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STREIFZÜGE/038: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 65, Herbst 2015


Streifzüge Nummer 65, Herbst 2015
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde



INHALTSVERZEICHNIS

Ricky Trang: Einlauf

Emmerich Nyikos: Post-Moderne oder: Die real existierende Absurdität

Franz Schandl: Von und vom Spielen

Annette Schlemm: Digitales Spielen als widersprüchlicher Kulturprozess

Ricky Trang: rien ne va plus
Das situationistische Spiel im Spektakel und wie das Spektakel in der Gamification ganz zu sich selber findet

Emmerich Nyikos: Capital ludens. Das Spielfeld wird zum Trümmerhaufen

Severin Heilmann: Lage hoffnungslos, aber nicht ernst!

Maria Wölflingseder: Das fesselnde Spiel und die spielerische Leichtigkeit des Albert Camus

Home Stories mit Beiträgen von Severin Heilmann, Martin Scheuringer und Franz Schandl

Tomasz Konicz: Euro gegen Einheit.
Ein "europäisches Deutschland" kämpft um einen deutschen Euro

Uwe von Bescherer: Symmetrische und asymmetrische Kriege
Von entfesselter Konkurrenz und Atomwaffen

Hermann Engster: Charaktermaskerade.
Goethe und Marx. Allegorien der Warenform in Faust II

Kolumnen
Dead Men Working: Petra Ziegler - Verspieltes Leben
Immaterial World: Stefan Meretz - Erziehung

Rubrik 2000 abwärts
Immanuel Kant (I.K.): Beispiele
Julian Bierwirth (J.B.): Spiel und Spielerei
Lorenz Glatz (L.G.): "... nicht nur ausbeuten ..."
Martin Scheuringer (M.Sch.): Spielerische Kooperation

*

Einlauf

von Ricky Trang

Die wandernden Massen beginnen die Inseln der Seligen zu erreichen und werden sich auch künftig, von welchen Zäunen und Grenzen auch immer, nicht aufhalten lassen. Weil hier all das ist, was bei ihnen gestohlen wurde; weil der in den letzten Atemzügen liegende Kapitalismus in der immer näher und näher rückenden Peripherie eine überlebensfeindliche Wüste zurücklässt. Ökonomisch und ökologisch, ein Endzeitszenario mit Bandenwirtschaft, Kriegswirren und religiösen Wahnvorstellungen, dem alle, die noch irgendwie (es sich leisten) können, zu entfliehen versuchen. Die dahintersteckende Logik und die bitteren Zusammenhänge sind der Streifzüge-Leserschaft nur allzu offensichtlich. Der von uns täglich reproduzierte Wahnsinn kommt schließlich zu Hause an.

Zu Hause, wo von home sweet home-Idylle nicht mehr viel zu spüren ist. 30,8 Prozent bekennende VolksgenossInnen vermitteln einen Eindruck davon, wie es im Herzen der Bestie, wo sich die letzten Illusionen von Emanzipation längst im Nebel der Geschichte aufgelöst haben, aussieht.

Und die Streifzüge? Wir flüchten uns ins Spiel. Oder ist es doch mehr als Verzweiflung und Weltflucht? Ist und kann das Spiel mehr als nur ein netter Zeitvertreib und Vergnügen sein? Und muss ein Mehr, damit es überhaupt sein kann, nicht Vergnügen bereiten und neue Wege beschreiten und erfinden? Bietet sich hier etwa eine Chance oder gar eine Perspektive?

Doch wir wären nicht wir selbst, wenn wir nicht auch hier ein Haar in der Suppe finden würden. Letzten Endes scheint es sich sogar dabei um eine haarige Angelegenheit zu handeln.

Also lest weiter die Streifzüge. Wir holen euch da zwar nicht raus, aber wir sagen euch, wo wir drinstecken.

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E-Mail-Container

Auch die Streifzüge verfügen über eine Art Newsletter, genannt E-Mail-Container. Wer Lust hat, gelegentlich von uns belästigt zu werden, der teile uns das bitte mit. Eine E-Mail mit dem Betreff "E-Mail-Container" an redaktion@streifzuege.org reicht.

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Post-Moderne oder: Die real existierende Absurdität

von Emmerich Nyikos

Brot und Spiele

Wie wir wissen oder wissen sollten, wohnt dem Kapitalsystem ein perpetuum mobile inne, ein Motor, der dieses System, unermüdlich, wie es nun einmal ist, dazu treibt, das Produktivkraftniveau ständig zu heben: die Produktion des relativen Mehrwerts respektive, vom Standpunkt einer jeden aparten Kapitalentität, die Produktion eines Extramehrwerts, und zwar auf dem Weg der Innovation oder, anders gesagt, durch die beständige Verbesserung, die Erhöhung des Wirkungsgrads der Instrumente und Methoden, die im Stoffwechsel mit der Natur Anwendung finden.

Es darf uns dabei keineswegs überraschen, dass, sobald die Wissenschaft der Produktion dienstbar gemacht worden ist, diese Hebung des Produktivkraftniveaus über alle Grenzen hinaus in die Automation der Produktion durch Computerisierung und Robotisierung als ihren Abschlusspunkt mündet - in die Übertragung nicht nur der Führung und des Antriebs des Werkzeugs, sondern auch von dessen Steuerung (des Aspekts der Information) auf Apparaturen: in eine Produktion infolgedessen, die der lebendigen Arbeit nicht mehr bedarf.

Mit anderen Worten: Das variable Kapital wird aus dem System der Tendenz nach völlig eliminiert und mit ihm, mit der lebendigen Arbeit, zugleich auch und in demselben Maße der Wert der ganzen Warenwelt, der sich so asymptotisch auf null reduziert. Was bleibt, das ist konstantes Kapital als substanzlose Form, d.h. die tote Arbeit vergangener Generationen in ihrer konkreten Gestalt, welche, sobald der Produktionsapparat einmal in Gang gesetzt wurde, Gebrauchswerte unterschiedlichster Art gleichsam selbsttätig liefert.

Das aber heißt: Die Arbeiterklasse, die einst Wert, Mehrwert und Kapital produziert hat, löst sich in nichts auf oder, wenn man so will: sie wandelt sich zu einer Klasse, die aus proletarii im eigentlichen, im römischen Wortsinn besteht. Das soll nun nicht heißen, dass sämtliche Lohnarbeit unmittelbar annulliert werden würde, denn der spezifische Charakter des Kapitalsystems bedarf konkreter Tätigkeiten, die vorerst noch nicht automatisiert werden können (auch wenn sie ohne jeden Zweifel im Prinzip durchaus automatisierbar sind) oder, sofern sie bereits automatisiert werden könnten, vorläufig noch auf die herkömmliche Weise ausgeführt werden, hauptsächlich weil das Publikum noch nicht reif für eine Änderung ist: so in den "Dienstleistungsbranchen" (jenseits des Stoffwechsels mit der Natur), im Handel, im Marketing, in der Werbung, im Bank- und Versicherungswesen, ganz zu schweigen von den Beschäftigten im Staatsapparat (in der Verwaltung, im Schuldienst, bei der Polizei, in der Armee und im Justizapparat), in der Vergnügungsbranche (Theater, Konzertwesen, Film, Radio, Fernsehen, Videoclips) oder im persönlichen Dienstleistungssektor (Raumpflege, Wach- und Leibwächterdienste, facility management und was es dergleichen noch mehr gibt). Nichtsdestotrotz, perspektivisch gesehen, werden auch diese Aktivitäten eines Tages ohne jeden Zweifel automatisiert ausgeführt werden, so dass man davon ausgehen kann, dass auf lange Sicht sämtliche Lohnarbeit sich in den Orkus verflüchtigt.

Wenn wir demnach perspektivisch von proletarii im eigentlichen Sinn sprechen können, von Bürgern, die im Hinblick auf die Produktion keine Funktion mehr erfüllen, so deswegen, weil die automatisierten Maschinen dabei sind, in die Rolle der antiken servi zu schlüpfen, denen einst die Hauptlast der Produktion aufgehalst war.

Aber was geschieht unter diesen Umständen dann mit dem Konsum all der Waren, die der automatisierte Produktionsapparat nach wie vor in rauen Mengen auszuscheiden beliebt? Muss das System, sobald ihm einmal die Konsumenten insofern abhandengekommen sein werden, als sie mit ihrem Lohnarbeiterstatus auch den Lohn als Basis der Kaufkraft verlieren, nicht unweigerlich implodieren?

Nun, das muss nicht so sein. Denn einerseits gibt es Palliative, die die Form von Transferzahlungen annehmen können (cf. das "arbeitslose Grundeinkommen", das man jetzt schon diskutiert), so wie die proletarii in Rom (und in Konstantinopel) durch die annona, das kostenlose Getreide aus Africa proconsularis (und aus Ägypten), ernährt worden sind; und andererseits kann der Konsum auf die charity zählen, die Spende durch ein neues Wohltätertum - à la Bill Gates und George Soros -, ein Wohltätertum, das dem der antiken euergetai durchaus in nichts nachstehen muss.

Was hindert uns schließlich, in diesem Zusammenhang den Vorschlag Bert Brechts aufzugreifen, den Verdauungstrakt der Reichen medizinisch so zu erweitern, dass sie sich in der Lage befinden, Nahrungsmittelmengen tonnenweise zu speisen? Alternativ dazu - und den Gedanken weitergesponnen - könnte man freilich dann auch an die Konstruktion von Konsummaschinen denken, die den Warenreichtum selbsttätig in Müll transformieren.

Das Brot mithin - und die Spiele? Die fehlen mitnichten. Zwar nicht mehr Circus Maximus und Colosseum, dafür aber Veranstaltungen weitaus größerer Dimensionen, denen gegenüber die römischen circenses wahrlich verblassen: Welt- und Kontinentalmeisterschaften aller Disziplinen, Olympische Spiele, Soccer-Ligen, Champions-League, Copa de Libertadores, American Football und Base-Ball, Ski- und Motorrennen (Weltcup und Formel I) und was es dergleichen noch mehr an Sportereignissen gibt, Misswahlen, Song-Contests, Pop-Events von Madonna und Prince bis hin zu Gaga und Bieber, Love-Parades, Gay-Parades und die Krönung des Ganzen: Computerspiele und Television 24 Stunden am Tag.

Die Fiktion des Profits

Wenn jedoch, wie wir sahen, der Wert der Waren völlig verschwindet, dann wohl auch und nicht minder der Mehrwert, denn dessen Substanz, die Arbeitszeit, die über die Marke hinausgeht, bis zu der sich jeweils der Wert der Arbeitskraft reproduziert hat, reduziert sich offenbar gleichfalls auf null.

Soll das nun heißen, dass das System, das auf dem Profitprinzip gründet, am Schluss ganz von allein implodiert, weil mit dem Mehrwert auch die Substanz des Profits sich verflüchtigt? Keineswegs. Denn auch wenn der Mehrwert verschwindet, so doch nicht das Surplus, der Überschuss in seiner konkreten Gestalt (die Gebrauchsgütermenge, die nach dem Abzug derjenigen Güter verbleibt, die an die Stelle der verbrauchten Produktionsmittel treten), ein Surplus jedoch, das nunmehr völlig auf toter Arbeit beruht: auf der (konkreten) Arbeit der Toten. Der Profit, als Motiv des Systems, wandelt dabei gänzlich sein Wesen: Ist er einstmals die Geld- oder Tauschwertgestalt des Mehrwerts gewesen, so reflektiert er jetzt nur mehr das reine Monopol des Privateigentums, welches sich eben in die Aneignung des Mehrprodukts umsetzt, wobei, weil der Austausch, obgleich obsolet, nach wie vor stattfinden muss (da das Privateigentum dies erzwingt), dieses Surplus so wie zuvor die Geld-, d.h. die Profitform erhält - oder zumindest dem Profit von einst ähnelt.

Die Toten und die Dividende

Mit der Automatisierung des Produktionsapparats, die unaufhaltsam, wenn auch asymptotisch erfolgt, stirbt die Arbeiterklasse allmählich aus: nicht nur (wie bisher) subjektiv, als Klasse für sich (durch den Verlust des Klassenbewusstseins), sondern auch objektiv, als Klasse an sich: Denn wo die Produktion ganz von alleine vor sich geht, da bedarf es offenbar keiner Arbeitskraft mehr, so dass sich die Klasse der Lohnarbeitskräfte in eine permanente Reserve verwandelt, in eine "Reservearmee", die allerdings keiner mehr braucht und die als Klasse nur mehr pro forma besteht.

Aber auch die Bourgeoisie scheidet völlig aus dem Produktionssystem aus: als Träger von Eigentumstiteln, als Aktionär, und als sonst nichts, ist sie so überflüssig wie die Arbeiter auch. Denn würden, nehmen wir an, die Aktienbündel von den Aktionären in humaner Gestalt auf ihre pets übertragen (auf den Schoßhund oder das Reitpferd), so würde dies das Funktionieren des produktiven Systems nicht einmal peripher affizieren, ja es fiele gar keinem auf: Das Spiel an der Börse, worauf im Wesentlichen sich die "Funktion" der Aktionäre beschränkt, könnten, seien wir ehrlich, Zufallsgeneratoren genauso gut spielen.

So werden Arbeiterklasse und Bourgeoisie mit der Zeit obsolet und verschwinden als Klassen, auch wenn die Gesellschaft trotz allem ihren Klassencharakter behält: Denn das Privateigentum und die Aneignung des Surplus durch eine Minorität (eine Absorption, die seit jeher als Prüfstein der Klassengesellschaft fungiert hat) bleiben erhalten, auch wenn diese Klassengesellschaft sich dann als "eine Klassengesellschaft ganz ohne Klassen" geriert.

Oder wenn man so will: Die Klassen, die sich von nun an gegenüberstehen, sind auf der einen Seite die Toten, die wirklich präsent sind (nämlich in den Objektivationen der vergangenen Arbeit in ihrer Gebrauchswertgestalt), und andererseits eine Form ohne Inhalt, ohne Substanz, eine formelle Bedingung - Privateigentum, das nicht mehr als ein Verhältnis fungiert - als Kapitalverhältnis -, eben weil es nicht mehr lebendige Arbeit wie zuvor kommandiert und daher von seiner Vergangenheit zehrt, in dem Sinne nämlich, dass es sich jetzt in einer Rente verwirklicht - kurz: eine Sache, die nicht mehr dasjenige ist, was sie ihrem Begriffe nach sein soll, also, um es mit Hegel zu sagen, eine Sache, die "falsch" ist.

Geisterstunde

Die bürgerliche Gesellschaft ist tot, aber noch nicht begraben, weil ihre Totengräber ausgestorben sind. Sie spukt also als Wiedergänger herum, als untoter Toter, der sein Unwesen unter den Lebenden treibt. Aus diesem Grunde liegt es nahe, die post-moderne Ära tout court als die Geisterstunde des bürgerlichen Gesellschaftssystems zu betrachten.

Die bürgerliche Gesellschaft ist tot, weil sie unwirklich ist; und sie muss als unwirklich gelten, weil sie nicht mehr notwendig ist. Denn die Notwendigkeit ist, wie Hegel gesagt hat, ein Attribut der Wirklichkeit, insofern nämlich, als das, was eines Grundes entbehrt, genauso gut aufhören oder sich auflösen könnte, auch wenn es nach wie vor existiert - allerdings grundlos. Das System aber hat seinen Grund eingebüßt - Privateigentum, Austausch, Geld und all die anderen Formen sind substanzlos geworden -, weil mit dem Verschwinden des Werts, der Tauschfähigkeit, eben nicht mehr ausgetauscht werden muss. Die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft ist demnach sinnlos geworden, und das heißt: obsolet oder, um es mit Mephisto zu sagen - wert, dass sie zugrunde geht.

*

Von und vom Spielen

von Franz Schandl

Spiele, so scheint es, haben alle gern. Vorstellbar und darstellbar ist unter Spielen gar manches. Das Vokabular ist breit gefächert, alles andere als präzise. Ihm auf den Fersen zu bleiben, kein leichtes Unterfangen. Der Facetten sind viele, sodass eine Gesamtschau, wie sie hier versucht wird, schwierig ist.


So gibt es Spiel als Substantiv, spielen als Verb und spielerisch als Adjektiv. Man sollte diese Wörter nicht nur in der Form, sondern wohl auch im Inhalt differenzieren. Nicht jedes Spiel ist spielerisch und nicht alles Spielerische ist schon ein Spiel. Spielen kann man auch außerhalb des Spiels. Etc.

Grammatik des Spielens

Was etwa ist Musizieren? Sind Musiker Spielleute? Spielen wir Instrumente? Spielen Tiere oder projizieren wir da ein Spiel in ihr Verhalten? Wenn etwa die Katze mit der Maus spielt, welch Spiel soll das sein, wenn eins Beute macht und das andere in Angst und Schrecken verfällt? Warum benennen wir bestimmte Bewegungen des Wassers als Spiel der Wellen? Warum heißen taxative Aufzählungen ausgerechnet Beispiele? Und warum besingen wir gar ein freies Spiel des Marktes? Wandern ist kein Spiel, Bergsteigen schon gar nicht. Vergnügen können sie aber trotzdem sein. Wie ordnen wir das alles ein und zu? Wer oder was spielt da, falls gespielt wird? Aber damit ist nur die grenzenlose Dimension der Wortfamilie und eine gewisse Heillosigkeit etwaiger Vorhaben angedeutet. Aus der Kategorie wird keine.

Beim Konsumieren von Fußballspielen, Schauspielen und Konzerten bezeichnen wir als Spiel, was für die eingesetzten Spieler Arbeit ist, wenngleich eine Arbeit, die sich doch von herkömmlichen Jobs unterscheidet. Für sie ist das Außergewöhnliche recht gewöhnlich. Wie ist das mit den von der Kulturindustrie angebotenen Spielen, was hat es damit auf sich? Kann es sein, dass das, was spielerisch ankommt, gar kein Spiel ist, sondern bloß Kampf, Sport, Theater, Inszenierung, Unterhaltung? Wenn wir spielen, ist das außerdem etwas anderes, als wenn andere für uns spielen. So gibt es Spiele, die wir passiv beobachten und Spiele, in denen wir als aktive Spieler auftreten. Erstere sind meist für die Öffentlichkeit bestimmt, letztere finden statt in unseren Refugien. Aber macht die Spezies Spiel dann überhaupt noch Sinn und wenn ja, welchen?

Inwiefern gehen Spiel und Fleiß zusammen? Ist industria nicht der Tod des Spiels durch geschäftstüchtiges Treiben? Und was sagen wir zum Pyramidenspiel? Die Grammatik des Spielens führt geradewegs in die Diffusion. Eine Typologie hätte schon ihren Reiz und auch ihre Notwendigkeit, sie kann hier aber nur gefordert und nicht eingelöst werden. "Der Begriff Spiel bleibt ständig in merkwürdiger Weise abseits von allen übrigen Gedankenformen", heißt es bereits bei Johan Huizinga (Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1937), aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 15).

Die Assoziation allerdings ist vorrangig eine positive. Spielen, das tut man gern. Das Spiel ist freilich nicht nur Surrogat für entgangenes Leben, es ist auch Mittel für soziale Kontakte. Ob zu zweien oder mehreren. Die Verbindung von Spiel und Geselligkeit ist aber nicht ehern. Zwar ist es durchaus zu begrüßen, alleine spielen zu können, doch ist das auch eine Frage des Pensums. Das Vereinsamen an den Playstations, betrifft nicht bloß Kinder. Der Rückzug stellt mitunter auch eine Flucht dar.

Absenz und Präsenz

Für Huizinga ist das Spiel eine ontologische Angelegenheit: "Das Vorhandensein des Spiels ist an keine Kulturstufe, an keine Form von Weltanschauung gebunden." (Homo Ludens, S. 17) Er definiert so: "Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des 'Andersseins' als das 'gewöhnliche Leben'." (S. 37)

Johan Huizinga will zeigen, "dass Kultur in Form von Spiel entsteht, dass Kultur anfänglich gespielt wird". "Dies ist nicht so zu verstehen, dass Spiel in Kultur umschlägt, vielmehr dass der Kultur in ihren ursprünglichen Phasen etwas Spielmäßiges eigen ist, ja dass sie in den Formen und der Stimmung eines Spiels aufgeführt wird." (S. 57) Präziser noch: "Kultur beginnt nicht als Spiel und nicht aus Spiel, sondern in Spiel." (S. 88) Das Spiel ist jedenfalls älter als die Kultur. Sobald sie sich verfestigt, und das muss sie, will Kult Kultur werden, ist sie Alltag und Konvention, somit kein Spiel mehr.

Spiele finden den Zweck in sich selbst, sie dienen keinem über sie hinaus gehenden Ziel. "Der Spieltrieb", so Friedrich Schiller, "würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren." (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 14. Brief) Wir spielen um des Spielens Willen. Spielen steht abseits materieller reproduktiver Notwendigkeiten, es ist ein ideelles Bedürfnis, das wir nicht missen möchten. Wenn wir uns darauf einlassen, verlassen wir diese Welt, ohne sie wirklich zu verlassen. Anwesend sind wir abwesend. Obwohl zugegen, sind wir im Spielen stillgelegt, beschäftigt, ohne arbeiten zu müssen.

In einer Fußnote zum 27. Brief schreibt Schiller: "Die meisten Spiele, welche im gemeinen Leben im Gange sind, beruhen entweder ganz und gar auf diesem Gefühl der freien Ideenfolge, oder entlehnen doch ihren größten Reiz von demselben. So wenig es aber auch an sich selbst für eine höhere Natur beweist, und so gern sich gerade die schlaffesten Seelen diesem freien Bilderstrom zu überlassen pflegen, so ist doch eben diese Unabhängigkeit der Phantasie von äußern Eindrücken wenigstens die negative Bedingung ihres schöpferischen Vermögens. Nur indem sie sich von der Wirklichkeit losreißt, erhebt sich die bildende Kraft zum Ideal, und, ehe die Imagination in ihrer produktiven Qualität nach eigenen Gesetzen handeln kann, muss sie sich schon bei ihrem reproduktiven Verfahren von fremden Gesetzen frei gemacht haben. Freilich ist von der bloßen Gesetzlosigkeit zu einer selbständigen innern Gesetzgebung noch ein sehr großer Schritt zu tun, und eine ganz neue Kraft, das Vermögen der Ideen, muss hier ins Spiel gemischt werden - aber diese Kraft kann sich nunmehr auch mit mehrerer Leichtigkeit entwickeln, da die Sinne ihr nicht entgegenwirken und das Unbestimmte wenigstens negativ an das Unendliche grenzt."

Sind wir in den Spielen präsent, dann sind wir im Alltagsleben absent. Spiele bezeugen ein Wegsein im Dasein, ein Weggetretensein im Zugegensein. Man eröffnet sich suggestiv eine Parallelwelt. Insofern erlebt man im Spiel durchaus etwas Ekstatisches. Im Spiel scheinen wir keine Pflicht zu erfüllen, sondern einer Neigung nachzukommen. Wir sind hier unbestimmt und somit frei, können etwas tun oder auch lassen. Wir vermögen zu beginnen, wann wir wollen und können aufhören, wann es uns so passt. Meistens.

"Spielen ist kein Tun im gewöhnlichen Sinne." (Huizinga, Homo Ludens, S. 43) Im Spiel entfalten wir Besonderheiten statt Allgemeinheiten. Spiel ist das gelungene zeitweilige Entkommen aus dem Alltag. Nicht, dass wir die Konvention brechen, sei gesagt, aber wir verdrängen sie doch für Stunden, weil unser Denken und Fühlen in diesen Momenten woanders sich dünkt. Wir versetzen uns aus eigenen Kräften, entziehen uns Zeit und Raum. Spiele halten uns fit, lassen die alltägliche Trägheit vergessen, indem wir kurzweilig und kurzzeitig in eine fiktive Welt eintreten.

Konzentrieren und dekonzentrieren

Spiele verlangen aber kaum nach Reflexion, umso entschiedener nach Konzentration. Die Phantasie zieht bestimmte Register: Rechnen, Feilschen, Täuschen, Kämpfen, Reagieren, Taktieren. Wie tue ich? geht stets vor Was tue ich? resp. Was tue ich da überhaupt? Anders als die Arbeit bleibt das Spiel meist folgenlos. Es schafft keine Werte und Waren, sondern Freude und Lust.

Es ist nur ein Spiel, heißt es, und das sollte es auch wirklich bleiben. Was ich beim Spielen zusehends weniger vertrage, das ist das zwänglerische Streben nach Perfektion. Leute, die kreuzworträtselartig alles wissen, deren Spielzüge kalt und berechnend sind, die aus dem Spiel Ernst machen. Ärgerlich sind Leute, die triumphieren wollen und damit die gemeinsame Freude verderben und sogar Freundschaften erschüttern. Gambler, die mit allen Wassern gewaschen sind, verleiden Spielen den Charakter des Spielerischen. In der Perfektion gehen Spiele unter, eben weil dann nicht mehr gespielt, sondern nur noch gekämpft wird. Bei dem von mir favorisierten Tarockieren ist mir das Mitzählen der gefallenen Tarock, meist zu anstrengend gewesen. Spielen dürfen geht vor Gewinnen müssen. Ich muss nicht, wenngleich gewinnen immer lustiger ist als verlieren.

Spieler, die Spiele zu ernsthaft betreiben, nerven. Das gnadenlose Können ist in die Schranken zu weisen. Das Denken bis zur letzten Konsequenz (mir sonst nicht fremd), hat hier nichts zu suchen. So liebe ich am Spiel auch das fulminante Risiko (das ich im Leben verachte); ich sage Spiele an, die man eigentlich verlieren muss, allerdings gewinne ich ab und zu auch solche. Jenseits des schnöden Kalküls schafft das dann eine ganz kontrafaktische Freude. Gerade deswegen mag ich auch Schach nicht (falls das überhaupt noch ein Spiel ist). Ein Kriterium des Spiels ist die Leichtigkeit. So gesehen ist Konzentration mit Dekonzentration verbunden. Zu viel Seriosität schadet jedem Spiel, macht Spieler verbissen und erbittert. Wenn bei Spielen nicht mehr blöd geredet werden kann, dann stimmt etwas nicht.

Spiele leben von diversen Schwächen mehr als von vermeintlichen Stärken. Spiele beherbergen spezifische Kombinationen von Können und Müssen, Geschick und Missgeschick, Fehler und Kalkül, Glück und Pech, Zufall und Plan. Spiele entzünden und entzücken sich an Fehlern, die ruhig gemacht werden dürfen. Damit schwindet freilich der Wille zum Sieg. Treten absolute Könner auf den Plan, ist die totale Blockade nahe. Spiele werden sodann um ihre Entfaltung und Wirkung gebracht, gelegentlich werden sie unspielbar. Beispiele wären hier Fuchs und Henne, aber auch Mühle. Hängt man sich da allzu sehr rein, funktionieren sie nicht, scheitern an ihren Grenzen.

Eins und uneins

Ohne Spiele hielte man es kaum aus. Permanent verlangt also das Spiel nach uns wie wir nach ihm. Sei es das Glücksspiel, das Kartenspiel, das Fußballspiel oder gar die Olympischen Spiele. Ob wir aktiv sind oder passiv, ist da nicht so entscheidend. Entscheidend ist, dass wir das Spiel benötigen, es ist das Surrogat verschiedenster Wünsche. Aber nicht nur für uns, auch für das System ist Spielen eine eherne Bedingung.

Der Spiele Regeln und die kapitalistische Logik, sie mögen zwar nicht eins sein, aber sie sind auch nicht uneins. Spiele wie Monopoly (in Österreich: DKT - Das kaufmännische Talent) haben einen direkten Bezug zur Geschäftswelt. Je nach Spiel konfirmieren sie sich, erweisen sich als Verwandte, mal näher, mal weitschichtiger. Spiele sind analogisiert oder analogisierbar. Das Spiel ist so bestenfalls eine Freiheit in, aber keine Freiheit von. So sehr wir uns bemühen, das Spiel von seiner Formgebung abzulösen, so wenig gelingt es, wiewohl der Anspruch anspruchsvoll ist und permanent gestellt werden sollte.

Der Markt, der kein Spiel ist, usurpiert alles, so auch das Spiel. Spielerisch ist er aber sehr wohl, der Markt, er ist das böse "Spiel" des Geldes. Dieses transformiert sich durch den gesamten Warenpöbel, suggeriert uns, dass er ohne es nichts, aber auch gar nichts ist. Die Koppelung Geld und Spiel ist keine Ausnahme. In nicht wenigen Spielen ist es überhaupt erst das Geld, das diese interessant macht. Pokern ohne Geld wäre absolut langweilig. Sogenannte Glücksspiele boomen, man denke an den Glücksspielkonzern NOVOMATIC ("Gaming innovation starts here"), an dieses Universum, das von einarmigen Banditen bis hin zu den vielarmigen Casinos reicht. Glück wird hier immer so verstanden, dass man ohne Arbeit zu viel Geld kommt. Glück quantifiziert sich im Geld. Je mehr, desto! Größere Summen machen glücklicher als kleinere.

Wir verbringen viel Zeit beim Spielen. Die Kreativität, die wir dadurch entfalten, ist oft prädestinierter Natur. Der Wetteifer tritt auf als Konkurrenz, der Vergleich als Ranking, das Spiel als Sieg und Niederlage, als Kampf und Durchsetzung. Kartenspiel wie Computerspiel sind Kinder des Krieges. Da geht es um das (Ab)Stechen, das (Aus)Löschen, das (Um)Schmeißen, das (Ver)Nichten, das (Weg)Schießen, das (Zer)Stören. Der König sticht den Buben, die rote Figur schlägt die schwarze und irgendein Computer-Conny zerstört die Panzer mit seiner Panzerfaust. Das Spielerische ist weniger spielerisch als man meint. Auch wenn diese Geschehnisse bloß imaginiert sind, ist davon auszugehen, dass sie eine gewisse Mentalität fördern und entwickeln. Das Spiel, so vergnüglich es uns auch erscheint, ist keine freie Potenz der Geselligkeit, sondern eben auch Vorbereitung und Darstellung des bürgerlichen Lebens. Wie sollte es heute auch anders sein? Mit unseren Lebensäußerungen reproduzieren wir die vorgefundene Welt.

Geld-Spiel-Sucht

Je mehr wir uns bemühen, desto mehr überwältigt uns das Spiel. Festzuhalten ist aber eine elementare Differenz: Gehört das Spiel uns oder sind wir ihm ausgeliefert? Hier trennen sich tatsächlich Spielfreude und Spielsucht. Das Wollen gerät ins Müssen. Zu fragen ist jedoch auch gleich: Gibt es Spielsucht ohne Geld? Wohl schon, aber zumeist ist sie direkt mit Geld verbunden. Spannung entzündet sich monetär. Viele Spieler bluten finanziell aus, während etwa Computerspielsüchtige, vorausgesetzt sie spielen nicht um Geld, nur Zeit, wenn auch viel Zeit verlieren.

Die Ursache der Geldspielsucht liegt im Geld, nicht im Spiel. Das aus seiner Selbstreferenzialität entlassene Spiel ist hier bloß Vehikel. Das Problem ist keineswegs das Spiel, auch wenn Spiele geradewegs so konzipiert werden, dass sie nur mit Geld funktionieren. Spielsucht und Glücksspiel sind Fehlbegriffe, die aber unter der Herrschaft des Kapitals wohl einer raffinierten Verblendungslogik folgen, indem sie ausgerechnet den zentralen Faktor, das Geld, in den Benennungen verschweigen, so tun als sei es lediglich Mittel und nicht Zweck.

Die Verwertung selbst ist ein typisches Beispiel einer Spielsucht genannten Geldsucht, die den Inhalten völlig blind gegenüber steht, aber nach erzielbaren Quanta giert. Auch beim Börsenspiel dreht es sich ganz primitiv darum, aus Geld mehr Geld zu machen, also um G-G'. Natürlich ist auch das Zocken eine schräge Form von Arbeit, wenngleich Aktionäre und Broker sich doch eher als Gambler oder gar Big Player empfinden und nicht als Finanzarbeiter. Abzocken ist freilich kein besonderes Charakteristikum dieser Partie, sondern von allgemeiner Gültigkeit. Die proletarischen Youngsters, die in Spielhöllen ihr Geld verschleudern, wollen und machen nichts anderes. Das Geld, das sie in die Automaten werfen oder wetten, das möchten sie vermehren. Es handelt sich hier zweifellos um das Casino oder die Börse des kleinen Mannes, die dieser Verlockung zu schnellem Geld zu kommen, entsprechen. Die einen spielen Lotto, die anderen Toto, die dritten versuchen in die Millionen-Show zu gelangen. Erweitert um zahlreiche televisionäre und digitale Schienen, lässt Lumpazivagabundus grüßen.

Mensch ärgere

Das knapp vor dem Ersten Weltkrieg erfundene und 1914 in Serie gegangene Mensch ärgere dich nicht ist ein Klassiker, worin es nur um eines geht, ums Zählen resp. Rechnen, ums Rausschmeißen und ums Reinkommen. Exklusion und Inklusion für Anfänger, wird da geboten und gefordert. Einfach handhabbar, dominiert das reine Gegeneinander: jeder gegen jeden. Auf keinem Feld ist Raum für zwei. Wir teilen nicht, wir eignen an. Am jeweiligen Standort ist Platz nur für einen Stein, eben für mich oder für dich. Wer einen anderen aktiv auf seinem Feld trifft, darf oder besser muss ihn schlagen, also beseitigen. Was man will, daran will man andere hindern.

Der Würfel entscheidet über Vorrückungen, somit über das Reinkommen und Rausschmeißen, über Glück und Pech, Freude und Ärger. Ärger soll wettgemacht werden, indem andere geärgert werden. Denn wo sich alle ärgern, kann es schließlich keinen Ärger mehr geben. Die gefinkelte Pointe des einfachen Spiels liegt darin, seine Logik als die Logik des Lebens zu begreifen: Schlag, oder du wirst geschlagen! Doch einfach gefallen sein, darf man als Geschlagener wiederum auch nicht. Wir, die wir nur ein Leben haben, haben im Spiel viele. Sich aufrichten ist angesagt, nachsetzen ebenso und revanchieren erst recht. Auf zur nächsten Chance, bis zum süßen oder bitteren Ende.

Es ist schon verständlich, wenn Kinder alle Steine umschmeißen, unverständlich ist eher, wenn sie es nicht tun. Sich das zu verbieten, nennt man einen Lernprozess. Spielerisch dringt der Ernst des Lebens in unschuldige Herzen ein. In solchen Spielen erfahren sie die Gesetze des die Welt beherrschenden Marktsystems. Aber das unterscheiden Kinder und auch Erwachsene nicht so, da ihnen die Welt so erscheint, "wie sie ist" und nicht als konstitutioneller Zwang. Fortwährend konkretisierend, abstrahieren sie nicht. Leben und bürgerliche Existenz werden andauernd verwechselt weil identifiziert - was zweifelsfrei kindisch ist.

Darüber hinaus kennt das wirkliche Leben ungleiche Würfel, manche haben keine Augen, andere 64 oder mehr. Und auch die Figuren sind alles andere als gleich. Mensch ärgere dich nicht ist in seiner Konstruktion eben nicht nur kapitalistisch und militaristisch, es ist auch ein zutiefst demokratisches Spiel, strikt auf Parität und Gerechtigkeit bedacht. Am Anfang sind alle gleich. Ein Prototyp zweifellos.

Von Level zu Level

Eng verknüpft sind viele gängige Spiele mit dem Punkten und somit einem Ranking. Der Vergleich führt ständig in Sieg oder Niederlage, so will es das apodiktische Schema. Spiel ist demnach Wettkampf oder Wettbewerb, selbst wenn es sich nicht unmittelbar kommerziell ausdrückt oder auswirkt, treibt sich das Geschäft stets in seiner Nähe herum. Geschäftstüchtigkeit schimmert in den meisten Spielen durch, sitzt in ihnen. Geradezu spielerisch erlernen wir den Ernst.

Viele Spiele, vor allem auch an Computern sind Plan-Soll-Spiele. Vorgaben sind zu erfüllen. Die Reise führt von Hürde zu Hürde, von Level zu Level, von Score zu Score. Mehr, besser, schneller. Man hat sich hoch zu lizitieren. Spiele sind dem Komparativ verschrieben, und der ist durch Konkurrenz und Wachstum konnotiert. Wir sollen Highscorer des vorgegebenen Daseins sein. Simulieren meint Trainieren.

Wir strengen uns an ohne zu fragen, wozu. Wir sind fleißig ohne zu fragen, weshalb. Wir sind konzentriert ohne zu fragen, warum. Auch hier gilt einmal mehr: Wir haben zu können, nicht aber zu kennen. So sind wir auch im unbestimmten Spiel wiederum bestimmt, selbst wenn es keineswegs autoritär und kontrollierend erscheint. Trotzdem erzeugen Spiele Befriedigungen, die ganz sinnlich genossen werden können, Augenblicke des Glücks und der Zufriedenheit stellen sich ein. So geht es uns einigermaßen gut, und funktionieren tun wir auch noch.

Spiel statt Sinn?

Postmodernen Denkern wie dem Hannoveraner Philosophieprofessor Hans von Fabeck ist das Leben bereits zum Spiel geworden: "Gleichwohl gibt es das gute Leben in der Postmoderne bereits." (Vom Sinn zum Spiel. Ein Leitfaden in die Postmoderne, Wien 2015, S. 12) Das Spiel wird gegen den Sinn ausgespielt, um es sogleich im aktuellen Dasein triumphieren zu lassen. Fragmentierung und Flexibilisierung, Enttypisierung und Differenzierung werden als freies Spiel interpretiert und nicht als realkapitalistische Drohung. Diese Veränderungen erfahren in manchen postmodernen Theorien ja tatsächlich blanke Affirmation. Da sind die alten Korsette weg, und schon umjubelt der freie Bürger diverse Zumutungen als einen "Spiel-Raum fragmentarischer Vielfältigkeit zwischen Virtuellem und Realem, Privatem und Öffentlichem, in dem prinzipiell jedes menschliche Handeln (unter Regeln und mit Mitspielern) zu einem besonderen sozialen Spiel werden kann" (S. 91).

Fabecks Rede liest sich wie ein Plädoyer der Charaktermasken: "Spieler in der Postmoderne zu sein, heißt dann auch, gewöhnlich mehr als nur eine Rolle zu spielen." (S. 75) Zum postmodernen Subjekt vermerkt er kategorisch: "Er 'spielt' in diesem Sinne also nicht nur eine 'Rolle', er ist sie (wenn er sie gut spielt)." (S. 101) Gefragt ist eins, das als sein eigenes Marionettentheater (Wie stelle ich mich vor? Wie trete ich auf? Wie komme ich an? Wie komme ich durch?) zügig durch die Gegend eilt, gezwungen wie fähig immer an den richtigen Schnüren zu ziehen. Abermals wird Freiheit ganz hegelisch als adäquate Programmierung gedeutet. Dieses Ich ist ein reflexives Sich, a priori dem Objekt untergeordnet.

Indes ist der Grundgedanke, dass das Leben Spiel sein soll und nicht Sinn zu haben hat, schon richtig, nur dieses bereits erfüllt zu sehen, völlig abwegig. Es steht nicht an, viele Rollen zu spielen, sondern keine spielen zu müssen, es geht nicht um eine Multiplikation der Identitäten, sondern um eine Negation derselben. Der Spieler hat also dezidiert kein Subjekt zu sein, Fabeck identifiziert Dividuieren mit Individuieren. Dort, wo Rollen gespielt werden, soll das freiwillig geschehen und auch in einem Bewusstsein, welches das Ich und das Sich nicht verwechselt. Das Leben soll Schauspiele einbeziehen, aber es soll kein Schauspiel sein. - Vergessen wir nicht: Wenn der Spieler seine Rolle ist, spielt er keine Rolle mehr!

Es gilt nicht dem vorgezeichneten "Ich bin viele" zu entsprechen, sondern durchaus auf seiner eigenen Defragmentierung zu bestehen: Ich will mich!, das einem Ich will nicht! folgt. Defragmentierung heißt, dass eins sich nicht als bloß Zerrissener, sofern als authentische Einheit haben will, so sehr die Praxis auch stört. Allerdings ist das einmal mehr das Einfache, das schwer zu machen ist. Das Ich, soweit konstituierbar, ist eine Anforderung außerhalb der Rollen, ist es das nicht, dann ist es gar nicht vorhanden, sondern durchgestrichen und somit inaktiv.

Es ist nichts damit gewonnen, die große Erzählung gegen die kleinen Erzählungen - das Patchwork diverser Rollen - auszutauschen. Die Postmoderne ist, was ihre Resultate betrifft, eine Regression der Moderne, kurzum eine modernde Moderne, alles andere als post. Zentral ist nach wie vor die Frage, ob wir postgeschichtlich oder prägeschichtlich sind. Hier scheiden sich postmoderne Auffassungen (vgl. S. 115) fundamental von den unseren, da wir mit Marx davon ausgehen, dass wir noch in der Vorgeschichte leben, der wirkliche Eintritt in eine selbst gemachte Geschichte, wenn überhaupt, erst bevor steht.

Hans von Fabeck hingegen will keine verbindlichen Allgemeinheiten mehr sehen, die fallen wohl unter das Verdikt der großen Erzählung: "Das Allgemeine gibt es in der Postmoderne aber nur noch in seiner dekontextualisierten, fragmentierten Form: als unterschiedliche Spielregeln für unterschiedliche Spiele." (S. 100) Zwei Seiten weiter schreibt er jedoch postwendend, und man ist einigermaßen überrascht: "Die Postmoderne hingegen lebt vom ständigen Wechsel, in Unrast und Beschleunigung. Wo das Bessere der Feind des Guten, ist Stillstand Verlust. Das zeigt sich denn auch am Passepartout der Postmoderne, am Geld. Allein zur Sicherung seines Bestands gegen die Drohung der Entwertung durch Inflation steht es unter dem Zwang seiner Vermehrung im erfolgreichen Investment - dem finanziellen 'Engagement auf Zeit'." (S. 102f.) Wie wahr! Das Geld als nicht enden sollende Zahlung ist die große Erzählung, die hier einfach übersehen wird.

Ernst und Regel

Der postmoderne Philosoph fordert dann auch noch den Ernst im Spiel ein: "Um zu spielen, muss man das Spiel als Spiel ernst nehmen" (S. 93), sagt er. Ich plädiere für das schiere Gegenteil, dafür, dass der Ernst zusehends aus dem Spiel verschwindet, mehr als das heute der Fall ist. Um wirklich zu spielen, muss das Spiel noch um vieles spielerischer werden. Im Spiel spiegelt sich zwar der bürgerliche Ernst des Daseins, aber das Spiel ist nicht der Ernst des Lebens. Die Wiederholung im Spiel wäre sodann Variation, nicht Kopie. Je weiter jene sich entfalten kann, desto befreiter das Spiel. Von Interesse ist auch, ob Spiele Lockerungen der Regeln durch freie Vereinbarungen zulassen oder nicht. Ist der Spielraum eine enge und fensterlose Kammer, oder bewegen wir uns auf einem freien Feld? Ziel ist also die Loslösung, nicht die Festigung des Spiels.

Jedes Spiel unterscheidet den regulativen Ablauf und die konkrete Entwicklung. Während der Ablauf formalistisch geprägt ist, ist die Entwicklung situationistisch geprägt. Je größer die Abweichung, desto qualitativer das Spiel. Natürlich ist Schnapsen resp. 66 mit Tarock oder Schafkopf verwandt, trotzdem haben sich die letztgenannten im Niveau weit über das Grundspiel erhoben. Regeln, oft konzipiert als starre Prinzipien, werden zu bloßen Vorschlägen ohne absoluten Anspruch. Sie sind freie Assoziation, nicht Gesetz und Vorschrift.

Das Spiel ist eben kein System, es ist mehr als angewandte Systematik. Spieler sind keine User. Die Schemata werden schemenhafter, sie schimmern nur noch durch, wo einstens rigide Regeln diktierten. Leichtigkeit macht sich leichter. Wie viel game ist noch und wie viel play ist schon im Spiel? Da gibt es zweifellos Abstufungen. Das Spiel bleibt reglementiert, aber das Spielen ist sodann nicht nur variantenreicher, sondern auch variationsreicher. Spielen wird spielerischer. So gibt es auch Spiele, die kapitalistischer sind als andere. Pokern mit Tarockieren zu vergleichen, ist eine Beleidigung.

Leicht und locker

Ziel des Spiels ist die Freundschaft, nicht die Feindschaft. Man spielt miteinander, auch wenn man gegeneinander spielt. Vor allem weil man weiterhin miteinander spielen möchte. Anders als im Krieg ist man nicht zum Kampf abkommandiert, die Konfrontation ist nicht aufgezwungen und stellt auch nicht die Integrität der Körper in Frage. Das Spiel ist nicht der Hort, aber doch ein ständiger Keim der Emanzipation. Unter dem Vorzeichen des Kapitals rutscht jenes freilich immer wieder in dieses zurück. Dies wiederum ist sozial konstituiert, nicht ehern. Es gilt, so absurd das klingt, das Spiel von seinen Beimischungen zu säubern und als Eigenheit zu etablieren.

Spiele, wie wir sie kennen, und das Spielen, das das befreite Leben sein könnte, hängen so zwar zusammen, sind aber auseinander zu halten. Und doch ist es das Spielen, das mehr kann als es jetzt ist: "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt," so ein bekanntes Dictum Schillers. (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief) Dadurch, dass wir spielen können, erkennen wir, dass es auch anders ginge.

Es brütet da was, ohne dass es ausgebrütet wird. So betrachten wir das Spiel als Amalgam aus kapitalistischem Gefängnis und individueller Versuchung. Auf jeden Fall erlauben das Spiel, das Spielen und das Spielerische einen Spielraum. Manchmal mehr, manchmal weniger. Im Spiel konzentriert sich auch der Zauber des Lebens, dieser ist jenem wesentlich, anders als der bürgerliche Ernst ist er jenem nicht oktroyiert. "Der Kult pfropft sich auf das Spiel auf, das Spielen an sich aber war das Primäre." (Huizinga, Homo Ludens, S. 27)

Wirklicher Reichtum ist ideeller Schatz: Liebe, Freundschaft, Geselligkeit, Müßiggang, Kreativität, Sorge, Spiel. So wird das Spiel eine zentrale Komponente der befreiten Gesellschaft sein. Spielerisch werden wir die Dinge erschaffen und spielerisch werden wir sie uns aneignen. "Nicht anders wird einmal die Welt, unverändert fast, im stetigen Licht ihres Feiertags erscheinen, wenn sie nicht mehr unterm Gesetz der Arbeit steht, und dem Heimkehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in den Ferien war." (Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften 4, S. 127) Oder gemäß Schillers 15. Brief: "Mit einem Wort: indem es mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt das Nothwendige den seinigen ab, weil es leicht wird."

Dezidiert ist das Spiel gegen die Arbeit in Stellung zu bringen. Zuerst die Arbeit, dann das Spiel, ist inakzeptabel, umzukehren und zu überwinden. Leistungswilligkeit ist Affirmation. "Es gab noch etwas Anderes, dem ich aufrichtig misstraute: Arbeit. Arbeit, so schien es mir schon in frühester Jugend, ist eine dem Dummkopf vorbehaltene Tätigkeit. Sie ist das genaue Gegenteil von Schöpfung, die Spiel ist und eben darum, weil sie keine andere Daseinsberechtigung hat als sich selbst, die stärkste Antriebskraft des Lebens ist." (Henry Miller, Sexus (1947), Deutsch von Kurt Wagenseil, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 280) Hier lockt einer auf die richtige Fährte, zweifelsohne. Indes, wer den Autor kennt, darf das aristokratische Bukett nicht übersehen, wir unterstellen ihm: Die Trottel sollen arbeiten, aber für Miller ist das nichts.

Doch wenn man das abzieht, dann kann man darauf bauen. Niemand darf durch Arbeit in geistiger Armut gehalten werden. Das Spiel wird also nicht bloß unproduktiver Zusatz sein wie heute, sondern schöpferischer Ansatz unseres Tuns. Das Spiel affiziert auch das Gewöhnliche und Alltägliche, dringt in alle Sphären des Lebens ein, verlässt die angestammten, ja eingezäunten Reservate. Spielen ist sodann mehr als Kontemplation, es ist Kreation. Spielen wird unmittelbar produktiv. Das Spiel wird sich aber nicht nur ausdehnen, es wird sich auch transformieren. Kreation und Kontemplation werden sich vielfach nur noch in Aspekten und Akzenten unterscheiden lassen, aber nicht mehr kategorial. Locker soll es werden!

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2000 Zeichen abwärts

Beispiele

Warum ist das Spiel (vornehmlich um Geld) so anziehend und wenn es nicht gar zu eigennützig ist, die beste Zerstreuung und Erholung nach einer langen Anstrengung der Gedanken; denn durch Nichtsthun erholt man sich nur langsam? Weil es der Zustand eines unablässig wechselnden Fürchtens und Hoffens ist. Die Abendmahlzeit nach demselben schmeckt und bekommt auch besser. - Wodurch sind Schauspiele (es mögen Trauer = oder Lustspiele sein) so anlockend? Weil in allen gewisse Schwierigkeiten - Ängstlichkeit und Verlegenheit zwischen Hoffnung und Freude - eintreten und so das Spiel einander widriger Affecten beim Schlusse des Stücks dem Zuschauer Beförderung des Lebens ist, indem es ihn innerlich in Motion versetzt hat.

Musik, Tanz und Spiel machen eine sprachlose Gesellschaft aus (denn die wenigen Worte, die zum letzteren nöthig sind, begründen keine Conversation welche wechselseitige Mittheilung der Gedanken fordert). Das Spiel, welches, wie man vorgiebt, nur zur Ausfüllung des Leeren der Conversation nach der Tafel dienen soll, ist doch gemeiniglich die Hauptsache: als Erwerbmittel, wobei Affecten stark bewegt werden, wo eine gewisse Convention des Eigennutzes, einander mit der größten Höflichkeit zu plündern, errichtet und ein völliger Egoism, so lange das Spiel dauert, zum Grundsatze gelegt wird, den keiner verläugnet; von welcher Conversation bei aller Cultur, die sie in feinen Manieren bewirken mag, die Vereinigung des geselligen Wohllebens mit der Tugend und hiemit die wahre Humanität schwerlich sich wahre Beförderung versprechen dürfte.

I.K.

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Digitales Spielen als widersprüchlicher Kulturprozess

von Annette Schlemm

Spiele als Kultur

Die Welt der PC-Spiele ist mir fremd. Ich muss sie mir erschließen wie eine fremde Kultur, in der ich nie heimisch war. Aber um mich herum werden immer mehr Menschen erwachsen, die als Gamer groß geworden sind. Die Kultur ihrer Generation beginnt mich einzuhüllen und ich muss mich darauf einstellen, wie sie drauf sind und die Welt verändern. Ich sehe Verluste an Ernsthaftigkeit, an traditioneller buchbezogener Bildung, an Reflexionsfähigkeit und Kohärenz der Lebensgestaltung. Aber ich bin auch neugierig darauf, was sie mitbringen aus dieser Praxis.

Warum können mich Spiele überhaupt interessieren - was haben die mit dem wirklichen Leben zu tun? Sind sie nicht bestenfalls eine lernende Vorbereitung für das "wirkliche" Leben oder im schlechtesten Fall eine Flucht davor? Johan Huizinga hat sich schon vor vielen Jahrzehnten mit der kulturstiftenden Rolle von Spielen beschäftigt. Seiner Meinung nach entstand die Kultur nicht aus dem Spiel, wobei das Spielerische als das schließlich Überwundene zurückbliebe, sondern als Spiel (Huizinga 1938/2009, 56). Erst seit dem 19. Jahrhundert wird das Spiel als etwas Untergeordnetes betrachtet; Arbeit und Produktion wurden zum Ideal und "Europa zieht das Arbeitskleid an" (ebd., 208).

Auch bei der neuen Form des Spiels, dem "digitalen Spielen", d.h. Video-, Konsolen- sowie Ein- oder Mehrspieler-PC-Spielen, liegt es nahe, diese nicht als Vorstufe zur Kultur, sondern selbst als Kultur zu bezeichnen. Als Kulturmoment haben die digitalen Spiele einen großen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung der Menschen, die in einer Welt voller solcher Spiele aufwachsen. Seit längerem nimmt die Rolle der Schule oder des Elternhauses für die Entwicklung der jungen Menschen eher ab, und die der Gleichaltrigen aus dem Lebensumfeld nimmt zu. Dies ist begleitet und wird verstärkt durch die wachsende Bedeutung von sozialen Netzwerken und den digitalen Spielen.

Was wird gespielt?

Das Thema der allermeisten Spiele ist eher düster. "Während zum Beispiel in der Literaturbranche viel Wert gelegt wird auf Alltagsbeschreibungen und Liebesgeschichten, konzentriert sich die Computerspielszene eher auf Thematiken, die man im Alltag nicht unbedingt erleben möchte. Es gibt unzählige Kriegs-, Katastrophen- und Horrorspiele, aber keine wirklich ernstzunehmende Liebesromanze." (Mertens, Meißner 2002, 188)

Die Gewalt in den digitalen Spielen wird häufig kritisiert. Nach dem recht harmlosen Ping Pong, das ans Tennisspielen angelehnt ist, wurde das Setting für das weit verbreitete Videospiel Space Invaders auf Schusswechsel mit aggressiven Alienraumschiffen geändert. "Statt sich über die eigenen Fähigkeiten zu freuen und gelungene Ballbewegungen zu bestaunen, mußte man sich hier dem Grauen stellen." (Ebd., 59)

Auch die Autoren Beck und Wade sehen durchaus den offensichtlichen Zusammenhang von Spielwelt und Gewalt, aber sie betonen, dass es nicht erwiesen ist, dass die Gewalt in den Spielen sich auch im wirklichen Leben auswirkt. Es gibt Studien, die dafür - aber auch welche, die dagegen sprechen. Die Jugendgewaltstatistik zeigt in der Zeit der aufstrebenden digitalen Spiele jedenfalls ein deutliches Absinken (Beck, Wade 2006, 53).

Es gibt aber auch Ausnahmen zu diesen Kampf- und Abenteuerspielen. Sogenannte Indie Games und Art Games gestalten durchaus auch andere Inhalte und experimentieren mit neuartigen Interaktionen. Dabei verzichten sie dann häufig auch wieder auf imposanten optischen Realismus, sondern werden beinahe minimalistisch. Ein Beispiel ist das kleine Spiel Passage von Jason Rohrer (2007), das Clive Thompson (2008) als "Mittel zur Erforschung der Grundbedingungen des Menschseins" ansieht.

Dass es nur so wenige derartige Spiele gibt, liegt wohl nicht nur am Unvermögen und dem Desinteresse der Spieledesigner. Wahrscheinlich führt auch der Vorgang des Spielens überhaupt zu einer Bevorzugung bestimmter Handlungstypen. Es haben sich vorwiegend Spiele durchgesetzt, bei denen die Interaktivität schnelle und konsequente Aktionen in recht turbulenten Situationen erfordert: "Der nach wie vor größte Teil der Computerspiele ist nicht auf Kontemplation, sondern eher auf Reiz-Reaktions-Abfrage ausgerichtet, und eignet sich deshalb am besten zur Darstellung von Action." (Mertens, Meißner 2002, 188)

Wie wird gespielt?

Damit kommen wir zu dem, was ein Spiel ausmacht: der für das Spiel typischen Aktivität. Die Art und Weise des Tuns, das Interagieren ist für die Spielenden im Allgemeinen viel wichtiger als die damit verbundenen Inhalte. Es geht um "die Möglichkeit, Welten auf Bildschirme zu zaubern, auf die der Spieler in irgendeiner Form einwirken kann" (Mertens, Meißner 2002, 73).

In der Interaktivität besteht auch der wichtigste Unterschied zu Büchern. Die Folgen des eigenen Handelns werden unmittelbar erlebt. Dabei wird die Selbstreflexion eher abgeschaltet: "Romane beschreiben, wie Menschen sich fühlen, wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückschauen und daraus für ihr weiteres Leben Konsequenzen ziehen wollen. Computerspiele beschreiben die Möglichkeiten, die sich jeden Moment ergeben und die man genau dann nutzen muß. Man kann nicht darüber nachdenken, sondern muß handeln. So oft und so viel es geht. Alles kann Möglichkeiten bieten, alles muß erforscht werden, es muß immer weiter gehen, es gibt keine Pause." (Mertens, Meißner 2002, 86)

Warum wird gespielt?

Worin liegt nun der Reiz dieser Tätigkeit? Es wird ja freiwillig von sehr vielen Menschen und sehr ausgiebig gespielt. Allein in China spielen sechs Millionen Menschen mehr als 22 Stunden pro Woche, was mehr als einer Teilzeitbeschäftigung entspricht. 30 Prozent aller Südkoreaner spielen Online-Spiele (BBC News, 10. Aug. 2005). Die Spielebranche will in Kürze mehr umsetzen als die Musik- und Filmindustrie zusammen. Warum trifft dieses profitgetriebene Angebot auf so bereitwillig-gierige Kundschaft?

Jane McGonigal (2012) beschreibt, dass Aufbau und Aktivität beim Spielen Flow-Erlebnisse ermöglichen. Digitale Spiele haben klare Ziele (das Erreichen des letzten Levels, eines Highscores ...) und es gibt die Möglichkeit, das Spiel trotz oder gerade wegen des wachsenden Schwierigkeitsgrades immer besser beherrschen zu können. Genau das sind auch die Faktoren, die Flow-Erlebnisse auslösen können: "Glückselige Produktivität empfinden wir immer dann, wenn wir in eine Arbeit vertieft sind, die unmittelbare und offensichtliche Ergebnisse erzeugt." (Ebd., 74) Auch das Belohnungssystem des Gehirns wird ständig unmittelbar angesprochen.

Daraus ergibt sich auch die Gefahr der sog. "Spielsucht". Jeder zehnte Computerspieler soll suchttypische Verhaltensmuster und Symptome aufweisen wie unstillbares Verlangen, Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Interessen, Kontrollverlust etc. (Frey 2008, 1219). Das "Immer-Spielen-Müssen" bezeichnet T.O. Meißner (2001) in einem Buchtitel als "Neverwake". Für Außenstehende sieht es so aus, als sitze der Gamer isoliert in seinem Zimmer. Tatsächlich jedoch ist die Tatsache, dass dieser sich seiner Gruppe, z.B. seiner Gilde in World of Warcraft, verpflichtet fühlt, einer der stärksten Gründe, sich den anderen Umwelten zu verweigern.

Cam Adair, der selbst der Meinung ist, früher spielsüchtig gewesen zu sein, und viel Kraft brauchte, um sich dem wirklichen Leben zu stellen, berät heute Betroffene und gibt ihnen Tipps. (Adair 2011) Neben den eben erwähnten Momenten des Flow-Erlebnisses betont er auch die besondere Weise von Gemeinschaft und Sozialität, die die Spielewelt den Spielenden ermöglicht. Um der Spielsucht zu entkommen, muss man aus seiner Sicht etwas finden, was diese Komponenten ebenfalls enthält: Soziale Kontakte, die einen herausfordern und bei denen man sich ständig verbessern kann.

Wenn diese in der Lebensumwelt nicht ausreichend vorhanden sind oder hergestellt werden können, so ist der Weg in die Spielewelt, in der diese Bedürfnisse gestillt werden können, kurz. Es deutet darauf hin, "... dass Computer- und Videospiele in der heutigen Gesellschaft grundlegende menschliche Bedürfnisse erfüllen und dass die echte Welt diese Bedürfnisse derzeit nicht befriedigen kann" (McGonigal 2012, 13).

Andererseits ist es bedenklich, dass diese Bedürfnisbefriedigung die Bedingungen, die zu der frustrierten Menschlichkeit überhaupt führen, reproduziert und bestärkt. Kampf und Krieg, "die Bedingung, unter der man das unerbittliche Leben überhaupt fristen darf, wird von ihr [der industrialisierten Kultur, A.S.] eingeübt" (Horkheimer, Adorno 1989, 173).

Was macht das Spielen aus den Spielenden?

Man kann bei den Gamern sicher von einer "Sozialisation durch Computerspiele" sprechen. Schließlich lernen wir viel mehr von dem, was wir selbst tun, als von dem, was wir nur lesen. Das bedeutet, dass Gamer anders aufwachsen, anders spielen, lernen, fühlen und denken (Beck, Wade 2006, 177).

Die beim Spielen entwickelten Fähigkeiten sind auch im realen Leben durchaus nützlich. Das betrifft nicht nur das erstaunliche Beispiel, bei dem ein 10-Jähriger die Erfahrungen aus World of Warcraft nutzen konnte, um seine Schwester vor einer Elchattacke zu schützen (van Mensvoort 2010). Gut nachzuvollziehen ist die Tatsache, dass Menschen, die als Jugendliche exzessiv Videospiele gespielt haben, bei Piloteneignungstests aufgrund ihrer Fähigkeiten, sich vollständig zu konzentrieren und blitzschnell reagieren zu können, erheblich besser abschnitten als andere (Mertens, Meißner 2002, 34f.).

Fähigkeiten, die durch das digitale Spielen besonders gefördert werden, sind vor allem folgende: Schnelle Informationsverarbeitung: Dazu gehört auch, schnell entscheiden zu können, welche der Informationen bedeutsam sind. Dabei werden Informationen meist nicht nach und nach aufgenommen und verarbeitet, sondern viele Inputs gleichzeitig aufgenommen und entsprechend ihrer Bedeutsamkeit verarbeitet. Multitasking: So wie routinierte Fahrer beim Fahren gleichzeitig auch noch sprechen können, so können Gamer manches "im Hintergrund" laufen lassen und sich auf etwas anderes konzentrieren und schnell wechseln (Beck, Wade 2006, 88). "Man sieht alles gleichzeitig und dennoch nur das wenige Wichtige." (Mertens, Meißner 2002, 167) Frustrationstoleranz (ebd., 160); strategisch denken in einer komplexen, unsicheren Welt: "Auf sehr subtile Weise lernten wir eine besondere Art zu denken, die man vielleicht als Systemanalyse bezeichnen könnte." (David S. Bennahum, zit. in Mertens, Meißner 2002, 100). Trial and Error als Methode, verbunden mit dem Einnehmen einer Metaperspektive (Beck, Wade 2006, 155f.); Bevorzugung vernetzter Kontakte statt Problemlösungsversuche als Einzelne.

Gamer werden deshalb als hoch kompetente Problemlöser und passionierte Teamplayer gesehen (McGonigal 2012). All dies sind Fähigkeiten, nach denen die Wirtschaftswelt laut ruft. Dies gilt für alle Arbeitenden in der immer vernetzteren und komplexeren Produktionswelt (vgl. Butollo, Engel 2015), aber insbesondere auch für Unternehmer. Dies betonen Beck und Wade (2006), die genau wegen dieser Passfähigkeit der eventuell besorgten älteren Generation zurufen "The kids are alright". Gamer passen durchaus gut in die heutige Wirtschaftswelt, auch wenn sie das nicht direkt anstrebten und nicht bewusst dazu erzogen wurden.

Gerade im Zeitalter der Instabilität erweisen sich die Vorteile der Game-Sozialisierung. Gamer meiden Risiken nicht nur nicht, sondern sie fühlen sich darin wohl. Beck und Wade beraten heutige Chefs, die nicht selbst aus der Gamer-Generation kommen, darin, wie sie aus dem Gamer das Beste herausholen können: "Finde Aufgaben, die wirklich erledigt werden müssen, gestalte sie als gefährlich (oder wenigstens schwer) und wichtig, was sie wahrscheinlich sind, und gib die Möglichkeit, sich öffentlich mit dem Ergebnis zu präsentieren." (Ebd., 104) Das geht so weit, dass wöchentliche Mitarbeiterversammlungen als Kriegsspiel zelebriert werden (ebd., 171). Bei IBM wird bei der Koordinierung globaler Arbeitsteilung an die Erfahrungen von Open-Source-Projekten angeknüpft, wobei die "digitale Reputation" über Verrechnungen der Arbeitsergebnisse in Form von "Blue Cards" ermittelt und veröffentlicht wird (Howard et al. 2010).

Letztlich ist die Gamer-Generation wohl die erste Generation, die eher nicht durch Familie, Offline-Peers und Arbeitswelt sozial und kulturell geprägt wurde, sondern durch ihr Freizeitverhalten. In die jetzige Arbeitswelt passt sie nichtsdestotrotz erstaunlich gut. Ob als Akteure, die das eingeübte Verhalten im brutalen Konkurrenzkampf aktiv einsetzen können, oder als Ausgestoßene, die wenigstens ihren Frust spielerisch ablassen können.

Ob genau die hier kultivierten Fähigkeiten aber die Fähigkeiten sind, die die Welt angesichts der Turbulenzen einer instabileren ökologischen Umwelt und der sich verschärfenden globalen und wirtschaftlichen Widersprüche braucht, ist eine andere Frage. In Spielen entwickeln sich die Fähigkeiten durch Trial and Error und ständige Neustarts. Im real existierenden Wirtschaftsleben mag das noch angehen. Das planetare atmosphärische und ökologische System hat aber keinen Neustart-Button ...

Selbst- und Weltbild

Die digitalen Spiele sind für viele junge Leute über große Zeiten hinweg das Umfeld ihrer Lebenspraxis, die sie stark beeinflussen. Ihr Welt- und Selbstbild entwickelt sich gerade in dieser Zeit. Nach Beck und Wade (2006) lassen sich einige typische Erfahrungen der Gamer zusammenfassen: In den digitalen Spielen ist die Welt für die Spieler ein Ort, in der alles bedeutsam sein kann, in der es logisch zugeht, in der es immer irgendwie weitergeht, in der mit einer Anzahl begrenzter Ressourcen und Werkzeuge mit der richtigen Kombination immer ein Gewinn möglich ist. In der Gesellschaft der Spielewelten geht es immer um Wettbewerb, und soziale Beziehungen sind so strukturiert, dass es immer nur Konkurrenten oder Verbündete bzw. Chefs oder Untergeordnete gibt. Jeder ist letztlich allein und Menschen sind einfach strukturiert und vorhersehbar. Sich selbst erleben die Spielenden als jene, die die Kontrolle haben, gleichzeitig aber auch die Verantwortung. Sie erleben, dass Versuch und Irrtum die beste Methode ist und dass letztlich jeder gewinnen kann. Jeder Einzelne erlebt sich dabei als Experte und zäher Typ. Dies erzeugt ein hohes Selbstbewusstsein.

Spiele wirken also durchaus als "Fitneßstudio fürs Selbstwertgefühl" (Mertens, Meißner 2002, 166), denn Computerspiele sind "ein ideales Feld, um sich selbst zu behaupten, sich zu erleben, sich zu definieren" (ebd., 140).

Isolation und Individualismus vs. Teamfähigkeit

Vor allem Nichtspieler nehmen an, dass das Vertiefen ins Spiel die Gamer der Wirklichkeit entfremdet, dass sie sich isolieren und soziale Fähigkeiten blockiert werden. Es scheint jedoch so, als sei das Gegenteil richtig. In der Auswertung der Umfrage von Beck und Wade (2006) zeigte sich, dass die jungen Leute umso sozialer eingestellt sind, je mehr Zeit sie mit Videospielen zugebracht hatten. Gamer zeigten ein höheres Bedürfnis nach menschlichen Beziehungen (ebd., 183). Das kann nun einerseits bedeuten, dass die Gemeinschaft nur als Mittel des Bestehens im Wettbewerb gesehen wird, also rein instrumentell. Auf diese Weise wirken ja auch die Teams, Gruppen und Firmenbelegschaften innerhalb des wirtschaftlichen kapitalistischen Wettbewerbs. Wenn Menschen dort intrinsisch das Bedürfnis hätten zusammenzuarbeiten, bräuchte man sicher viel weniger "Projektmanagement".

Zum Aufwachsen der jungen Generation gehören letztlich der Gameboy, die Playstation und das Austauschen über die neuesten Computerspiele dazu. Hier sind eher jene isoliert, die da nicht mitreden können. (Vgl. Beck, Wade 2006, 57)

Spiele für die Subalternen

Eins der ersten Videospiele, Spacewar!, wurde von Hackern am MIT entwickelt. Es tauchte dann als Bezahlspiel in Uni-Cafeterien auf und verbreitete sich auf institutionellen Rechnern schnell. Viele Nutzer erweiterten dabei die Funktionen. Steward Brand (1972) erhoffte sich, dass mit sinkenden Preisen für die Hardware die "Hacker übernehmen" würden. Da gab es noch kein Microsoft, kein Google und kein Facebook. Ähnliche Spiele, insbesondere die Ego-Shooter von Atari, wurden bald zum Training von Soldaten genutzt: "Aus einer Hippie-Version und real existierenden Alternativfirma war ein straff geführtes Unternehmen mit reservierten Parkplätzen für die BMWs der Marketingabteilung geworden, das keine Skrupel hatte, dem militärisch-industriellen Komplex beizutreten." (Mertens, Meißner 2002, 72f.) Wie in allen Kultursphären findet auch in der "elektronische Revolution in der massenkulturellen Konsumtion" eine "kapitalistische Kulturrevolution von oben" (Haug 2011, 279) statt. Sogar oder gerade wenn die Impulse für neue Kulturen "von unten" kamen, werden sie vom herrschenden System schnell übernommen: "Die kulturellen Blumen werden ständig von den ideologischen Mächten gepflückt und als 'unverwelkbare' Kunstblumen von oben nach unten zurückgereicht ..." (ebd., 52).

Auch im zivilen Bereich übernahmen nicht etwa die Hacker, sondern der Commerz: "Von Spielern für Spieler hieß es mal, heute werden die Kühe gemolken. Wenig Content für maximalen Profit. Fürstliche Gewinne ..." (Mailmanhro 2015). Die Indie Games und Art Games können demgegenüber nur wenig ausrichten.

Mehrheitlich verstärken die Spielewelten und -aktivitäten eine Weltanschauung und ein Verhalten, wie sie zum heutigen Kapitalismus perfekt passen. Begrenzungen, z.B. in den vorgegebenen Regeln, werden nicht kritisch hinterfragt, sondern als gegeben hingenommen. Trotzdem wird der Eindruck erzeugt und verbreitet, alles sei möglich und der Einzelne könne letztlich immer gewinnen. Die Dominanz des Wettbewerbs als natürliche Gegebenheit wird akzeptiert, verstärkt und sogar als Quelle des Spielgenusses ausgelebt. Dass es immer nur um ein begrenztes und unpersönliches Ziel geht, wird von Beck und Wade (2006) auch als richtig empfunden, denn "so is business". "Man spiele, was die Gesellschaft sowieso von den Bürgern möchte: Aufbau, Leistung, Konkurrenz, Weiterkommen. Nur mache es in diesem Fall Spaß." (P. M. Ong, zitiert in Gamelab.ch).

In der Welt der Spiele, die die Weltsicht der Gamer prägt, sind andere Menschen entweder meine Gegner oder meine Verbündeten im Kampf gegen Anderes oder Andere. Ich brauche diese Verbündeten nur als Mittel meines/unseres Sieges, uns verbinden keine anderen menschlichen Gemeinsamkeiten. Die Freundschaften, die sich zwischen Spielern aufgrund der gemeinsamen Spielerfahrungen entwickeln, auch wenn sie innerhalb des Spiels Gegner sind, wirken eher wie Kriegskameradschaften als menschliche Beziehungen, in denen sie sich gegenseitig in ihrer Menschlichkeit bestätigen könnten. Diese bestimmte Art von Sozialität passt auch zu jener Art Teamgeist, wie sie in Unternehmen als Kampfgemeinschaft gegen die Konkurrenz gebraucht wird. Auch Mertens und Meißner (2002) haben die Erfahrung gemacht, dass sich ihre Spieleerfahrungen und -fähigkeiten gut vermarkten können: "Irgendwann würde diese Welt auch uns rufen, zu was auch immer. Dass es Webdesign, Datenbankverwaltung, Online-Redaktion sein würde, konnten wir noch nicht wissen." (Mertens, Meißner 2002, 141) Die Umfrage von Beck und Wade (2006) ist so angelegt und wird auch so ausgewertet, dass genau diese Passfähigkeit zu den kapitalistischen Verhältnissen abgefragt wird. Unternehmerisch entsprechen die geschilderten Weltbilder und Fähigkeiten wie schnelle Informationsverarbeitung, Multitasking, Frustrationstoleranz, strategisches Denken und die Bevorzugung vernetzter Kontakte genau dem Anforderungsprofil von Unternehmern und Arbeitern im High-Tech-Kapitalismus. Der Titel ihres Buches "the kids are alright" kann deshalb nur dann beruhigen, wenn man diese Passfähigkeit gut findet. In der Bundesrepublik wurde 2014 ein Nachwuchswissenschaftler*innen-Projekt prämiert, das unter dem Titel "Wer nicht zockt, bleibt dumm!?" digitale Spiele in der Öffentlichkeit thematisiert. Haben die Non-Gamer auch in der jungen Generation eher das Nachsehen, weil sie bestimmte geforderte Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale eher nicht haben? Beck und Wade sehen ihr Ziel vor allem darin, Unternehmer der nicht so spieleaffinen Generation zu ermuntern, die besonderen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Gamer in ihren Unternehmen nutzbar zu machen.

So sieht es also aus, wenn nicht mehr nur das sowieso schon Schwere im Leben dem Kommerz unterworfen ist, sondern auch noch das, was letztlich Quelle von Freude und Spaß ist. "Subaltern" bleibt es dann, wenn es zum "soziale[n] Dasein unter der ökonomischen und kulturellen Hegemonie einer privilegierten Klasse" gehört (Haug 2011, 139).

Die Folgen der Unterordnung werden im Spiel auch direkt erlebt. Der "Kern-Spielmechanismus" liegt zugegebenermaßen in der "stetigen Bedrohung" (Bauer o. J.). Im wirklichen Leben macht das eher weniger Spaß. Genau hier verläuft wohl die Trennlinie zwischen wirklichem Leben und Spaß. Solange das eigene Agieren in der Wirtschaftswelt tatsächlich als derartiges Spiel verstanden werden kann mit Anstrengungen, Verbesserungen, Belohnungen und Siegen, verwischt diese Linie. Für jene, die übrig bleiben, weil nicht alle und nicht immer siegen können, also die vielen Untergebenen, die es als heldenhafte Spielrolle ja gar nicht gibt, und die Ältergewordenen und die Prekären und Überflüssigen dieser wirklichen Welt, ist die Welt der Spiele mit ihren nur gespielten, d.h. eingebildeten Siegen dann wenigstens ein Ersatz. Sie brauchen besonders viel Frustrationstoleranz und den Glauben daran, dass ständige Trial-and-Error-Schleifen letztlich so etwas wie Erfolg bringen können.

Letztlich sind die Computerspielewelten auch realistischer als in vielen anderen kulturellen Praxen: "Von Star Trek abgesehen herrscht Einigkeit. Unsere Zukunft wird düster. Wahrscheinlich hat es überhaupt noch nie in der Geschichte der Menschheit ein Erzählmedium gegeben, dessen Zukunftsprognosen einheitlich apokalyptisch ausfielen wie die der Computerspiele. An eine auch morgen noch funktionierende Ökosphäre glaubt in den Programmierstudios schon lange keiner mehr, dafür jedoch an die politische Dominanz von wirtschaftlich orientierten Konglomeraten und daran, dass die Menschheit zwar ihre Waffentechnologie weiterentwickeln wird, nicht aber gleichzeitig ihren ethischen Horizont." (Mertens, Meißner 2002, 185)

(Nicht nur) neue Computerspiele braucht die Welt ...

In einer Erzählung lässt Tobias O. Meißner wenigstens eine Protagonistin (Centipede) daran zweifeln, ob die Computerspielwelten immer so düster sein müssten. Sie maulte, wie so oft, "dass es eigentlich schade sei, dass alle guten Computerspiele vom Schießen und Verprügeln handelten, während sie sich doch eigentlich danach sehnte, 'etwas Schönes zu suchen und zu finden'. Wie immer widersprachen Suicider und Smugglerboy mit dem Argument, dass es nichts Schöneres zu finden gäbe als einen guten virtuellen Krieg, und da Centipede diesem Argument mangels Alternativen wohl zustimmen musste, war damit das Thema wie immer vom Tisch." (Meißner 2001, 111)

Ist es tatsächlich für immer vom Tisch? Kulturpraxen haben immer auch ein kritisches Moment. In ihnen finden Kämpfe um die kulturelle Hegemonie statt. Es macht sich auch nicht immer nur an dem Ort und der Art der Herstellung fest, ob ein digitales Spiel im konkreten Fall als Affirmation herrschender Verhältnisse wirkt oder auch als "Form des Aufrichtens aus dem Subalternen" (Antonio Gramsci nach Haug 2011, 137). Die Anerkennung der Düsternis der Spielewelten kann auch Verweigerung der Schönmalerei der wirklichen Welt bedeuten. Dieser Realismus kann ins Zynische umschlagen, aber die Gamer sind es gewohnt, sich nicht vor Herausforderungen zu verstecken. Sobald sie sehen, dass in der wirklichen Welt tatsächlich etwas getan werden kann, könnten sie ihre Fähigkeiten auch hier einbringen. Gerade die Imagination des Spielers als aktiv und (wenigstens beschränkt) ergebnis- und zielorientiert kann diese Bedürfnisse und Fähigkeiten auch im Leben jener aufrechterhalten und stärken, die ausgestoßen sind aus den produktiven gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Kulturelles Tun weist immer auch über nur fremde und bloß individualistische Zwecksetzungen hinaus. Wenn man Kultur versteht als "ein[en] Aspekt in der Gesamtheit der Beziehungen, und zwar de[n] Aspekt, insofern Menschen sich ihre Aktivitäten als sinnvoll und sinnlich genießbar einrichten" (Haug 2011, 265), so lässt sich die Erfahrung des Sinns nicht in der Spielewelt einsperren. Kultur ist das, "was nicht in fremdem Interesse oder für einen außer diesem gegenwärtigen Leben liegenden Zweck geschieht" (ebd., 94). Digitale Spiele werden zwar im Profitinteresse der Spieleindustrie und damit für einen äußeren Zweck hergestellt, aber aus Nutzersicht steht das im Mittelpunkt, was es als seine Lebensäußerung bestimmt. Die Bedeutung des Spielens wird auf jeden Fall vom Aktiven selbst bestimmt, das Individuum steht auch hier in einer Möglichkeits- und nicht einer ihn vollständig determinierenden Notwendigkeitsbestimmung. Die Entscheidung zwischen den Möglichkeiten kann "im Einzelfall ins Privat-Hedonistische oder auch Regressive gehen" (Haug 2011, 50). Sie ist widersprüchlich, weil das Regressive im Emanzipativen verborgen bleibt und weil in allem Regressiven auch Emanzipatives sein kann. Denn: "Als Universalie menschlichen Daseins vermag sie alle Formen anzunehmen, doch immer entspringt ihr Ja der Selbstbejahung der Subjekte." (Ebd., 50) Es mag zwar scheinen, dass sich die Gamer voll dem Spiel und dem Gruppendruck ihrer "Gilde" unterwerfen, aber sie tun dies aus eigener Entscheidung. Sie treffen die Entscheidung, lieber mit der Gilde zu kämpfen, statt mit der Familie Abendbrot zu essen, selbst, sie setzen den Zweck ihrer Existenz - auch wenn dieser aus der Außensicht und manch zeitlich späterer Selbsteinschätzung in die Sackgasse der Mediensucht münden kann. Nur an dieser Selbstbestimmung kann angesetzt werden, wenn das Potential der Gamer in der Welt außerhalb der Spieler zu Wirksamkeit kommen soll. Fremdbestimmung oder Zwang wäre das genaue Gegenteil davon.

Es gibt keine einfache Schwarz-Weiß-Entgegensetzung von Affirmativem und Emanzipativem. Stattdessen gibt es Widerspruch: Jede der Seiten enthält die andere. Was in antagonistischen Verhältnissen befreit erscheint, trägt die vereinzelnde Gesellschaftsstruktur noch in sich - aber auch das, was herrschaftlich geprägt ist, ist nicht nur herrschaftsbildend. "Da überall die kulturelle Unterscheidung am Werke war, ist auch die resultierende, herrschaftlich wie kommerziell überdeterminierte K[ultur] mit Utopie geladen." (Haug 2012, 315) Wenn Kultur sowieso immer, also auch bei den Coach-Potatoes, etwas mit Eigentätigkeit zu tun hat, so ist diese Eigentätigkeit bei digitalen Spielen zum Prinzip geworden. Es sollten hier umso mehr "Keimformen der Eigentätigkeit im Zustand der Fremdbestimmtheit" (Haug 2011, 175) gefunden werden können. Wo gibt es in der digitalen Spielewelt "Ansätze einer Insubordinationskultur" (ebd., 185)? Welche Kulturpraxis könnte die sinnlichen Genussmomente der digitalen Spielewelt weitertreiben, so dass mit ihr eine gemeinschaftliche Selbst-Zwecksetzung erprobt und ausgeweitet werden kann?

Wie schon bei der utopischen Literatur scheint es ohne die antagonistische Konfliktstruktur aus den Klassengesellschaften schwer zu sein, Spannung und Lese- bzw. Spielspaß zu erzeugen. Kann auch das Handeln in kooperativen und nichtantagonistischen Konflikten wirklich Spaß machen? Nur allzuoft endet der Versuch, die Form der Spiele für pädagogisch-agitatorische Zwecke zu nutzen, in purer Langeweile. Der anscheinend gute Zweck führt dazu, dass die Selbstzwecksetzung der Nutzer unterlaufen wird, die nach Haug wesentlich das Kulturelle bestimmt.

Welche Art kultureller spielerischer Praxis auf digitaler Basis könnte es geben, bei der die Aktiven ihre Zwecke selbst setzen und dabei zu Flow-Erlebnissen kommen? Es ist zu erwarten, dass nicht nur der Inhalt der Spiele verändert werden muss. Auch der Effekt, den Erfolg an Siegen über andere zu messen, ist alles andere als emanzipativ.

Zu erinnern ist an viele sehr schöne Erlebnisse in alternativ-solidarischen Kultur- und Wirtschaftsprojekten. Aber es wird nicht ausreichen, und es wäre sinnlos und bedauerlich, die Digital-Gamer mit Erlebnispädagogik zurückholen zu wollen. Es wäre schade, auf viele Bedürfnisse und Fähigkeiten, die sich in digitalen Spielen entfalten und ausdrücken, zu verzichten in einer lebenswerten herrschafts- und kapitalfreien Zukunft und auf dem Weg dahin.

Wahrscheinlich werden die Erfahrungen und Fähigkeiten zur komplexen Systemanalyse durchaus nicht nur zur profitablen Verwertung gebraucht, sondern auch für die Meisterung der bedrohlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Zukunftsoptionen - auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Computerspiele fördern Weitblick, ökosystemisches Denken und Pilotprojektmanagement. Abgesehen vom fehlenden Neustart-Button haben Gamer durchaus Erfahrungen mit so etwas wie der "Kunst der Planetenführung" (McGonigal 2012, 388), die angesichts der Gefahren für das Menschenzeitalter auf der Erde (Schlemm 2015) notwendig wird.


Literatur

Bauer, René (o.J.): Warum FirstPersonShooter alias Killerspiele Spaß machen (eine Erklärung auch für Nicht-Spieler).

BBC News (2005): S Korean dies after games session,
news.bbc.co.uk/2/hi/technology/4137782.stm (abgerufen 2015-09-06).

Butollo, Florian; Engel, Thomas (2015): Industrie 4.0 - arbeits- und gesellschaftspolitische Perspektiven, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 103, September 2015, 29ff.

Haug, Wolfgang Fritz (1988/2011): Gramsci und die Politik des Kulturellen, zuerst in: Das Argument 167, 1988, H.1, 32ff.; auch in: Wolfgang Fritz Haug: Die kulturelle Unterscheidung, Hamburg: Argument Verlag 2011, 125ff.

Haug, Wolfgang Fritz (2011): Die kulturelle Unterscheidung, Hamburg: Argument Verlag 2011.

Haug, Wolfgang Fritz (2012): Stichwort "Kultur", in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Band 8/I, 276ff.

Horkheimer, Max; Adorno Theodor W. (1989): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun.

Howard, Patrick; Lovely, Ed; Watson, Susan (2010): Working in the open. Accelerating time to value in application development and management, IBM Global Business Services. Executive Report.

Huizinga, Johan (1938/2009): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek: Rowohlt.

Mailmanhro (2015): Kommentar in Spiegel Online Forum,
www.spiegel.de/forum/netzwelt/spielemesse-gamescom-gamer-hassen-thread-335791-5.html (abgerufen 2015-09-04).

Meißner, Tobias O. (2001): Neverwake, Frankfurt am Main: Eichborn.

Mertens, Mathias; Meißner, Tobias O. (2002): Wir waren Space Invaders, Frankfurt am Main: Eichborn.

Ong, P.M. (ohne Jahr): Zitat auf Webseite www.gamelab.ch/?p=2433 (abgerufen 2015-09-05).

Rohrer, Jason (2007): What I was trying to do with Passage,
hcsoftware.sourceforge.net/passage/statement.html (abgerufen 2015-09-04).

Schlemm, Annette (2015): Das Zeitalter der Menschen,
wiki.zw-jena.de/images/d/df/Das_Zeitalter_der_Menschen.pdf (abgerufen 2015-09-064).

Thompson, Clive (2008): Poetic Passage Provokes Heavy Thoughts on Life, Death. WIRED 2008.

Van Mensvoort, Koert (2010): Norwegian Boy Saves Sister from Moose Attack Using World of Warcraft Skills,
www.nextnature.net/2010/05/norwegian-boy-saves-sister-from-moose-attack-with-world-of-warcraft-skills/ (abgerufen 2015-09-06).

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2000 Zeichen abwärts

Spiel und Spielerei

Vom Spiel wird oft gesagt, es sei das Gegenteil der Arbeit. Das mag für die gedankenlose Spielerei gelten, die als irrational- selbstbezogene Tätigkeit vielleicht wirklich keinen anderen Zweck hat als sich selbst. Nicht aber für das Spiel, das von der Spielerei strikt zu trennen ist.

Das Spiel vermittelt denen, die es spielen, Erfahrungen. Egal ob Freund*innen im Wald Buden bauen, gemeinsam Fußball spielen oder ob im erlebnispädagogischen Setting eine gemeinsame Aufgabe gelöst wird - immer vermittelt sich über das Spiel eine tiefere Erkenntnis der Welt und der Menschen, in der und mit denen wir leben. Wird dies bewusst gemacht, werden aus dem bloßen Erleben prägende Erfahrungen.

Unser Lernen ist eng verknüpft mit den Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen. Es sind in erster Linie die Erfahrungen, die wir in dieser Welt machen, die uns einen Zugang zu ihr vermitteln. Erkenntnis ist in diesem Sinne kein rein geistiger Prozess, sondern durchaus ein materieller. Bildung, die sich auf noch so kluge und richtige Worte beschränkt, bleibt auf Dauer eben genau das: beschränkt.

J.B.

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rien ne va plus

Das situationistische Spiel im Spektakel und wie das Spektakel in der Gamification ganz zu sich selber findet

gesampelt von Ricky Trang

Was das Spektakel als dauernd präsentiert, ist auf die Veränderung gegründet und muss sich mit seiner Basis verändern. Das Spektakel ist absolut dogmatisch und zugleich ist es ihm unmöglich, zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das Spektakel hört nichts auf; dies ist sein natürlicher und dennoch seiner Neigung entgegengesetztester Zustand.

Unsere Einwirkung auf das Verhalten, die in Verbindung mit den anderen, wünschenswerten Aspekten einer Revolution der Lebensgewohnheiten steht, kann knapp durch die Erfindung von Spielen neuer Art definiert werden. Das allgemeinste Ziel muss die Erweiterung des nicht mittelmäßigen Teils des Lebens einerseits und die möglichst weitgehende Verringerung der leeren Augenblicke andererseits sein.

"Gamification" bezeichnet den Prozess, Tätigkeiten, die keine Spiele sind, durch die Anwendung von Gamedesign-Konzepten zu welchen zu machen. "Reality is Broken" erklärt uns "Why Games Make Us Better and How They Can Change the World". What if we decided to use everything we know about game design to fix what's wrong with reality? What if we started to live our real lives like gamers, lead our real world businesses and communities like game designers, and think about solving real-world problems like computer and video game theorists?

Gamification, Spielmechanismen in nicht spielerischen Umgebungen, bringt Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Die Soziologie beschreibt dieses Phänomen mit den Ausdrücken wie Regulation, Kontrolle und Macht. Nicht nur Kunden auch Mitarbeiter dürfen an dieser Art von Spielen teilnehmen. Letztlich entkommt der Logik dieser Spiele nur, wer seine (Arbeits-)Beziehungen zu dieser Organisation abbricht.


In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierrat. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen: Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens.

Das Spiel wird wegen seiner Randexistenz gegenüber der erdrückenden Wirklichkeit der Arbeit als unwirklich empfunden, die Arbeit der Situationisten besteht aber gerade darin, die zukünftigen Möglichkeiten des Spiels vorzubereiten.

Gamers want to play the game. They want to explore and learn and improve. They're volunteering for unnecessary hard work - and they genuinely care about the outcome of their effort.

Ein Spiel zu meistern, kostet Mühe und Konzentration. Die Spieler werden freiwillig aktiv, um Hindernisse zu überwinden und die Materialien der Spiele zu bearbeiten. Gamification ist die Übertragung von Spielmechaniken auf das echte Leben. Die motivierende Kraft der Spiele wird nutzbar gemacht und Arbeit, dem kontrollgesellschaftlichen Motiv zur Verinnerlichung von externem Zwang entsprechend, zum Spaßerlebnis umdesignt.


Das Spektakel stellt sich als eine ungeheure, unbestreitbare und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: "Was erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint." Die durch das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es schon durch seine Art, unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol des Scheins, faktisch erwirkt hat.

Die Frage des Gewinnens bzw. Verlierens, die von der Spieltätigkeit bisher fast nicht zu trennen war, erweist sich als verbunden mit allen anderen Konflikten zwischen den Individuen bei der Aneignung von Gütern. Das Gefühl, dass es wichtig ist, im Spiel zu gewinnen - ob es sich dabei um konkrete oder öfters trügerische Befriedigungen handelt -, ist das schlechte Produkt einer schlechten Gesellschaft. Es wird natürlich durch alle konservativen Kräfte ausgenutzt, die sich dessen bedienen, um die von ihnen aufgezwungene Eintönigkeit und Scheußlichkeit der Lebensbedingungen zu verschleiern.

Dubbed as a "crash course in changing the world" and produced for the World Bank Institute, the learning arm of the World Bank, EVOKE is a social network game designed to help players launch their own world-changing venture in just ten weeks.

Die Realität ist nicht herausfordernd genug, aber gleichzeitig zu schwierig und hoffnungslos. Sie macht keinen Spaß und ist weder abenteuerlich noch motivierend. Es fehlt an befriedigender Arbeit, Nachhaltigkeit und Zukunftsorientierung. Die Leute sind einsam, ihre sozialen Bindungen sind zu schwach und es mangelt an Zusammenhalt. Außerdem gibt es keine guten Belohnungen und keine "Epic Wins". Gute Spiele haben diese Mängel nicht. Also müssen nur deren Konzepte für die Realität nutzbar gemacht werden und schon wird alles endlich gut. Die Komplettlösung für unsere verkorkste Realität, Grundkenntnisse gesellschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge sind dabei nicht erforderlich.


Der von seinem Produkt getrennte Mensch produziert immer machtvoller alle Einzelheiten seiner Welt und findet sich so immer mehr von seiner Welt getrennt. Je mehr sein Leben jetzt sein Produkt ist, umso mehr ist er von seinem Leben getrennt.

Zusammen mit der Ausbeutung des Menschen müssen die Leidenschaften, die Kompensation und die Gewohnheiten sterben, die Produkte der Ausbeutung waren. Es müssen neue, in Zusammenhang mit den heutigen Möglichkeiten stehende Begierden definiert werden. Es muss jetzt eine organisierte kollektive Arbeit begonnen werden, die eine einheitliche Anwendung aller Mittel zur Umwälzung des alltäglichen Lebens anstrebt. Dafür müssen anfangs die heute vorhandenen alltäglichen Verhaltensweisen und die Kulturformen empirisch angewandt werden, indem man ihnen jeden eigenen Wert aberkennt.

Compared with games, reality is pointless and unrewarding. Games help us feel more rewarded for making our best effort.

Gamifizierte Aufgaben und Arbeiten ermöglichten es Menschen, im Verlauf ihrer Tätigkeit Reputation zu erringen, Gemeinschaften zu finden, Spannungsbögen zu erleben, erreichte Ziele als Eigenleistung zu deuten und Geschichten zu erleben. Der Bartle Test of Gamer Psychology hilft die Mitarbeiter in "Achiever, Killer, Socializer und Explorer" aufzuteilen und sichert so den unternehmerischen Erfolg. Es ist die Aktivierung unserer uralten Codierung als Jäger und Sammler in digitalen Gewändern, heute vor Publikum.


Das Spektakel kann nicht als Übertreibung einer Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverbreitung von Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat.

Genau zu der Zeit, wo das Spiel sich bei seiner jetzigen Koexistenz mit den Überbleibseln der Verfallsphase nicht ganz vom Aspekt der Konkurrenz freimachen kann, muss es mindestens darauf hinzielen, günstige Bedingungen für das wirkliche Leben zu schaffen. In diesem Sinne ist es immer noch Kampf und Darstellung - Kampf für ein der Begierde angemessenes Leben und konkrete Darstellung eines solchen Lebens.

Compared with games, reality is lonely and isolating. Games help us band together and create powerful communities from scratch. That's exactly what a good multiplayer game does best. It focuses the attention of a group of people on a common goal, even if they think they have nothing in common with each other. And it gives them the means and motivation to pursue that goal, even if they had no intention of interacting with each other previously.

Die elektronischen Medien erlauben ganz neue Arten wechselseitiger Vernetzung und sozialer Kontrolle. Wurden früher soziale Abhängigkeiten unmittelbar, unter Anwesenden verhandelt, so ist heute nicht nur jeder auf der Welt in der Lage zu sehen, ob der beste Freund online ist sondern auch wie weit und wie gut die Kollegen/Konkurrenten eine Aufgabe gelöst haben. Auftraggeber und Entwickler von Gamification Anwendungen nutzen die allgegenwärtige Vernetzung wie auch die anderen Möglichkeiten der sozialen Medien. Neugier und sozialer Druck es dem Anderen gleich zu tun, lässt dabei den "Geruch von Arbeit" auf wunderbare Art und Weise verschwinden.


Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.

Das situationistische Spiel unterscheidet sich von der klassischen Spielauffassung durch die radikale Verneinung der Charakterzüge des Wettkampfes und der Trennung vom gewöhnlichen Leben. Das Wettkampfselement muss einer wirklich kollektiveren Auffassung des Spiels - der gemeinsamen Schaffung der gewählten Spielbedingungen - weichen. Der zu überwindende Hauptunterschied liegt zwischen Spiel und gewöhnlichem Leben, wobei das Spiel für eine isolierte und vorübergehende Ausnahme gehalten wird.

The game must be carefully designed so that the only way to be rewarded is to participate in good faith, because in any game players will do anything they get the most rewarded for doing. And the emphasis must be on making the content and experience intrinsically rewarding, rather than on providing compensation for doing something that would otherwise feel boring, trivial, or pointless.

Mit dem richtigen Wissen können Menschen in moderner Akkordarbeit in Flow-Zustände versetzt werden, Wettkämpfe am modernen Fließband sorgen für Abwechslung, helfen den Mitarbeitern für sich Ziele zu formulieren und mit einem Punktesystem kann spielerisch die Arbeitsleistung erhöht werden. Am Beispiel eines Disney-Freizeitparks zeigen sich die Vorzüge: Werden die Reinigungskräfte in Hotels bei der Arbeit zum Vergleich auf einer Leinwand angezeigt, arbeiten sie schneller. In einem Fall arbeitete eine Schwangere bis zur völligen Erschöpfung.


Die Gesamtheit der Kenntnisse, die sich zurzeit als Denken des Spektakels fortentwickelte, muss eine Gesellschaft rechtfertigen, die keine Rechtfertigungen hat, und sich zu einer allgemeinen Wissenschaft des falschen Bewusstseins herausbilden. Sie ist ganz durch die Tatsache bedingt, dass sie ihre eigene materielle Grundlage im spektakulären System weder denken kann noch will.

Dagegen hebt sich das situationistische Spiel gegenüber einer moralischen Wahl nicht als unterschiedlich hervor, die eigentlich eine Parteinahme für das ist, was das zukünftige Reich der Freiheit und des Spiels sichert.

Games motivate us to participate more fully in whatever we're doing.

Die Überforderungs-Spielmechanik zeigt, wie gezielt provozierte Frustration zum Weitermachen anregt. Das ist ein Balanceakt: Die Spielregeln müssen klar und einfach verständlich sein, so dass sie als fair angenommen werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass das Scheitern der Spieler am Spiel läge, sondern es muss die Hoffnung geweckt werden, dass diese es mit mehr Anstrengung tatsächlich schaffen könnten.


Denn es ist evident, dass keine Idee über das bestehende Spektakel, sondern lediglich über die bestehenden Ideen vom Spektakel hinausführen kann.

Nach zwei Jahrhunderten der Negation durch eine ständige Idealisierung der Produktion stellen sich die primitiven sozialen Funktionen des Spiels nur noch als entartete Überbleibsel dar, die mit minderen, direkt aus den Notwendigkeiten der jetzigen Organisation dieser Produktion herrührenden Formen vermengt sind. Zu gleicher Zeit treten fortschrittliche Tendenzen des Spiels selbst in Verbindung mit der Entwicklung der Produktivkräfte hervor.

I published several academic papers (and eventually a five hundred-page dissertion) proposing how we could leverage the power of games to reinvent everything from government, health care, and education to traditional media, marketing, and entrepeneurship - even world peace. And increasingly i found myself called on to help large companies and organisations adopt game design as an inovative strategy - from the World Bank, the American Heart Association, the National Academy of Science, and the U.S. Department of Defence to McDonald's, Intel, The Corporation for Public Broadcasting, and the International Olympic Comittee.

In den heutigen, hochgradig arbeitsteiligen und spezialisierten Organisationen werden Aufgaben an gut ausgebildete Experten vergeben. Experten, die sich nicht so einfach von ihren Führungskräften steuern lassen. Letzteren fehlt oft auch die dafür nötige Fachkompetenz für die hoch komplexen Aufgaben. Außerdem arbeiten die Mitglieder der Teams oft dezentral, manchmal sind sie sogar weltweit verteilt. Die Steuerung und Kontrolle von Arbeitsinhalt und -intensität wird so für die Führungskräfte immer schwieriger oder kann lediglich formal geregelt werden. Gamification-Strategien bieten durch die kollektive Selbststeuerung und -kontrolle der Beschäftigten, die noch dazu selbstreflexiv stattfindet, einen Ausweg. Wer könnte genauer und zeitnaher die Leistung eines anderen beurteilen als der jeweilige Mitspieler?


Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das Spektakel ist auch die ständige Gegenwart dieser Rechtfertigung, als Beschlagnahme des hauptsächlichen Teils der außerhalb der modernen Produktion erlebten Zeit.

Das Spiel muss in das gesamte Leben eindringen, indem es mit seinem bornierten Raum und seiner bornierten Zeit radikal bricht. Die Vollkommenheit kann nicht sein Ziel sein, wenigstens nicht in dem Maße, wie sie eine statische, dem Leben entgegengesetzte Konstruktion bedeutet. Man kann sich aber vornehmen, die schöne Verwirrung des Lebens bis zur Vollkommenheit zu treiben.

Games are showing us exactly what we want out of life: more satisfying work, better hope of success, stronger social connectivity, and the chance to be part of something bigger than ourselves.

Spiele werden zu Machtinstrumenten. Sie beeinflussen gezielt das Verhalten der Menschen. Die Spiele definieren einen klaren Tätigkeitsrahmen und bieten zugleich den Spielraum für Interpretationen. Die Rahmenbedingungen selbst sind jedoch den Veränderungen durch die Spieler entzogen. Können die Regeln im klassischen Gesellschaftsspiel noch unter den Anwesenden verhandelt oder diskutiert werden, sind sie im Fall von Gamification oftmals absolut gesetzt bzw. weisen nur wenige Freiheitsgrade auf. Selbst die zeitliche Begrenzung, wie bei Trainings- oder Planspielen, entfällt zumeist. Oftmals bleibt den Teilnehmern keine Wahl, als Spiel und Spielregeln zu akzeptieren.


Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich und Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen An- und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung der Grenzen zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins sichergestellten wirklichen Anwesenheit der Falschheit.

Der so von jeder ökonomischen Verantwortung, von jeder Schuld und Straffälligkeit der Vergangenheit und den Anderen gegenüber befreite Mensch wird über einen neuen Mehrwert verfügen, der nicht mit Geld berechnet werden kann, da er sich unmöglich auf das Maß der Lohnarbeit reduzieren lässt - den Wert des Spieles, des frei konstruierten Lebens. Die Ausübung dieser spielerischen Schöpfung ist die Garantie der Freiheit eines jeden und aller im Rahmen der einzigen durch die Nicht-Ausbeutung des Menschen durch den Menschen garantierten Gleichheit. Die Befreiung des Spiels ist seine schöpferische Autonomie, die über die alte Trennung zwischen aufgezwungener Arbeit und passiver Freizeit hinausgeht.

It's high time we start applying the lessons of games to the design of our everyday lives.

Gamification sorgt dafür, dass die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmt. Die Freizeit gehörte zwar nie ganz uns, weil ihr Zweck schon immer war, dass wir uns in ihr für die Arbeit erholen. Aber sie war auch nie identisch mit der Arbeit. In einer gamifizierten Kontrollgesellschaft sind die beiden Bereiche im Idealfall nicht mehr zu unterscheiden.

Wo es heute ein Privileg ist, Freizeit zu haben und in ihr spielen zu dürfen, wird es in einer gamifizierten Welt zum Luxus, nicht spielen zu müssen.

GAME OVER

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2000 Zeichen abwärts

"... nicht nur ausbeuten ..."

Caritas-Direktor Landau schreibt "Wien, Juni 2015" in einem Spendenaufruf: "Oft werde ich gefragt, wieso Österreich helfen soll, wenn es anderen Ländern schlecht geht. Ist das unsere Aufgabe? Was gerne übersehen wird: Vieles von dem, was für uns selbstverständlich ist, geht zu Lasten anderer Menschen. T-Shirts um wenige Euros, Handys, die billig produziert werden, Kakaobohnen für Schokolade, Benzin für unsere Autos - oft genug steht das in direktem Zusammenhang mit der Armut in ärmeren Ländern. Ist es nicht ein Mindestmaß an Anstand und Gerechtigkeit, wenn wir nicht nur ausbeuten, sondern auch teilen?"

Das ist eine gute Zusammenfassung. Es geht darum, dass wir weiter nach Ländern, Staaten und Nationen in ihrem "Kampf um einen Platz an der Sonne" nach Siegern und Verlierern einsortiert werden können, dass Produktion und Konsum für Profit und Wirtschaftswachstum mit allen dazugehörigen Katastrophen für alles, was auf dem Planeten lebt, weitergehen - und wir zugleich ein halbwegs gutes Gewissen haben können, weil wir "nicht nur ausbeuten, sondern auch teilen". Das ist sicher mehrheitsfähig und wird allgemein als lobenswert angesehen. Schließlich sind auch der Caritas "die Hände gebunden", wenn es um "das Gesetz" geht und um die gute Zusammenarbeit mit den Verwaltern der Welt, "wie sie nun einmal ist". Dass die Lebensweise neu gestaltet werden muss, wenn das "Reich der Himmel", nämlich ein gutes Leben für alle, kommen soll, dass die fürchterliche Destruktivität des "Diensts am Mammon", also der Ordnung des Lebens auf der Welt nach Geld, Arbeit und Konsum, zu beenden ist, daran auch nur zu denken, dem einen Weg bahnen zu wollen, das ist Ketzerei gegenüber der Rechtgläubigkeit nicht nur der Kirchen, sondern der ganzen Lebensweise. Aber falls es wen beunruhigt: Spenden hilft.

(L.G.)

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Dead Men Working

Verspieltes Leben
von Petra Ziegler

... vierhundertdreiundsechzig punkte gestern und gleich nochmal plus siebenundzwanzig. vor dem frühstück! sogar die apfelschälspirale ist ganz geblieben - das bringt voll ein, trotz abzugs wegen der weggeschnippelten vitamine. die woche wird gut. Dengdooing! nee, nee, echt nicht. die outfitoptionen nochmal eingrenzen, nicht innerhalb des letzten Monats getragen, auch nicht von Eliz oder von Lu, und die Regenwahrscheinlichkeit noch dazu. - Dengdooing! das passt. ist gedongt. Dengdooing! vierzehn punkte! Dengdooing! - (das rhythmisierte Lu 51 Punkte vor Ines am badezimmerspiegel blendet langsam aus) - ach, scheiße! ine, das mistvieh schickt wieder was oberätzendes zum nachstylen. schaut schon am spiegeldisplay echt krank aus die frisur. na freu dich, da kommt was retour. was kommt von lu? yau! genau wie mein vorschlag. steht ihr aber sicher nicht so gut wie mir. einszweidrei... so, die eine strähne noch ein stück weiter ins gesicht. Dengdooing! passt perfekt überein und kann sich sehen lassen. Dillliuum - direkt vom spiegel gepostet. macht zugleich den weckruf für janni von nebenan. Dengdooing! Dengdooing! gefällt ihm bestimmt und damit ist der rückstand von letzter woche aufgeholt und lu bestenfalls unter ferner liefen. ganze drei minuten vor der zeit ...

Langeweile war gestern, ab sofort ist alles mitreißend, spannend und dazu noch sagenhaft interaktiv. So anders, weitaus lebendiger irgendwie als das "gewöhnliche Leben" zu Zeiten noch eines Johan Huizinga. Kaum aus den Federn, reiht sich eine Herausforderung an die nächste. Schon "der Weg zur Küche wird zum Hindernislauf, bei dem man Punkte sammeln kann, Obst schneiden wird zum Geschicklichkeitstest, und der Weg zur Arbeit gestaltet sich wie ein Video-Spiel, bei dem es darum geht, finstere Gestalten so schnell wie möglich abzuschütteln. - Ein Morgen wie in einem Indiana Jones-Film mit Belohnungen in Form von virtuellem Applaus und Geschicklichkeitspunkten für richtiges Verhalten. Und ein Mitarbeiter, der überpünktlich zur Arbeit erscheint." (Motivation und Manipulation im Alltag, www.deutschlandfunk.de, 25.02.2015) Lästige Erledigungen oder eintönige Tätigkeiten gehören der Vergangenheit an, alles geschieht mit Leichtigkeit, ohne Zwang und mit unvergleichlich besserer Laune. Das ganze Leben wird zum Spiel, die "Welt zum Spielbrett" (Nora Stampfl), und der Mensch - "ganz Mensch".

Das fortgesetzte Hochleveln, die Bewältigung unzähliger Aufgaben, das Tüfteln und Punkte Sammeln, das permanente Messen und Vergleichen mit anderen nimmt uns gefangen, es beansprucht Aufmerksamkeit, Vorstellungsvermögen und Konzentration. Einsam braucht dabei aber keiner zu bleiben. "In virtuellen Welten kommen heute Unmengen von Personen auf der ganzen Welt zusammen, um Städte zu bauen, Monster zu bekämpfen, Schlachten zu schlagen, Volkswirtschaften zu simulieren, Abenteuer zu bestehen, zu lernen, Strategien zu entwickeln und in andere Rollen zu schlüpfen", so das "Büro für Zukunftsfragen" (www.f-21.de) und nennt als Beispiel etwa Chromaroma, die "Gamification des Londoner Nahverkehrs: Mit jeder U-Bahn-, Bus- oder auch Fahrradfahrt werden Punkte gewonnen, Missionen erfüllt, Rekorde aufgestellt - Reisen wird zum Wettbewerb um die Stadt." Für weniger reiselustige Gemüter empfiehlt sich dagegen fliplife, eine online-Lebenssimulationsplattform, da braucht eins erst gar nicht mehr aus dem Haus.

Die Spiele "schleichen sich in unser Leben" (Stampfl), in die alltäglichen Kleinigkeiten, werden Leitfaden und Stütze auch bei den großen Dingen. Mit ihrer Hilfe werden wir von Tag zu Tag besser. Unterstützt von mindbloom kommt jede und jeder "in ein paar Minuten zum besseren Leben: Ob Gesundheit, Karriere oder Beziehung - mindbloom verspricht einen spielerischen Weg zur besseren persönlichen Lebensqualität. Jeder Lebensbereich, der mehr Aufmerksamkeit und Zeit verdient, wird als Blatt des 'Lebensbaums' dargestellt; durch entsprechendes Verhalten gilt es den 'Lebensbaum' grün und gesund zu erhalten, unmittelbares Feedback erhält der Spieler zum Beispiel durch die Farbe der Blätter." (www.f-21.de)

Quälten sich die Erwerbstätigen um die Jahrtausendwende womöglich noch durch ihren Arbeitstag, verfliegt den glücklich Verspielten die Zeit, beinahe egal über welcher Tätigkeit. "'Gamifizierte' Aufgaben und Arbeiten ermöglichten es Menschen, im Verlauf ihrer Tätigkeit Reputation zu erringen, Gemeinschaften zu finden, Spannungsbögen zu erleben, erreichte Ziele als Eigenleistung zu deuten und Geschichten zu erleben", nennt der Psychologe Ibrahim Mazari einige Wirkmechanismen in der FAZ (Ist Spielen das neue Arbeiten?, 12.02.2014).

Spiele, so beschreibt das "Büro für Zukunftsfragen" das Erfolgsrezept von Gamification "geben Menschen befriedigende Arbeit und vermitteln die Erfahrung, Fähigkeiten zu besitzen und etwas wirklich gut zu können. Zudem geben Spiele den Spielern das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein." Bewerberinnen stellen mit Hilfe von Computerspielen ihre Eignung unter Beweis, das erhöht die Treffsicherheit bei der Personalauswahl und vermittelt andererseits den Jobanwärtern eine gute Vorstellung von der anvisierten Tätigkeit. Die Vorteile für beide Seiten liegen auf der Hand. Wir sind hochmotiviert und erfüllen jedes in uns gesetzte Vertrauen, Kontrolle vonseiten der Führungsetagen wäre da bloss noch seltsam antiquiert. "Kollektive Selbststeuerung der Beschäftigten, die noch dazu selbstreflexiv stattfindet" (Eric Treske, Gamification - Exit Games, Wir lassen spielen!), ist den alten Akkordvorgaben oder Strafandrohungen von oben weit überlegen. Und falls doch mal jemand zwischendurch Gefahr läuft schlappzumachen, dann dienen "ständige Rückmeldungen dazu, die Spieler am Ball zu halten. Belohnungen bedeuten Status und Macht im Spiel, aber auch reales Geld oder Geschenke" (ebd.).

Die ewigen Fragen nach dem Sinn und Zweck erübrigen sich, wir sind erfüllt von einer eigenartigen Rastlosigkeit, einer immer etwas überdrehten Atemlosigkeit, beständig manisch, ein pausenloses Jagen. Depression kennen wir nicht.

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Capital ludens

Das Spielfeld wird zum Trümmerhaufen

von Emmerich Nyikos

Laissez faire, laissez jouer.

1.

Spiel in seiner reinsten Form ist ein Handlungsmodus, bei dem das materiale (sachliche) Tun (das Würfeln, das Legen von Karten, das Imitieren von Rollen, das Manipulieren von Steinchen), wie ernst man es auch immer betreibt, nicht auf einen Effekt jenseits der Spielhandlung abzielt: Es reicht (von Standpunkt des Spielers), als nicht-instrumentelles Verhalten, über das Spiel nicht hinaus. Oder anders gesagt: Das Motiv des Spielers ist nicht, die "Realität" jenseits des Spiels umzugestalten (wie in der Praxis, also der Arbeit in einem anthropologischen Sinn), unbeschadet des Umstands, dass dieses Spiel Wirkungen auch in der "externen" Welt haben kann, die aber nicht beabsichtigt sind oder genauer: sich für den Spieler, im konkreten Moment wenigstens, als irrelevant, als unerheblich erweisen (so etwa, dass im kindlichen Spiel Verhaltensschemata eingeübt werden, die im späteren Leben dann abrufbar sind, wie dies im Übrigen schon im Tierreich der Fall ist). Der Baumeister baut in diesem Sinne ein Haus, damit es später bewohnt wird, das Kind hingegen, das mit Bausteinen spielt, tut es um des Bauens willen - der reale Effekt, das fertige Häuschen, hat als solches keine Bedeutung, so wenig, dass es sofort nach dem Spiel oft wieder "zerstört" wird. Kurz: Es wird nicht benutzt und dient am Ende zu nichts.


2.

Die Spielhandlung als solche ist also nicht orientiert auf externe Belange, besitzt keinen äußeren Zweck: Man spielt demnach nicht, um dieses oder jenes jenseits des Spiels zu bewirken (hervorzubringen, umzugestalten), sondern nur mit Blick auf Vergnügen und/oder Gewinn. Hier haben wir dann auch die beiden Pole, zwischen denen man jedes Spiel einordnen kann: das Unterhaltungsspiel auf der einen, das Gewinnspiel (in seiner reinsten Form: das Glücksspiel) auf der anderen Seite.


3.

Während es nun bei dem einem Extrem nur darum zu tun ist, sich zu zerstreuen, geht es beim andern nur ums Ergebnis: um das abstrakte Resultat, das zwar aus der Spielhandlung folgt, indes nicht direkt, als Konsequenz des besonderen Tuns (wie das Bauen etwa ein Gebäude hervorbringt), sondern vermittelt über die Regeln.

Das Gewinnspiel kann man mithin folgendermaßen in seine Komponenten zerlegen:

  1. die Spielhandlung in ihrer materialen Gestalt (das Würfeln usw.)
  2. die realen Konsequenzen, die idealiter sich auf Nullniveau befinden, auf alle Fälle jedoch nicht beabsichtigt sind (respektive irrelevant für den Spieler)
  3. schließlich der Gewinn/der Verlust, der sich nach Abschluss des Spiels gemäß den Auszahlungsregeln ergibt.



4.

Kapital erscheint als sich selbst verwertender Wert, dessen Trajektorie G-W-G' ist: eine Summe Geldes dient zum Ankauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft, die, kombiniert und in Aktion überführt, eine Warenmenge ergeben, welche mit einem Profit anschließend wieder verkauft werden kann: Die ursprüngliche Summe hat sich somit um ein Inkrement, ΔG die monetäre Gestalt des Mehrwerts), vermehrt. Dabei ist allein diese Vermehrung (der Zuwachs an Tauschwert, an Geld) relevant. Der Profit und nichts sonst ist das Ziel, ist Motiv, nicht das W, also nicht das, was im produktiven Prozess konkret produziert worden ist: Die Stahlmacherei ist, nach Marx, nur "Vorwand der Plusmacherei". Und das gilt für jede Produktion, unabhängig von jedem Gebrauchswert: Wenn es Profit bringen sollte, so würde das Kapital zweifellos auch "Exkremente in Dosen" herstellen lassen - oder was es sonst noch an exemplarisch Nutzlosem gibt (wie dies die Kunst, auch hier Avantgarde, schon seit langem vorexerziert).


5.

Produktion also von Reichtum in abstrakter Gestalt - wie der Ausdruck schon sagt, spielt das Konkrete, der Gebrauchswert, hier gar keine Rolle. Und eben deshalb ist es ein Spiel oder analog einem Spiel, ein Gewinnspiel, bei dem der Profit, der Gewinn, im Mittelpunkt steht, als Angel- und Drehpunkt, während das "Spielen", die Produktion, nur Mittel zur Auszahlung ist, wie bei jedem Gewinnspiel.


6.

Reinste Ausprägung erfährt dieses Spiel im Kredit, wo sich die kapitalistische Formel auf G-G' reduziert, und nicht zuletzt an der Börse, dem "Großen Casino", wo der Profit in Form des Dividendengewinns und/oder der Kursgewinne erscheint. In beiden Fällen entfernt sich die kapitalistische Praxis von allem Konkreten noch weiter, auch wenn sie in letzter Instanz noch immer an die Gebrauchswertsphäre geknüpft bleibt, ganz zum Verdruss der Spekulantengemeinde, welche in Krisen diesen "Defekt" des Systems am eigenen Leib jedes Mal schmerzlich erfährt. Die Abstraktion ist hier doppelt, oder, wenn man so will, potenziert: Der Tauschwert, im Geld inkarniert, tritt mit der "endlichen Welt", dem profanen Geschehen der Produktion, nicht mehr direkt in Kontakt.


7.

Wir haben gesehen, dass die konkreten Folgen des Spiels im Idealfall gleich Null sind: Nichts wird faktisch verändert jenseits des Rahmens, innerhalb dessen die Spielhandlung sich auf ihre spezifische Weise vollzieht. Wir haben, im Fall des Gewinnspiels, am Schluss lediglich - Verlierer und Sieger.

Nicht so allerdings, wenn wir das kapitalistische Spiel in Augenschein nehmen: Sein konkretes Ergebnis ist nämlich nur für die Spieler irrelevant, denn was für sie zählt, ist allein Gewinn und Verlust, nicht aber für die Gesellschaft. Denn ganz abgesehen davon, dass auch andere an diesem Bereicherungsspiel unfreiwillig, als Komparsen, partizipieren, nämlich als Lohnarbeitskräfte, und dass von all dem, was sich von selber versteht, die Reproduktion der Gesellschaft auf Gebrauchswertebene abhängt, zeitigt es darüber hinaus auch noch "weitere Folgen", die zwar nicht beabsichtigt sind, indes sich nichtsdestotrotz in der "Spielhandlung" finden: die Vergiftung der Umwelt, der Erde, der Luft und des Wassers durch Abgase, Abwässer, Schadstoffe jeglicher Art, die Rodung der Regenwaldzonen, die Bodenerosion, die Zubetonierung, der Müll, die Klimaverwerfung und was es dergleichen an Kalamitäten noch mehr gibt, nicht zuletzt aber auch der Ressourcenverschleiß, der den world overshoot day jedes Mal früher im Jahr eintreten lässt.


8.

Das Fatale dabei ist: Man hat es hier mit Spielsucht zu tun. Oder anders gesagt: Das capital ludens ist dem Spiel genauso verfallen wie der Dostojewskische Spieler. Denn da das, was nach Abschluss des Spiels in die Hand des Spielers zurückfließt, das G' (Kapital plus Profit), dem Ausgangspunkt G in qualitativem Betracht wie ein Ei dem anderen gleicht, konkret mithin gar nichts gewonnen wurde, ist man danach gleichsam wieder beim Nullpunkt. Nur der quantitative Aspekt, der Gewinn, die Vermehrung von G - und zwar die maximale Vermehrung -, kann hier Befriedigung bieten; da indessen das Inkrement ΔG sich sofort, wie wir sahen, verliert, d.h. in qualitativem Einerlei aufgeht, sobald die Partie aus und vorbei, sobald sie gespielt ist, stürzt man sich immer wieder von neuem ins Spiel. "Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!"


9.

Die Welt hat oftmals gesehen, dass die, die sich der Spielsucht ergeben, keinerlei Hemmungen zeigen, am Ende auch "Haus und Hof" zu verspielen, der Ruin schreckt sie nicht. Genauso wenig schreckt daher auch das capital ludens die Aussicht, die Lebensgrundlagen der Nachwelt, wie in fiebrigem Wahn, zu "verspielen", ja dieser Ruin schreckt es weniger noch, insofern als er es, das capital ludens, gar nicht betrifft - vorerst zumindest, denn am Schluss, wenn nichts mehr da ist, das verspielt werden kann, ist auch dieses Spiel aus.

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Lage hoffnungslos, aber nicht ernst!

von Severin Heilmann

Ist das Leben eine ernste Sache? Ein flüchtiger Blick in die Nachrichten genügt und schon erhalten wir indirekt Aufschluss. Ja, das Leben ist eine ernste Sache, lässt sich zweifelsfrei an den Mienen unserer Funktionäre ablesen, jenen Repräsentanten, Hüter, Verteidiger oder Verwalter dieser Ordnung: Ihnen haftet ein unverkennbarer, gestrenger, zuweilen sorgenvoller Ausdruck an, in ihren Wirkstätten, Regierungssitzen, Kirchen, Gerichtsgebäuden, Bankhäusern, Amtsstuben und Kasernen wohnen Gravität und Bedeutungsschwere, es zieht hinunter und selten wird gelacht. Dem Anschein nach steht hier nichts weniger als unser aller Leben selbst auf dem Spiel. Aber welches Leben und welches Spiel?

Es geht ja oft die Rede vom Ernst des Lebens und dass er dann und dann einsetze und doch lässt sich nicht recht ausmachen, worin er denn nun bestehe und welche Veranlassung ihn ins Leben brächte. Zumeist wird dabei - didaktisch ungeschickt, aber treffend - auf die Zeit der Einschulung Bezug genommen, in der dem jungen Menschen die Welt sukzessive in zwei unterschiedliche Sphären divergiert: Die bisherige seiner Kindheit und eben jene der Schule; was später in den Kategorien Freizeit und Arbeit zur vorherrschenden und beherrschenden Lebensrealität werden soll.

Spielen ist zwecklos...

Der Zweck der Arbeit ist aber kaum je die Arbeit selbst, vielmehr bemittelt sie dazu, sich in der Freizeit von ihr zu erholen. So hat dann aber auch die Freizeit nicht sich selbst zum Inhalt, sondern eben die Instandsetzung und Instandhaltung für die Arbeit. Was unweigerlich zur Folge hat, dass weder in der Arbeit noch in der Freizeit sich jemand ernstlich dem Spielerischen widmet, selbst dort nicht, wo es die einzig gestellte Forderung des Lebens wäre. Es heißt, "Guter Sex hält fit!" und "Laufen beugt vor!", "Küssen stärkt das Immunsystem", "Spazieren reduziert Stress" und "Lachen hilft gegen Depression" - mechanisch und lustlos wird das Freizeitpensum abgearbeitet, weil unser Tun stets einer anderen Sache nutzbringend sein soll. Das Spiel aber genügt sich und braucht keinen von ihm verschiedenen Zweck zu erfüllen.

Nicht genug damit, bedrängt uns im Schulalter der Ernst des Lebens auch in der heimtückischen Frage, was man denn einmal werden wolle. So lernen wir uns der spontanen, lustvollen Möglichkeiten enthalten, die in der Gestaltungsfülle des je gegenwärtigen Moments liegen, und uns stattdessen damit zu bescheiden, was davon für die getroffene Zielsetzung vermeintlich zweckmäßig erscheint. Dieses erhoffte Ziel ist jedoch weder greifbar noch nennbar und wie in einem Irrkreis entpuppt es sich als bloßes Mittel für ein nächstes. Gleichwohl, wir enthalten uns, um zu lernen, um so ein ernst zu nehmendes Mitglied unserer Gesellschaft zu werden, um einen Job zu finden, um eine Familie zu erhalten, um die Kinder in die Schule zu stecken, um ihnen einen Job zu ermöglichen, um ihnen zuzusehen, wie sie in gleicher Weise weiterwurschteln. Angesichts dieser Zirkelschlüssigkeit des Lebens ist die schleierhafte Teleologie unserer Zweckrationalität völlig unhaltbar: Der große Moment wird nie kommen, das ersehnte Ziel am Ende unserer Anstrengungen nie erreicht. Wir ahnen es und sind frustriert und opfern der Zukunft weiterhin Gegenwart.

...aber nicht sinnlos

Solange wir sagen, dieses oder jenes habe keinen Zweck oder ein anderes keine Zukunft, anstatt wesentlich zu fragen, ob es denn Gegenwart habe oder jenes Sinn, sind wir stets eher im Dort als im Hier, im Dann statt im gegenwärtigen Moment; so lange wird das Leben nicht die spielerische Leichtigkeit entfalten, durch die es sich selbst würde tragen können. Und so ertragen wir es, nehmen es als Bürde hin und misstrauen ihm grundsätzlich, weil wir in Anbetracht der Unwägbarkeiten dieser Welt nie sicher sein können, ob unser Einsatz sich gelohnt haben wird. So treffen wir Maßnahmen und Vorkehrungen, wir beugen vor und sichern ab. Ernster lässt sich's kaum leben!

Ernst dieser Sorte ist die eigentliche Antithese des Spielerischen und recht besehen auch des Lebendigen. Ist dem Spiel wie dem Leben die Freiwilligkeit der Teilnahme erste Bedingung, so ist diese im Ernst verschwunden. Seine paradoxe Forderung lautet daher: Du musst spielen!, was einen in eine ähnlich unlösbare Zwangslage versetzt wie Du musst leben! oder lachen! oder lieben! etc. - Lebensäußerungen, die sich spontan und aus sich heraus und ohne weitere Absicht entfalten, lassen sich nicht anordnen, sie entziehen sich weitgehend äußerer wie auch innerer Kontrolle (es ist die Meisterschaft und das Privileg begnadeter Künstler und Schauspieler, sich einem kontrollierten Kontrollverlust zu unterziehen). Ungeachtet dessen verdoppeln wir die Anstrengungen, um der gestellten Forderung nachzukommen, was freilich ihre Erfüllung immer unmöglicher werden lässt. Ich bemühe mich, dich zu lieben! ist eine absurde Absichtskundgabe, nicht anders als Ich bemühe mich, zu lachen! oder zu spielen! usw. Die permanente Frustration in diesem Double-bind-Schlamassel lässt uns mit Verbissenheit und erbitterter Ernsthaftigkeit der Welt entgegentreten.

Ernst spielen

Anders der "heilige Ernst" (Huizinga) des Spiels: Der ist eine Täuschung, die wir durchschauen und die uns daher nur zeitweilig in ihren Bann zu ziehen vermag. Was aber, wenn das Spiel nicht mehr durchschaubar ist, ist es sein Ernst dann noch? Oder anders gefragt: Ist es bitterer Ernst, das Leben? Oder ist dieser letztlich nur ein gespielter? Unter der Prämisse freilich, dass Leben grundsätzlich Spiel ist (und was könnte es anderes sein?), lässt sich immerhin die Vermutung anstellen, dass Letzteres der Fall ist; dass wir eben nur spielen, nicht zu spielen, wobei wir diesen vertrackten Umstand einfach nicht mehr durchschauen. Die an sich bewusste und faszinierende Illusion des Spiels hätte uns ganz und gar absorbiert. Zuschauer und Darsteller gleichermaßen, spielen wir unsere Rollen mit bedeutungsvollem Ernst, nichts ahnend und klatschen Beifall oder empören uns. Unsere gewohnten Spiele unterbrechen zwar kurz dieses eine, superiore Spiel auf willkommene Art, verschärfen so jedoch auch den Kontrast zu seinem vorgeblichen totalen Ernst. In dieser merkwürdigen Situation wäre angeraten, das Spiel zwar ernst zu nehmen, nicht aber seinen Ernst, jedenfalls nicht zu ernst. Gute Schauspieler vermögen das!

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Das fesselnde Spiel und die spielerische Leichtigkeit des Albert Camus
von Maria Wölflingseder

"Und Jacques' an der Marne getöteter Vater. Was bleibt von diesem anonymen Leben? Nichts, eine verschwindend kleine Erinnerung - die geringe Asche eines beim Waldbrand verbrannten Schmetterlingsflügels."*

Seinen Vater vermisste Jacques zeitlebens. Er war noch kein Jahr alt, als dieser im Herbst 1914, nach anfänglicher Besserung, an den Folgen seiner Kriegsverwundung starb. - Nach der Zuwendung der Mutter sehnte sich Jacques zeitlebens. Die Beziehung zu ihr, einer hör- und sprachbehinderten Analphabetin, war von einer unüberwindlichen Barriere überschattet. Über die Familie in der kleinen Wohnung, in der auch Jacques' älterer Bruder und sein Onkel im Armenviertel Algiers lebten, bestimmte die herrschsüchtige Großmutter. Sie lebten bereits seit mehreren Generationen wie Unzählige aus Frankreich und Spanien in das koloniale Algerien Eingewanderte "ohne Vergangenheit, ohne Moral, ohne Vorschrift, ohne Religion, aber glücklich, dazusein und im Licht zu sein, voller Angst vor der Nacht und dem Tod". - Jacques versuchte das Geheimnis seines Vaters zu ergründen. "Aber letzten Endes war es nur das Geheimnis der Armut, die Menschen ohne Namen und ohne Vergangenheit erzeugt..."

Fast hätte Jacques Comery, der Name Albert Camus' in seinem autobiografischen Roman "Der erste Mensch", dasselbe Schicksal erlebt. Wenn er nicht in der letzten Volksschulklasse dem Lehrer Louis Germain begegnet wäre, würde die Welt heute keinen Camus kennen. Keinen Camus, dessen weitsichtige Erkenntnisse sich in keine ideologische Schublade stecken lassen. Keinen Camus in seinen gegensätzlichen Facetten "Nüchternheit und Sinnlichkeit". Keinen Camus, der trotz oder gerade wegen all seiner Erschwernisse - Armut, Kriege, Exil, Depression, durch seine Lungentuberkulose ständig den Tod vor Augen - das Leben der Mühe wert fand, gelebt zu leben: der Liebe, der Sonne, des Meeres wegen.

Der Lehrer, der den Ersten Weltkrieg als Soldat überlebt hatte, kümmerte sich um den begabten Kriegshalbwaisen. Für Jacques war die Schule "mächtige Poesie". Im Unterricht wurden die Schüler nicht wie üblich "wie Gänse mit Wissen gemästete", sondern sie "fühlten zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken". "Bei Monsieur Bernard (wie der Lehrer im Buch heißt) war der Unterricht aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant."

Für Jacques, der nur Sonne, Hitze und Regen kannte, tat sich durch die fremdartigen Erzählungen in den französischen Schulbüchern eine neue Welt auf, die seine Phantasie entfachte. Eine Welt, in der es "Kinder mit Wollmütze und -schal" gab, die "die Füße in Holzschuhen, bei Eiseskälte Reisigbündel über verschneite Wege hinter sich herzogen, bis sie das schneebedeckte Dach des Hauses erblickten, dessen rauchender Schornstein ihnen mitteilte, dass die Erbsensuppe auf der Feuerstelle kochte".

"Eine Welt ohne Freude und tätige Muße muss untergehen"

Von Camus' Werken sind vor allem seine in asketischem Stil geschriebenen Parabeln "Der Fremde" und "Die Pest" bekannt. Da er sich in den ersten Büchern mit dem Absurden, mit der Negation befasste (Mythos von Sisyphos), wurde er stets den Existenzialisten zugeordnet. Sein Werk ist jedoch vielmehr als Entwicklung zu verstehen. Camus wehrte sich, ein Prophet des Absurden genannt zu werden. Er hätte nichts anderes getan, "als über eine Idee nachzudenken, die er auf den Straßen seiner Zeit fand". (Hochzeit des Lichts) Auch zu den Existenzialisten zählte er sich nicht. Er wollte ihnen weder ins Transzendente, also in eine übergeordnete Instanz, noch in die Verzweiflung folgen, welche er bei den meisten existenzialistischen Philosophen ausmachte.

"Ich bin kein Philosoph... Was mich interessiert, ist zu wissen, wie man sich verhalten soll. Und genauer, wie man sich verhalten soll, wenn man weder an Gott noch an die Vernunft glaubt." (Interview mit Servir, zit. nach Brigitte Sändig) Die Bejahung des Lebens um des Lebens willen unterschied ihn.

Mit einer "permanenten Revolte" (Mythos von Prometheus) gelte es vielmehr, das Absurde nicht nur auszuhalten, sondern zu überwinden. - Seine wichtigsten Erkenntnisse waren für seine Zeit, die 1940er und 1950er Jahre, außergewöhnlich. In den Kreis der Pariser Intellektuellen wurde "der algerische Straßenjunge", wie er oft genannt wurde, anfänglich mit Interesse aufgenommen, aber schließlich kam es zum Bruch, zum Zerwürfnis mit dem Chefideologen Jean-Paul Sartre. Wie konnte es jemand wagen, jeglichen Totalitarismus, also auch den orthodoxen Marxismus (in damaliger stalinistischer Prägung oder das DDR-Regime) zu verurteilen, ohne dem rechten Lager anzugehören. Camus hegte vielmehr Sympathien für die anarchistische Linke und ging noch weit darüber hinaus. Er übte wie wohl wenige seiner Zeit eine radikale Wachstumskritik, eine Kritik am Fortschrittsethos, er sprach sich vehement gegen die Atombewaffnung aus, und in Lohnarbeit und Geldverhältnis sah er alles andere als eine dem Menschen zuträgliche Zukunft. Er ahnte bereits zu Beginn der 1950er Jahre "eine drohende Verwandlung Europas in eine 'Weltfabrik', in der das Leben uniformiert und 'immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird'. Er prognostiziert, dass die 'wahren Leidenschaften' ökonomisiert und 'die Verstümmelung des Menschen vervielfacht' werde." (Der Mensch in der Revolte, zit. nach Iris Radisch). "Eine Welt, in der kein Raum mehr vorhanden ist für das Sein, die Freude, die tätige Muße, ist eine Welt, die untergehen muss." (Tagebuch)

Der diagnostizierten neuen Barbarei setzte Camus ein "menschliches Maß", ein menschlich und ökologisch verträgliches Naturverständnis entgegen (Mythos von Nemesis). Nemesis ist die Göttin des gerechten Zorns. Sie bestraft die menschliche Selbstüberschätzung. "Für Camus ist sie eine Allegorie der Versöhnung, des Maßes, der Liebe und des Ausgleichs." (Radisch) Er verwendete auch den Begriff "pensée de midi", "mittelmeerischen Denken". In "Der Mensch in der Revolte" reflektiert Camus auf das, "was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem seit den Griechen, die Natur mit dem Werden im Gleichgewicht stand." Er konstatiert einen historischen Kampf der deutschen Ideologie - beginnend mit der ersten Internationale der Sozialisten -, die stets gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener vorging. Aber letztlich geht es dabei auch um sein ganz persönliches Erleben des Glücks am Mittelmeer.

Ende der 50er Jahre zieht sich Camus mehr und mehr von Paris, wo er sich nie zu Hause gefühlt hat, zurück nach Südfrankreich. Nach 20 Jahren intensiver Arbeit als Autor, als Journalist, als Verlagslektor, als Theatermacher, nach einem Leben als Kultautor und Literaturnobelpreisträger, der aber ständig auch Anfeindungen ausgesetzt gewesen ist, beginnt Camus mit seinem letzten, ihm wichtigsten Werk. Er möchte an seine frühen Essays in "Hochzeit des Lichts" anknüpfen - eine Liebeserklärung an Algerien, an die Kultur des Mittelmeers -, möchte sich von allen Formalismen befreien und auf das beschränken, was ihn ausmacht. "Den direkten Zugang ohne Vermittlung, das heißt die Unschuld wiederfinden. Hier die Kunst vergessen, heißt sich vergessen. Von sich selbst absehen, nicht aus Tugend. Im Gegenteil seine Hölle annehmen."

Spiele im verwilderten Park

Als Camus' unvollendetes Werk "Der erste Mensch" erschien - 34 Jahre nach seinem Tod, den er 1960 bei einem Autounfall gefunden hatte, war das Erstaunen groß: welch atemberaubend sinnliches, intimes und poetisches Buch! Wer es nicht kennt, kennt Camus nicht.

Ein Buch über seine Kindheit "zusammengehalten durch die blanke Not in einer behinderten und unwissenden Familie, mit seinem brausenden jungen Blut, einem unersättlichen Lebenshunger, der ungestümen, gierigen Intelligenz, und während der ganzen Zeit ein Freudenrausch, der nur unterbrochen war von plötzlichen Schlägen, die eine unbekannte Welt ihn versetzte und die ihn in Ratlosigkeit stürzten, von denen er sich aber schnell erholte, danach trachtend, diese Welt, die er nicht kannte, zu verstehen, kennenzulernen, sich anzueignen...".

Besonders bezaubernd sind die Beschreibungen der ins Spiel vertieften Kinder. Die Donnerstage verbrachten Jacques und sein Freund Pierre im verwilderten Park des Kriegsinvalidenheims in Kouba auf einem Hügel am Rande von Algier. Pierres Mutter arbeitete in der Wäscherei des Heims. "In diesem duftenden Dschungel" eines "wohlriechenden Gewirrs aus Pfeifensträuchern, Jasmin-, Klematis-, Geißblattbüschen, an deren Fuß sich ein dicker Teppich von Klee, Sauerklee und wilden Gräsern breitmachte, umherzuspazieren und herumzukriechen, sich auf der Höhe der Gräser in ihn zu ducken, mit dem Messer die verflochtenen Durchgänge freizulegen und mit gestreiften Beinen und einem Gesicht voll Wasser wieder herauszukommen, war berauschend." - "Im tiefsten Dickicht des Parks, vor allen Blicken geschützt" verbrachten sie auch viel Zeit mit der Herstellung "schreckenerregender Gifte" und "geheimnisvoller Liebestränke" aus zermahlenen Früchten und Blättern. "Die Kinder hatten unter einer alten Steinbank, die an ein mit wildem Wein bewachsenes Mauerstück gelehnt stand, eine ganze Ausrüstung an Aspirinröhrchen, Arzneifläschchen oder alten Tintenfässern, Scherben von Geschirr und angeschlagenen Tassen zusammengetragen, die ihr Laboratorium darstellten." - "Am großartigsten aber waren die windigen Tage", an denen sie mit riesigen hochgehaltenen Palmwedeln gegen den Wind kämpften. Wenn Jacques nachts "todmüde in die Stille des Schlafzimmers, wo seine Mutter leise schlief, im Bett lag, lauschte er noch dem in seinem Inneren heulenden und tobenden Wind, den er sein Leben lang lieben sollte".

Camus, der sich nicht nur leidenschaftlich den Spielen der Kindheit hingab, sondern auch begeistert Fußball spielte, der alle Bücher, die er nur finden konnte, verschlang - "mit der gleichen Gier, mit der er lebte, spielte oder träumte", wurde später auch ein passionierter Tänzer. Und am Theaterschreiben, -spielen und am Regie führen liebte er die Kunst der Verwandlung, das Spiel mit den Realitäten und das gemeinsame Schaffen.

"Der Fluch der zum Weinen dummen Arbeit"

Jacques erlebte aber auch von klein auf, in seiner Familie und am eigenen Leib, "den Fluch der zum Weinen dummen Arbeit, deren endlose Eintönigkeit es schafft, die Tage zu lang und gleichzeitig das Leben zu kurz zu machen". Die Großmutter zwang ihn, in den Ferien zu arbeiten.

"Der lange Sommer verflog für Jacques praktisch in dunklen, glanzlosen Tagen mit belanglosen Tätigkeiten. 'Es geht nicht, dass man nichts tut', sagte die Großmutter. Aber gerade in diesem Büro hatte Jacques den Eindruck, nichts zu tun. Er lehnte die Arbeit nicht ab, obwohl für ihn nichts an die Stelle des Meeres oder der Spiele in Kouba treten konnte. Aber wirkliche Arbeit war für ihn die in der Böttcherei zum Beispiel, ein anhaltender Einsatz von Muskeln, eine Folge geschickter, präziser Bewegungen, harte, gewandte Hände, und man sah das Ergebnis seiner Anstrengungen zum Vorschein kommen: ein gut gelungenes neues Fass ohne einen Riss, das der Arbeiter dann betrachten konnte. Diese Büroarbeit jedoch kam von nirgendwoher und führte zu nichts. ... Das Königliche an seinem Leben in Armut, die unersetzlichen Reichtümer, die er so gierig und aus dem Vollen genoss, musste er einbüßen, um ein wenig Geld zu verdienen, für das man nicht den millionsten Teil dieser Schätze würde kaufen können."

In der Widerstandszeitschrift Combat, deren Mitarbeiter, zuweilen auch Leiter Camus viele Jahre war, ruft er nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen auf, die Chance einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung zu ergreifen: "... wenn man aber unter das Diktat des Geldes zurückfalle..., dann sei die Entwicklung der Menschheit auf lange Sicht - und vielleicht für immer - fehlgeleitet." (Zit. nach Sändig)

"Der erste Mensch", Camus' Vermächtnis, blieb zwar unvollendet, dennoch ist ihm sein Wunsch auf wundervolle Weise gelungen: "... da ich doch wenigstens eines mit unumstößlicher Gewissheit weiß, dass nämlich ein Menschenwerk nichts anderes ist als ein langes Unterwegssein, um auf dem Umweg der Kunst die zwei oder drei einfachen, großen Bilder wiederzufinden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat." (Licht und Schatten, in: Kleine Prosa)


* Die Zitate sind, wenn nicht anders angegeben aus: Albert Camus "Der erste Mensch", Reinbek 1995.


Literatur

Albert Camus: Der erste Mensch, Reinbek 1995, übers. v. Uli Aumüller.

Ders.: Hochzeit des Lichts, Zürich - Hamburg 2014, übers. v. Peter Gan, Monique Lang.

Ders.: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1997, übers. v. François Bondy.

Ders.: Tagebuch 1951-1959, Reinbek 1997, übers. v. Guido. G. Meister.

Ders.: Kleine Prosa, Reinbek 1997, übers. v. Guido. G. Meister.

Iris Radisch: Camus - Das Ideal der Einfachheit, Reinbek 2014.

Brigitte Sändig: Albert Camus, Leipzig 1988.

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Gastspiel

von Severin Heilmann

Alle paar Monate kommt Besuch der anderen Art, um für einige Tage zu bleiben. Demnächst ist es wieder so weit; ich freue mich schon vor, wie man sagt. Mein Gast heißt Max und steht auf vier rastlosen Beinen. Er ist Hund - ich bin Mensch (für die Dauer seines Aufenthalts spielt diese Differenzierung keine Rolle!). Sein Eintreffen ist ein kleines Spektakel mit festgeschriebenem Ablauf: Kaum ist die Türe einen Spalt geöffnet, schon schiebt sich die Schnauze und der ganze pechschwarze, zottelige Rest herein - ein vor Freude bebendes, schnaufendes Energiebündel. Unversehens hat er einen Schuh im Maul, den er mir in auffordernder Geste zu geben andeutet, sogleich aber mit der Wendigkeit eines Boxers abdreht, um meine Hand ins Leere fahren zu lassen; flinke Kehrtwende, dann steht er mir wieder gegenüber, sieht mich unverwandt mit sprechenden Augen an; ich erwidere seinen Blick; für einen Atemzug versichern wir uns gegenseitig der unverbrüchlichen Zuneigung des andern, bevor er mehrmals seine Schnauze samt Trophäe in meine Richtung hebt und dabei ostentativ zu grunzen anfängt: Das Spiel beginnt ...

­... für mich! Für Max hat es augenscheinlich nie aufgehört! In Maxens Universum scheint alles Spiel und es vollzieht sich spontan und unmittelbar von einem Moment zum nächsten, von einem Szenario zum nächsten. Nicht immer kann ich mitziehen, glaube dann, seinem tollen Treiben mit scharfem Ton ein Ende setzen zu müssen, etwa wenn er sich unvermutet, aber leidenschaftlich in den Besen verbeißt, mit dem ich den akribisch in handliche Schnitzel zerfetzten Karton beseitigen wollte; oder er beim Anziehen bedenkenlos am Socken zerrt, bevor er mit dem Laufschuh durchgeht. Es braucht auch jetzt noch ein, zwei Tage, bis ich so einigermaßen ins Maximundus akkommodiert bin. Dann gelingt es, mit ihm über Stock und Stein zu preschen, ohne dabei einen Gedanken an das miserable Wetter zu verlieren, den Gatsch an den Schuhen oder an den gesundheitlichen Nutzen des Waldlaufs oder über die Lächerlichkeit, mit Verve einem Hund ein Stück Holz abzujagen und mit drückendem Unbehagen einem Amtstermin entgegenzuzittern.

Die Präsenz eines Wesens, welches so bedingungslos dem gegenwärtigen Moment ausgeliefert ist, wirkt auf unerklärliche Weise erfrischend, belebend. Ich erinnere mich an Zustände von seltener Ausgelassenheit, von exzessiver Heiterkeit. Sorgen weichen intensiverer Wirklichkeit und es überkommt einen ein unbändiges Verlangen, zu spielen, was und wo nur zu spielen ist. Mich wundern drum auch die zahllosen Videos über teils bizarre Freundschaften zwischen anderen einander artfremden Tieren nicht, die sich völlig dem gemeinsamen Spiel überlassen - es ist dies wohl das Lebensprinzip schlechthin! Der wissenschaftliche Geist will uns die Domestikation ursprünglich wilder Tiere als zweckrationales Kalkül vorstellen; ich glaube vielmehr, dass wir uns mit den Tieren seit Menschengedenken auch die Erinnerung halten, an ein Leben, das grundlegend ein spielerisches hätte sein können.


Befreiendes Kuscheln

von Martin Scheuringer

In der schönen Zukunft wird mehr gespielt und gekuschelt, da bin ich mir sicher. Spielerischer gekuschelt und kuscheliger gespielt. Das hic et nunc stellt sich nach gründlicher Analyse als ein in sich zusammenbrechendes Lager dar, in dem ich die Destruktivität des Kapitals spüre und ausführe. So ein Wissen erzeugt Ohnmacht. Eine Einsicht, die keinen Ausblick zulässt.

Daher probiere ich was: Ich bestimme das Kuscheln als eine verändernde Kraft, die Blüten in den grausamer werdenden Lagern des Kapitals pflanzt. Beim Kuscheln komm ich zur Ruhe, beende das Nachdenken (Conditio sine qua non!) und spüre Haut, rieche Körper und empfinde Stimmungen. Ohne Erwartungen. Dann wird das Liebevolle wach und entfaltet die Wonne, die zu innigerem Kuscheln führt, wenn man ihr das Bewegen des Körpers überlässt. Den arbeitenden Verstand lass gehen, den spielerischen Instinkt lass kommen.

Doch leider! Die Reflexion reißt mich wieder aus der befreienden Umarmung und ermahnt mich, mit Verstand alles zu durchdringen. Alles? Aber alles ist nicht gleich immer und überall? Pause! Kuschelpause! Ärgerlich! Das Kritisieren hat mich schon wieder eingeholt. Obwohl die Kritik hinreichend abgeschlossen ist, will ich immer weiter Einsicht produzieren.

Ich probiere was anderes: Ich könnte auch meditieren (Sei ohne Gedanken, predigt der Guru!), klettern (Denke nicht an unten, ruft die Seilschaft!) oder spielen (Konzentrier dich aufs Spiel!, spricht der Mitspieler): Alles, was die Reflexion zum Schweigen bringt, weil es die Aufmerksamkeit bindet, ist gut für mich, der ich andauernd denke, nachdenke, vorausdenke - Kritik übe. Ganz schwindlig im Büro der Gedanken mit endlosen Gängen, Stiegenhäusern und Türen spielt der Verstand mit mir ein Spiel ohne Ende. Immer weiter! Verstehe doch endlich alles in aller Klarheit! Ich erinnere mich an Kafkas Figuren. Nicht die letzte Tür in der Parabel ist zu öffnen, sondern das gesamte Gebäude ist als ein Geschöpf der spielerischen Phantasie zu erkennen.

Stellen wir uns zwei Kinder vor: "Komm, spielen wir! Tun wir so, als hätte jedes Ding einen Tauschwert!" - "Hä?" - "Und dann, dann darf ich dir nur geben, wenn du mir was gibst, das gleich viel Tauschwert hat!" - "Hä?" - "Und der Tauschwert wird durch Zauberei vom Markt bestimmt. Okay?" - "Ach komm, da spiel ich nicht mit. Gib mir lieber mal den Bauklotz, ich bau einen Tunnel." Wird diese Vorstellung zwanghaft, so wird aus dem Spiel der Phantasie fetischistische Realität.

Ich nutze die Phantasie mal anders: Ich stelle mir vor, wie mein Leben aussehen könnte, wenn der Kapitalismus es mir nicht versauen würde. Ich würde viel in den Bergen unterwegs sein, von Klippen ins Meer springen, für mehr Menschen seltener kochen und beim Abwaschen mit jemand anderem Spaß haben, weil wir es gemeinsam und ohne abstrakten Zeitdruck erledigen. In einem Wohnprojekt würde ich leben, das nicht die Kernfamilie umfasst, weil ich dann mit Konflikten anders umgehen könnte und die Freuden der größeren Gemeinschaft genießen kann.

Und mehr kuscheln. Ach, das wollte ich ja jetzt schon, um nicht dauernd der Totalität der Verwertung denkerisch nachzuspüren. Doch schon wieder umschlingt mich die Reflexion mit kaltem, analytischem Griff, versucht, meine Geschöpfe der schönen Zukunft aus dem Kapital herzuleiten und sie als bloß negative Spiegel der Totalität der Verwertung abzuwerten. Oder als total sinnlos: Kuscheln und phantasieren statt radikaler Kritik, dass ich nicht lache!

Es wäre schön, würden wir gemeinsam lachen. Blöder Irrealis! Lachen wir gemeinsam! Die Kritik am Kapital ist ausgearbeitet, nun ist es Zeit für bewusste Phantasien. Und die entstehen in Ruhe und Ausgeglichenheit. Nicht im gehetzten Denken, das noch das letzte Detail begreifen will. Die Wünsche sind vorerst Fluchtpunkte, die erfüllt werden sollen, um Ahnungen vom guten Leben zu spüren, und dann schaut man weiter. Der große Plan zur Abschaffung des Kapitals ist eine unmögliche Kopfgeburt der Kritik - ganz phantasielos. Wer mag schon Pallas Athene, die in Rüstung aus Zeus' Kopf stieg, nachdem ihm Hephaistos den Schädel zertrümmert hatte? Was immer uns notorische Kritiker das sagen mag. Ich will mich vom Verstand nicht mehr permanent herumführen lassen und großen Gedankengeburten nachlaufen, ich will ihn begrenzen und der Phantasie Platz machen. Denn Ideen für die schöne Zukunft produziert der Kritiker nicht, die macht der Phantast, und zwar beim Spielen, da kommen sie zu ihm.

Und beim Kuscheln.


Champions League oder Sei kein Spielverderber!

von Franz Schandl

Obwohl ich Champions gar nicht mag und deren Queen-Hymne furchtbar finde, freue ich mich, wenn es Herbst und trübe wird, immer wieder auf die Champions League. So sind zumindest Dienstag und Mittwoch leichter zu überstehen. Nicht dass ich allen Spielen folge, schon gar nicht parallel auf verschiedenen Monitoren in irgendwelchen Wettlokalen. Nein, nein, ich knotze mich da brav vor die Kiste, hole mir ein Bier und nach der Halbzeit noch eines, gelegentlich auch einen Schnaps und schaue einfach in die Glotze. Ich gebe mich dem Spiel hin, freue mich über gelungene Spielzüge und ärgere mich über Fouls, weil sie die Ästhetik schmälern.

Der Alltagsbiederfranzi ist fertig und unterscheidet sich nur noch in Nuancen. Wie Otto Normalverbraucher liege ich am Diwan und gebe mir auch nachher noch die Kommentare der Sportprominenz. Nicht immer, aber immer wieder. Heimische Liga sehe ich keine und Sportkanäle habe ich auch keine abonniert, geschweige denn, dass ich auf irgendetwas wette. Auch in die Stadien treibt es mich nicht. Aber wer weiß, was einem im Leben nicht noch alles einholt.

Nicht, dass ich da jetzt groß mitfiebere oder gar Fan wäre. Über Fanartikel verfüge ich nicht. Mein Verhältnis zum Fantum ist, weil reflektiert, sowieso ein gebrochenes. Derweil kommt eine gewisse Begeisterung ohne Hirn ausschalten wohl nicht aus. Dummheit ist die sinnliche Übereinstimmung mit dem äußeren Schein der Welt. Ohne Dummheit wäre das Leben nicht auszuhalten. Das Problem ist auch nicht die Dummheit, sondern dass sie flächendeckend grassiert, nicht bloß in einigen Refugien sich aufführt. Aber das wäre eine andere Frage.

Mein Vergnügen ist nur wenig durch Parteinahme aufgeladen. Von überladen gar keine Spur. Eins hat natürlich so seine Sympathien und Antipathien, extrem ausgeprägt sind die meinigen nicht. Eine gewisse Präferenz gibt es (ganz obligat) für den FC Barcelona. Bestimmte Clubs mag ich nicht, vor allem die von diversen Oligarchen ausgehaltenen Vereine wie Chelsea, Manchester City oder Paris Saint-Germain sind mir a priori zuwider. Typen wie Ronaldo oder Ibrahimovic sind kaum erträglich, gerade auch als Fußballer. Aber Bayern unter Pep Guardiola macht selbst Leute wie Ribery, Robben, Müller zu einem gefälligen Erlebnis, das man sich vorher gar nicht hat vorstellen können. (Vielleicht bin ich hier auch geblendet, weil Guardiola und ich die Lyrik von Miquel Martí i Pol sehr schätzen. Dessen Band "La fàbrica" ist übrigens 2014 im Augsburger Maro Verlag erschienen.)

Was mich da eigentlich bewegt? Es ist nicht vorrangig das Match, sondern das Spiel. Aber ist es nur das Spiel? Ist es nicht auch die leicht konsumierbare Kost, die mich zu dieser Passion bewegt, in der alles vergessen werden kann, was draußen flüchtet und friert. Zweifellos, es ist das auf Unterhaltung disponierte Spiel, das die wesentlichen Probleme entfleuchen lässt und die Depression aus Welt und Herbst verdrängt. Mühelos.

Was mich zunehmend stört wie verstört, das sind die maßlosen Tätowierungen, die ich mir da anschauen muss. Kaum ein Ballarbeiter, der nicht unter die Nadel gekommen wäre und sich flächendeckend Extremitäten hat verunstalten lassen. Selbst der kurze Messi musste sich seinen Arm herrichten, als sei er in den Fleischwolf geraten. Wozu dieses Punzieren? Warum dieser Hang zur Selbstverletzung? Nicht wenige Athleten sehen aus wie nach einem schweren Verkehrsunfall mit Verbrennungen unbestimmten Grades.

Beim Fußballspiel kann man sich am Spiel delektieren, aber auch andererseits rein an den in Toren gemessenen Ergebnissen interessiert sein. Wobei diese beiden Pole sich nicht ausschließen. Was allerdings monetär zählt, ist das Resultat, da mag man noch so schön gespielt haben. Natürlich weiß ich, was da in der Branche geld- und deppenmäßig abgeht. Der nächste Megaskandal lugt schon ums Eck. Aber mein Gefühl will in diesen Stunden nicht einmal ahnen, was ich so weiß. Sei kein Spielverderber, sagt es, gib dich hin, spiel ganz einfach mit. Und ich, der ich in vielem ein großer Verweigerer bin, spiel eh so wenig mit. Na also. Mein Verhalten möchte ich weder proklamieren noch verteidigen, mich dafür aber auch nicht geißeln. Manchmal wundert es mich, dann aber wiederum auch gar nicht. Nicht, dass es sei wie es sei, will ich damit sagen, aber dass es sei, gilt es schon festzuhalten. Und was es sei, umtreibt mich immer wieder...

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Euro gegen Einheit*

Ein "europäisches Deutschland" kämpft um einen deutschen Euro

von Tomasz Konicz

"President Mitterrand [said] the sudden prospect of re-unification had delivered a sort of mental shock to the Germans - its effect had been to turn them once again into the bad Germans they used to be."

(Gesprächsnotiz des Thatcher-Beraters Charles Powell über ein Treffen mit François Mitterrand am 20.01.1990)


Die Ursprünge des "Deutschen Europa" lassen sich bis zu einer Epoche zurückverfolgen, in der Deutschlands Politeliten - in Anlehnung an ein Zitat Thomas Manns aus den 1950er Jahren - nur von einem "europäischen Deutschland" sprechen wollten. Es war die Umbruchszeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und vor der deutschen Wiedervereinigung, in der die Grundsteine für die gegenwärtige Machtkonstellation in Europa gelegt wurden. Der maßgeblich von Frankreich durchgesetzte Deal lautete: Euro gegen Einheit.

Erst die 2010 erfolgte Veröffentlichung von Geheimprotokollen im Wochenmagazin Spiegel brachte das volle Ausmaß der Vorbehalte Frankreichs gegenüber der Wiedervereinigung ans Licht, die nur durch die Verpflichtung Berlins zur Einführung einer europäischen Gemeinschaftswährung überwunden werden konnten. Der Euro war die deutsche "Gegenleistung für die Einheit", so der Spiegel. ("Der Preis der Einheit", Spiegel 39/2010) Mittels der europäischen Gemeinschaftswährung und einer strikten Einbringung Deutschlands in europäische Strukturen sollten imperiale deutsche Alleingänge, sollte eine Rückkehr des verhängnisvollen deutschen Nationalismus verhindert werden.

Niemals gab sich die bundesrepublikanische Politelite europäischer als am Vorabend der Wiedervereinigung. Diese Betonung eines in europäischen Strukturen aufgehenden Deutschland sollte europaweite Widerstände gegen die Vergrößerung der Bundesrepublik - und den daraus resultierenden Machtzuwachs - minimieren. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher brachte diese pro-europäische Rhetorik anlässlich des 20. Jahrestages der Deutschen Einheit nochmals in Erinnerung, wie die Friedrich-Naumann-Stiftung berichtete:

"Zur Bestätigung, dass weder Polen noch Frankreich, weder England noch Tschechien ein erneutes Hegemonialstreben zu fürchten hatten, zitierte der Bundesaußenminister a. D. damals wie heute Thomas Mann: 'Wir wollen ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa.' Dies wurde mit großem Applaus vom Publikum bestätigt." ("Ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa", freiheit.org, 24.04.2009)

Eine neue Supermacht

Die Vorbehalte und Widerstände der europäischen Staaten gegen eine Vergrößerung der Bundesrepublik, die mittelfristig mit einem Machtzuwachs Berlins in Europa einhergehen würde, sind gut dokumentiert. Der Spiegel berichtete im besagten Artikel im September 2010 von der "eisigen Atmosphäre", die dem damaligen deutschen Außenminister Genscher und Kanzler Helmut Kohl am 8. Dezember 1989 bei dem EG-Gipfel in Straßburg entgegenschlug, bei dem die deutsche Wiedervereinigung wie die kommende Währungsunion diskutiert wurden. Zehn Tage zuvor haben die Deutschen - im kühnen Vorgriff auf künftige Machtverhältnisse - ohne weitere europäische Konsultationen einen Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung veröffentlicht:

"Ein Regierungschef nach dem anderen wendet sich gegen Deutschlands Drang nach schneller Vereinigung. ... Nur mit Mühe gelingt es den Deutschen, ihren EG-Partnern eine mit Vorbehalten und Bedingungen gespickte Zustimmung zur deutschen Einheit abzutrotzen. Im Gegenzug wird der französische Zeitplan für die Währungsunion im Prinzip abgenickt."

Es war somit nicht nur die britische "Eiserne Lady", Margaret Thatcher, die sich der Wiedervereinigung verbissen entgegenstemmte und prophetisch vor einer "Wiederkehr der Deutschen" warnte. Thatcher hat sich wiederholt öffentlich gegen die rasche Eingliederung der DDR in die BRD ausgesprochen, wobei sie immer wieder vor einem neuen deutschen Großmacht- und Hegemonialstreben warnte. In einem Interview mit dem Spiegel vom 26. März 1990 behauptete Thatcher gar, dass Kohl ihr gegenüber erklärt habe, die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen zu wollen. Zudem ahnte die machtbewusste britische Regierungschefin, dass die von Paris angestrebte Einbindung Berlins in die Europäische Gemeinschaft nicht dazu beitragen könne, das vergrößerte Deutschland "einzudämmen," wie Spiegel-Online am 11. September 2009 berichtete:

"The problems will not be overcome by strengthening the EC. Germany's ambitions would then become the dominant and active factor." ("The Iron Lady's Views on German Reunification: 'The Germans Are Back!'", 11.09.2009)

Die deutschen "Ambitionen" würden letztendlich auch auf europäischer Ebene zu einem "dominanten Faktor" avancieren, prognostizierte die rücksichtslose Machtpolitikerin Thatcher korrekt.

Entscheidend für den Verlauf der Wiedervereinigung sowie der "Europäischen Integration" war aber der Widerstand in Paris, der vom damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand ausging. Der Spiegel fasste die Ängste des französischen Staatschefs im besagten Artikel folgendermaßen zusammen:

"Der Herr im Elysée sieht an der Ostgrenze seines Reichs eine neue Supermacht entstehen, deren Geld den Kontinent dominiert und deren politisches Gewicht die europäische Nachkriegsordnung sprengt."

Obwohl er sich öffentlich mit kritischen Tönen bezüglich der von Kohl und Genscher im halsbrecherischen Tempo forcierten Wiedervereinigung zurückhielt, war der französische Präsident bei Vier-Augen-Gesprächen umso deutlicher. Eine Wiedervereinigung würde Deutschland mehr Einfluss in Europa verschaffen als "Hitler jemals hatte", warnte Mitterrand bei Konsultationen mit der britischen Regierungschefin am 20. Januar 1990. Europa drohe die Wiederkehr der "bösen Deutschen", wie man sie aus der Vergangenheit kenne, so der französische Staatschef laut einem Bericht der Financial Times. ("Mitterrand feared emergence of 'bad' Germans", 09.09.2009)

Dabei war die Haltung der beiden westeuropäischen Großmächte zur deutschen Wiedervereinigung durch substanzielle Interessendifferenzen geprägt, wie der ehemalige britische Botschafter in Bonn, Sir Christopher Mallaby, im Interview mit dem Focus ausführte:

"Es gab noch einen entscheidenden Unterschied: Die Franzosen wollten etwas von den Deutschen, nämlich den Euro. Der Preis der Franzosen für die deutsche Einheit war die gemeinsame europäische Währung. Mitterrand hatte ein Ziel. Im britischen Außenministerium haben wir damals lange nach etwas gesucht, das wir den Deutschen abverhandeln könnten. Zu meinem großen Bedauern aber haben wir nichts entsprechend Wichtiges gefunden." ("Insgeheim sehr hilfsbereit", Focus-Online, 09.11.2009)

Während Thatcher - die mit ihrer antideutschen Haltung auch innerhalb ihrer Administration zusehendst isoliert war - sich öffentlich exponierte, konnte Mitterrand in aller Stille die diplomatischen Kanäle nutzen, um das Projekt einer europäischen Währungsunion zu realisieren. Die Financial Times argumentierte im besagten Artikel, dass Mitterrand ein "gerissenes Spielchen" betrieb, bei dem die "Eiserne Lady" dazu verleitet wurde "zunehmend feindselige öffentliche Bemerkungen über die Wiedervereinigung zu machen, die Großbritannien marginalisierten".

Die harschen öffentlichen Auftritte Thatchers sollten dieser Hypothese zufolge die französische Haltung als "gemäßigt" erscheinen lassen und somit Berlin zu der Annahme der französischen Bedingungen motivieren. Spätestens nach dem Treffen zwischen Kohl und Mitterrand auf dem Landsitz des französischen Präsidenten bei Latché Anfang Januar 1990 haben sich Berlin und Paris auf "beide anstehenden Vereinigungsprojekte" - die Einheit wie die europäische Gemeinschaftswährung - geeinigt, berichtete der Spiegel. "Nach Latché hat Mitterrand der deutschen Einheit keinen Widerstand mehr entgegengesetzt", erklärte Kohl-Berater Bitterlich dem Nachrichtenmagazin.

Das "beste Geschäft" seines Lebens

Im Schatten dieser französisch-britischen Differenzen konnte Berlin somit die rasche Osterweiterung der Bundesrepublik realisieren - denn von den USA und der Sowjetunion wurden der Wiedervereinigung kaum Steine in den Weg gelegt. Die Bush-Administration in Washington, die als einzige westliche Regierung im Voraus von den kohlschen Wiedervereinigungsplänen (dem besagten Zehn-Punkte-Plan) informiert wurde, von denen Paris und London erst aus den Massenmedien erfuhren, bestand nur auf einer festen Einbindung der vergrößerten BRD im westlichen Bündnissystem, namentlich in NATO und EG.

Die in Auflösung befindliche Sowjetunion hat sich hingegen ihren Abzug aus der DDR für ein läppisches Taschengeld abkaufen lassen. Es sei das "beste Geschäft" seines Lebens gewesen, als er den Abzug von 500.000 Sowjetsoldaten und 30.000 Panzern für gerade mal 15 Milliarden Mark in Moskau aushandeln konnte, bemerkte der ehemalige Finanzminister Waigel bei einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. ("Der Euro ist mein Schicksal", 17.05.2010) Ein Teil dieser Summe, drei Milliarden Mark, entfiel auch noch auf Kredite. Wenn die "Russen" für den Abzug aus der ehemaligen DDR "75 Milliarden gefordert hätten, hätten wir das vielleicht gezahlt. Zahlen müssen," so Waigel gegenüber der SZ: "Der spätere russische Finanzminister Schochin sagte mir, sein Vorgänger, mit dem ich den Abzug verhandelt hatte, leide unter einem Waigel-Trauma. Weil er vergessen habe, bei seiner Forderung eine Null anzuhängen."

Neben diesen "Peanuts", die Berlin der zusammenbrechenden Sowjetunion überweisen musste, blieb nur die Verpflichtung zur Einführung einer europäischen Währung als einzige substanzielle Bedingung der deutschen Wiedervereinigung übrig. Damit glaubte man in Paris, dem erstarkenden Deutschland ein zentrales wirtschaftspolitisches Machtinstrument - die Deutsche Mark - aus der Hand nehmen zu können.

Ökonomische Disparitäten

Das Projekt einer europäischen Währungsunion wurde schon Mitte der 80er Jahre - gemeinsam mit einer Reihe weiterer Integrationsprojekte wie einer politischen Union - auf die europäische Agenda gesetzt. Die Tendenzen zu einer verstärkten internationalen, europäischen Koordination und Kooperation, zum Ausbau eines europäischen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung waren somit schon vor der Debatte um die Wiedervereinigung virulent, da sie einen spezifisch europäischen Auswuchs der allgemeinen Tendenz des Spätkapitalismus zur Ausbildung der krisenhaften Dynamik der Globalisierung bildeten. Doch wurden diese - durch zunehmende ökonomische Spannungen angefachten - wirtschaftlichen Europäisierungsbemühungen durch die gegebenen Interessengegensätze zwischen Berlin und Paris, sowie zwischen dem ökonomischen Zentrum und der südlichen Peripherie der Europäischen Gemeinschaft unterminiert.

Dieser währungspolitische Gegensatz, der aus den ökonomischen Disparitäten in der künftigen Eurozone resultierte, bestand zwischen den "Inflationsländern des Südens und dem sogenannten Hartwährungsgürtel um Deutschland und die Niederlande", wie es der Spiegel im genannten Bericht formulierte. Die zunehmende wirtschaftliche Überlegenheit der avancierten und hochproduktiven deutschen Industrie zwang die Südeuropäer - etwa Italien - wie auch Frankreich immer wieder zu Währungsabwertungen, die einem Wertverlust gegenüber dem Ausland gleichkommen.

Die Abwertung der eigenen Währung, die zumeist Ausdruck ökonomischer Unterlegenheit ist, bildet ein zweischneidiges Schwert: Zum einen wird die Konkurrenzfähigkeit der eigenen, heimischen Industrie gegenüber der überlegenen ausländischen Konkurrenz wiederhergestellt, doch andrerseits geht damit auch ein Wertverlust im Binnenland einher, der zu Kapitalabflüssen führen kann. Letztendlich mussten die europäischen Staaten immer auf die Entscheidungen der Bundesbank reagieren, die somit letztendlich deren Politik entscheidend mitprägte. Die Bundesrepublik konnte somit vermittels der Dominanz der D-Mark europäische Wirtschaftspolitik betreiben - und es war diese bereits vor der Wiedervereinigung gegebene ökonomische Überlegenheit, die Paris im Rahmen des Euro zu neutralisieren trachtete.

Ab den 80er Jahren waren französische Währungspolitiker und Banker regelrecht abhängig von den Entscheidungen der Bundesbank, wie der Spiegel unter Verweis auf die "perfide Zweiklassenordnung" des europäischen Währungssystems vor 1989 ausführte:

"Den Vorteil hat die deutsche Exportwirtschaft, die davon profitiert, dass die europäischen Wechselkurse innerhalb gewisser Bandbreiten festgeschrieben sind. Den Nachteil haben die Pariser Finanz- und Geldpolitiker. Sie sind dem demütigenden Diktat der Bundesbank wehrlos ausgeliefert. Jedes Mal wenn die Frankfurter Währungshüter die Zinsen erhöhen, müssen die Franzosen nachziehen. Und jedes Mal, wenn die Preise links des Rheins mal wieder schneller geklettert sind als auf der anderen Seite des Stroms, bleibt Paris nichts weiter übrig, als den Franc abzuwerten: ein weltweit registriertes Signal der ökonomischen Unterlegenheit. 'Was für uns die Atombombe ist', heißt es im Elysée-Palast, 'ist für die Deutschen die D-Mark.'"

Paris war somit immer weniger in der Lage, eine eigenständige, auf die binnenwirtschaftlichen Notwendigkeiten eingestimmte Geldpolitik zu machen - stattdessen musste man den deutschen Vorgaben folgen. Diesen geldpolitischen Vorteil wollte Berlin nicht aus der Hand geben. Deswegen bemühte sich die Bundesregierung um Kanzler Kohl in den 80ern aus einem ökonomischen Kalkül heraus, dieses Projekt einer europäischen Gemeinschaftswährung nach Möglichkeiten zu verzögern oder zu torpedieren.

Zudem verweist das obige Spiegel-Zitat auf einen ersten Vorstoß, die europäische Einheitswährung mittels eines engen Wechselkursregimes vorzubereiten. Im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) wurden ab Anfang der 1980er Jahre sehr enge Grenzen für Wechselkursfluktuationen zwischen den europäischen Währungen vereinbart, um die Währungsabwertungen in der südlichen Peripherie zu begrenzen, wobei die Notenbanken der einzelnen am EWS beteiligten Staaten auf den Währungsmärkten intervenieren sollen, falls die Kursschwankungen bestimmte enge Toleranzwerte überschreiten sollten.

Zusammenbruch des EWS

Im Endeffekt führte zeitweilig dieses "Einfrieren" der Wechselkurse europäischer Währungen zu einem massiven Anstieg der deutschen Exportüberschüsse gegenüber den anderen EWS-Staaten, da diese nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die zunehmende Überlegenheit der deutschen Exportindustrie reagieren konnten. Der Schutz vor Währungsabwertungen - und somit vor dem Wertverlust der eigenen Währung - bei den EWS-Ländern wurde folglich mit steigenden Exportdefiziten gegenüber der BRD erkauft.

Und es waren nicht zuletzt diese - rückblickend betrachtet noch relativ harmlosen - Ungleichgewichte, die zum Zusammenbruch des EWS führten, nachdem spekulative Angriffe auf die britische Währung ihr Ausscheiden erzwangen. Bekanntlich hat der Finanzmagnat George Soros ("Der Mann der die Bank von England sprengte.") mittels einer erfolgreichen Spekulation 1992 das Ausscheiden des britischen Pfunds aus dem EWS erzwungen. Hiernach wurde die Bandbreite der möglichen Währungsfluktuationen innerhalb des EWS wieder erhöht, sodass hier in den 90ern im Endeffekt eine Freigabe der Kurse erfolgte. Neben der berühmten Spekulation von George Soros war es aber übrigens gerade die deutsche Hochzinspolitik in den 90er, die den letzten Sargnagel für das EWS brachte. Konfrontiert mit den rasch ansteigenden Kosten der Wiedervereinigung führte Berlin eine Hochzinspolitik, um möglichst viel Kapital anzulocken. Diese Politik der Bundesbank hatte Kapitalabflüsse mitsamt drohenden Währungsabwertungen in etlichen EWS-Staaten zur Folge, sodass 1993 auch Italien das EWS verlassen musste - die Bundesbank verweigerte den italienischen Partnern die eigentlich zugesagten Stützungskäufe.

Deswegen stiegen Deutschlands Exportüberschüsse auch nach dem Abschluss der mit der Wiedervereinigung einhergehenden Kapitalexpansion in Ostdeutschland zu Beginn der 90er nicht mehr an - das EWS gab es in der Form der 80er mitsamt der engen Währungsanbindung nicht mehr. Zudem war die Bundesrepublik tatsächlich mit den besagten, exorbitanten Kosten der desaströs verlaufenden Wiedervereinigung in der ersten Hälfte der 90er Jahre vollauf ausgelastet, als die Vernichtung eines großen Teils der staatssozialistischen Industriekapazitäten in Ostdeutschland wirtschaftliche Brachlandschaften und regelrechte sozioökonomische Notstandsgebiete entstehen ließ.

Erst mit der Einführung des Euro stiegen wieder Deutschlands Exportüberschüsse. Rückblickend betrachtet bildete diese wirtschaftshistorische Episode im Rahmen des EWS also ein Vorspiel auf die gegenwärtige Tragödie im Rahmen des Euro, die ja im Gegensatz zu den 1980er noch mittels einer gezielten Politik aggressiver Exportausrichtung von den deutschen Funktionseliten gezielt forciert wurde.

Insofern war eigentlich schon 1989 ersichtlich, welche Folgen eine europäische Gemeinschaftswährung haben würde: rasch ansteigende deutsche Exportüberschüsse, die im Gegenzug zu ausartenden Defiziten - und somit Schulden! - in der restlichen Eurozone führen müssen. Die obige Prognose der brutalen Machtpolitikerin Thatcher, wonach die "deutschen Ambitionen" nach einer Wiedervereinigung auch in einem eng integrierten Europa den "dominanten Faktor" darstellen würden, war somit nicht aus der Luft gegriffen.

Doch Paris glaubte während der Auseinandersetzungen um die Wiedervereinigung, dass einzig eine gemeinsame europäische Währung Deutschlands künftige Hegemonialambitionen zügeln könnte. Die Währungspolitik bildete 1989 - auch aufgrund des EWS - das am weitesten gediehene Feld europäischer Integration, auf dem Frankreich seine Bemühungen um eine möglichst enge europäische Integration des wiedervereinigten Deutschlands forcieren konnte. Hubert Védrine, ehemaliger Berater von Präsident François Mitterrand, erklärte gegenüber dem Spiegel: "Mitterrand wollte keine Wiedervereinigung ohne einen Fortschritt bei der Europäischen Integration. Und das einzige Terrain, das vorbereitet war, war die Währung."

Tatsächlich beauftrage der Europäische Rat 1988 eine hochrangige Kommission unter dem Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, einen Entwurf für eine Währungsunion auszuarbeiten. Dieser Stufenplan, der wichtige Streitpunkte zwischen Paris und Berlin ausklammerte, wurde dann im Sommer 1989 vorgelegt - und er stieß auf allgemeine Zustimmung innerhalb der deutschen Politeliten aus allen Bundestagsparteien. Schon im Februar 1992 wurde der Maastricht-Vertrag unterschrieben, der die Grundlagen der europäischen Währungsunion schuf.

Konkurrenz ohne Grenzen

Da die Bundesregierung dieses Junktim zwischen Wiedervereinigung und Euroeinführung letztendlich akzeptieren musste, ging man in Berlin daran, alle Verhandlungsenergie auf die Ausgestaltung eben dieser Währungsunion zu verwenden. Das "europäische Deutschland" begab sich somit in einen verbissenen Kampf um den Euro, der möglichst deutsch werden sollte. Die weiterhin bestehenden Spielräume bei der Ausgestaltung einer Währungsunion sollten bestmöglich ausgenutzt werden.

Der als "Mr. Euro" titulierte Mann, der das Projekt der europäischen Einheitswährung maßgeblich prägen sollte, wurde am 21. April 1989 von Bundeskanzler Helmut Kohl in das Amt des deutschen Finanzministers berufen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat den CSU-Mann Theo Waigel gerade deswegen ins Amt berufen, weil er "einen durchsetzungsfähigen Finanzminister brauchte", so erinnert sich der Tagesspiegel, "nicht nur mit Blick auf den Bundesetat, sondern wegen Europa und der geplanten Einheitswährung und der sich nun schon abzeichnenden deutschen Einheit." ("Der Mann, der dem Euro seinen Namen gab", 22.04.2014)

Und Theo Waigel setzte sich durch - der Euro wurde zu einem strikt neoliberalen Projekt, das eigentlich nur den monetären Rahmen für den von sozialen Mindeststandards nahezu unbehelligten Konkurrenzkampf der einzelnen daran beteiligten Nationalökonomien lieferte. Der Verzicht auf jegliche soziale Mindeststandards innerhalb des neuen Währungsraums und die restriktiven Maastricht-Kriterien, die durch Waigel durchgesetzt wurden, bereiteten den Boden für den totalen Konkurrenzkampf zwischen den "Wirtschaftsstandorten" der Eurozone. Letztendlich bildete dieses Rahmenwerk des Euro die Vollendung der dominanten neoliberalen Ideologie: Konkurrenz ohne Grenzen.

Der Maastricht-Vertrag von 1992 bot hierfür die besten Voraussetzungen, da hier bereits die neoliberalen Grundzüge der Europäischen Union festgeschrieben wurden. Die berüchtigten "Konvergenzkriterien" der EU sollten vorgeblich die Stabilität der neuen Währung gewährleisten, wobei sie sich ganz an den monetaristischen, auf einseitige Geldwertstabilität abzielenden Vorstellungen Deutschlands und der europäischen "Hartwährungsländer" orientierten. Dieses Bündel verbindlicher Vorgaben, die Haushalts-, Preisniveau-, Zinssatz- und Wechselkursstabilität gewährleisten sollten, musste bis zur Euroeinführung von denjenigen Eurostaaten erfüllt werden, die der Gemeinschaftswährung beitreten wollten. Die haushaltspolitischen Auflagen wurden sogar dauerhaft festgeschrieben. Demnach müssten die Euroländer ihre Neuverschuldung unter drei Prozent des BIP halten und die öffentliche Gesamtverschuldung sollte nicht über 60 Prozent des BIP ansteigen.

Wer in den exklusiven Euroklub überhaupt Einlass erhalten sollte, war somit keineswegs klar. Doch kein peripherer EU-Staat wollte außerhalb der Eurozone verbleiben, da dies mit massiven sozioökonomischen Nachteilen einherginge: Währungsabwertungen, massive Kapitalflucht und damit einhergehende Konjunktureinbrüche wurden befürchtet. Die in den Euroklub aufgenommenen Staaten konnten zudem darauf hoffen, Vorteile aus einem ähnlich günstigen Zinsniveau zu ziehen, wie es in der BRD üblich war. Diese Hoffnungen in der südlichen Peripherie Europas, mittels des Eurobeitritts auch die halbperiphere Stellung im Kapitalistischen Weltsystem zu verlassen, bildeten die wichtigste Triebkraft der Integrationsbemühungen in diesen Ländern - und dies war auch der deutschen Politelite nur zu bewusst, die den Preis für die Aufnahme in den Euroklub in die Höhe trieb.

Berlin konnte sich somit dahin gehend durchsetzen, dass die Einhaltung der neoliberal-monetaristischen "Spielregeln" des neuen Währungsraums zu einer Vorbedingung für die Teilnahme an diesem europäischen "Integrationsprojekt" wurde. Letztendlich löste Maastricht somit ein europaweites neoliberales Rattenrennen aus, bei dem vor allem in den südeuropäischen Volkswirtschaften eine erste Kürzungs- und Kahlschlagsorgie in den öffentlichen und sozialen Sektoren durchgeführt wurde, um den Maastrichter "Konvergenzkriterien" zu genügen und so in den begehrten Euroklub aufgenommen zu werden. In der Monatszeitschrift Konkret vom Januar 1996 ("Euro-Bubble IV") findet sich eine fast schon prophetische Einschätzung dieser ersten neoliberalen Rosskur:

"Insofern ist das, was seit dem Beginn der 'zweiten Stufe' des Zeitplans zur Währungsunion (1. Januar 1994) z.B. in Portugal, Spanien, Italien oder jetzt in Frankreich durchgezogen wird - der Versuch der Mitgliedsstaaten, mittels sozial- und wirtschaftspolitischer Roßkuren die monetaristischen Zielsetzungen der 'Konvergenzkriterien' zu erfüllen -, erst der Anfang dessen, was nach 1999 oder später zur Normalität werden soll, wenn denn die Einheitswährung da ist." (Konkret 01/1996, "Euro-Bubble IV")

Drohung mit "Kerneuropa"

Die Taktik, mit der Berlin diesen offenen währungspolitischen Integrationsprozess beeinflussen konnte, ist somit recht einfach: Zur Not werde Deutschland die Währungsunion mit sich selbst vollziehen - das war die Drohung der deutschen Politeliten, mit der eine möglichst weitgehende Durchsetzung der deutschen Forderungen realisiert wurde. In dem Zeitraum zwischen 1992 und 1996 stellten prominente deutsche Politiker, Spitzenbeamte oder Wirtschaftsfunktionäre immer wieder die Teilnahme einzelner europäischer Volkswirtschaften am Euro, wie auch die Realisierung der Eurozone im Rahmen des Maastricht-Vertrags infrage.

Die bereits erwähnte Weigerung der Bundesbank, Italien im Herbst 1993 während der besagten ESM-Währungsturbulenzen - die ja durch die Hochzinspolitik der Bundesbank verstärkt wurden - mit Stützungskäufen zu unterstützen und so dessen Ausscheiden aus dem Europäischen Währungssystem zu verhindern, kann gerade als Teil dieser Stratege verstanden werden: Wenn es sein muss, macht Deutschland seine Währungsunion mit sich selbst - eine Währungsunion der "Hartwährungsländer", bei der es keinerlei soziale Komponente geben darf, die den drohenden ökonomischen Ungleichgewichten entgegenwirken könnte.

Im Herbst 1994 legten die CDU-Hardliner Wolfgang Schäuble (damals als Fraktionsvorsitzender der CDU) und Karl Lamers ihr Konzept eines künftigen "Kerneuropa" vor, von dem Länder wie Italien, Spanien oder Großbritannien explizit ausgeschlossen werden sollten. Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande sowie Luxemburg sollten dieses Kerneuropa bilden, in dem Paris von "Hartwährungsländern" eingerahmt gewesen wäre. 1995 bekräftigte Finanzminister Theo Waigel seine Einschätzung, wonach Italien nicht in den Euro aufgenommen werden könne. Ähnliches war im gleichen Jahr aus der Bundesbank unter ihrem damaligen Chef Hans Tietmeyer zu hören, deren Funktionäre die Realisierung des Euro-Projekts unter Einschluss der südlichen Peripheriestaaten öffentlich anzweifelten. Widerstände gab es auch in den Reihen des deutschen Finanzkapitals: Ein Sprecher der Commerzbank erklärte 1995, dass man sich eine Eurozone auch ohne Frankreich vorstellen könne.

Ähnliche Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung wurde auch aus Teilen der SPD laut, die dieses Projekt gänzlich infrage stellten. Die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zunehmenden Differenzen beim Europakurs des deutschen Politestablishments äußerten sich beispielsweise in der offenen Kritik des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt an der Bundesbank, deren Funktionäre dem Euro durch ihre Kritik "politisch und psychologisch den Boden" entzögen, so Schmidt wörtlich.

Diese europapolitischen Auseinandersetzungen sind Ausdruck einer fundamentalen Neuorientierung deutscher Machtpolitik in dieser essenziellen Frage. Die vorbehaltlose Unterstützung der europäischen Integration der frühen 90er Jahre, das Bekenntnis zum "Europäischen Deutschland", weicht der Forderung nach der Ausformung eines "Deutschen Europa". Sollte dies nicht möglich sein, werden wieder neoimperialistische "Kerneuropa-Konzepte" ins Spiel gebracht, die letztendlich auf einen deutschen Alleingang - inklusive weniger sozioökonomischer Vasallen - abzielen. "Wir können auch anders, wenn unsere europapolitischen Vorstellungen nicht realisiert werden"; dies war die implizite Drohung der deutschen Europadebatte seit Mitte der 90er Jahre. Und diese Diskussionen über eventuelle "Alleingänge" der BRD kommen fortan immer wieder innerhalb der deutschen Funktionseliten an historischen Scheidewegen auf, etwa bei Ausbruch der Eurokrise.

Diesen Sinneswandel innerhalb der deutschen Politeliten brachte der besagte Konkret-Artikel aus dem Jahr 1996 sehr gut auf den Punkt:

"Wenn die EU mitzieht und wirtschafts- und finanzpolitisch, aber auch im Bereich der Außenpolitik (hier ist Schäubles Forderung einer 'außen- und sicherheitspolitischen europäischen Identität' die Vorgabe) nach deutschen Vorgaben agiert, ist alles in Butter. Wenn aber nicht, so die Botschaft Waigels, Schröders und Lafontaines, dann brauchen wir dieses Europa nicht. Das ist eine für linke europapolitische Positionen bedeutungsvolle Radikalisierung der deutschen Politik. Denn wer bislang davon ausging, dass eine Einbindung Deutschlands in das Räderwerk von EG und EU, von Wirtschafts- und Währungsunion, allemal besser sei als ein Alleingang des mächtigsten Mitgliedslandes, muss nun damit rechnen, dass dies im Ergebnis keinen Unterschied mehr macht."

In dieser Passage werden somit nur verschiedene Wege der Entfaltung des Deutschen vorgezeichnet: Großdeutschland oder Deutsches Europa. Auch hier wird korrekt prognostiziert, dass die europäische Einbindung der vergrößerten Bundesrepublik "im Ergebnis keinen Unterschied" zu einem hegemonialen "Alleingang" machen werde. Innerhalb der Logik größtmöglicher Machtakkumulation, die das kapitalistische Weltsystem den Staatsapparaten - parallel zur uferlosen Kapitalakkumulation auf den Märkten - diktiert, scheint die BRD schlicht "zu groß für Europa" zu sein, sobald dessen Politpersonal mit der Großmachtpolitik ernst macht: Das avancierte ökonomische Potenzial des bevölkerungsreichsten europäischen Staates verschafft dessen Funktionseliten ein optimales Instrumentarium zur Realisierung europäischer Hegemonialstrategien. Ohne eine geschlossene Abwehrfront der europäischen Staaten schlägt sich dieses deutsche Übergewicht früher oder später in der europäischen Machtkonstellation nieder.

* Der Artikel ist ein Auszug aus dem eben erschienen Buch des Autors: Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa, (Kapitel 2.1)



Tomasz Konicz
Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa
Unrast Verlag 2015, 192 Seiten, 14 Euro
ISBN 978-3-89771-591-2

Der Ausbruch der Eurokrise markiert die Geburtsstunde des "Deutschen Europa", in der die drückende ökonomische Überlegenheit der BRD in einen politischen Führungsanspruch umgewandelt wurde. Merkel und Schäuble bestimmten den Kurs der europäischen Krisenpolitik, die sich weitgehend an den Interessen der deutschen Exportindustrie ausrichtete. Im Buch soll die Durchsetzung dieser rücksichtslosen Politik Berlins, die Europa entlang der Verwertungsinteressen des deutschen Kapitals transformierte, ebenso beleuchtet werden wie die verheerenden! sozioökonomischen Folgen dieses deutschen Dominanzstrebens in der Peripherie der Eurozone. Es ist. eine Abrechnung mit einem verhängnisvollen Großmachtstreben der deutschen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft, das eine erstaunliche langfristige Konsistenz aufweist und auf ein altes Ziel hinarbeitet, an dessen Realisierung Deutschland bereits zwei Mal scheiterte: das Erreichen einer deutschen Hegemonie in Europa.

Eine Kernthese des Buches lautet daher: Die deutschen Funktionseliten unternehmen einen dritten historischen Anlauf, um die Position einer europäischen Hegemonialmacht zu erringen - wobei dieser dritte Griff nach der Macht in Europa mit ökonomischen Mitteln und Methoden als eine Art Wirtschaftskrieg, geführt wird.

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Symmetrische und asymmetrische Kriege

Von entfesselter Konkurrenz und Atomwaffen

von Uwe von Bescherer


"Ich geh mit meiner Laterne" (Kinderlied)

Eigentlich leben wir in einer schönen Welt. Ein ausreichendes Maß Ressourcen an Naturstoffen, hochtechnologisierte Produktionsmittel und die historisch gewachsenen menschlichen Fähigkeiten könnten für alle Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleisten. Dass es so ungeheuer vielen Menschen auf diesem Planeten in den verschiedensten Schattierungsstufen schlecht geht, ist völlig unnötig. Genauso wenig kann irgendjemand die sich in neuerer Zeit auf dem Erdball ausbreitenden Kriege gebrauchen, die die Tendenz zeigen, gar nicht mehr enden zu wollen. Dass etwas grundsätzlich nicht mehr stimmen kann auf dieser Welt, scheint langsam ins Allgemeinbewusstsein einzusickern. Ein Sprachrohr dieser Entwicklung ist Jorge Bergoglio, bekannter als Papst Franziskus. Im November 2013 ging der "Papst der Armen" in seiner ersten Lehrschrift "Evangelii Gaudium" ("Freude des Evangeliums") mit dem herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem mit den klaren Worten "Diese Wirtschaft tötet" ins Gericht und geißelte die "Globalisierung der Gleichgültigkeit". "Damit das System fortbestehen kann, müssen Kriege geführt werden, wie es die großen Imperien immer getan haben", sagte Bergoglio in einem Interview mit der spanischen Zeitung La Vanguardia. Mit seiner 2015 veröffentlichten Enzyklika "Laudato si' - Über die Sorge für das gemeinsame Haus" übt er harsche Kritik an der kapitalistischen Entwicklung und spricht von einem "strukturell perversen System". Er verurteilt den Finanzmarktkapitalismus und fordert soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz.

"Schön, schön war die Zeit" (Freddy Quinn)

Die Gemeinschaft der Christen braucht aber keine Angst zu haben, dass ihr Oberhaupt plötzlich zum "Leibhaftigen" selbst - zu einem Kommunisten! - mutiert wäre. Bergoglio bringt mit seiner Kritik nur seinen frommen Wunsch zum Ausdruck, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können in die Zeiten eines prosperierenden Fordismus mit sozialer Marktwirtschaft - ohne Finanzkapital und Globalisierung - und ohne zu wissen, dass die innere Dynamik kapitalistischen Wirtschaftens von diesem Punkt aus stets ähnliche katastrophale Ergebnisse hervorbringen würde. Die moralische Betrachtung der Oberfläche der kapitalistischen Krise und der romantisierende Blick in die Vergangenheit sind nicht mit einer marxistischen Analyse vergleichbar. Erst von dieser Warte aus nämlich werden der Systemzusammenhang von abstrakter Arbeit, betriebswirtschaftlicher Rationalität, Marktwirtschaft und Wachstumszwang und die gesellschaftliche Reproduktion über "Arbeitsmärkte" unter dem leitenden Selbstzweck des Geldkapitals erkennbar. Dieser Blick zeigt den inneren Zusammenhang zwischen dem historischen Stand der kapitalistischen Ökonomie und dem Charakter der dort stattfindenden Kriege und verhilft zu der Einsicht, dass die kapitalistische Gesellschaft kein bewusst initiierter und kooperativ vollzogener sozialer Stoffwechsel ist, sondern von einer vom Konkurrenzmodus geprägten und von Fetisch-"Gesetzen" getriebenen Marktlogik durchwirkt ist. Ohne die "Kritik der politischen Ökonomie" kann die Unbrauchbarkeit einer moralisierenden Differenzierung von "schaffendem" und "raffendem" Kapital, die Bergoglios Aussagen zugrunde liegt, nicht evident und kann der globalisiert-entfesselte Finanzmarkt nicht als Unfähigkeit des Kapitals, weiterhin gewinnbringend in die Realwirtschaft zu investieren, und somit als fundamentale Krisenerscheinung des kapitalistischen Systems dechiffriert werden.

"Alle gegen alle" (Laibach)

Eingebettet ins kapitalistische System stellen die Menschen ihre Vergesellschaftung über den Austausch von Waren unter dem Diktat der Konkurrenz her. Sie werden sozial erst dann relevant, wenn sie Ware gegen Geld, Geld gegen Ware, Arbeitskraft gegen Lohn etc. erfolgreich tauschen können. Wenn sie das aber nicht mehr können, sind sie in der Sphäre des Marktes entwertet, werden komplett uninteressant und eine Last für die Gemeinschaft. An diesem Brennpunkt entwickelt sich in den letzten Jahrzehnten weltweit ein Problem, das Robert Kurz in seinem Buch "Kollaps der Modernisierung" (1991) folgendermaßen zusammenfasst: "Die Konkurrenz zwingt und peitscht die Menschen in die abstrakte Verausgabung ihrer Arbeitskraft hinein, aber sie ist gleichzeitig das dynamische Prinzip, das tendenziell die 'Arbeit' aufhebt und obsolet macht durch ihren anderen, ebenso unerbittlichen Zwang zu immer neuen Produktivitäts- und Verwissenschaftlichungsschüben." (S. 86) Der Erfolg oder Misserfolg einer Kapitalinvestition und das Ausstechen der Konkurrenten entscheiden sich am Kriterium des "billigsten Warenangebots", das nur den Unternehmen mit der höchsten Produktivität eine Überlebenschance lässt. Da Produktivität aber nichts anderes heißt, als mit möglichst geringem Aufwand lebendiger Arbeit eine große Masse an Produkten herstellen zu können, hat das Kapital ein vitales Interesse, die Last der Kosten menschlicher Arbeitskraft durch Technologisierung der Produktion zu minimieren. Jede Innovation soll noch mehr Menschen und Arbeitsplätze einsparen.

Mit der dritten industriellen Revolution, d.h. der Durchsetzung und Verallgemeinerung der neuen elektronischen Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnologien, wurde die Anwendung des Wissens auf die Produktion endgültig zur Hauptproduktivkraft. Das verschaffte dem Kapital zwar einen bisher ungekannten Freiheitsgrad gegenüber der Lohnarbeit, das Überflüssigmachen von Arbeitskraft im großen Stil blieb allerdings auch für das Kapital nicht ohne Folgen: Es verflüchtigt sich die "Substanz" allen ökonomischen Werts und mit ihm die zahlungskräftige Nachfrage nach Industrieprodukten mangels ausreichender Gelegenheit zum Verkauf von Arbeitskraft. Die Folgen sind Massenarbeitslosigkeit und große Billiglohnsektoren, die ein Abschmelzen der Kaufkraft auf den Binnenmärkten bewirken. Angewiesen auf den Verkauf eines gleichzeitig immer größer werdenden Warenausstoßes, ist das Kapital gezwungen, sich zu globalisieren, um auf dem Weltmarkt die Kaufkraft, die es noch gibt, auf sich zu ziehen. Die produktivitätsstärkeren Kapitale sind zunehmend auf allen Märkten der Erde gleichzeitig präsent, verschärfen damit die allgemeine Konkurrenzsituation und erzeugen mehr und mehr "Verlierer" im internationalen Maßstab.

"Highway to Hell" (AC/DC)

Als "ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich Engels) organisiert der Staat die allgemeinen Bedingungen für die Kapitalakkumulation und dient dem Kapital dadurch als Wegbereiter seiner stummen Funktionslogik. Dafür braucht er Geld, das er sich via Steuern und auf den Finanzmärkten besorgt. Die Höhe seiner Einnahmen richtet sich nach dem Erfolg der Kapitalakkumulation, gemeinhin als Wirtschaftswachstum bezeichnet, weshalb der Imperativ der gelungenen Kapitalverwertung zum Wesensbestand des Staates gehört. Es geht ihm um die Profilierung "seines" Standorts als Referenz für profitträchtige Investitionen, um freien Zugang zu möglichst vielen Märkten dieser Welt, um die hierarchische Optimierung der eigenen Position in der globalen Staatengemeinschaft und um den ungehinderten Zugriff auf strategische Rohstoffreserven. Die sich im globalen Maßstab aufheizende Konkurrenz um Marktanteile, die schwindende Kaufkraft, der dem kapitalistischen Wirtschaften inhärente Zwang zu stetiger Expansion und letztlich die Verschränkung des ökonomischen und politischen Willens zur Aufrechterhaltung des Automatismus der Weltmarktbewegung schließen die Option der militärischen Gewalt ein. Pazifismus war noch nie ein Prinzip der Herrschenden, gegen Gewalt als solche haben sie gar nichts. Wie uns die Geschichte lehrt, sind Krieg und Gewalt geradezu Kristallisationskerne, um die herum sich Staat und Kapitalismus formiert haben und die in Krisenzeiten wieder erkennbar werden. Der französische Sozialist Jean Jaurès formulierte es treffend mit den Worten: "Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen." Etwas weniger bildlich, aber ebenso zutreffend äußerte sich der preußische Generalmajor und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz: "So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln." Krieg ist demnach nichts anderes als ein politisch definierter Wille zur unbedingten Fortsetzung der Konkurrenz mit militärischen Mitteln, zur skrupellosen Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Sein Wesenskern umfasst alles nur vorstellbare menschliche Leid und Elend - den unnötigen und massenhaften Tod inklusive. Außerdem ist er die schrecklichste Art der Barbarisierung von Zwischenmenschlichkeit. Werfen wir ein Auge darauf, welche neuen Gesichter der Krieg in der heutigen Zeit zeigt.

"Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit" (Sanctus)

Wenn wir in Europa an Krieg denken, so fällt den meisten schon wegen der eigenen Familiengeschichte der Zweite Weltkrieg ein. Er gehört zu jener heute noch nicht abgeschlossenen Epoche der Kriegsgeschichte, in der die Staaten als faktische Kriegsmonopolisten aufgestellt sind und als Akteure gegeneinander antreten. Weniger die gleiche Stärke als vielmehr die organisatorische Gleichartigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich reziprok als Gleiche anerkennen. Die militärisch ausgetragenen Konflikte zwischen solchen Staaten werden "symmetrische Kriege" genannt.

Die USA gingen zweifelsohne als die stärkste Siegermacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Ihre damalige, im globalen Vergleich überwältigende ökonomische Macht erlaubte ihnen nach 1945 die "permanente Kriegswirtschaft" mit einer sich bis heute weiterentwickelnden technologischen Ausrüstung und militärischen Stärke, die die übrigen Mächte der Welt rasch deklassierte. Im Jahr 2014 beliefen sich die Ausgaben der USA für ihren Militärhaushalt auf fast 700 Milliarden US-Dollar; etwa 1000 Militärbasen, auf denen eine Viertelmillion Soldaten stationiert sind, sichern ihr jederzeit globale Eingreifoptionen. Der US-Militärhaushalt ist seit Jahrzehnten der höchste der Welt und war zeitweise sogar höher als jener der restlichen Welt zusammen. Zur vergleichenden Einordnung bietet sich Russland an, das für seine Streitkräfte im gleichen Jahr "nur" 85 Milliarden US-Dollar aufwendete und weltweit über gerade einmal 25 Militärbasen hauptsächlich in ehemaligen Sowjetrepubliken verfügt. Die Armee der Vereinigten Staaten ist mit großem Abstand die bestausgerüstete, mobilste und schlagkräftigste Kriegsmaschinerie, die die Menschheit jemals gesehen hat.

Mit der Entwicklung der Atombombe vollzog die Militärtechnologie allerdings einen Qualitätssprung, der wiederum die konventionellen Heeresteile in ihrer militärischen Bedeutung erschreckend relativierte. Die Kernwaffe kann ganze Städte auf einen Schlag zerstören, viele hunderttausende und sogar Millionen Menschen töten und als destruktivste aller Massenvernichtungswaffen einen Krieg in kürzester Zeit entscheiden. Wenn nur ein einzelner Staat mit Atombomben bestückt wäre, würde das die absolute Vormachtstellung in der Konkurrenz der Welt bedeuten. Erstmalig eingesetzt wurde die militärische Kernwaffentechnologie auf Befehl des US-Präsidenten Truman 1945 während schon laufender Kapitulationsverhandlungen mit Japan durch den Abwurf zweier Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, zwei militärstrategisch völlig uninteressante Städte. Die Explosionen töteten etwa 92.000 Menschen sofort, fast ausschließlich Zivilisten. An Folgeschäden starben bis Jahresende 1945 weitere 130.000 Menschen. Es handelte sich um zwei verschiedenartig entwickelte Atombomben - die eine auf Uran-, die andere auf Plutoniumbasis aufbauend - die die USA noch vor Kriegsende auf ihre Kriegstauglichkeit hin "testeten". Derzeit besitzen die USA ein Atomwaffenarsenal von über 7000 Atomsprengköpfen strategischer und taktischer Art und können mit ihren Tarnkappenbombern und Interkontinentalraketen blitzschnell jeden Zipfel dieser Welt mit nuklearem Grauen überziehen.

Die forcierte Entwicklung der eigenen Nukleartechnik war die Reaktion der Sowjetunion auf "Little Boy" und "Fat Man", die makaber-lustigen Spitznamen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Im August 1949 zündete sie erfolgreich ihre erste eigene Atombombe und läutete damit den bis 1989 andauernden Kalten Krieg ein. Gekennzeichnet war die Ära des Kalten Krieges durch die Doktrin des Gleichgewichts des Schreckens (Mutually Assured Destruction, MAD, wörtlich übersetzt "wechselseitig zugesicherte Vernichtung"). Derzeit sind die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea eigenständig nuklear bewaffnet. Wie viele Nuklearwaffen notwendig wären, um alle denkbaren Gegner nuklear zu vernichten, haben Rüstungskritiker in einem Computermodell errechnet. Für Russland bräuchten die Amerikaner 51 Atomwaffen, für China wären wegen der sehr viel größeren Bevölkerung 368 nukleare Sprengsätze nötig. Umgekehrt könnten die USA mit 124, die gesamte Nato mit 300 Atomwaffen ausradiert werden.

Der Nuklearwissenschaftler Alan Robock beschreibt eindrücklich, was passieren würde, wenn im Kriegsfall 50 Atombomben innerhalb eines kurzen Zeitraums zum Einsatz kämen. An den unmittelbaren Folgen der Atomwaffen wie der Druckwelle, der Radioaktivität und der Feuerstürme sowie der massiven Verschmutzung würden Millionen Menschen in den unmittelbaren Explosionsgebieten sterben. Aber die Feuerbrünste hätten durch die Entwicklung ungeheurer Rauchmengen eine noch viel umfassendere Wirkung. Der Rauch würde in der Stratosphäre über die ganze Erde verweht und die Temperaturen sehr rasch auf ein Niveau unterhalb der Kleinen Eiszeit (zwischen 1600 und 1850) sinken lassen. Bei einer weiteren Erhöhung der Rauchmenge käme es zu einem "nuklearen Winter", der sich auf das gesamte Leben auf der Erde extrem zerstörerisch auswirken würde.

Die Atommächte der Welt verfügen nicht über 50, sondern über etwa 16.300 Atomsprengköpfe. Welche desaströsen Auswirkungen der Einsatz von nukleartechnologischen Produkten hat, wissen alle. Trotzdem wird vor allem in den USA seit Beendigung des Kalten Krieges fieberhaft daran geforscht, wie Atomkraft zum militärischen Einsatz kommen kann, ohne dass gleich die ganze Welt untergeht. Im Umgang mit der Nukleartechnik bestätigt sich leider die These von Günther Anders, "dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind ... und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein, zu sollen, nein, zu müssen".

Das Projekt NMD (National Missile Defense), geläufiger unter dem Namen US-Raketenschutzschild, dient der Militarisierung des Weltalls. Mit gigantischem Wissenschaftsaufwand wird der Zweck dieses Projekts vorangetrieben, anfliegende Interkontinentalraketen mit satellitengestützter Überwachung zu erkennen und entweder bereits nahe der Abschussrampen, auf ihrer Bahn im Weltall oder während des Sinkfluges in der Erdatmosphäre mittels Raketen oder Lasern zu zerstören. Auf diese Weise soll ein Verteidigungsschutzschild für die Vereinigten Staaten realisiert werden, der freilich auch zum Abfangen von Gegenschlägen einer feindlichen Atommacht taugt und damit den atomaren Angriffskrieg vonseiten der USA möglich werden lässt.

Begleitet von einer Propagandakampagne zur "Heimatverteidigung" ließ das Pentagon parallel dazu eine "gering wirksame" Atomwaffe - die sogenannte mini-nuke - entwickeln, die für das konventionelle Schlachtfeld konzipiert ist. Ihre Sprengkraft bewegt sich zwischen einem Drittel bis zum Sechsfachen der Potenz jener Atombombe auf Hiroshima, sei aber laut wissenschaftlichen Studien harmlos für die Zivilbevölkerung und sozusagen eine "humanitäre Atombombe". Dieses konstruierte Teletubby-Image des neusten Atombombenentwurfs dient einzig und allein dem Zweck, bisher nicht vorhandene Akzeptanz gegenüber dem militärischen Einsatz der Nukleartechnologie zu erzeugen und zu fördern. Zu alldem passend formulierte das US-Verteidigungsministerium 2005 seine neuen Optionen für nukleare Militäroperationen. Atombomben sollen danach zur Abwehr potenziell übermächtiger gegnerischer konventioneller Streitkräfte eingesetzt werden sowie zur Demonstration der amerikanischen Entschlossenheit und Fähigkeit, auf den gegnerischen Einsatz oder auch nur möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen jeglicher Art zu reagieren. Auf dieser Basis lässt sich gerade mit Blick auf die Begründung des Krieges gegen den Irak 2003 (angeblicher Besitz von Massenvernichtungswaffen) mühelos jeder Atombombenabwurf rechtfertigen.

"Horch, was kommt von draußen rein, hollahi, hollaho?" (Volkslied)

Dass spätestens im Irak-Krieg 1991 und danach in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan und im 3. Irak-Krieg 2003 massenhaft Atomwaffen eingesetzt wurden, wird vor der Weltbevölkerung möglichst geheim gehalten, verharmlost und vertuscht. Die Rede ist von DU-Munition (depleted uranium munition), die von Panzern oder Flugzeugen aus verschossen wird. Dieses abgereicherte Uran entsteht als Abfallprodukt der Atomindustrie bei der Herstellung von Brennstäben aus Natururan. Es ist leicht radioaktiv und wie jedes andere Schwermetall hochgiftig. Weltweit sind bis heute weit mehr als eine Million Tonnen DU als Problemabfall angefallen, bis Militärdesigner das Material für ihre Zwecke entdeckten, es zu Metallstäben formten und beschleunigten. Geschosse aus abgereichertem Uran haben eine andere Wirkung als die Uranbombe, wie sie in Hiroshima eingesetzt wurde. Deren Zerstörungskraft beruhte auf der atomaren Kettenreaktion des angereicherten Urans. Die beabsichtigte Wirkung der Urangeschosse ist aber die mechanische, panzer- und bunkerbrechende Wirkung durch Druck- und Hitzewellen. KE(Kinetische Energie)-Penetratoren durchbrechen jedes Hindernis und entwickeln dabei eine Reibungshitze bis zu 5000° Celsius, die das abgereicherte Uran ohne Zugabe weiteren Sprengstoffs explosionsartig verbrennen lässt.

Die Folgen des Einsatzes dieser Waffe sind verheerend. Bei der Verbrennung des DU entsteht ein mit sogenannten Nano-Partikeln angereichertes Metall-Rauch-Gas. Diese Nano-Partikel sind hundertmal kleiner als rote Blutkörperchen und können mit Wind und Staub in große Entfernungen transportiert werden. Wenn der menschliche Körper sich damit kontaminiert, die Partikel also einatmet oder per Lebensmittel zu sich nimmt, kann das abgereicherte Uran zu allen Organen wandern und sich dort festsetzen. Diese Uran-Nano-Partikel sind zwar nur schwach radioaktiv, strahlen aber vom Ort ihrer Festsetzung wie eine nie untergehende Sonne auf die Nachbarzellen und rufen Krebs hervor. In Fortpflanzungsorganen entstehen auf diese Art Chromosomenbrüche, die den genetischen Code des Menschen verändern. Ihre Radioaktivität hat eine Halbwertszeit von 4,5 Milliarden Jahren und breitet sich über Staub, Wind und Wasser nach überall hin aus.

Irak ist das am stärksten durch Uranwaffen kontaminierte Land. Die USA und Großbritannien verschossen in den Kriegen von 1991 und 2003 mindestens 400.000 Kilogramm Uranmunition. Die Zivilbevölkerung war nicht über die Risiken des Einsatzes informiert. Die Anzahl der Krebserkrankungen und der Missbildungen bei Neugeborenen ist im Irak seit dem massenhaften Einsatz der DU-Munition eklatant in die Höhe geschnellt.

Der Filmemacher Frieder Wagner, der etliche Jahre lang zum Thema DU-Munition und ihre Folgen recherchierte und einen Dokumentarfilm mit dem Titel "Deadly Dust" herausbrachte, vertritt die These, dass die nuklearen Emissionen der bisher vorgenommenen Atombomben- und Wasserstoffbombenversuche, die sich weltweit auf unglaubliche 2.053 summieren, in Verbindung mit den täglichen Emissionen von Wiederaufbereitungsanlagen, Atomkraftwerken, Schnellen Brütern etc., den Folgen der fürchterlichen Atomkraftwerksunfälle in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima und dem massiven Einsatz von DU-Munition sich in unserer Luft inzwischen zu einer Wolke aus "Todesstaub" verdichtet hat, der um unsere Erde kreist und lebenszerstörend in unsere Körper eindringt. "Die Katastrophe ist ein Baum, der sprießt", heißt es in Tschernobyl.

"Uncle Sam does the best he can" (Status Quo - "In the army now")

Wenn Robert Kurz in seinem Buch "Weltordnungskrieg" die USA als konkurrenzlose, absolute militärische Supermacht ansieht, so kann ich ihm in diesem Punkt nicht ganz folgen. Lassen wir die NATO-Partner außen vor (und auch die werden im Zuge des Konkurrenz- und Expansionsimpulses kapitalistischen Wirtschaftens irgendwann zwangsläufig zu Gegnern), so verbleiben immer noch Russland und China als atomare Militärmächte, die die USA existentiell in ihrem Fortbestand gefährden können. Indien und Pakistan haben zwar genügend Atombomben, um die USA zu vernichten, ihre Interkontinentalraketen haben aber noch nicht die Fähigkeit, die große Distanz nach Amerika zu überwinden. Zweifelsohne sind die USA der global stärkste militärische Gewaltapparat, der sich dieser Welt in Kriegseinsätzen in Permanenz präsentiert. Solange aber die US-Militärwissenschaftler die militärische Nutzung des Weltalls nicht zu der entscheidenden Reife bringen, dass atomare Erst- und Gegenschläge anderer potenter Nuklearmächte effektiv verhindert werden können, werden die USA ihre globalen Hegemonieansprüche bei Gefahr des eigenen Untergangs im Zaum halten müssen. Unbeeindruckt von jeder momentan erzwungenen Zügelung zeigen die USA aber den unbedingten Willen, sich auch nuklear unangreifbar zu machen. Unter den Vorzeichen des Zerbröckelns des kapitalistischen Weltzusammenhangs werden die Vereinigten Staaten im Fall ihrer nuklearen Unangreifbarkeit nicht zögern, zur Durchsetzung ihrer Interessen ihren Hightech-Gewaltapparat im vollen Umfang und gegen jeden "Schurkenstaat" zur Geltung zu bringen.

Die Aufgabe, der die USA und ihr militärischer Arm in der Gegenwart nachgehen, besteht im Versuch des Erhalts des einheitlichen kapitalistischen Weltsystems auf Biegen und Brechen, obwohl dieses global den größten Teil der Menschheit nicht mehr reproduzieren kann. Mit ihrer massiven militärischen Präsenz im Nahen und Mittleren Osten reflektiert die US-Politik, dass ihr Wirtschaftssystem als Verbrennungskultur auf Erdöl als energetische Basis angewiesen ist. Dessen Vorkommen ist weltweit begrenzt und erschöpft sich zunehmend. Als Speerspitze des transnationalen Kapitals sichern die USA den ungehinderten Zugang zu einem Gebiet, in dem sich etwa 70 Prozent dieser strategischen Rohstoffreserve befinden.

Schauen wir uns am Beispiel der Irakkriege die Stärken und Schwächen an, die die US-Politik samt ihrer Militärstrategie zeigen. Nachdem der Irak August 1990 Kuweit überfallen und annektiert hatte, ermächtigte der UN-Sicherheitsrat die USA und ihre willigen Helfer zu Kampfhandlungen gegen den Irak. Obwohl der Irak nach zehn Jahren Krieg mit dem Iran ökonomisch wie militärisch sehr geschwächt war, handelte es sich bei dem 2. Golfkrieg um einen symmetrischen Krieg: Es standen sich zwei Heere mit ähnlicher Organisationsstruktur gegenüber. In Bezug auf die verwendeten Rüstungsgüter und den Mobilisierungsgrad der Kriegsparteien war der 2. Golfkrieg neben dem Vietnamkrieg der schwerste Krieg seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der erste militärische Großeinsatz der Vereinigten Staaten im Nahen Osten. Nachdem die US-Kriegsmaschinerie Kuweit befreit und das irakische Heer erwartungsgemäß innerhalb kürzester Zeit überrollt hatte, kam es zu Waffenstillstandsvereinbarungen und zur offiziellen Beendigung des Krieges im April 1991.

Als Reaktion auf die Vereinnahmung Kuweits verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im August 1990 auf amerikanische Initiative die Resolution 661, die erst nach dem Sturz Saddams 2003 wieder aufgehoben wurde und sich als besonders perfide Form der Kriegsführung gegen das irakische Volk entpuppte. Sie begründete ein umfassendes Wirtschaftsembargo gegen den Irak und wurde durch die restriktive Art ihrer Verwirklichung zu einem Instrument der Massentötung. Das Sanktionskomitee ließ kaum Medikamente, medizinisches Gerät oder Chemikalien ins Land. Alle sich in dieser Zeit entwickelnden Krebserkrankungen - ausgelöst z.B. durch DU-Munition - liefen auf ein sicheres Todesurteil hinaus ebenso wie etliche andere Erkrankungen wie z.B. Diabetes. Von der westlichen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, sind nach Schätzungen internationaler humanitärer Organisationen rund 1,5 Millionen Iraker, darunter über 550.000 Kinder unter fünf Jahren, den Folgen dieser Wirtschaftssanktionen zum Opfer gefallen - durch Mangelernährung und unzureichende medizinische Versorgung. Das entspricht rund sieben Prozent der irakischen Bevölkerung.

Die zwölf Jahre zwischen dem 2. und dem 3. Golfkrieg waren zudem durchsetzt von militärischen Strafaktionen gegen Saddam Husseins Machenschaften. Allein für das Jahr 1999 wurden an 132 Tagen Luftangriffe auf den Irak registriert. Der 2. Golfkrieg hörte faktisch also nie auf, sondern durchlief nur eine "kalte" Phase. Am 20.3.2003 begannen die USA auf der Basis nachweislicher Lügen den 3. Golfkrieg mit Luftschlägen auf Bagdad, stießen auf ein inzwischen schlecht organisiertes, demoralisiertes irakisches Heer, das zu keinem ernsthaften Widerstand mehr in der Lage war, und erklärten den Krieg nach Einnahme Bagdads am 1. Mai 2003 wieder für beendet: "Mission accomplished!" Mit der Auflösung der Streitkräfte Husseins, der Elitetruppe "Republikanische Garden" und des Informations- und Verteidigungsministeriums war die symmetrische Kriegsführung USA versus Irak tatsächlich beendet, aber nur um in der asymmetrischen Form seine kriegerische Fortsetzung zu finden.

"Es fährt ein Zug nach Nirgendwo" (Christian Anders)

Große Teile der aufgelösten irakischen Armee vom Fußsoldaten bis zum General schlossen sich mit der im Irak beheimateten und mit Hass auf den "Westen" erfüllten Rebellengruppe "Islamischer Staat" zusammen, die sich schon vorher über Verstärkung durch Dschihadisten des Netzwerks Al Qaida freuen konnte. Militärisch gut ausgebildet und ausgerüstet und mit jahrzehntelangen Erfahrungen im militärischen Widerstandskampf gegen die Supermächte dieser Welt, treibt dieser Milizenzusammenschluss mit neuen Kriegstaktiken bis heute expandierend sein verworrenes und terroristisches Unwesen und zeigt seine Präsenz zunehmend auch in anderen "failed states".

Nicht nur der verlorene Vietnamkrieg, in dem der Vietcong mit großem Erfolg seine Guerillataktiken einbrachte, sondern auch der fluchtartige Abzug der US-Soldaten aus Somalia nach der Schlacht um Mogadischu und die Erfolglosigkeit des Einsatzes regulärer US-Truppen in Afghanistan haben der Weltöffentlichkeit schon früher gezeigt, dass der asymmetrische Krieg eine Achillesferse der Supermacht Nr. 1 zu sein scheint. Das nagt am Nimbus der Unbesiegbarkeit der USA. Die Demonstrationen militärischer Hilflosigkeit verzahnen sich folgenschwer mit einem anderen Defizit der USA. Am Ende des Zweiten Weltkriegs als weltweit stärkste Ökonomie positioniert, sind die Vereinigten Staaten heute das Land mit der größten Binnenverschuldung als auch mit der größten Außenverschuldung der Welt. Dieser ungeheure Verschuldungsprozess wird getragen vom Zustrom internationalen Geldkapitals, das als Kreditgeld eine gefährliche Forderung an die US-Ökonomie darstellt, weil es jederzeit abgezogen werden kann.

"Diese Gefahr betrifft nicht zuletzt den Hightech-Militärapparat selbst, der ja permanent Unsummen verschlingt und damit erst recht am Tropf des transnationalen Finanzkapitals hängt. Denn es handelt sich dabei um eine abgeleitete Finanzierung, die somit reell auf einer eigenständigen nationalökonomischen Potenz beruhen müsste, die den USA jedoch schon längst abhandengekommen ist. Das militärische Potential für sich allein ist in seiner gewissermaßen 'naturalen' Gestalt nicht lebensfähig, da es eben wie alles in der kapitalistischen Welt durch das Nadelöhr der 'Finanzierbarkeit' hindurch muss." (Robert Kurz, Weltordnungskrieg, S. 25)

Die universelle Konkurrenz des globalen Kapitalismus macht auch vor den Toren der USA nicht halt und bringt Nervosität und noch mehr Unberechenbarkeit ins Spiel. Sie impliziert immer und überall die Logik des Risikos, das beileibe nicht nur in Schwankungen des Einkommens besteht. Der tautologische Selbstzweck kapitalistischen Wirtschaftens produziert weltweit massenhaft "überflüssige" Menschen, in denen sich die Risiken der Armut und des Elends realisieren. Diejenigen von ihnen, die das Pech haben, am falschen Ort zu leben und die gewaltsame "Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln" erleben müssen, schauen gar dem unmittelbaren Todesrisiko ins Auge. Wer meint, dass die vielen, die auf die eine und andere Weise unter die Dampfwalze der Wertverwertung geraten sind, sich doch bestimmt radikal vom Kapitalismus abwenden, liegt falsch. Verhaftet in der Warenförmigkeit ihrer Subjektivität produzieren sie stattdessen Irrationalismen, Konfliktlinien und ideologische Strömungen, die sich nur als Momente negativer Weltvergesellschaftung erklären lassen, als Zersetzungsprodukte einer globalen, fundamentalen Kapitalismuskrise.

Wie unheilvoll sich dieses Problem im Phänomen der asymmetrischen Kriegsführung, im Kampf gegen den "Westen" und in einem "eindimensionalen Antiimperialismus" auslebt, werde ich im Teil 2 dieses Artikels erörtern.

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2000 Zeichen abwärts

Spielerische Kooperation

"Maus und Mystik" ist ein hervorragendes Spiel! Es lässt mich in eine phantastische Welt eintauchen, ich bin in eine Maus verwandelt und kämpfe gemeinsam mit anderen Mäusen gegen Ratten. Die Charaktere können sich wandeln, und man muss die verschiedenen Fähigkeiten ständig aufeinander abstimmen. Wer macht was wann und wie? Nur so ist das Spiel zu schaffen. Würde einer sich profilieren wollen, scheitert die Gruppe. Das Mittel der Abstimmung ist nicht die Konkurrenz, sondern eine Kommunikation, die Umstände und Fähigkeiten in Betracht zieht. Ein solches Spiel ist ein Laboratorium zum Üben koordinierender, respektvoller Gespräche und eines bedachten Handelns in einer Gruppe.

Kein Spieler gewinnt oder verliert! Alle gewinnen oder alle verlieren. Das Fehlen der Dimension des vereinzelten Siegers ist kein Fehlen - es ist ein Gewinn an guter Atmosphäre und spürbarer Verbundenheit. Während und nach dem Spiel ist es schön, in Gemeinschaft zu sein, man hat seine Fähigkeiten eingebracht, über deren Einsatz miteinander verhandelt und die für die Gruppe in der Spielsituation beste Lösung gefunden. Jeder war anwesend und wurde gehört.

Bei UNO, Fuchs und Henne oder gar Mensch ärgere dich nicht muss ich emotional immer auf Wutausbrüche, Verzweiflung und fratzenhaftes Siegesgelächter eingehen - in mir und beim anderen. Ich spiele zwar mit Menschen, doch diese verbergen sich hinter einem konkurrenzistischen Regelsystem, das Täuschen, Tarnen und Tricksen nahelegt. Das ist sehr anstrengend. Und es entfernt uns voneinander und von uns selbst. Menschen werden in diametral entgegengesetzte Gefühlslagen gebracht, denn für diese Spiele gilt: des einen Freud ist des anderen Leid. Und nichts ist beschissener, als einander in 75 cm Abstand als Ursache und Folge emotionaler Diskrepanz gegenüberzusitzen. Muss ich solche Situationen künstlich erzeugen? Nein! Ich werde diese Spiele aus meinem Repertoire verbannen.

M. Sch.

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Immaterial World

Erziehung

von Stefan Meretz

"Kinder brauchen Grenzen", tönt es aus Erziehungsratgebern, sonst würden aus kleinen Menschen später maßlose Monster werden. Gerne werden die empfohlenen Grenzen mit moralischen Werten drapiert, die Heranwachsenden Orientierung bieten sollen. Erstaunlicherweise findet sich eine ähnliche Argumentation bei jenen Eltern, die emanzipatorische Ansprüche hegen. Selbstbestimmung für alle - mit Ausnahme von Kindern?

Selbstverständlich wird die repressive Erziehung kritisiert, strebe sie doch danach, aus wachen Menschlein angepasste Untertan*innen zu machen. Dennoch sei nicht das Grenzensetzen und die Werteerziehung das Problem, sondern ihr Inhalt: Es müsse um die richtigen Grenzen und die richtigen Werte gehen, die Kindern zu vermitteln seien. Was sei falsch daran, Kindern beizubringen, dass die Naturressourcen endlich seien und wir uns deshalb alle beschränken müssten? Was falsch daran, Kindern mit Werten wie Achtsamkeit, Solidarität und Emanzipation (oder was auch immer "Gutes") auszustatten?

Erziehung ist ein verrückter Sonderfall zwischenmenschlicher Beziehungen. Hier fallen Menschen in zwei Klassen: Jene, die ziehen, und jene, die gezogen werden - Erziehende und Zöglinge. Erziehende wissen wo's langgeht, Zöglinge nicht oder sehen es ganz anders. Erziehende wenden Maßnahmen an (Lob, Tadel, Belohnung, Überredung, Repression usw.) und Zöglinge empfangen diese, ob sie es wollen oder nicht. Erziehende setzen für die Durchsetzung ihrer Maßnahmen Macht ein, und Zöglinge setzen sich mehr oder weniger zur Wehr. Gibt es diese Sonderbeziehung noch anderswo? Vielleicht noch in Gefängnissen und Psychiatrien, doch erwachsene Menschen lassen sich normalerweise nicht so behandeln.

Nun muss Erziehung nicht immer harsche Formen annehmen, körperliche Züchtigungen sind nicht mehr angesagt. Doch auch weichere Formen von Erziehung ändern nichts am Sondercharakter, auf dem jene bestehen müssen, die ihre Ziele beim Zögling erreichen wollen. Dabei ist es unerheblich, ob die Ziele der Erziehenden vorgeblich im Interesse der Zöglinge sind, und es ist auch unerheblich, ob die Erziehungsziele sinnvoll sind. Dies lässt sich am Beispiel der Erziehung zur Selbstbestimmung verdeutlichen.

Selbstbestimmung wollen alle, warum nicht auch Kinder? Eben. Wollen sie es, ist Erziehung unnötig, wollen sie es nicht, ist es paradox, Kinder zur Selbstbestimmung zu "erziehen". Erziehung ist eine machtdurchsetzte asymmetrische Beziehung zwischen Menschen. Zur Selbstbestimmung fremdbestimmt gebracht zu werden, ist ein Widerspruch in sich. Selbstbestimmung kann nur selbst errungen werden.

Erziehung basiert auf der unausgesprochenen Annahme, Menschen seien von Natur aus ungesellschaftlich - wie etwa in der Psychoanalyse theoretisch gefasst. Tatsächlich sind Menschen gesellschaftlich sui generis. Diese biotisch angelegte Gesellschaftlichkeit ist als Potenz zu Beginn noch nicht entfaltet. Leben bedeutet, die Potenz zur Geltung zu bringen und sich individuell zu vergesellschaften, also Verfügung über die je eigenen Lebensumstände zu gewinnen. Dieser Prozess ist unabschließbar. Er dauert ein Leben lang und stößt im Kapitalismus dort an Grenzen, wo wir nicht mehr über unsere Bedingungen verfügen können, sondern über uns verfügt wird.

Zugespitzt könnte man behaupten, dass uns das systemische Gesamt des Kapitalismus als Erziehungsmaschine gegenübertritt. Dabei sollen wir wollen, was wir in der warengesellschaftlichen Logik tun müssen, um unsere Existenz zu erhalten. Gleichzeitig sind wir diejenigen, die die Fremdverfügung organisieren und exekutieren, indem wir die Exklusionslogik des Kapitalismus produzieren und reproduzieren. Und das ganz selbstbestimmt. Dieses gesellschaftliche Verhältnis spiegelt sich dann auch im personalen Maßstab gegenüber Zöglingen wider: Sie sollen (=Erziehungsziel) am Ende wollen (=Selbstbestimmung), was sie tun müssen (=Fremdbestimmung), um im Kapitalismus zu funktionieren.

Die Crux liegt nun darin, dass dieses Verhältnis durch die Füllung mit positiven Inhalten nicht aufgehoben werden kann. Die Erziehung zu Achtsamkeit, Solidarität und Emanzipation bleibt Erziehung, also Aus- und Einübung von Fremdbestimmung. Damit ist nicht gesagt, das so Erzogene für sich subjektiv zu Achtsamkeit usw. gelangen, doch dies nicht wegen, sondern trotz Erziehung.

Aber wissen Erwachsene nicht dennoch besser, was für Kinder gut ist? Nein. Aus der Außensicht kann man nicht wissen, was für einen anderen Menschen gerade der subjektiv notwendige Schritt ist. Das gilt ganz generell und eben auch für Kinder. - Aber woher sollen Kinder wissen, was für sie gut ist? Sie werden es herausfinden. Gilt das nicht für alle Menschen, ein Leben lang? - Aber soll ich ein Kind nicht zurückhalten, wenn es auf die Straße rennt? Selbstverständlich, aber das würden wir doch immer tun, egal bei wem. Menschen zu schützen setzt kein Erziehungsverhältnis voraus.

Erziehung lässt sich aufheben in ein Verhältnis der Unterstützung. Es setzt die Einsicht voraus, dass wir einander immer brauchen und ohne wechselseitige Unterstützung nicht gut durch das Leben kommen. Dabei kann es sein, dass bestimmte Menschen - nicht nur abhängig vom Alter, sondern bedingt durch viele Umstände - mehr Unterstützung brauchen als andere. Unterstützung setzt gleiche Augenhöhe voraus, und dafür kann es notwendig sein, auch einmal in die Hocke zu gehen.

Grundlage solcher Unterstützungsverhältnisse sind Akzeptanz und Annahme der eigenen Bedürfnisse wie auch der von Anderen. Ich muss die Handlungen anderer nicht gut finden, aber ich kann eben dennoch nicht wissen, was für eine andere Person gut ist. Ich kann Vorschläge machen, doch wenn das Gegenüber sie nicht ablehnen kann - wie so oft in der Erziehung - dann kann ich auch gleich Befehle erteilen.

Denkt man die zwischenmenschliche Unterstützung konsequent weiter, gelangt man zu gesellschaftlichen Inklusionsverhältnissen allgemeiner Emanzipation, die eine strukturelle Einbettung und Unterstützung für alle bedeuten. Die Bedingungslosigkeit ist dabei zentral. Diese Erkenntnis lässt sich auch umkehren: Wer allgemeine Emanzipation und also den Commonismus will, muss aufhören zu erziehen.

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Charaktermaskerade

Goethe und Marx. Allegorien der Warenform im Faust II

von Hermann Engster

Dieser Artikel will eine Erkenntnis wieder ins Bewusstsein rufen, der die Zeit, zu der sie formuliert wurde, nicht günstig war. Es handelt sich um eine Deutung des zweiten Teils von Goethes Faust durch den Germanisten Heinz Schlaffer. Schlaffer ist einer der Scharfsinnigsten seines Fachs und hat im Jahr 1981 im Verlag Metzler ein Buch mit dem Titel veröffentlicht: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts.

Seine Analyse des Faust II basiert auf der Marx'schen Theorie. Schlaffers Werk ist eine brillante Analyse, traf aber seinerzeit auf ein ihm wenig gewogenes Umfeld. Sein Publikum hatte gerade die Zumutungen der 68er-Bewegung überwunden oder besser: verdrängt, und der Zeitgeist der Achtzigerjahre war nicht unbedingt von theoretisch-emanzipatorischen Gesellschaftsentwürfen erleuchtet, sondern eher regressiv gestimmt. Heute, wo die fundamentale und globale Krise des Kapitalismus nicht mehr zu übersehen ist und eine auch an der Marx'schen Theorie orientierte Kapitalismuskritik zunehmend öffentlich diskutiert wird, stünde dieses Buch wohl unter einem günstigeren Stern.

Damals hat es in der (etablierten bürgerlichen) Fachwelt nur eine ungnädige Aufnahme gefunden. Bei vielen Germanisten stellen sich, wenn sie von Marx hören, die üblichen Ressentiments ein, Ressentiments, die auf einer verkürzten und grobschlächtigen Vorstellung des "Marxismus" beruhen. Immerhin liegt offen zutage, dass der zweite Teil des Faust den Wechsel von der feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft reflektiert, und der Aspekt der Geldwirtschaft ist besonders augenfällig, wenn Faust und Mephisto mit der Erfindung des Papiergelds eine Finanzblase samt daraus folgendem Finanzcrash inszenieren. Das wird großmütig zugestanden, aber damit hat es sich dann auch.

Schlaffer hingegen dringt ins Zentrum der Marx'schen Theorie vor. Um begrifflich zu erschließen, was Goethe in seinem Faust intuitiv erfasst hat, begibt er sich auf die grundlegende Ebene der Warenform-Analyse. Er rekonstruiert dies auf eine so luzide Weise, dass jeder (seiner Fachkollegen) ihn eigentlich verstehen müsste - vorausgesetzt freilich, dass er guten Willens und bereit ist, sich auf diese (zugegeben nicht ganz einfache) Sache einzulassen. Aber nur mit diesem Wissen vermag man Schlaffers Interpretation zu verstehen.

Goethe, ein schriftstellernder Finanzminister

Über welches ökonomische Wissen verfügte Goethe, und welches waren seine praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet?

1775 berief der Herzog Carl August von Sachsen-Weimar den 26-jährigen Goethe nach Weimar und nahm ihn in sein Regierungsgremium auf. Er wurde einige Jahre darauf zum Kammerpräsidenten (Finanzminister) ernannt und sanierte die zerrütteten Staatsfinanzen. Darüber hinaus war Goethe tätig in den Kommissionen der Landwirtschaft, der Landesverteidigung, der Wege- und Wasserbaudirektion sowie der Bergwerkskommission. Man sieht, es war ein arbeitsreiches Leben, das viele ökonomische und technische Bereiche umfasste, und Goethe hat diese Arbeit sehr ernst genommen.

Über sein ökonomisches Wissen sind wir gut informiert. Er war mit den Wirtschaftstheorien seiner Zeit wohlvertraut. Am Ende seines Lebens zählte seine Bibliothek 38 Bücher zur Landwirtschaft, 46 zur Nationalökonomie, 59 zur Staatskunde; zudem hatte er zwei bedeutende französische ökonomie-theoretische Zeitschriften abonniert.

1806 erhielt er eine deutsche Übersetzung von Adam Smiths epochemachendem Werk zur Nationalökonomie von 1776 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Er hatte es durchstudiert, wie man aus den Anmerkungen in seinem Bibliotheksexemplar ersehen kann. Noch im hohen Alter, als er den Faust abschloss, nahm er die Schriften der Frühsozialisten und deren Kritik am Manchester-Kapitalismus zur Kenntnis. Insbesondere setzte er sich mit Saint-Simon auseinander, dessen Ideen er im letzten Akt des Faust II kritisch verarbeitete. Auf den Punkt gebracht, kann man feststellen: Das Wissen, das der junge Marx besaß, als er mit der Analyse des Kapitalismus begann, hatte auch Goethe besessen.

Ökonomisches Gespensterwesen

Setzen wir nun bei Goethes eigenen Erfahrungen an! - Im August des Jahres 1797 unterbricht Goethe eine Reise in die Schweiz, um sich einen Monat lang in seiner Geburtsstadt Frankfurt aufzuhalten. Während dieses Aufenthalts macht er an verschiedenen "Gegenständen", wie er sich ausdrückt, unerwartete Erfahrungen, Erfahrungen, die ihn tief verstören. Wir Heutigen können das kaum noch nachvollziehen, weil das, was er als befremdlich erlebt, für uns selbstverständlich geworden ist, gleichsam zu unserer zweiten, gesellschaftlichen Natur. Wie diese neuen Erfahrungen auf Goethe wirken und wie er sie zu verarbeiten versucht, darüber schreibt er ausführlich in vier Briefen an Friedrich Schiller.

Goethes Verstörung, die von den ungewohnten Erfahrungen mit diesen "Gegenständen" ausgeht, ist so stark, dass er sowohl psychisch als auch geistig große Anstrengungen aufwenden muss, um sich darüber Klarheit zu verschaffen. An diesen Bemühungen setzt auch Schlaffers Analyse an, der ich folge. Goethe schreibt:

"Wir würden uns gar übel befinden, wenn uns nicht Gemütsruhe und Methode in diesen Fällen zu Hülfe käme. Ich will nun (...) an Frankfurt selbst als einer vielumfassenden Stadt meine Schemata probieren". (Brief vom 9.8.1797)

Goethes immerhin zweihundert Jahre alte Sprache erschließt sich uns Heutigen nicht mehr unmittelbar und bedarf der "Übersetzung". Das Wort "Gemütsruhe" würde man heute wiedergeben als "psychische Ausgeglichenheit"; der Appell an diese zeigt an, wie verstörend die Erfahrungen für ihn sind, und die Ausdrücke "Methode" und "Schemata probieren" besagen, dass er sich bemühen will, die neuen Erfahrungen mit seinen ihm zur Verfügung stehenden kognitiven Mitteln und Kategorien einzuordnen und zu begreifen.

Den Höhepunkt seiner Auseinandersetzung bildet der Brief vom 16./17. August 1797. Nach langwierigen theoretischen Überlegungen bringt er seine Beunruhigung über die neuen "Gegenstände" auf den Punkt. Er schreibt an Schiller:

"Bis jetzt habe ich nur zwei solcher Gegenstände gefunden: den Platz auf dem ich wohne, der in Absicht seiner Lage und alles dessen, was darauf vorgeht, in einem jeden Momente symbolisch ist, und den Raum meines großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens, der aus dem beschränktesten, patriarchalischen Zustande, in welcher ein alter Schultheiß von Frankfurt lebte, durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert wurde. Die Anstalt ging durch sonderbare Zufälle bei dem Bombardement zugrunde und ist jetzt, größtenteils als Schutthaufen, noch immer das Doppelte dessen wert, was vor elf Jahren von den gegenwärtigen Besitzern an die Meinigen bezahlt worden. Insofern sich nun denken läßt, daß das Ganze wieder von einem neuen Unternehmer gekauft und hergestellt werde, so sehn Sie leicht, daß es, in mehr als Einem Sinne, als Symbol vieler tausend andern Fälle, in der gewerbreichen Stadt, besonders vor meinem Anschauen, dastehen muß."

Hier sind einige Erläuterungen zum Textverständnis nötig:

• Der Platz, auf dem Goethe bei seiner Mutter wohnt, ist der Rossmarkt, innerhalb der Stadtmauern des mittelalterlichen Frankfurt gelegen; von dort Blick zur Zeil, dem außerhalb der Stadtmauern gelegenen wirtschaftlichen Zentrum des neuen Frankfurt

Symbolisch, Symbol: auf Verborgenes, Tieferes hinweisend

Beschränktest: sehr einfach, schlicht

• Der patriarchalische Zustand meint die Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Zunftvorschriften und Standesrechte einer patrizischen Regierung

Die Anstalt: der Gebäudekomplex

Es sind einschneidende und folgenschwere Veränderungen, die Goethe ins Auge gefallen sind. Das, wie er formuliert, in dem "beschränktesten patriarchalischen Zustand" existierende "großväterliche Haus" samt "Hof und Garten" war zum Wohnen bestimmt, hatte daher reine Gebrauchsfunktion. Durch die Bombardierung durch französische Truppen im Vorjahr, also 1796, wurde es vernichtet, sodass nur noch ein Schutthaufen übrig blieb. Die Konsequenz daraus ist durchaus paradoxer Art, denn die Vernichtung hatte eine Wertsteigerung zur Folge. Aber von was? Das Haus existierte ja nicht mehr, und der Schutthaufen war wertlos. Um das sinnlich Nicht-Erfassbare zu benennen, nämlich das, was unversehens so wertvoll geworden ist, behilft sich Goethe mit dem abstrakten Begriff "Raum". Konkrete Vernichtung hatte zu einer abstrakten Wertsteigerung des "Raums" geführt, und dieses Phänomen dient ihm als Beispiel - er sagt dazu behelfsweise "Symbol - vieler tausend andern Fälle", wie damals in Frankfurt und anderswo.

Goethe war nicht nur in Hinsicht der Natur, sondern auch der Gesellschaft ein sehr genauer Beobachter. Im selben Brief an Schiller schildert er, was ihm an seiner Geburtsstadt Frankfurt als neuartig aufgefallen ist:

"Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen, wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mitteilen. (...) Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens insofern sie poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt."

Es ist eine fundamentale Veränderung mit Frankfurt vor sich gegangen. Die einstmals ruhige, beschauliche Stadt ist, wie Goethe schreibt, "durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert" worden, zu einer "gewerbreichen Stadt": einer betriebsamen Handelsmetropole. Das hat auch ihre Bewohner verändert. Es herrscht ein "Taumel von Erwerben und Verzehren"; wir würden heute sagen: von Shoppen und Konsumieren. Das greift bis in die wechselseitigen Beziehungen der Menschen ein. Was Goethe hier in tastender Formulierung als "eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen" umschreibt, hält die Tatsache fest, dass durch die neue Wirtschaftsform der nüchterne Geist der Rechenhaftigkeit, des kühlen rationalen Kalkulierens eingezogen ist, kurz: der "Geist des modernen Kapitalismus", wie ihn Marx und nach ihm Max Weber beschrieben haben. Goethe hat die grundlegenden Veränderungen seiner Zeit sehr genau wahrgenommen, wie weitere Zitate zeigen:

"Der Frankfurter, bei dem alles Ware ist, sollte sein Haus niemals anders als Ware betrachten." (Aus Goethes Notizen seiner Schweizer Reise, Bd. 12, S. 99) Das konjunktivische "sollte" klingt hier halb auffordernd, halb resignativ.

• Es herrschen vor die Interessen der "... Frankfurter Bankiers, Handelsleute, Agioteurs (d.h. Börsenspekulanten), Juden, Spieler und Unternehmer". (Im Brief an Schiller vom 12.8.1797). Spieler: heute "Zocker".

"Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt (...) Haben wir doch schon Blätter (d.h. Zeitungen) für sämtliche Tageszeiten! (...) Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch." (Wilhelm Meisters Wanderjahre, Bd. 8, S. 312. - "Veloziferisch": Neuschöpfung von Goethe, zusammengesetzt aus lat. velocitas: Geschwindigkeit, und Luzifer.)

"Alles aber (...) ist jetzt ultra (d.h. extrem), alles transzendiert (d.h. durchdringt, übersteigt) unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt (d.h. tätig ist), niemand den Stoff, den er bearbeitet. (...) Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt (heute: gestresst) und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten (d.h. Einrichtungen, Bereitstellungen) der Kommunikation (...). Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt." (Brief an Zelter vom 6.6.1825)

"So wenig die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen (d.h. im gesellschaftlichen Leben) möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist." (Wilhelm Meisters Wanderjahre, letzte Fassung 1829, Bd. 8, S. 313)

Des Dichters Aporie: die poetische Gestaltung einer poesiefeindlichen Welt

Goethes Problem ist, ob und wie diese abstrakten Prozesse dichterisch zu gestalten seien. Er diskutiert das in seinen Briefen an Schiller und fragt: "Möchte nicht also hier selbst poetische Stimmung sein? bei einem Gegenstande, der nicht ganz poetisch ist, wodurch ein gewisser Mittelszustand hervorgebracht wird."

Beziehen wir das auf das Haus von Goethes Großvater: Das zerstörte Haus wäre wohl mit dem traditionellen Motiv der Vanitas, der Vergänglichkeit alles Irdischen, poetisch zu gestalten - wie aber die Tatsache der Wertsteigerung durch Vernichtung, einer Wertsteigerung zudem, die durch einen anonymen, abstrakten Prozess geschieht? Für Schiller besteht hier ein Gegensatz zwischen der, wie er formuliert, "modernen, gemeinen (d.h. alltäglichen) Welt" und der "alten poetischen" Welt, und beide seien grundsätzlich unvereinbar.

Goethe gibt die Sache nicht so schnell verloren. Wenn er fragt: "Möchte nicht also hier selbst poetische Stimmung sein?", so sieht er doch Möglichkeiten der literarischen Gestaltung. Welche aber wären diese?

Das Problem dieser neuen "Gegenstände" besteht in ihrer mangelnden Anschaulichkeit. Bestünde das alte Haus noch, so ließe sich sein Wert ermessen. Jedoch ist davon nur noch ein "Schutthaufen" übrig, und trotzdem hat sich der Wert um das Doppelte erhöht!

Wie das zustande gekommen ist, lässt sich nur durch theoretische Überlegung erklären, nicht aber durch sinnliche Anschauung. Der konkrete, sinnliche Charakter des Hauses ist auf zwiefache Weise vernichtet: zum einen durch das Bombardement, zum andern durch die ökonomische Kalkulation. Das Haus ist Objekt eines gesellschaftlichen Verhältnisses geworden, eines Verhältnisses, in dem sein Tauschwert realisiert worden ist. Die Gegenständlichkeit ist verschwunden, an deren Stelle sind abstrakte Mechanismen getreten, die nun über das einstmals konkrete, sinnliche Objekt herrschen. Um diesem Verhältnis auf die Spur zu kommen, seien, so Goethe, Verallgemeinerung und Abstraktion vonnöten.

Doch bleibt Goethe in seinen Reflexionen stecken. Was ihn hindert, ist, wie Schlaffer zeigt, der klassische Symbolbegriff, der auch Goethes eigener ist. Drei Bestimmungen der symbolischen Gegenstände führt er in seinem Frankfurter Brief auf:

• Sie liegen sinnlich "vor meinem Anschauen".

• Sie schließen "eine gewisse Totalität in sich" oder an anderer Stelle: "Einheit und Allheit".

• Sie sind "Repräsentanten von vielen andern" oder "Symbol vieler tausend andern Fälle".

Es tut sich hier ein Widerspruch auf. Wie widersinnig das Festhalten am Symbolbegriff ist, der ja die sinnliche Anschauung zur Grundlage hat, zeigt schon der Umstand, dass ein Schutthaufen doppelt so viel wert sein soll wie ein vollständiges Haus vor elf Jahren - das geht aus der sinnlichen Anschauung nicht hervor.

Goethe beharrt aber zunächst auf seinem Symbolbegriff, und das bedeutet: auf der unmittelbaren sinnlichen Anschauung, aus der heraus sich der Gegenstand in seiner Totalität erschließen soll. Die Totalität, die den Gegenstand beherrscht, liegt aber nicht in ihm selbst, sondern kommt von außen her. Sie herrscht in unsinnlicher Form, und was hier herrscht, ist in letzter Abstraktion die Logik des Kapitals.

Der Weg aus dem Dilemma

Offenbar geworden ist: Der Symbolbegriff ohne gesellschaftlichen Inhalt ist nicht aufrechtzuerhalten. Mit Symbolen ist es nicht möglich, die gesellschaftlichen Erfahrungen dichterisch zu gestalten. Diese sind nicht durch Anschauung, sondern einzig durch den Verstand zu begreifen. In einem langwierigen Prozess, den Schlaffer präzis nachzeichnet, löst sich Goethe von der Vorherrschaft der Symboltheorie. Er rettet die 1797 gemachte Erfahrung für die Dichtung, indem er diese Erfahrungen durch ein anderes Medium gestaltet: die Allegorie.

Zu dieser Zeit herrscht in der deutschen Literaturästhetik ein Streit, welches poetische Mittel als das künstlerisch "höhere" zu gelten habe: Symbol oder Allegorie. Was unterscheidet beide voneinander?

Die Allegorie fasst das Abstrakte im Bild, sie lässt das Allgemeine im Einzelnen und Besonderen erscheinen; komplexe Sachverhalte werden durch ein einziges Ding dargestellt, z.B. die Liebe durch die Rose, oder durch eine Person wie z.B. das Recht durch die Göttin Justitia mit Augenbinde, Waage und Schwert. Die Allegorie in sinnlicher Gestalt ist das Gemeinte selbst; ihr Bedeutungsraum wird durch die Idee begrenzt; um diesen Raum zu füllen, neigt die Allegorie zu Variationen und Metaphernhäufungen.

Das Symbol geht von der sinnlichen Anschauung aus und verhüllt im Besonderen ein Allgemeines, doch gibt es keinen expliziten Hinweis darauf; die Bedeutung erschließt sich durch die sinnliche Anschauung hindurch, der Prozess der Interpretation wird nie abgeschlossen, sodass das Symbol prinzipiell eine unendliche Bedeutungsfülle aufweist. Das Symbol, so Goethe, ist "eine aufschließende Kraft", es "spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun das Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät." (Maximen und Reflexionen, Bd. 9, S. 529)

Nennen wir konkrete Beispiele! Eine allegorische Darstellung in der Malerei ist das berühmte Gemälde Die Freiheit führt das Volk an von Eugène Delacroix mit der Freiheitsgöttin vorneweg auf den Barrikaden. In der Dichtung diene als Beispiel das Gedicht von Andreas Gryphius Es ist alles eitel aus dem Jahr 1643. Schon der Titel bestimmt das Programm: Er ist ein Zitat aus dem Buch Kohelet (Prediger) 1,1, und das Gedicht exemplifiziert es in zahlreichen Metaphern: "Du sihst, wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden. / Was dieser heute bawt, reist jener morgen ein: / Wo itzund (d.h. jetzt noch) städte stehn, wird eine wiesen sein, / Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden. (...)"

Beispiele für symbolische Darstellung in der Malerei sind die Gemälde von Caspar David Friedrich, die kein ideelles Programm verkünden, sondern offen sind für eine Fülle unterschiedlichster Assoziationen. Das Bild Zwei Männer bei der Betrachtung des Mondes wäre ein Gegenstück zu Goethes Gedicht An den Mond: "Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz, / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz; / Breitest über mein Gefild' / Lindernd deinen Blick / Wie des Freundes Auge mild / Über mein Geschick." Die vom Mondenschein sanft überglänzte Landschaft wirkt hier als Symbol für die von weicher Stimmung ergriffene und sich öffnende Seele des Menschen.

Die Allegorie, so zeigt sich, ist eine poetische Darstellungsweise, die sich an den Verstand richtet. Die "Gegenstände", die Goethe in Frankfurt so irritierten, waren, so erkannte er, nur - und nur allein - durch den Verstand zu begreifen. Bei ihnen ging es nicht um die unermessliche äußere Natur oder die unergründliche innere Natur des Menschen, sondern um Erscheinungsformen ökonomischer Kalkulation. Nur die verstandesklare Allegorie konnte die gesellschaftlichen Erfahrungen in dichterische Formen kleiden. Der Theoretiker der Romantik Friedrich Schlegel bezeichnete die Leistung der Allegorie als "die bewusste und wissende Poesie des Unsichtbaren" (Schlaffer, S. 22).

Denn es sind unsichtbare, anonyme, subjektlose Prozesse, welche die Lebensformen im Zeitalter des Kapitalismus bestimmen, und diese Prozesse konnten nicht mehr mit dem an Sinnlichkeit und Gefühl sich wendenden Symbol, sondern nur mit den Mitteln der an den Verstand sich richtenden Allegorie dargestellt werden. So kam der Allegoriebegriff, nachdem er als unzulänglich, eng und anachronistisch abgetan worden war, durch Goethe wieder zu neuer poetischer Produktivität.

In einem Exkurs unternimmt es Schlaffer nun, diese unsichtbaren Prozesse zu rekonstruieren, um zu zeigen, wie Goethe kraft seines Genies sie intuitiv erkannt und dichterisch gestaltet hat.

Als Marx über das Phänomen Geld nachzusinnen beginnt, fallen ihm die Verse (V. 1820 ff.) aus dem I. Teil des Faust ein, wo Mephisto zu Faust spricht:

Was Henker! freilich Händ' und Füße
Und Kopf und Hintern, die sind dein;
Doch alles, was ich frisch genieße,
Ist das drum weniger mein?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt' ich vierundzwanzig Beine.

Dazu hat Marx im Jahr 1844 unter dem Titel Auslegung der goethischen Stelle sich Aufzeichnungen gemacht; diese lauten: "Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - des Besitzers - Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt." (K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: K. Marx/Fr. Engels: Werke, Erg.-Bd., T. 1, S. 564)

Also: Wenn ich eine Kutsche mit sechs Hengsten kaufen kann, verleiht mir das Geld eine Schnelligkeit, als wäre diese meine persönliche Eigenschaft. Diese in den Versen ausgedrückte Verwandlungsfähigkeit des Geldes hat Marxens Geist elektrisiert.

Die Wunderkräfte des Geldes

Mephistos Erkenntnis von der Kraft des Geldes entfaltet im II. Teil des Faust ihre volle - und wie es dem Teufel geziemt - betrügerische Wirkung. Die Szene spielt am Kaiserhof. Der Staat ist bankrott, die Alarmmeldungen der Minister über die zerrütteten Zustände überschlagen sich. Da kommen Faust und Mephisto ins Spiel. So wie der II. Teil des Faust ein völlig anderer ist als der I. Teil - der I. Teil spielt im kleinbürgerlichen Milieu einer engen deutschen Kleinstadt, der II. Teil öffnet sich der ganzen Welt - so sind auch Faust und Mephisto verändert: Mephisto ist nicht mehr derjenige, der, um seiner Wette willen, bestrebt ist, Faust vom "rechten Weg" abirren zu lassen, sondern beide erscheinen hier als skrupellose Komplizen.

Sie bieten sich dem Kaiser als Retter in der finanziellen Notlage an. Der Kaiser braucht Geld, und das Gold, das zu seinem Staatsschatz gehört, ist aufgebraucht. Gold und Silber sind im Reich zwar üppig vorhanden, allerdings schwer erreichbar, denn sie liegen in der Erde verborgen: als vergrabene und vergessene Schätze und als Metalladern. Nun der Trick: Diese könnte man zu Geld machen, indem man vom Kaiser unterschriebene Scheine unters Volk verteilen lässt, auf denen der Kaiser versichert, dass man mit dem auf den Scheinen angegebenen Geldbetrag sich alles kaufen könne und er dafür einstehe, dass der aufgedruckte Betrag von ihm in Silber oder Gold eingelöst würde. Es ist die Geburtsstunde der Banknote. Dass dieses Papiergeld keine reale Deckung hat, sondern nur eine fiktive - das kümmert die Finanzjongleure damals so wenig wie heute. Wichtig ist, dass man sich mit dem Papiergeld alles kaufen kann. Mephisto versichert dem Kaiser, wozu dieses neue Geld fähig sei: "Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt; / Das Übrige ist alles zu erlangen: / Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen" (V. 4966 ff.) - also alles, was das Herz begehrt, vor allem Luxus und Sex.

So geschieht es: Das großzügig in Umlauf gebrachte Papiergeld führt zu einem allgemeinen Kaufrausch, der am Ende, weil dem Papiergeld die notwendige Deckung fehlt, in einem bösen Erwachen enden wird. Der Kaiser ist jedoch glücklich, dass seine Geldnot so elegant behoben wird und er wieder seiner Vergnügungssucht frönen darf.

Ein großes Fest soll gefeiert werden, ein Karneval, im Faust II die "Mummenschanz" genannt (das Wort war zu Goethes Zeit noch feminin), in der allerlei Figuren auftreten.

Der Karneval stellt eine verkehrte Welt dar. Auf diese Maskerade des Geldes trifft Marxens Erkenntnis zu:

"Da das Geld als der existierende und sich bestätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten." (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 566)

Das ist eine allegorische Figur par excellence. Den Höhepunkt des Karnevals bildet Fausts Auftritt, angekündigt vom Herold als "Vermummter Plutus, Maskenheld" (V. 5737). Faust erscheint als die Personifikation des Geldes, als Gott Plutus. Hier trifft der Begriff wörtlich zu, den Marx im Kapital gebraucht: Charaktermaske. Und hier setzt Schlaffer an, um die in der Mummenschanz neben Plutus weiter auftretenden allegorischen Figuren nach den Marx'schen Kategorien zu interpretieren.

Goethes Faust auf den Begriff gebracht

Schlaffer rekonstruiert nun für seine Leser Marxens Denkweg. Er begibt sich dabei ins Zentrum der Marx'schen Kritik der politischen Ökonomie und beginnt da, wo Marx selbst begonnen hat: bei der Analyse der Ware, und er führt sie fort bis zum Marx'schen Konzept des Warenfetischs und der Charaktermaske. Da die Leserinnen und Leser der Streifzüge mit den Grundzügen der Marx'schen Warenanalyse hinreichend vertraut sind, kann ich mich auf das für die Interpretation der Szene Wesentliche beschränken und will es nur thesenartig vorstellen.

1. Was eine Ware wert ist, kann sie nicht durch sich selbst darstellen. Die Ware kann ihren Wert nur an einer anderen Ware darstellen.

2. Sie muss daher in Austausch mit anderen Waren treten.

3. Dazu muss von ihrem konkreten Gebrauchswert abstrahiert werden; d.h. ihre sinnlichen Eigenschaften werden gleichgültig.

4. Der Wert einer Ware liegt in einem gemeinsamen Dritten. Der Wert der Ware ist die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung aufgewendet wird. (So schon Adam Smith.)

5. Der Wert der Ware ist somit als Abstraktum in ihr enthalten.Der Prozess der Abstraktion erzeugt eine "gespenstige Gegenwart" (Marx): eine Voraussetzung der Allegorie.

6. Hier findet eine elementare "Maskerade" statt: der Gebrauchswert als Maske des Tauschwerts. (Dies wird in der Maskeraden-Szene des Faust gewärtig werden.)

7. Die Erscheinung der Ware ist sinnlich, das Wesen der Ware - ihr Wert - ist abstrakt. Die Sinnlichkeit der Waren steht im Dienst der Abstrakta. Im Tauschverhältnis entsteht eine neue, abgeleitete, künstliche Sinnlichkeit der Waren.

8. Der Wert als das Abstrakt-Allgemeine ist nicht eine Eigenschaft des Sinnlich-Konkreten: "Umgekehrt (steht) das Sinnlich-Konkrete als blosse Erscheinungs- oder Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen" (Marx).

9. Diese "Verkehrung" spiegelt die Konstruktion der Allegorie: Die Allegorie geht von einem Abstrakt-Allgemeinen aus und stellt sich als Sinnlich-Konkretes dar. Der abstrakte Wert verbirgt sich unter einer dinglichen Hülle.

10. Produktion und Tausch von Gebrauchsgütern gibt es, seit Menschen in Gesellschaften leben. Im Kapitalismus aber werden diese Güter als Waren produziert und wird der Warentausch zu einer neuen, alles beherrschenden Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs.

11. Um sich miteinander vergleichen zu können, benötigen die Waren eine allgemeine Ware; diese ist die "Geldware": das Geld.

12. Im Geld wird das Unsichtbare, die Abstraktion des Werts, sichtbar. Wenn Faust in der Mummenschanz in der Maske des Plutus auftritt, erscheint er als Personifikation: als Allegorie des abstrakten Werts.

13. Da die Waren nicht selbst auf dem Markt in Austausch treten können, müssen es die Menschen für sie tun. Die Waren übernehmen so die Eigenschaften der Menschen, und die Menschen die der Waren.

14. Auftritt der Charaktermaske: "Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Waren und daher als Warenbesitzer. (...) ... die ökonomischen Charaktermasken der Personen (sind) nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenübertreten." (MEW 23, 99 f.)

15. In früheren Gesellschaften waren die Abstraktionen fiktiv, in der kapitalistischen Gesellschaft sind sie real. Marx: Während "die Individuen (...) früher voneinander abhingen, (werden) sie nun von Abstraktionen beherrscht". (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Frankfurt/Wien o.J. S. 82.)

16. Das Kapital ist eine "Abstraktion in actu" (Marx, ebd., S. 24, 109). Es ist eine handelnde Abstraktion: "Sie verkörpert sich in wechselnden Personifikationen, sie leiht den Individuen die Charaktermasken, mit denen sie sich auf dem Markt begegnen und lässt eine bunte Welt künstlicher Erscheinungen aus seiner kargen Logik hervorgehen." (Schlaffer, S. 62)

17. Die Allegorie ist die poetische Erscheinungsform der ökonomischen Charaktermaske: Abstraktion → Charaktermaske → Allegorie.

Was Marx rational-analytisch erkannt hat: die grundlegenden Strukturen und Mechanismen, welche die Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu beherrschen begannen, das hat Goethe, auf der Höhe des ökonomischen Wissens seiner Zeit und kraft seines überlegenen Geistes, intuitiv erfasst und poetisch gestaltet: Der Künstler übertrifft den Denker. Die Kategorien der Wertabstraktion werden im Faust II als allegorische Gestalten auf der Bühne erscheinen.

Die Maskerade der Abstrakta

Die wundersame Geldschöpfung soll mit einem großen Fest, einem Karneval, gefeiert werden; stattfinden soll er laut Bühnenanweisung in einem "weitläufigen Saal, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz".

Hier werden sich die allegorischen Gestalten präsentieren. Der Szenentext macht deutlich, dass es sich um eine doppelte Darstellung handelt: eine bewusste, reflektierte Darstellung. Die Figuren stellen etwas dar und machen zugleich bewusst, dass es eine Darstellung ist, ja, die allegorischen Gestalten selbst weisen den Zuschauer ausdrücklich darauf hin, wenn sie von sich feststellen: "Denn wir sind Allegorien." (V. 5531) Das sinnliche Äußere verweist auf die teils offenliegenden, teils verborgenen Bedeutungen. Denn das verlangt die an den Verstand appellierende Struktur der Allegorie vom Interpreten: Er muss bildliches Konstrukt und begrifflichen Inhalt voneinander trennen.

Es ist ein Karneval im italienischen Stil. Die auftretenden Figuren wie z.B. Gärtnerinnen sind nicht wirkliche Gärtnerinnen, sondern sie sowie die mythischen Figuren oder die Objekte wie Olivenzweige und Ährenkränze werden von Mitgliedern des Hofstaats dargestellt. Es geht nicht um das Nachspielen des tatsächlichen Lebens, sondern es ist ein künstliches Spiel, das durch die Maskerade noch potenziert wird.

Jeder nimmt nach Anweisung des Herolds als Regisseurs der Mummenschanz eine ihm fremde Rolle an. Dadurch verstärkt sich die Distanz zwischen sinnlicher Figur und präsentierter Idee, zumal jede Maske die Bedeutung ihrer Rolle sentenzenhaft formulieren soll: "Verkünde jede, wer sie sei (...) Sag von dir selber auch das Was und Wie!" (V. 5406 u. 5572) Bei diesen Sentenzen geht es nicht um das Individuelle der Rollen, sondern um das Gesellschaftlich-Allgemeine, und damit offenbaren sie ihre Rolle im gesellschaftlichen Zusammenhang. Sie stellen keine Individualitäten dar, sondern verkörpern samt ihren jeweils typischen Attributen abstrakte Funktionen. Das soll am Auftritt der Gärtnerinnen und Gärtner exemplarisch gezeigt werden (V. 5088-5177, in Auszügen).

Auftritt der Gärtnerinnen und Gärtner mit ihren Produkten

GÄRTNERINNEN Gesang begleitet von Mandolinen
Euren Beifall zu gewinnen
Schmückten wir uns diese Nacht
Junge Florentinerinnen
Folgten deutschen Hofes Pracht;

Tragen wir in braunen Locken
Mancher heitern Blume Zier
Seidenfäden, Seidenflocken
Spielen ihre Rolle hier.

Denn wir halten es verdienstlich,
Lobenswürdig ganz und gar
Unsere Blumen, glänzend künstlich,
Blühen fort das ganze Jahr.

Allerlei gefärbten Schnitzeln
Ward symmetrisch recht getan;
Mögt ihr Stück für Stück bewitzeln
Doch das Ganze zieht euch an.

Niedlich sind wir anzuschauen,
Gärtnerinnen und galant
Denn das Naturell der Frauen
Ist so nah mit Kunst verwandt.

HEROLD
Laßt die reichen Körbe sehen
Die ihr auf den Häupten traget
Die sich bunt am Arme blähen
Jeder wähle was behaget.
Eilig daß in Laub und Gängen
Sich ein Garten offenbare
Würdig sind sie zu umdrängen
Krämerinnen wie die Ware.

GÄRTNERINNEN
Feilschet nun am heitern Orte
Doch kein Markten finde statt
Und mit sinnig kurzem Worte
Wisse jeder was er hat.

OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN
Keinen Blumenflor beneid' ich
Allen Widerstreit vermeid' ich,
Mir ists gegen die Natur.
Bin ich doch das Mark der Lande,
Und, zum sichern Unterpfande,
Friedenszeichen jeder Flur.
Heute hoff' ich soll mir's glücken
Würdig schönes Haupt zu schmücken.

ÄHRENKRANZ golden
Ceres Gaben euch zu putzen
Werden hold und lieblich stehn
Das Erwünschteste dem Nutzen
Sei als eure Zierde schön.

PHANTASIEKRANZ
Bunte Blumen Malven ähnlich
Aus dem Moos ein Wunderflor!
Der Natur ists nicht gewöhnlich
Doch die Mode bringts hervor. (...)
Mögen bunte Phantasien
Für des Tages Mode blühen,
Wunderseltsam sein gestaltet,
Wie Natur sich nie entfaltet;
Grüne Stiele, goldne Glocken
Blickt hervor aus reichen Locken! - (...)

Unter grünen Laubgängen putzen die Gärtnerinnen zierlich ihren Kram auf.

GÄRTNER Gesang begleitet von Theorben
Blumen sehet ruhig sprießen
Reizend euer Haupt umzieren
Früchte sollen nicht verführen
Kostend mag man sie genießen.

Bieten bräunliche Gesichter
Kirschen, Pfirschen, Königspflaumen,
Kauft! denn gegen Zung' und Gaumen
Hält sich Auge schlecht als Richter.
Kommt von allerreifsten Früchten
Mit Geschmack und Lust zu speisen!
Über Rosen läßt sich dichten,
In die Äpfel muß man beißen.

Sei's erlaubt uns anzupaaren
Eurem reichen Jugendflor
Und wir putzen reifer Waren
Fülle nachbarlich empor.

Unter Wechselgesang, begleitet von Gitarren und Theorben, fahren beide Chöre fort ihre Waren stufenweis' in die Höhe zu schmücken und auszubieten.

Erläuterungen:
Deutschen Hofes Pracht: in deutsche Trachten gekleidet; Schnitzel: bunte Aufnäher; bewitzeln: bespötteln; feilschen: handeln; markten: mäkelnd herabsetzen; Mark der Lande: Kraftquell, auch ökonomisch als Italiens wichtigstes Exportgut; Friedenszeichen: der Ölbaumzweig; Ceres: röm. Fruchbarkeitsgöttin; putzen: schmücken; nicht gewöhnlich: nicht vorkommend; Flora: röm. Göttin der Blumen; zierlich: schön geordnet; Pfirschen: Pfirsiche; Äpfel: (erotische) Anspielung an die Paradiesesäpfel; anpaaren: erotische Konnotation (zusammen mit den Äpfeln).

"Auftritt der Gärtnerinnen und Gärtner mit ihren Produkten" heißt die Bühnenanweisung. Es war zu Goethes Zeiten üblich, dass Gärtner ihre Produkte auf dem Markt feilboten, und so auch hier. Im Mittelpunkt der Szene stehen jedoch nicht die Figuren selber, sondern ihre Produkte, die Waren. Die Gärtnerinnen als Dienerinnen der Natur singen aber kein Loblied auf die segenspendende Natur, sondern auf ihre Produkte, die Waren, wie sie selbst diese auch bezeichnen. Die Waren werden mittels zahlreicher schmückender Worte und Wendungen angepriesen oder neudeutsch: beworben. Die Gärtnerinnen wirken nicht durch ihre natürliche, zweckfreie Schönheit, sondern sie haben sich selbst mit allerlei modischen Accessoires zurechtgemacht: mit "Schnitzeln", "Seidenfäden", "Seidenflocken", und sie preisen die Künstlichkeit ihrer Erscheinung ebenso wie die ihrer "aufgeputzten" Produkte: "unsere Blumen, glänzend künstlich". Es wird eine künstliche Sinnlichkeit erzeugt, alles steht im Dienst der Reklame und mündet in die Aufforderung "Kauft!" (V. 5164) Sind die Gärtnerinnen so zu Attributen ihrer Waren geworden, so verselbständigen sich diese auch selber und verwandeln sich in redende Personen: Olivenzweig, Ährenkranz, Blumenstrauß. Präziser und bündiger als Marx selbst kann man den hier zugrundeliegenden Sachverhalt nicht formulieren:

"Die ökonomischen Charaktermasken der Personen sind nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenübertreten." (MEW 23, S. 99 f.)

Dazu passt eine Feststellung des Mephisto aus der (später folgenden) klassischen Walpurgisnacht. Mephisto ist irritiert, als er lüstern den Lamien - vampirähnlichen Wesen der griechischen Mythenwelt - nachstellt und feststellen muss, um welche bizarren Gestalten es sich bei diesen handelt. Diese Erfahrung erinnert ihn an die vorherige Mummenschanz am Kaiserhof, und er stellt fest:

Ist eben hier eine Mummenschanz
Wie überall, ein Sinnentanz.
Ich griff nach holden Maskenzügen
Und faßte Wesen, daß mich's schauderte...
(V. 7795 ff.)

An der Analyse dieses kleinen Ausschnitts ist, so denke ich, exemplarisch deutlich geworden, in welcher Weise der tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungsprozess in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts - der Weg in die Herrschaft der Gesetze des Kapitalismus - von Goethes universalem Geist künstlerisch erfasst worden und in die Dichtung eingegangen ist.

Damit möge es sein Bewenden haben. Einen Ausblick auf Schlaffers Untersuchung möchte ich am Schluss geben. Für ihn sind die weiteren Kapitel, ja der gesamte Faust II, eine einzige umfassende Allegorie: Der Faust II als die Allegorie einer von den abstrakten Mechanismen des Kapitalismus beherrschten Welt.

Man hat gerätselt, weshalb Goethe nach Abschluss des Faust II verfügt hat, dass dieses Werk erst nach seinem Tode veröffentlicht werden sollte. Der Faust II ist allein schon rein sprachlich-inhaltlich schwierig genug zu verstehen, viel schwieriger aber noch in Hinsicht der außerordentlich komplexen poetischen Konstruktion. Vielleicht wollte Goethe eine heftige öffentliche literarische Debatte über die von ihm gewählte Darstellungsform, eine Darstellungsform, die nicht nur als ungewöhnlich, sondern geradezu als anstößig, weil als rückständig galt - vielleicht wollte der 82-jährige Alte sich diese Debatte nicht mehr zumuten. Wir aber sollten uns mit unseren entwickelten Begriffen der Kapitalismuskritik dieser Lektüre erneut stellen.

Der Schlussakt des Faust II ahnt im skrupellosem Unternehmertum des Teufelsbündners hellsichtig das künftige Menschheitsverhängnis. "Es wird die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn", prahlt er, todverfallen, physisch blind geworden und geistig verblendet. Seine Spur erstreckt sich, zur Hauptstraße verbreitert, bis in unsere Tage. Eine irdische Lösung sieht sein Autor nicht vor. Fausts "Erlösung", um der Bühnenanschaulichkeit willen mit allerlei christlichen Versatzstücken drapiert, aber bar aller Kreuzestheologie, ereignet sich in einer fernen Transzendenz als mystischer Akt der Läuterung: als eben "das Unbeschreibliche", das die Dichtung nicht mehr zu beschreiben vermag, das gleichwohl "hier getan" wird - trotz der Blutspur von Verbrechen und Katastrophen, die Faust, der moderne Mensch, in seinen Erdentagen hinterlassen hat.

Literatur

Schlaffer, Heinz: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981.

Goethes Werke werden zitiert nach der Artemis-Gedenkausgabe, hsgg. v. Ernst Beutler, Zürich 1949, Nachdruck Zürich/München 1977.

Der Faust wird zitiert nach der Ausgabe von Albrecht Schöne: Faust. Texte, in: Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 7/1, Frankfurt a.M. 1994.

*

Auslauf

Humans welcome! Everywhere

von Lorenz Glatz

Der Literaturnobelpreisträger José Saramago soll geschrieben haben: "Die Vertreibung aus dem Süden in den Norden ist unausweichlich, sie wird weder von Stacheldraht, noch Mauern oder Deportationen zu verhindern sein. Millionen werden kommen und Europa wird von den Hungernden eingenommen werden. Sie werden auf der Suche nach dem kommen, was wir ihnen gestohlen haben. Für sie gibt es keinen Weg zurück, denn sie werden von einem Jahrhunderte währenden Hunger getrieben und folgen dem Duft des Essens. Der Hass ist aufgetischt und wir werden Politiker brauchen, die mit dieser Situation umzugehen wissen."

Die Vorhersage ist auf dem Weg zur Realität. Die Flüchtlingsströme sind durch Sperren und Polizeigewalt nur umzulenken und zu verlangsamen, selbst Schießen wird sie auf die Dauer so viel und wenig aufhalten wie die Aussicht, im Mittelmeer zu ertrinken.

Freilich: Die "Politiker, die mit dieser Situation umzugehen wissen", sind Politiker und dazu da, die Verhältnisse zu verwalten. Aber "die Verhältnisse, die sind nicht so", dass sie ein gutes Leben für alle erlauben würden. Die globale Konkurrenz der Märkte ruiniert die Lebensgrundlagen von immer mehr Menschen immer schneller. Die gleichfalls konkurrenzgepeitschte Steigerung der Produktivität macht ArbeiterInnen massenhaft überflüssig, treibt sie ins Elend. Zugleich stoppt sie das Wachstum der Verwertung. Sie macht das Geldwachstum, das Herz der Marktwirtschaft, fiktiv, basierend auf Schulden und Spekulation auf künftige Verwertung, die nicht mehr kommt. Die Weltordnungskriege vermehren die Zahl der failed states nur weiter. Und die von zweihundert Jahren Kapitalismus malträtierte Natur wird stückchenweise für uns Säugetiere unbewohnbar.

Staat, Geld, Kapital und Arbeit sind Grundstrukturen einer Ordnung gefrorener Gewalt. Sie müssen "abgewickelt" werden, denn sie schmelzen unvermeidlich in den Aggregatzustand flüssiger Gewalt. In dem ist aber nicht zu leben.

Was können Menschen, die in diesen wilden Strom geraten, viel anderes tun, als auf eine gerade noch feste Scholle sich zu flüchten? Auch wenn diese durch die Ankunft des Terrors in Europa und die Antwort darauf auch schon deutlich Risse zeigt. Und was sollten Menschen hier, die sich Gedanken um den Gang der Dinge machen, die bei der Not der anderen nicht einfach zuschauen wollen, anderes tun, als ihnen beizuspringen, sie nicht der Charity, dem Lager, dem Staat und seinem Fremdenrecht, der Wirtschaft und den Rassisten zu überlassen, sondern mit ihnen das globale Gastrecht aller Menschen auf der Erde zu beanspruchen, gestalten und verteidigen zu versuchen?

Die Menschlichkeit des Kapitals orientiert sich an einem erhofften "Wachstumsschub" durch Millionen Flüchtlinge als arbeitsamem Frischfleisch, durch Lohnsenkung und Sozialabbau. Und die Arbeit sieht in den Asylwerbern bloß Konkurrenten um Arbeitsplätze und noch vorhandene soziale Rechte. Xenophobie grassiert. Diese ausgetretenen Pfade führen zu Selektion nach "Brauchbarkeit", Verarmung und Verhetzung, Mord und Totschlag. "Der Hass ist aufgetischt", es können nur wir selber sein, die ihn nicht fressen, sondern vom Tisch fegen.

Unsere Scholle ist das Zentrum der Gewalt, Garant der Ordnung, vor deren Konsequenzen zig Millionen Menschen auf der Flucht sind. Hier sind die Waffenschmieden, die Zentralen der wundersamen Geldvermehrung, der Bauch der Welt, der auffrisst, "was wir ihnen gestohlen haben", wie es Saramago sagt. Und den Dreck davon von sich weg über die Welt verteilt.

Nichts davon ist haltbar. Der erodierende Rand wird sozial und geographisch immer breiter. Dass jetzt Hunderttausende Menschen, also unsereiner, fliehend die Grenzen Europas überrennen, und dass Terror und Antiterror auch hier im Inneren aufbrechen, macht die Hoffnungslosigkeit der alten Ordnung sichtbar. Dass die aus ihrem Zerbrechen fließende Barbarei eingedämmt und ausgetrocknet werden kann, braucht die Entmachtung gerade auch des Zentrums, das seinen Untergang hinauszögert, indem es die verheerenden Konsequenzen des Abschmelzens der gefrorenen Gewalt dem weiten "Rest der Welt" aufzubürden sucht. Es geht nicht um den Aggregatzustand der Gewaltordnung, es geht um das Ende der Vergewaltigung von Mensch und Natur. Damit niemand fliehen muss und alle überall willkommen sind. Mit weniger ist ein gutes Leben nicht zu haben.

*

AutorInnen

Uwe von Bescherer, 1955. Halbherziges Studium der Philosophie, danach bis heute Kampfkunstlehrer. Zappelt schon viel zu lange in den elenden Netzen des bürgerlichen Lebens.

Julian Bierwirth hat es nach einem langen Studium der Soziologie und Pädagogik nach Kassel verschlagen. Er arbeitet in der Jugendverbandsarbeit, wirkt darüber hinaus als Bildungsarbeiter in verschiedenen sozialen und politischen Zusammenhängen.

Hermann Engster, 1942. Lebt in Göttingen, Studium der Nordistik und Germanistik, War u.a. in der Erwachsenenbildung im Bereich Fremdsprachen tätig, zzt. Dozent an der Universität des dritten Lebensalters der Univ. Göttingen, Seminare zu Literatur und Opern, Vortragstätigkeit zum Thema "Wagner und der Antisemitismus", seit 25 Jahren Fan der Wertkritik bei der Krisis und im Trafoclub der Streifzüge.

Immanuel Kant lebte von 1724 bis 1804 in Königsberg. Philosoph. Umfassende Schriften zur Erkenntnistheorie sowie zur Religions-, Rechts- und Geschichtsphilosophie, darunter die Kritik der reinen Vernunft, zuletzt die Anthropologie in pragmatistischer Hinsicht (um 1798).

Thomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa (2015).

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsytems (2010).

Annette Schlemm, 1961. Physikerin und Philosophin, lebt in Jena und betreibt das Virtuelle "Philosophenstübchen" auf www.philosophicum.de

Sowie: Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl, Martin Scheuringer, Ricky Trang, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

*

IMPRESSUM

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Website: www.streifzuege.org

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REDAKTION
(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des
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Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl,
Martin Scheuringer, Ricky Trang,
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Covergestaltung: Isalie Witt
Layout: Françoise Guiguet

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ABONNEMENTS
Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr.
1 Jahr 21 Euro, 2 Jahre 39 Euro, 3 Jahre 54 Euro.
Probenummer gratis

*

Quelle:
Streifzüge Nr. 65, Herbst 2015
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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E-Mail: redaktion@streifzuege.org
http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2016

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