalte, die nicht einfach dem chaotischen Treiben einer chaotischen Zeit entstammen, sondern einer allgemeinen Tendenz, einer allgemeinen Krise entspringen: der Krise der kapitalistischen Gesellschaft und des Kapitalismus.


Kapitalüberproduktionskrise

Die Bedingungen für die Erwirtschaftung von Mehrwert haben sich für die Kapitalbesitzenden verschärft: die "Grenzen des Wachstums", wie es der "Club of Rome" nennen würde, wurden erreicht; Kapital kann nicht mehr sinnvoll und real gewinnbringend investiert werden. Verbesserte sich in den "goldenen 70ern" tatsächlich die wirtschaftliche Lage in den westlichen Ländern, stagniert seither die Akkumulation beziehungsweise Vergrösserung des Kapitals - der unserer Gesellschaftsordnung zugrunde liegende wirtschaftliche Mechanismus.

In der Folge muss der bürgerliche Staat - und er bleibt auch ein bürgerlicher Staat, wenn er von SPD oder der "Labour Party" regiert wird - die Bedingungen für die Erwirtschaftung von Mehrwert auf andere Weise erleichtern. Dies kann geschehen, indem Sektoren, weil sie im privatwirtschaftlichen Sinne nicht rentabel waren, (zum Beispiel staatliche), dem "freien Markt" - also dem Feld, wo Wert in Form von Kapital angeeignet werden kann - zugeführt werden. Konkret kann dies Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen wie der Post oder Privatisierung von Teilbereichen in Bildung und Gesundheit bedeuten. Oder man kann die Bedingungen erleichtern, indem die Kosten für Unternehmungen gesenkt werden und damit der Profit erhöht wird, so zum Beispiel durch mittels Sozialabbau und "Einsparungen" von Staatsgeldern ermöglichte Steuersenkungen. Oder einfach durch eine kompromisslos marktwirtschaftliche Ausrichtung aller Gesellschaftsbereiche auf das Schaffen von abzuschöpfendem Mehrwert, insbesondere der vom Bürgertum so oft beschworenen "freien" Bildung.

Natürlich kann auch der Krise des Kapitalismus abgeholfen werden, indem, sei es mit Kriegen, sei es mit nominell "friedlichen", strukturell jedoch gewaltsamen Druckmitteln von IWF und Weltbank, neue Märkte erschlossen werden. Wozu soll es denn im Irak Erdöl geben, wenn es nicht von Kapitalisten als Produktionsmittel verwendet werden kann? Wozu soll es mehr oder weniger gut funktionierende, die Bevölkerung zumindest ernährende Produktionsweisen geben - in Indien oder China -, wenn man doch den ganzen Produktionsprozess in den kapitalistischen eingliedern kann und zweistellige Wachstumsraten des Bruttoinlandprodukts (was zwar nicht den Wert des Wachstums der tatsächlichen Wirtschaft und Produktion wiedergibt) erzielen kann? Wozu Umweltschutz, wenn kein Umweltschutz einen höheren Profit ermöglicht? Wieso Arbeitsschutz und angemessene Löhne, wenn nichtangemessene Löhne und kein Arbeitsschutz doch vielmehr den "wirtschaftlichen Notwendigkeiten", sprich der Krise des Kapitalismus, Rechnung trägt.

Dass aber all die Kriege, die Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen, das "Erschliessen" neuer Märkte, selbst die riesigen neuen Produktionssektoren um Elektronik, Mobiltelefonie und Computer der unheimlichen Wucht der Krise wenig entgegenhalten können, hat das Platzen der Spekulationsblasen in den Finanzmärkten gezeigt, bei welchen das längst überproduzierte Kapital unbeholfen in unrentable, unwirtschaftliche Sektoren investiert worden ist.


Perspektive aufbauen

Trotz allem ist der Kapitalismus in der Hegemonie: sei es militärisch - Gaza- und Irakkrieg zeigen es -, sei es wirtschaftlich - oder sei es ideologisch: Eine politische Alternative jenseits des Kapitalismus ist für die Allermeisten undenkbar. Das Gros der Linken versucht vergeblich, den Kapitalismus demokratischer und ökologischer, "netter" zu gestalten. Die Mehrheit versucht jedoch lieber im Kapitalismus ein angenehmes Leben, zum Teil auch auf Kosten anderer, zu erreichen als gegen den Kapitalismus ein würdiges Leben zu erkämpfen. Auch die kapitalistische Philosophie und ihr Menschenbild setzen sich durch.

Subjektiv herrscht Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, allenfalls ein schüchterner Reformismus vor, subjektiv gibt es fast kein gesellschaftliches Bewusstsein. - Objektiv wären jedoch die Bedingungen für eine grundlegende, revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft gegeben: denn objektiv steckt der Kapitalismus in einer sich immer weiter verschärfenden Krise, objektiv sind die ökonomischen Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Produktionsweise gegeben, und objektiv haben die Massen der Arbeitenden eine genügende Stärke, um eine grundlegende Veränderung zu erwirken. Die arbeitenden Subjekte müssen sich jedoch genau der objektiven Situation bewusst werden, ein Selbstbewusstsein und Bewusstsein ihrer Situation als Ausgebeutete aufbauen, Solidarität entwickeln, eine Klasse "für sich" werden. Die subjektive Perspektivlosigkeit gilt es zu überwinden.

In diesem Sinne ist es wichtig, im ideologischen Sinne die (tatsächlich vorhandene) Perspektive aufzuzeigen, im konkreten Sinne eine Gegenmacht aufzubauen, welche sich - bei Arbeitskämpfen, bei politischen Kämpfen, jedoch auch im kulturellen Sinne und in der Wissenschaft - gegen die Hegemonie des Kapitalismus, seine süffisante Grausamkeit und seinen Stumpfsinn wehrt, die Perspektive konkret aufzeigt, anwendet, verteidigt und ausbaut. "Wer seine Lage erkennt, wie soll der aufzuhalten sein?", so Brecht. Denn wenn eine genügende Qualität des Bewusstseins der Arbeitenden erreicht ist, wird keine Repression, keine Propaganda und keine staatliche Hoheitsmacht die notwendige Umgestaltung stoppen können.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02 - 66. Jahrgang - 8. Jan. 2010, S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2010