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VORWÄRTS/585: Sans-Papiers-Kinder sind ihrer Kindheit beraubt


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20 vom 15. Mai 2009

Sans-Papiers-Kinder sind ihrer Kindheit beraubt

Von Silvia Nyffenegger


Das Portrait einer Familie mit abgewiesenem Asylgesuch zeigt eine behördlich verordnete Grenzerfahrung. Jetzt fordert die Kampagne "Kein Kind ist illegal" die erleichterte Regelung des Aufenthaltsstatus von Sans-Papiers-Kindern. Die Kampagne kann online auf www.keinkindistillegal.ch unterschrieben werden.


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Mehrere Tausend Kinder und Jugendliche leben ohne gültige Ausweispapiere in der Schweiz. Sie sind Sans-Papiers. Einzelpersonen und bekannte soziale Organisationen fordern jetzt die Durchsetzung der in der Schweizer Verfassung sowie in der UM-Kinderrechtskonvention garantierten Rechte von Kindern ein. Seit dem 1. Mai 2009 kann jede Person online oder auf Papier das Manifest der Kampagne "Kein Kind ist illegal" unterschreiben. In der Folge schildert eine Familie wie es sich für Kinder und Erwachsene ohne gültigen Ausweis im Kanton Zürich lebt.

Sedat ist ein ruhiger und selbstsicherer 17-Jähriger. Zwei Negativentscheide der Behörden auf ihr Asylgesuch halten ihn und seine Familie im Durchgangszentrum Adliswil bei Zürich fest. Sedat spricht als erstes die erwünschte Lehre als Automechaniker an. Dafür erhält er jedoch keine Unterstützung. Seine Eltern könnten keine Ausbildung finanzieren. Doch ohne Arbeitsbewilligung kann er in der Schweiz gar keine Lehre antreten. Er besuchte schon in Deutschland keine Berufsschule, weil ihn die deutsche Polizei mitsamt seiner Familie in die Schweiz abgeschoben hat. Die Negativentscheide machen Sedat zum Minderjährigen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, zum Sans-Papiers.


Ohne Papiere kein gar nichts

Sedat blickt auf eine unbestimmbare Zukunft. "Das Durchgangszentrum kann keine Heimat sein", sagt der Jugendliche: "Ich schlafe, esse, stehe auf und gehe kurz aus. Aber ich bräuchte Schule. Ich habe auch keinen Ausweis. Macht die Polizei eine Kontrolle, muss ich auf den Posten gehen und dort eine Stunde warten. Dann sagt die Polizei, ob du angemeldet bist oder nicht und du kannst wieder gehen." Zum gegenwärtigen Missstand gehört auch die finanzielle Notunterstützung durch den Kanton Zürich, 10 Franken pro Tag und Person, die kaum für das Essen der Familie reichen. Der Junge möchte, dass er, sein Vater und seine Mutter eine Arbeit hätten. Dann gäbe es eine eigene Wohnung und die Familie wäre versorgt. Sedat kommentiert die eineinhalb Jahre seitdem er im Zentrum in Adliswil wohnt: "Heim, Heim, Heim, Heim, keine Wohnung, kein Ausweis, keine Arbeit, kein gar nichts". Er wünscht sich sehnlichst den geregelten Aufenthalt.

Die zehnjährige Silvana, Sedats Schwester, sagt, ihre Mutter sei Kosovarin. Für sich selbst äussert sie kein nationales Zugehörigkeitsbewusstsein. Sie besucht wie die anderen Kinder von Adliswil die Volksschule. Sie ist Drittklässlerin. In der Schule sei Mathe etwas schwierig. Sie fühlt sich mit den "vielen grossen Männern" aus Afrika im Zentrum nicht wohl und findet das afrikanische Kind frech. Auch sie wünscht sich gültige Aufenthaltspapiere. Ihre Zukunft sieht Silvana als Sängerin und Pop-Ikone.


Keine Ruhe im Zentrum

Valmira ist ein Jahr älter als ihre Schwester Silvana. Ihre Herkunft bezeichnet sie als den Kosovo. Sie weiss, dass sie im Durchgangszentrum leben, weil sie Asylsuchende sind. Dass sie abgewiesene Asylsuchende sind, sagt Valmira nicht. Sie ist zu jung, um die Komplexität der behördlichen Bewilligungssysteme vollständig nachzuvollziehen. Valmira geht ins gleiche Schulhaus wie ihre Schwester. Sie geht gern zur Schule. Die behördliche Methode, den NothilfebezügerInnen 10-Franken-Gutscheine anstelle von Bargeld zu geben, findet auch Valmira mühsam. So hätten beispielsweise die Kinder auf Schulreise kein Bargeld. Können Eltern die Schulreise ihrer Kinder nicht bezahlen, komme die Schule für die Reise und die Eltern für das Picknick auf. Es komme aber auch vor, sagt Valmira, dass sie auf die Schulreise verzichten und für einen Tag in eine andere Klasse gehen muss. Ihr grösster Wunsch ist eine Wohnung und mehr Geld zu haben und dass sie und ihre Familie hier bleiben können.

Julia, Mutter und erste Ehefrau von Imer, fühlt sich bedrückt, weil die Familie mit acht Personen in einem einzigen Zimmer leben muss. Dies auch bei Krankheit. Im Zimmer werde gegessen, geschlafen, ferngesehen, während andere schlafen oder die ganze Nacht wach bleiben. Kleiderschränke fehlen. "In diesem Zimmer gibt es keine Ruhe", sagt Julia. Auch genüge das Geld nicht für die Familie, während die Kinder ihre Mutter bedrängen, ihnen Sachen zu kaufen. Kopfschmerzen plagen Julia. Braucht sie eine Schmerztablette, wiegele die Zentrumsleitung ab, sie sei ja jeden Tag krank. Das Fehlen gültiger Ausweispapiere erfüllt Julia permanent mit Angst. Angst vor der Polizei. Die komme jeden Tag ins Zentrum. Die Familie lebt seit eineinhalb Jahren im Durchgangszentrum Adliswil. Wie lange sie noch bleiben? Keine Ahnung. Man wisse auch nicht ob es besser werde. Es gebe keine Zukunftsperspektive.


Warum geht ihr nicht zurück?

Am Tag unseres ersten Besuches bei der Familie sei eine Frau im Durchgangszentrum gestorben, informiert Julia. Im Alter von knapp vierzig Jahren. Auch Imer spricht von dem Todesfall. Vor zwei Monaten sei eine andere, etwas jüngere Frau gestorben. Niemand wisse, was im Zentrum passiere, sagt Imer. Die BewohnerInnen seien nicht über die Todesursachen informiert worden. Diese Umstände helfen nicht, die Angst zu beruhigen.

Imer kann wegen des fehlenden Reisegeldes weder seinen Bruder besuchen noch seinen Kindern eine Ferienreise bieten. Wie schon Julia kritisiert auch Imer, dass er für einen Arzttermin eine Woche warten muss. Das geschah, als sowohl er als auch seine zweite Ehefrau Mimosa kürzlich an einer Infektion litten. Imer bietet Einblick in seine Identität. "Kosovo ist nicht unsere Heimat. Deutschland schob uns in die Schweiz ab, und hier fragt man uns: 'Warum geht ihr nicht zurück?' Wohin zurück? Wir haben keine Heimat ist die Antwort die uns bleibt."

Fachleute sagen, dass Sans-Papiers-Kinder ihrer Kindheit beraubt sind, da sie die Probleme von Erwachsenen tragen. Sie haben Angst vor der Polizei, können in der Schule nicht offen reden, haben eingeschränkten Kontakt zu Gleichaltrigen und fürchten sich vor der Denunziation. "Ihre Hoffnung ist, einmal den geregelten Aufenthalt zu erhalten", sagt Bea Schwager, Leiterin der S-PAZ-Anlaufstelle Zürich. Andererseits nähre auch die Kampagne "Kein Kind ist illegal" die Hoffnung, dass Minderjährigen mittels Härtefallregelungen der gültige Aufenthaltsstatus erleichtert zugesprochen wird.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20 - 65. Jahrgang - 15. Mai 2009, Seite 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2009