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STREIFZÜGE/026: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 53, Herbst 2011


Streifzüge Nummer 53 / Herbst 2011

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Erich Ribolits: Bildung - (k)ein Menschenrecht?

Petra Ziegler: Götzendienste
Beitrag zur Demontage einer Vielgepriesenen

Julian Bierwirth: Die Zeit der Arbeit

Norbert Trenkle: Massenausfall
Wie der Kapitalismus an seiner eigenen Produktivität erstickt

Emmerich Nyikos: "Reich der Notwendigkeit" und "Reich der Freiheit".
Zum Verhältnis von Arbeit und freier Aktivität

Franz Schandl: Reich der Arbeit

Juliane Gross: Dein Schulbuch lügt.
Wie die Schule systematisch eine Traumwelt schafft - Kapitel "Arbeit"

Peter Samol: Sp(r)itzenleistungen. Doping am Arbeitsplatz dürfte
langsam aber sicher zum Normalfall werden

Jan-Hendrik Cropp: Die post-revolutionäre Möhre. Hier und Jetzt.
Solidarische Landwirtschaft auf dem Weg zur Schenkökonomie

Home Stories: mit Beiträgen
von Lorenz Glatz und Ricky Trang

Andreas Exner: Innehalten. Das Erspüren von Boden unter den Füßen

Carl Unwert: Hinter den Masken des Akademischen.
Wie Kapitalinteressen und Hochschulreformen die Universitäten verändern

Franz Schandl: Der Conferencier als Condottiere

Lorenz Glatz: Unsere Gedanken sind nicht ohne Grund

Kolumnen
Immaterial World: Stefan Meretz
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Rückkopplungen: Roger Behrens

Rubrik 2000 Zeichen abwärts
Julian Bierwirth (J.B.)
Günter Anders

Raute

Einlauf

von Petra Ziegler

Im Kapitalismus wird zur Drohung, was eigentlich erst Luft verschaffen könnte. Verdammt viel an Arbeit wurde schon verzichtbar, auf vieles wäre gut und gerne zu verzichten. Sieht eins sich um, ist unschwer zu erkennen, was da an Zeit und Energie verschwendet wird, geht zu nicht geringen Teilen drauf, um das marode Werkel noch irgendwie am Laufen zu halten.

Die Arbeitsgesellschaft nähert sich dem Gipfel ihrer Destruktivkraft. In ebenso logischer wie wahnwitziger Konsequenz erhöht sie Arbeitszwang und -intensität und damit den Leidensdruck jener, die "Arbeit" haben und derer, die - aus welchen Gründen immer - Abstinenz üben, sowieso.

Staat und Kapital hängen an der Arbeit. Wir alle hängen an der Arbeit, solange unser (nicht nur im engeren Sinn) materielles Leben und Überleben an das gekoppelt bleibt, was bei der Mehrung des Geldes für uns abfällt.

Im Mittelpunkt der Ausgabe 53 der Streifzüge steht die Kritik der Arbeit als zentrales Zwangs- und Vermittlungsprinzip unserer Gesellschaft. Die einzelnen Beiträge nähern sich von unterschiedlichen Seiten, sie wiederholen manches bereits hier und andernorts Gesagtes, bringen Wesentliches auf den Punkt, versuchen aber auch neue Akzente zu setzen. Wir wünschen anregende Lektüre.

Postskriptum: Auch wir sind nicht frei von Abhängigkeiten. Es ist die Zeitschrift, die uns im Innersten zusammenhält. Zwar weist die Statistik eine stetig steigende Zahl von Zugriffen auf unsere Homepage aus, die Schar der AbonnentInnen bleibt dagegen überschaubar. Alle Neu- und AltabonnentInnen, die bis Jahresende ein Dreijahresabo der Streifzüge zu 45 Euro ordern, bekommen von uns noch ein Buch obendrauf. Zur Auswahl: "Dead Men Working - Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs" (Lohoff/Trenkle/Wölflingseder/Lewed Hg.) oder aber: "Die Grenzen des Kapitalismus - Wie wir am Wachstum scheitern" (Exner/Lauk/Kulterer). Abowunsch und Wunschtitel bitte per E-Mail an redaktion@streifzuege.org

Raute

Bildung - (k)ein Menschenrecht?(*)

von Erich Ribolits

Als Argument gegen aktuelle Überlegungen und Ansätze zur (Wieder-)Einführung von Studiengebühren an österreichischen Universitäten wird verschiedentlich ein geltendes "Recht auf Bildung für alle" ins Treffen geführt. Die Möglichkeit, studieren zu können - so wird argumentiert -, sei ein fundamentales Menschenrecht, das durch politisch errichtete Hürden nicht unterlaufen werden darf. Auch auf universitärer Ebene soll die freie Zugänglichkeit zu Bildung für jeden gewährleistet sein, der eine entsprechende Eignung nachgewiesen hat. Gefordert wird, dass Bildung nicht auf den Status einer kauf- und verkaufbaren Ware reduziert werden darf und sozial Schwächere durch Studiengebühren nicht von einem Studium abgehalten werden dürfen. Tatsächlich findet sich sowohl in der von Österreich schon vor langer Zeit anerkannten "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen" aus auch in der internationalen "Konvention über die Rechte des Kindes" ein Passus, der das Recht auf Bildung festschreibt. Aber abgesehen davon, dass bei derartig in nationalen oder internationalen Erklärungen deklarierten Meta-Rechten, schon allein wegen der Allgemeinheit ihrer Formulierung, kaum je die Möglichkeit besteht, sie auch tatsächlich juristisch durchzusetzen, spießt sich bei näherem Hinsehen das Konzept der Menschenrechte gleich in mehrfacher Hinsicht mit der Vorstellung einer der Ermächtigung von Menschen dienenden Bildung.

In der Regel wird der Hinweis auf das Recht auf Bildung ja aus einer Position vorgebracht, dass Bildung eine bzw. sogar die wesentliche Grundlage dafür ist, Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen und ihnen zu ermöglichen, in die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens im Sinne ihrer Interessen eingreifen zu können. Dementsprechend kritisch wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf den hierzulande besonders eklatanten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Höhe der von ihnen erreichten Bildungsabschlüsse hingewiesen und betont, dass die soziale Selektivität des Bildungswesens zu gravierenden Benachteiligungen hinsichtlich der "Lebenschancen" von Menschen aus "sozial schwachen" Bevölkerungsgruppen führt. Gefordert wird deshalb, dass einzig Leistungsfähigkeit und -bereitschaft über den Zugang zu den unterschiedlichen Ebenen des Bildungswesens entscheiden sollen - jeder soll die gleichen Chancen haben zu beweisen, dass er ein besonders hohes Verwertungspotential seiner Arbeitskraft in sich trägt. Die der Legitimation des Sortierens nach Siegern und Verlierern dienende Leistungskonkurrenz soll weder durch sozial bedingte noch durch anderweitig verursachte unterschiedliche Möglichkeiten der Bildungsteilhabe verzerrt werden. Die Erkenntnis, dass das im Rahmen der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung dem Einzelnen jeweils zugestandene Maß an "persönlichem Spielraum" wesentlich vom Preis abhängig ist, den er für den Verkauf seiner Arbeitskraft am Arbeitsmarkt abhängt, führt zur Forderung, dass alle die gleiche Möglichkeit haben sollen, durch das Absolvieren von (höheren) Bildungsgängen eine besondere Brauchbarkeit zu dokumentieren.

Das Argument, Bildung sei ein Menschenrecht und keine Ware, birgt in sich somit einen unauflöslichen Widerspruch: Einerseits dient der Hinweis auf das Menschenrecht dazu, eine grundsätzliche Gleichheit und besondere Würde aller Menschen zu postulieren. Bildung wird als ein allen Menschen im gleichen Maß zukommendes Grundrecht definiert und ausdrücklich gefordert, dass das allumfassende Verwertungspostulat der ökonomischen Ordnung nicht darüber entscheiden soll, wem Bildung in welcher Höhe zukommt. Andererseits wird argumentiert, dass die für alle frei zugänglich geforderte (universitäre) Bildung Menschen befähigen soll, sich als "Ware Arbeitskraft" am Markt verkaufen und vom erzielten Erlös das kaufen zu können, was unter den Bedingungen der Warengesellschaft als "Freiheit" feilgeboten wird. Als Grundrecht wird Bildung mit der "Würde" des Menschen begründet und soll den Marktmechanismen entzogen sein, zugleich soll sie aber der je eigenen Positionierung am Markt dienen und somit Ausdruck für den "Wert" von Menschen sein.

Der Appell, dass Bildung ein Menschenrecht sei und nicht auf den Status einer Ware reduziert werden soll, korreliert damit perfekt mit dem dem Bildungsbegriff seit seinem Bestehen innewohnenden Antagonismus, dass Bildung als herrschaftskritische Größe propagiert wird, tatsächlich aber stets nur die bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse bestätigt hat. Wie schon an anderer Stelle ("Erhebet euch Geliebte, wir brauchen eine Tat!" in Streifzüge 50/2010) dargelegt, wurde der Bildungsbegriff zwar stets mit der Orientierung an Selbstbefreiung verbrämt, diente real aber immer der Unterordnung unter die Forderungen der Ökonomie.

Seit ihrer Herausbildung parallel mit dem Heraufdämmern des bürgerlichen Zeitalters ist die Idee der Bildung untrennbar mit der Logik der kapitalistischen Ökonomie verknüpft. Für sie gilt in sinngemäß gleicher Form, was Adorno/Horkheimer bezüglich Kultur konstatiert haben: Sie "ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, dass sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, dass man sie nicht mehr gebrauchen kann." (Adorno/Horkheimer 2000: 197) Durch die vom Verwertungsdiktat bestimmte Logik des politisch-ökonomischen Systems wird der Gebrauchswert von Bildung - die Emanzipation des Menschen im Sinne des Transzendierens jener Entfremdung, die die Grundlage seines gesellschaftlichen Funktionierens darstellt - völlig unterlaufen und ad absurdum geführt. Unter diesen Umständen ungebrochen Bildung als Synonym für ein Hervorbringen des Menschlichen am Menschen zu beschwören heißt, die Augen davor zu verschließen, dass es der Warenökonomie immanent ist, alles - jedes tote oder lebendige Ding oder Verhältnis - zur Ware zu machen; somit ist aber auch die Fähigkeit des Menschen, die Welt nach seinem Dafürhalten zu gestalten, vom ökonomischen Gesetz der Rationalität und Effektivität vereinnahmt.


Die Logik der Verwertung

In der kapitalistischen Ökonomie werden Güter nicht produziert und am Markt feilgeboten, um Menschen mit überlebensnotwendigen oder ihr Leben bequemer machenden Dingen zu versorgen; und auch Dienstleistungen werden nicht angeboten, um das Leben von Menschen angenehmer zu machen. Alle diesbezüglichen Aktivitäten stellen keine "sozialen Akte", sondern "ökonomische Unternehmungen" dar, deren Zweck die Verwandlung von Geld in mehr Geld, das Vermehren investierten Kapitals ist. Die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen stellt dabei bloß einen unumgänglichen Nebeneffekt dar, der je nach Möglichkeiten ja auch durchaus vermieden wird. Sobald die Chance besteht, (langfristig) eine höhere Rendite zu erzielen, indem Kapital nicht in der so genannten Realwirtschaft angelegt wird, sondern in Bereichen, in denen Geldvermehrung ohne den Umweg über Produktion und Distribution möglich ist, geschieht das selbstverständlich auch. Und der "Logik der Geldvermehrung" entsprechend, werden Investoren ihr Kapital aus realwirtschaftlichen Aktivitäten auch abziehen, wenn damit kein ausreichender Gewinn realisierbar ist, was vielfach das Ende der betroffenen Produktion und Distribution bedeutet - unabhängig davon, wie dringend die betroffenen Menschen diese Güter auch brauchen mögen!

Sinngemäß genauso wird auch im so genannten Bildungswesen die menschliche Fähigkeit, sich lernend die Welt zu erschließen und in ihre Gestaltung einzugreifen, nicht deshalb aktiviert, um Menschen in der Gestaltung ihres Lebens mündiger zu machen, sondern um sie in brauchbares - das heißt: der Geldvermehrung dienliches - Humankapital zu verwandeln. Dazu ist zum einen notwendig, sie in einer Form zu qualifizieren, die sie als Arbeitskraft in die Lage versetzt, so viel Mehrwert zu schaffen, dass - nach Abzug ihres Lohnes und aller sonstigen Ausgaben, die für die jeweilige wirtschaftliche Unternehmung notwendig sind - ein gegenüber anderen Möglichkeiten der Geldvermehrung konkurrenzfähiger Gewinn übrigbleibt. Zum anderen ist ihre Brauchbarkeit aber in höchstem Maß auch davon abhängig, wieweit sie gelernt haben, sich mit dem ihnen aufgeherrschten Humankapitalstatus zu identifizieren. Es sind somit zwei Aufgaben, die die im gesellschaftlichen Auftrag tätigen und dementsprechend zum Perpetuieren des politisch-ökonomischen Systems verpflichteten Bildungseinrichtungen erfüllen müssen: ihre Klientel im Sinne der Verwertungserfordernisse qualifizieren und sie dazu bringen, das System, das Geldvermehrung zur zentralen Triebkraft hat, gutzuheißen. Dafür gilt es vor allem die Erkenntnis von Menschen hintanzuhalten, dass ihre Bedürfnisse über das weit hinausgehen, was die Warengesellschaft als Lohn für ihre Domestikation bereithält, und zudem auf einer ganz anderen Ebene liegen.

Unter den skizzierten politisch-ökonomischen Bedingungen ein Recht auf Bildung zu urgieren, ist somit letztendlich gleichbedeutend mit dem Einfordern des allgemeinen Rechts, sich für die Verwertung zurichten lassen zu dürfen. Dem von durchaus menschenfreundlicher Position aus vorgetragenen Appell nach einem "Menschenrecht auf Bildung" gilt es in diesem Sinn genauso ambivalent gegenüberzutreten wie einem solchen nach einem - in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ja ebenfalls angesprochenen - "Recht auf Arbeit". Für Menschen, die nicht auf ein veritables Vermögen zurückgreifen können, ist ein mehr oder weniger adäquates Überleben innerhalb der gegebenen Gesellschaftsformation nur durch ein erfolgreiches Zu-Markte-Tragen ihrer Arbeitskraft möglich. Diese Not macht es für die Majorität der Gesellschaftsmitglieder erforderlich, um einen Lohnarbeitsplatz kämpfen zu müssen. In der Regel hindert sie das jedoch keineswegs, von einem arbeitsfreien Leben zu träumen und sich auf das nächste Wochenende, den Urlaub oder die Pensionierung zu freuen. Auch wenn es unserem auf Verwertung getrimmten Bewusstsein gar nicht so leichtfällt, den Übergang zu derartigen (lohn-)abeitsfreien Lebensphasen zu bewältigen, ist den meisten Menschen nämlich sehr wohl bewusst, dass ihr Wunsch, einen Käufer für ihre Arbeitskraft zu finden und in dessen Auftrag zu funktionieren, aus einer Zwangslage geboren ist und kein ursprüngliches Bedürfnis widerspiegelt.

Die Forderung nach einem "Recht auf Arbeit" ist in Hinblick auf den Gerechtigkeitshorizont des aktuellen Gesellschaftssystems somit durchaus nachvollziehbar und im Sinne derer, die diese Forderung propagieren, auch "nützlich", allerdings muss klar sein, dass sich ein derartiger Anspruch im Horizont des Verwertungssystems bewegt und keinen Deut darüber hinausweist. Die seit Generationen wirksame, an Verwertung und Konkurrenz orientierte Domestizierung unseres Bewusstseins lässt vielen Menschen freilich auch schon eine derartige Forderung nach einem - in der Menschenrechtskonvention in dieser eindeutigen Form übrigens nicht formulierten - verbrieften Anrecht auf einen Lohnarbeitsplatz frivol erscheinen. Der Wunsch nach bedingungsloser Wohlversorgtheit bzw. nach einem Leben, dessen selbstbestimmte Gestaltung so wenig als möglich durch "Notdurft des Daseins" eingeschränkt wird, ist dem Bewusstsein der meisten Gesellschaftsangehörigen allerdings derart fremd, dass ihnen eine entsprechende Forderung völlig verrückt erscheint. Genauso wenig lässt sich letztendlich auch die Vorstellung von Lernen als Akt der Selbstbefreiung und Grundlage für anwachsenden "Eigensinn" - also die Möglichkeit, einem inneren Antrieb entsprechend und unabhängig von der Notwendigkeit, aus dem Gelernten irgendwann einmal eine Rendite herausschlagen zu müssen, lernen zu können - mit dem allgemein verbreiteten Weltbild in Einklang bringen. Genauso wie Lohnarbeit erscheint uns Lernen gemeinhin als etwas, dem man sich nur unterzieht, weil und solange es notwendig ist. So wie Arbeitszeit gilt auch Lernzeit als Investition, die getätigt werden muss, um die im gegebenen System für "hingegebenes Leben" versprochenen Belohnungen zu lukrieren.


Konkurrenz als "natürliche" Lebensform

Wenn mit einem Menschenrecht auf Bildung argumentiert wird, werden damit (nur) dem bürgerlich-kapitalistischen System entsprechende Bedingungen des (Überbens eingefordert. Urgiert wird die für alle im gleichen Maß gegebene "Freiheit", sich durch Verdrängen anderer eine günstige Position in der gesellschaftlichen Hierarchie erkämpfen zu können. Diese bürgerliche Freiheit stellt im Vergleich zu den unmittelbaren Formen des Unterworfenseins von Leibeigenen, Vasallen oder anderen Unfreien im Feudalismus durchaus einen historischen Fortschritt dar. Die durch die bürgerliche Gesellschaft erreichte Verbesserung bestand darin, dass vordem bestehende politische Vorrechte und Benachteiligungen (weitgehend) zugunsten der Gleichheit aller Staatsbürger beseitigt wurden. Die Beschränkung der Gleichheit auf den politisch-rechtlichen Bereich ließ soziale Ungleichheit allerdings ungehindert fortbestehen. In diesem Sinn sollen die Menschenrechte letztendlich bloß gleiche Chancen beim Kampf um die begehrten Positionen im Ungleichheitsgefüge sicherstellen. Ihr Gerechtigkeitsanspruch ist beheimatet im bürgerlich-demokratischen Denkhorizont; was für alle Menschen im gleichen Maß gegeben sein soll, ist untrennbar an Verwertungsbereitschaft und Verwertungsbedarf gekoppelt. Der Appell nach einem für alle gleichermaßen geltenden Recht auf Bildung entpuppt sich unter diesen Umständen als ein Synonym des Anspruchs, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Rasse, seinem Geschlecht, seiner Religionszugehörigkeit ..., das Recht haben soll, qua angeeignetem Wissen und Können andere Menschen ausstechen zu können. In diesem Sinn äußerte sich schon der 25-jähige Karl Marx in seinem Aufsatz "Zur Judenfrage" unter Bezugnahme auf die "Déclaration des droits de l'homme" von 1793 kritisch: "Vor allem konstatieren wir die Tatsache, dass die sogenannten Menschenrechte [...] nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Mensch en. [...] Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade." (Marx 1976: 364)

Wie der Bildungsbegriff hat auch die Idee der Menschenrechte ihren Ursprung im Gedankengut der Aufklärung, jener historischen Epoche, in der die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen für das bürgerliche Zeitalter und den Kapitalismus begründet wurden. Von der Anerkennung der Naturrechte des Menschen bei Thomas Hobbes bis zur Durchsetzung der Menschenrechte als Legitimation des bürgerlich-demokratischen Staates bei Rousseau und Kant lässt sich eine durchgehende Entwicklungslinie nachzeichnen. Im Gefolge der in ersten Ansätzen in der Renaissance beginnenden Abkehr von der Annahme eines schicksalhaften Ausgeliefertseins an Natur und Vorsehung etablierte sich mit Beginn der Neuzeit auch der Gedanke der grundsätzlichen Gleichberechtigung der Menschen. In der bürgerlichen Gesellschaft traten dann an die Stelle der "Vorrechte der Geburt" individuelle Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit als Kriterien der Positionsverteilung.

Zur Legitimierung dieser veränderten gesellschaftlichen Situation war es notwendig, das Subjekt in einer - gegenüber der bis dahin geltenden Sichtweise - weitgehend veränderten Form wahrzunehmen: Es wird nun von einer dem Menschen innewohnenden autonomen Kraft der Selbstverwirklichung ausgegangen, einer Instanz des Erkennens und des Handelns, die ihre Grundlage nicht in den auf sie wirkenden äußeren Bedingungen, sondern in sich selber hat. Diese Interpretation des Subjekts wird zum Ansatzpunkt neuzeitlicher Pädagogik - Bildung wird nun nicht mehr als Modifikation im Sinne von - göttlichen - Vorgaben verstanden, sondern als Selbstbefreiung des Subjekts in Form fortschreitender Entbindung der in ihm angelegten Potentiale der Autonomie. Sie korreliert mit der Bereitschaft, "an sich selbst zu arbeiten" und "aus sich etwas zu machen". Das als "Souverän seiner selbst" apostrophierte Individuum soll sich permanent (selbst-)produzierend weiterentwickeln. In diesem Sinn war Bildung - wie Lederer (2009: 33) unter Bezugnahme auf Lenz (2005: 12) formuliert - von allem Anfang an "nicht nur Menschenrecht, sondern zugleich immer auch Menschenpflicht! Bildung ist Arbeit an uns selbst"! Der Mensch steht als notorisch unfertiges Subjekt unter dem "Diktat fortwährender Selbstoptimierung". "Unter dem Titel der 'Freiheit' als Unabhängigkeit suggeriert Bildung die Möglichkeit einer nur auf (zuallererst hervorzubringender) Allgemeinheit bezogenen Aus- und Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten, so dass Selbstsein schließlich als Selbststeigerung praktiziert werden muss." (Ricken 2006: 339)

Daraus ergibt sich zum einen der die Menschenrechte begründende Gerechtigkeitsanspruch, niemand solle von den Möglichkeiten dieser Form der Selbstverwirklichung ausgeschlossen sein. Zum anderen folgt aus der Vorstellung, dass es Aufgabe des Subjekts sei, die in ihm schlummernden Autonomiepotentiale zur Entfaltung zu bringen, die Möglichkeit, diesbezüglich mehr oder weniger erfolgreich zu sein. In Ermangelung eines objektiven Erfüllungskriteriums der geforderten Selbstproduktionsleistung steht allerdings nur der Vergleich mit anderen Subjekten und deren gesellschaftlicher Anerkennung zur Verfügung.

"[D]er Einzelne [kann] gar nicht anders, als sich in seinen Selbstverhältnissen auf die Erwartungen zu beziehen, die andere an ihn stellen" (Bröckling 2007: 28) und die sich aus dem gesellschaftlichen Status quo ableiten. Er steht unter dem Druck, permanent seinen jeweiligen Rangplatz am "Markt der Subjekte" zu eruieren. Die Folge ist, dass Konkurrenz die alles dominierende Bestimmungsgröße des sozialen Lebens in der auf das souveräne Subjekt aufbauenden bürgerlichen Gesellschaft ist; Gesellschaftsmitglied zu sein heißt, allen anderen als Kontrahent gegenüberzustehen. "Im Menschenrecht werden Individuen zu Subjekten geformt. Als Subjekte erkennen sie sich selbst als ihr Eigentum an, und die Subjektform wird in Bezug auf die Individuen zu dem, was der Tauschwert in der Ökonomie für den Gebrauchswert darstellt: die Subjektform stellt die Vergleichbarkeit der Individuen her. [...] Das bürgerliche Subjekt erlangt Identität nicht aus sich selbst, sondern aus der Abgrenzung gegenüber 'Über- und Unterwertigen', [...] ihre sozialen Beziehungen [erscheinen] ihnen als dingliche Beziehungen zwischen Waren" (Grigat 1996: 13) und Konkurrenz als quasi "natürliche" Form des sozialen Lebens. Die Notwendigkeit, sich permanent gegenüber Rivalen in Stellung bringen zu müssen, lässt alle menschlichen Fähigkeiten - auch sein (Weiter-)Entwicklungspotential - nur mehr unter dem Fokus des Ergreifens von Marktchancen ins Bewusstsein treten. Auch die Tatsache, dass der Mensch die Möglichkeit hat, sich durch Lernen selbstbestimmt eine Gestalt zu geben, unterliegt der alles überstrahlenden Konkurrenzprämisse der gegebenen Ordnung.


Alles darf Ware sein - nur Bildung nicht

Überhaupt ist es ja einigermaßen erstaunlich, dass diejenigen, die das Zur-Ware-Werden von Bildung bedauern, es in der Regel kaum je eines Protestes für würdig halten, dass andere für Menschen durchaus notwendige Dinge, wie Nahrung, Kleidung, Behausung und Ähnliches, unter den gegebenen Bedingungen ganz selbstverständlich nur gegen Geld zu haben sind, dass in diesem System ein "Recht auf Leben" generell nur hat, wer sich die dafür erforderlichen materiellen Grundlagen kaufen kann.

Die Fragwürdigkeit der Aussage, dass Bildung ein Menschenrecht sei und deshalb nicht auf den Status einer Ware degradiert werden dürfe, beginnt schon mit der in der Forderung enthaltenen Aussage, dass Bildung bisher nicht dem System von Ware und Konkurrenz unterworfen gewesen wäre und erst im Neoliberalismus zu einer Ware gemacht würde. Diese Annahme ist grundsätzlich falsch; wie schon skizziert, stellt die mit dem Bildungsbegriff untrennbar verknüpfte Subjektvorstellung nachgerade die ideologische Grundlage des gesellschaftlichen Systems dar, in dem die Entwicklungsfähigkeit von Menschen zur Investition im Kampf um mehr oder weniger gute Bedingungen des Lebens geworden ist. Wissen wurde schon vor mindestens 150 Jahren im Gefolge der wissenschaftlich-technischen "zweiten industriellen Revolution" und dem Heraufdämmern der modernen Ökonomie zur Ware, und der Bildungsbegriff dient spätestens seit damals der ideologischen Verbrämung dieser Tatsache - das hat Friedrich Nietzsche übrigens bereits Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt. Bildung hat Warencharakter, seit sich die Vorstellung durchgesetzt hat, dass nicht Geburtsprivilegien, sondern Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit über die gesellschaftlichen Überlebensmöglichkeiten von Menschen entscheiden sollen. Und wenn auch der bürgerliche Anspruch nach Chancengleichheit beim Wettbewerb um das Erbringen systemadäquater Leistungen bis heute noch nicht völlig umgesetzt ist, ist und bleibt Bildung eine Ware, "solange sich Menschen, ausgestattet mit keinem anderen 'Vermögen' einem intakten Körper, einem mehr oder weniger ausgebildeten Verstand und einem guten Willen, auf die Suche nach einer Verdienstgelegenheit machen müssen. (Huisken, 2009: 3)

Das tatsächlich Neue besteht in der Tatsache, dass sich in den letzten Jahren - bedingt durch den sich verringernden Bedarf an menschlicher Arbeitskraft aufgrund der Informations- und Kommunikationstechnologie und durch die ebenfalls auf Basis der neuen Technologien möglich gewordenen Verlagerung von arbeitskraftintensiven Produktionen in Billiglohnländer - der Kampf jeder gegen jeden massiv verschärft hat. Auf allen Qualifikationsstufen ist der Konkurrenzkampf um Lohnarbeitsplätze härter geworden, und selbst Akademiker können heute nicht mehr sicher sein, dass sie die "Investitionskosten für ihre Arbeitskraftveredelung" in Form eines entsprechend hohen Einkommens wieder einspielen können. In dieser Situation wird die neuzeitliche Interpretation des Subjekts noch einmal verschärft. Über die Bereitschaft hinaus, sich als Ware am Markt feilzubieten, wird vom Normalsubjekt nun erwartet, dass es dem Markt "proaktiv" gegenübertritt, indem es sich als "Unternehmer seiner selbst" begreift und sich die Zwänge, die zur Lebens- und Wettbewerbsfähigkeit seiner selbst als Unternehmen erforderlich sind, selbst auferlegt. Eine derartige "unternehmerische Persönlichkeit" fühlt sich nicht nur für die Vermarktbarkeit ihrer selbst, sondern auch für ihre eigene Vermarktung verantwortlich - quasi wartet sie nicht auf die Aufforderung zum Funktionieren, sondern funktioniert aus eigenem Antrieb im Sinne der bestmöglichen Marktperformance ihrer selbst als Unternehmen. Zunehmend hat demgemäß nur mehr Chancen, wer für die Reproduktion, Modernisierung, Gesundhaltung, Erweiterung ... seiner selbst als Ware auch selbst die Verantwortung übernimmt. Unter diesen das ganze Leben vereinnahmenden verschärften Konkurrenzbedingungen desavouiert sich die bisherige Verbrämung des den Menschen auferlegten Lernens als Möglichkeit des Hervorbringens des mündigen, selbstbewussten und kritischen Individuums zunehmend als Ideologie. Es wird kenntlich, dass Menschen, deren einziges "Kapital" in ihrer mehr oder weniger gut ausgebildeten Arbeitskraft besteht, kaum Spielraum im Gebrauch ihres Lernvermögens haben - es muss der Steigerung ihres Marktwerts untergeordnet werden, sie müssen lernen, was der Markt verlangt. (Aus-)Bildung wird zum Überlebensgut - und der Bildungsbereich zunehmend zu einem unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten interessanten Feld.


Bildung durch konkurrenzorientiertes Lernen?

Dass gerade in dieser Situation der Ruf nach "Bildung als Menschenrecht" besonders häufig zu hören ist, hängt zum einen mit der naiven Hoffnung zusammen, es wäre irgendwie möglich, den Moloch der Verwertung nur eingeschränkt zur Geltung kommen zu lassen. Der Zugang zu Bildung soll ihm entzogen und für alle kostenfrei möglich sein - absurderweise allerdings genau deshalb, um damit für jeden die gleiche Möglichkeit zu schaffen, seine Verwertbarkeit unter Beweis zu stellen. Neben diesem ziemlich verqueren Gerechtigkeitsargument wird mit dem Einklagen des für jedermann gegebenen Rechts auf Bildung häufig aber noch ein weiteres, ebenfalls auf ziemlich tönernen Füßen stehendes Argument transportiert: Es wird davon ausgegangen, dass sich Bildung, unabhängig von den konkreten Zielsetzungen und Bedingungen, unter denen Lernprozesse stattfinden - quasi "über die Hintertür" -, als Emanzipation realisieren würde. Dass also - auch wenn die Menschen ihre Fähigkeit, sich durch Lernen zu verändern, selbst nur mehr unter dem Fokus der Verbesserung ihrer Marktchancen wahrzunehmen imstande sind - die ihnen zum Zwecke der Optimierung ihrer Verwertbarkeit nahegebrachten Kenntnisse und Fähigkeiten klammheimlich dennoch eine emanzipatorische Wirkung entfalten könnten. Gehofft wird auf den sprichwörtlichen "qualitativen Sprung". Dem Lernen wird eine quasi subversive Kraft zugeschrieben, die auch dann durchzubrechen imstande ist, wenn das Lernen dem Ziel der Verwandlung lebendiger Menschen in taugliches Humankapital untergeordnet ist. Bildung wird als eine Art anthropologische Konstante betrachtet - der Mensch wird nicht nur als bildungsfähig angenommen, es wird davon ausgegangen, dass ihm Bildung, als die Fähigkeit, sich dem Status quo kritisch gegenüberzustellen, immanent ist.

Auf Basis dieser Argumentation wird zwar konzidiert, dass Bildung als ein systematischer Prozess des Hervorbringens von Autonomie, Mündigkeit, Selbstbewusstsein usw. im Rahmen organisierter Bildungsprozesse vielfach nicht ausreichend gefördert würde. Zwar wären die "Bedingungen der Möglichkeit von Bildung" in den so genannten Bildungseinrichtungen tatsächlich oft nur suboptimal - da sich Bildung durch Lernen aber sowieso nicht wirklich verhindern ließe, wäre es aus emanzipatorischer Perspektive dennoch erstrebenswert, möglichst vielen Menschen möglichst lange die Möglichkeit zu eröffnen, an organisierten Lernprozessen teilzunehmen. Die gegebene Lernkultur wird nicht als ein "sich aus dem kapitalistischen Verwertungsdiktat ergebendes Übel" interpretiert, sondern Lernen wird - bei aller bisweilen gegebenen Kritik an den konkreten Rahmenbedingungen, unter denen es den Menschen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen "anempfohlen" wird - grundsätzlich als etwas Positives, Menschen Bereicherndes sowie etwas, das ihre Menschlichkeit befördert, gesehen. Implizit in Abrede gestellt wird in dieser Argumentation, dass es nicht bloß bestimmte Formen und Inhalte, sondern das dem Menschen als Freiheit angediente Lernen als solches ist, mit dem sie an die Kandare der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft genommen werden; dass also jedes im Sinne des Systems stattfindende Lernen von vornherein durch das Verwertungsdiktat "kontaminiert" ist, deshalb per se anti-emanzipatorisch wirkt und die idealistische Vorstellung von "Bildung als Selbstbefreiung" ad absurdum führt.

Foucault verdanken wir den Hinweis, dass Macht und Freiheit keineswegs in einem Ausschließungsverhältnis zueinander stehen müssen, sondern dass - ganz im Gegenteil - das in einem politischen System mit dem Nimbus der Freiheit Behaftete durchaus Voraussetzung und Träger von Macht sein kann (vgl. Foucault 1994: 256). In diesem Sinn stellt die mit dem Menschenrecht auf Bildung korrelierende Freiheit, qua Lernen jede gesellschaftliche Position erreichen zu können, ein Element der Gouvernementalität des bürgerlich-kapitalistischen Systems dar. Es ist, wie Ricken schreibt, "die in 'Bildung' implizierte wie explizit formulierte und gesellschaftlich praktizierte 'Illusion der Souveränität und Unabhängigkeit', die als Freiheit sich anpreist und Ohnmacht produziert" (Ricken 2006: 213). Die als Freiheit präsentierte Möglichkeit, gleichberechtigt am "Kampf um gute Futterplätze" teilnehmen zu dürfen, unterbindet die Erkenntnis, dass der "faire Wettbewerb" innerhalb eines menschenverachtenden und die Lebensgrundlagen der Menschen zerstörenden Systems stattfindet und dieses aufrechterhält. Es ist nicht möglich, dass Lernen Menschen für das Verwertungssystem tauglich macht und zugleich die Grundlage einer Bildung abgibt, die sich als Selbst- und Welterkenntnis begreift und das Ziel hat, Menschen zu befähigen, die (verdeckten) Strukturen der Macht hinter den ihnen auferlegten Verhältnissen des Lebens durchschauen und überwinden zu können. Unter den gegebenen Bedingungen hat Lernen die Funktion, Menschen der Verwertung zuzuführen, es ist in diesem Sinne korrumpiert und kann nicht Grundlage ihrer Emanzipation sein. Genauso wie sich in den faschistischen Konzentrationslagern - trotz des zynisch-perfiden Spruchs über deren Eingangstoren - niemand durch Arbeit tatsächlich befreien konnte, macht auch das den Menschen unter Androhung ihrer sonstigen Deklassierung auferlegte Lernen nicht frei, sondern ist bloß Ausdruck ihrer Unfreiheit. Unter Verweis auf das "Menschenrecht auf Bildung" für alle Gesellschaftsmitglieder den kostenfreien Zugang zu allen Ebenen des Bildungswesens zu urgieren, bedeutet letztendlich nur, auf die Umsetzung des Gründungsversprechens der bürgerlichen Gesellschaft - die "politische Emanzipation" - zu drängen. Mit der Ermächtigung zum Widerstand gegen die "Zumutungen des Verwertungssystems", dagegen also, "dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird" (Foucault 1992: 12), hat das allerdings nichts zu tun!


(*) Aus dem neu erschienen Buch des Autors: Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriff. Löcker Verlag Wien 2011

Erich Ribolits: Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel.
Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs
Löcker Verlag, Wien 2011, ca. 160 Seiten, 19,80 Euro.

Mit diesem Buch stellt der autor klar, dass Bildung nicht erst neuerdings zur Ware wurde. Die ökonomische Indienstnahme der menschlichen Besonderheit, sich lernend eine Form geben zu müssen, fand im Bildungsbegriff immer schon seine Entsprechung. Das Bildungssystem wird als das angesprochen, was es real ist: Eine Einrichtung zur Herstellung des bürgerlichen Subjekts, dem Vernunft und ökonomisches Kalkül dasselbe sind und das sich selbst und die Welt einzig unter dem Aspekt des Geldwerts begreift.


Literatur:

Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer TB-Verlag, Frankfurt/Main 2000.

Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2007.

Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994.

Foucault, Michel: Was ist Kritik? Merve, Berlin 1992.

Grigat, Stephan: Kritik der Nation. In: Unitat (Wien) 4/1996, S. 13.

Huisken, Freerk: Bildung darf keine Ware werden! In: Auswege - Perspektiven für den Erziehungsalltag. Online-Magazin für Bildung, Beratung, Erziehung und Unterricht. www.magazin-auswege.de (8.12.2009).

Lederer, Bernd (2009): Was ist eigentlich Bildung? pdf-Dokument unter
http://www.uibk.ac.at/ezwi/team/assistenten/bernd_lederer/person.html (September 2011).

Lenz, Werner: Bildung im Wandel. Studientexte Arbeit - Bildung - Weiterbildung, Band 1., LIT-Verlag, Wien 2005.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1988. S. 828.

Marx, Karl: Zur Judenfrage. Marx-Engels-Werke (MEW), Band 1. (Karl) Dietz Verlag, Berlin/DDR 1976. S. 347-377.

Ricken, Norbert: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006.


Raute

Götzendienste

Beitrag zur Demontage einer Vielgepriesenen

von Petra Ziegler

Applaus garantiert. "Nicht die Maschinen brauchen Arbeit, die Menschen brauchen Arbeit!" - Eine beinahe unverhüllt verrückte Ansage, vorgetragen im Duktus unumstößlicher Wahrheit. Wer allen Ernstes über die "sinnstiftende" Wirkung von Tankstellenaushilfsjobs und dergleichen schwadroniert, kommt im deutschsprachigen Talk ungestraft davon.

Der Mensch ist geschaffen zur Arbeit und nicht zum Fliegen. Immer schön beschäftigt am Boden bleiben. Ewige Notwendigkeit und Lebenssinn, eine jede ist besser als keine: Arbeit muss sein, Arbeit soll sein. Als "Quelle allen Reichtums" speist sie proletarischen Stolz und Klassenbewusstsein. Entsprechend hymnisch besungen von der Arbeiterbewegung: "Die Arbeit, sie erhält, / Die Arbeit, sie bewegt die Welt! / Die Arbeit hoch!" (J. Zapf, Das Lied der Arbeit).

Die Affirmation der Arbeit quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, die Beschwörung der "Fleißigen und Tüchtigen" spiegeln den mit immer rigideren Maßnahmen durchgesetzten Arbeitszwang und die Hetze gegen diejenigen, die "lieber die Hand aufhalten", statt "Hand anzulegen" (© österr. Vizekanzler M. Spindelegger). "Die Müßiggänger schiebt beiseite", die Internationale in üblem Einklang mit klein-bürgerlichem Ressentiment.

Maßnahmen zur Arbeits(platz)beschaffung schmücken jede parteipolitische Agenda, und erst recht zivilgesellschaftliche Alternativprogramme, die auf sich halten. Fleißig ist eins hierzulande, das wird oft und gerne hervorgehoben. Auch ehrenamtlich Engagierte rechnen ihr Tun stolz in geleisteten Arbeitsstunden vor. Und noch ausgewiesen arbeitskritische Geister schrecken kaum davor zurück, stete Umtriebigkeit zu demonstrieren.

Fallweise rufen die Nebenwirkungen des arbeitsgesellschaftlichen Aktivismus (Umweltzerstörung, "ausgleichender" Konsumwahnsinn, grassierendes Burnout-Syndrom etc.) mahnende Stimmen und durchaus Widerstand auf den Plan, ihrem exzellenten Image tut dies kaum einen Abbruch. Gelegentliche Forderungen nach Fairteilung der Arbeit oder bedingungslosem Grundeinkommen, in denen immerhin leise Zweifel am Erfordernis ununterbrochenen Eifers aufflackern, bleiben bestenfalls Randthemen. Protest gegen die Verhältnisse, ein mittlerweile fast gewohntes Bild, darf bei der sonntäglichen Brunchrunde bis hinauf zur höchsten Regierungsebene auf (zumindest verbal) positive Resonanz hoffen, solange "die Empörten" nur laut genug ihren Wunsch nach Arbeit artikulieren.


Die Schöne und das Biest?

Arbeit und Kapital. - Gemäß traditioneller (linker) Deutung eine Paarung, die gegensätzlicher kaum sein könnte. Den "Zwang der Verhältnisse" zu überwinden meint demnach zuvorderst, Erstere von Fremdbestimmung und Ausbeutung durch das Kapital zu befreien. Gerechter Lohn für ehrliche Arbeit! "Die Arbeit" als vermeintlich emanzipatorische Kategorie, deren Früchte derzeit nur falsch verteilt und die selbst falsch verteilt wäre, bei gleichzeitiger Betonung des "allein wertschaffenden" Faktors. Skandalös scheint einzig die Aneignung des "Mehrwerts" durch die "Kapitalisten".

Die Verabsolutierung des Interessenkonflikts zwischen Arbeit und Kapital zum kapitalistischen Grundwiderspruch lässt die Verwertungsbewegung als solche außerhalb kritischer Betrachtung. Dass - je nach Standpunkt - von einer Seite die (Ware) Arbeitskraft möglichst teuer verkauft werden will/muss, wo das Gegenüber sich schon konkurrenzbedingt gezwungen sieht, deren Einsatz weitestmöglich zu rationalisieren, ist der Logik der Wertverwertung geschuldet. Es liegt in der "Natur" der warenproduzierenden Sache.

Kritik vom Standpunkt der Arbeit bleibt blind für warenförmige Arbeit als gesellschaftliches Strukturprinzip. Statt die Befreiung der Menschen von der Arbeit und ihren Zwängen voranzubringen, Kampf um Befreiung der Arbeit. In fragwürdiger Bezugnahme auf Marx, der dagegen festhielt: "Die Arbeit ist frei in allen zivilisierten Ländern; es handelt sich nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern sie aufzuheben." (MEW 3, 186)

Unser kreatives, wissenschaftliches, technisch-automatives, kurz, unser produktives Potential, versetzt uns längst in die Lage, in immer kürzerer Zeit die notwendigen Gebrauchsgüter und darüber hinaus die Grundlagen für ein denkbar feines Auskommen aller bereitzustellen. Die moderne warenproduzierende Gesellschaft bringt das Kunststück fertig, das Erreichte gegen sich selbst zu wenden. Mit dem wenig erfreulichen Ergebnis, dass "die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichtum des Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn verpaupert usw." (MEW 23, 465).

Die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten verträgt sich offensichtlich nicht mit den Notwendigkeiten der Wertakkumulation.


Wertschaffend?

Das umgekehrt proportionale Verhältnis von Arbeitsproduktivität (die den stofflichen Output je Zeiteinheit bestimmt) und Wert (der pro Zeiteinheit konstant bleibt) verunmöglicht jede "Lockerung" innerhalb der kapitalistischen Form. Mit der Kategorie Wert beschreibt Marx eine besondere und eben für den Kapitalismus spezifische Form des Reichtums, deren "Voraussetzung ist und bleibt - die Masse unmittelbarer Arbeitszeit, das Quantum angewandter Arbeit als der entscheidende Faktor der Produktion des Reichtums" (Grundrisse, 592). Im Gegensatz zum "wirklichen" oder auch stofflich-sinnlichen Reichtum, der sich aus der Vielzahl und unterschiedlichsten Bestimmtheit von Gütern und Fertigkeiten, kreativen Fähigkeiten und Zuwendungen ergibt, bemisst sich die Wertgröße demnach ausschließlich an der in die Produktion eingegangenen (gesellschaftlich notwendigen) Arbeitszeit.

Während sich dem Alltagsverstand ein produktives, wertproduktives Einerlei präsentiert, fallen unter der Oberfläche stofflicher und wertförmiger Reichtum im Lauf der Produktivitätsentwicklung immer weiter auseinander. "Die Marxsche Analyse des Unterschieds zwischen Wert und stofflichem Reichtum ist für seine Konzeption des widersprüchlichen Charakters der kapitalistischen Gesellschaft zentral. Er zeigt auf, dass der Wert tatsächlich dem Reichtum schaffenden Potential von Wissenschaft und Technologie nicht adäquat ist, er im Kapitalismus aber dennoch die Grundbestimmung des Reichtums und der gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt. Dieser Widerspruch verdankt sich letztlich dem Doppelcharakter der Arbeit im Kapitalismus." (Postone 2003, 306)

Weit davon entfernt, die Arbeit als Quelle allen Reichtums zu setzen, beschreibt Marx diesen wachsenden Anachronismus: "In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion. [...] Der wirkliche Reichtum manifestiert sich vielmehr [...] im ungeheuren Missverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt." (Grundrisse, 592)

Soweit die FreundInnen der Arbeit die Marx'schen Ausführungen zum "Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt", im theoretischen Fundus führen, bleibt ihre Referenz in mehrfach irreführender Weise unvollständig. Was bei Marx eine - wenn auch widersprüchliche - Einheit bildet, wird nur zu gerne aufgelöst. Die ihrem "Charakter" nach gute, konkrete Arbeit, die als solche allerhand nützliche Gebrauchsgüter produziert, steht für sich, die vom "Kapitalisten" kommandierte Arbeit, vulgo Lohnarbeit, setzt sich zwecks Auspressung von Mehrwert gewissermaßen obendrauf.

Abstrakte, d.h. ihrem Inhalt gegenüber gleichgültige Arbeit "bildet" den Wert. Nur im Kapitalismus, so Marx unmissverständlich, hat gesellschaftliche Arbeit doppelten Charakter, nur hier existiert der Wert als spezifisch gesellschaftliche Form menschlicher Tätigkeit. (Vgl. Postone 2003, 202)

Ihres kritischen Gehalts entkleidet, wurde die Verwandlung von Arbeit in Wert als positives fact zur Grundlage des Selbstverständnisses der Arbeiterbewegung. Umkämpft, mal mehr, mal weniger wild umstritten, bleibt nur die Verteilung des (Mehr-)Werts. Die Frage, "warum dieser Inhalt jene Form annimmt" (MEW 23, 94), wurde erst gar nicht gestellt. Gerade das Absonderliche einer Gesellschaft, "welche die in der Produktion eines Gebrauchsdings verausgabte Arbeit als seine 'gegenständliche' Eigenschaft darstellt, d.h. als seinen Wert" (MEW 23, 76), bleibt so außerhalb des Horizonts, das Arbeitsprodukt als "Wertding" und damit als Ware selbstverständlich.


Selbstzweckübung

"In der Sphäre der Arbeit zählt nicht, was getan wird, sondern dass das Tun als solches getan wird, denn die Arbeit ist gerade insofern ein Selbstzweck, als sie die Verwertung des Geldkapitals trägt - die unendliche Vermehrung von Geld um seiner selbst willen. Arbeit ist die Tätigkeitsform dieses absurden Selbstzwecks." (krisis, Manifest gegen die Arbeit)

Arbeit im Kapitalismus ist Mittel und Zweck zugleich. Arbeit um der Arbeit wegen. Arbeit produziert wiederum Arbeit, verwandelt, sozusagen dingfest gemacht. Ein und dieselbe "Substanz" (abstrakte Arbeit) in unterschiedlicher Erscheinung: einmal als lebendige Arbeit, einmal als "tote", vergegenständlicht in der Ware, als "Wert". Zwei Momentaufnahmen in der Verwertungsbewegung des Kapitals. Arbeitskraft-Verausgabung als "tautologischer Selbstzweck" (Robert Kurz), ein Formwandlungsprozess ohne Interesse für den jeweils konkreten Inhalt, der nur auf sich stetig erweiternder Basis "Sinn" macht. Akkumuliert! Akkumuliert! Auf dem toten Gebirge angehäufter vergangener Arbeit darf keinen Augenblick lang ausgeruht werden, die selbstbezügliche (scheinbare) Endlosschleife von Arbeit und Geld verlangt unausgesetzt nach neuer Lebensenergie.

Doch längst nicht alles Dargebotene findet Akzeptanz. Erweist sich die Arbeitskraft in der Anwendung als "unrentabel", fällt sie gewissermaßen aus der Rolle, bleibt alle Hingabe vergebens. Unverwertbares spuckt der Arbeitsgötze wieder aus. Was zählt, lässt sich in mehr Geld verwandeln, was bloß gebraucht wird, zählt nicht. Wer nichts zu bieten hat, hat mindestens Bereitschaft zu demonstrieren. Vollzeit.

Das "ungeheure Missverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt" lässt die Verwertungsmaschinerie zunehmend leerlaufen. Trotz der enormen produktiven Kapazitäten bleibt ja der Wert an die verausgabte Arbeitszeit gebunden. Die wachsenden Gütermengen repräsentieren eine sich tendenziell gegenläufig entwickelnde Wertmasse. Die Akkumulationsbewegung laboriert am eigenen beschränkten Selbstzweck. Mit jedem Produktivitätssprung untergräbt der kapitalistische Selbstwiderspruch die Bedingungen der Wertschöpfung und damit die Grundlage der Arbeitsgesellschaft insgesamt.

"Die gesellschaftliche Form wird nur noch um ihrer selbst willen mit aller Gewalt aufrechterhalten, obwohl ihre Substanz, die massenhafte Vernutzung lebendiger Arbeitskraft, schwindet. Damit schlägt der Fetischismus von Arbeit und Warenform in die offene Vernichtung der Welt um. Was innerhalb der warengesellschaftlichen Formprinzipien nicht mehr möglich ist, soll überhaupt nicht mehr sein dürfen." (Trenkle 2004)


Arbeitsweltliche Zumutung

"Im Kapitalismus ist gesellschaftliche Arbeit nicht nur Gegenstand von Herrschaft und Ausbeutung, sondern selbst deren wesentlicher Grund." Moishe Postone beschreibt die moderne kapitalistische Gesellschaft als "mit einer inneren, richtungsgebundenen Dynamik" versehen, die sie "einer geschichtlich einmaligen Form gesellschaftlicher Vermittlung verdankt." Obwohl es die tägliche Praxis (Arbeit im Kapitalismus) der Menschen ist, die diese Form konstituiert, "ist sie von abstrakter, unpersönlicher und quasi-objektiver Natur", so als existierte sie "unabhängig von den Subjekten dieser Praxis" (vgl. Postone 2003, 23).

Mit der Gleichsetzung und im Austausch unserer individuellen Arbeitsprodukte erschaffen wir (unbewusst) die grundlegenden Struktur- und Bewegungsmuster unserer Gesellschaft. Es sind unsere eigenen wechselseitigen Produktionsbeziehungen, die uns in verselbständigter Gestalt konfrontieren. "Weil die gesellschaftliche Vermittlung in vergegenständlichter Form existiert, hat sie objektiven Charakter und ist nicht manifest gesellschaftlich." (Ebd. 239) Eine im Wortsinn eigenwillige Form "sachlicher Abhängigkeit", jenseits persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und konkret ausgeübter Herrschaft. Sie bestimmt das Leben der Menschen weit über den Umstand hinaus, dass der oder die Einzelne erst vermittels erfolgreichen Verkaufs der eigenen Arbeitskraft partiellen Zugriff auf Waren aller Art und damit die Produkte anderer erhält.

Als Kauf- und Verkaufssubjekt, nutzenmaximierend, konkurrierend und streng kalkulierend soll unsereins die Arbeitswelt bevölkern. Trost und Zerstreuung bieten Massen von vorzugsweise billigem Warenschrott, die dank "planned obsolescence" immer rascher ersetzt werden wollen. Womit gesichert scheint, dass auch zukünftig jede Maßnahme zur Reduktion der Treibhausgase im Ansatz scheitert. Wir bleiben MitläuferInnen im globalen Rennen der "Standorte", bis wir uns endlich allesamt weggespart haben oder, was wahrscheinlicher ist, die ganze Blase aus vorabkapitalisierter zukünftiger Arbeit platzt.


Bei Licht betrachtet...

Die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte, lokaler Gemüseanbau, die Weitergabe von Erfahrungswissen, Stadtparkpflege, aufmerksame Zuwendung, die Erforschung von Wirkstoffen zur Malariabekämpfung, Butterbrotstreichen, die Überwachung von Produktionsabläufen, Malen und Anstreichen, Komponieren, Erkenntnissuche in Sachen Energieeffizienz, Erkenntnissuche überhaupt, die Betreuung Kranker und Hilfebedürftiger und unendlich vieles mehr sind nicht gegeneinander verrechenbar. Sie bilden auch keine "ökonomische Sphäre" irgendwo außerhalb des sonstigen Lebens oder könnten von dieser "abgespalten" werden. Sie mögen im Einzelnen unverzichtbar sein oder irgendwann überholt, gesellschaftlich umstritten oder allgemein anerkannt. Eine abstrakte Kategorie, die uns ihre Logik aufzwingt, bilden sie nicht. Eine auf stofflicher Ebene hochgradig vernetzte Produktion ist in ihren Teilen, wie auch im Ganzen, immer wieder zu hinterfragen und neu auszurichten hinsichtlich Ressourcenverbrauchs, Umweltbelastung, der Anforderungen aller Involvierten. Betriebswirtschaftliche Effizienz ist dabei kein Maßstab. Austausch, das meint bewusste Absprache und Auseinandersetzung über die gemeinsamen Belange, keinerlei bewusstloser Dynamik unterworfen, nicht "Austausch ehrlicher Arbeit". Eine/einer für sich, zwei, eine ganze Gruppe können ganz im jeweiligen Tun versinken, neudeutsch Flow genannt und mit dem Cash Flow nicht im Entferntesten verwandt. Herausforderungen finden sich genug.

Der obszöne Raub an Lebenszeit und -energie im Dienst der kapitalistischen Selbstzweckbewegung, die ganze arbeitsweltliche Zurichtung mitsamt ihrer in wahnwitziger Konsequenz immer noch weiter erhöhten Taktfrequenz, der zunehmend prekäre Status alles Lebendigen sind dagegen eine einzige Zumutung. "Toten" Wert zu wahren kann keine Aufgabe sein.


*


Nicht nur faktisch, sondern auch begrifflich lässt sich die Identität von Arbeit und Unmündigkeit nachweisen. Noch vor wenigen Jahrhunderten war der Zusammenhang zwischen Arbeit und sozialem Zwang den Menschen durchaus bewusst. In den meisten europäischen Sprachen bezieht sich der Begriff "Arbeit" ursprünglich nur auf die Tätigkeit des unmündigen Menschen, des Abhängigen, des Knechts oder des Sklaven. Im germanischen Sprachraum bezeichnet das Wort die Schufterei eines verwaisten und daher in Leibeigenschaft geratenen Kindes. "Laborare" bedeutet im Lateinischen so viel wie "Schwanken unter einer schweren Last" und meint allgemein gefasst das Leiden und die Schinderei des Sklaven. Die romanischen Wörter "travail", "trabajo" etc. leiten sich von dem lateinischen "tripalium" ab, einer Art Joch, das zur Folter und Bestrafung von Sklaven und anderen Unfreien eingesetzt wurde. In der deutschen Redeweise vom "Joch der Arbeit" klingt eine Ahnung davon nach.

"Arbeit" ist also auch dem Wortstamm nach kein Synonym für selbstbestimmte menschliche Tätigkeit, sondern verweist auf ein unglückliches soziales Schicksal. Es ist die Tätigkeit derjenigen, die ihre Freiheit verloren haben. Die Ausdehnung der Arbeit auf alle Gesellschaftsmitglieder ist daher nichts als die Verallgemeinerung von knechtischer Abhängigkeit und die moderne Anbetung der Arbeit bloß die quasi-religiöse Überhöhung dieses Zustandes.

Dieser Zusammenhang konnte erfolgreich verdrängt und die soziale Zumutung verinnerlicht werden, weil die Verallgemeinerung der Arbeit mit ihrer "Versachlichung" durch das moderne warenproduzierende System einherging: Die meisten Menschen stehen nicht mehr unter der Knute eines persönlichen Herrn. Die soziale Abhängigkeit ist zu einem abstrakten Systemzusammenhang geworden - und gerade dadurch total.


Ob der Kampf nun um Löhne, um Rechte, um Arbeitsbedingungen oder um Arbeitsplätze geführt wurde: seine Voraussetzung blieb stets die herrschende Tretmühle mit ihren irrationalen Prinzipien. Vom Standpunkt der Arbeit zählt der qualitative Inhalt der Produktion genauso wenig wie vom Standpunkt des Kapitals. Was interessiert, ist einzig die Möglichkeit, die Arbeitskraft optimal zu verkaufen. Es geht nicht um die gemeinsame Bestimmung über den Sinn und Zweck des eigenen Tuns. Wenn es die Hoffnung jemals gab, eine solche Selbstbestimmung der Produktion könnte in den Formen des warenproduzierenden Systems verwirklicht werden, so haben die "Arbeitskräfte" sich diese Illusion schon längst abgeschminkt. Es geht nur noch um "Arbeitsplätze", um "Beschäftigung" - schon die Begriffe beweisen den Selbstzweck-Charakter der ganzen Veranstaltung und die Unmündigkeit der Beteiligten.

Was und wofür und mit welchen Folgen produziert wird, ist dem Verkäufer der Ware Arbeitskraft letzten Endes genauso herzlich egal wie dem Käufer. Die Arbeiter der Atomkraftwerke und der Chemiefabriken protestieren am lautesten, wenn ihre tickenden Zeitbomben entschärft werden sollen. Und die "Beschäftigten" von Volkswagen, Ford oder Toyota sind die fanatischsten Anhänger des automobilen Selbstmordprogramms. Nicht etwa bloß deswegen, weil sie sich gezwungenermaßen verkaufen müssen, um überhaupt leben zu "dürfen", sondern weil sie sich tatsächlich mit diesem bornierten Dasein identifizieren. Soziologen, Gewerkschaftern, Pfarrern und anderen Berufstheologen der "sozialen Frage" gilt das als Beweis für den ethisch-moralischen Wert der Arbeit. Arbeit bildet Persönlichkeit, sagen sie. Zu recht. Nämlich die Persönlichkeit von Zombies der Warenproduktion, die sich ein Leben. außerhalb ihrer heißgeliebten Tretmühle gar nicht mehr vorstellen können, für die sie sich tagtäglich selber zurichten.


Die Vernutzung gegenwärtiger Arbeit wird ersetzt durch den Zugriff auf die Vernutzung zukünftiger Arbeit, die nie mehr stattfinden wird. Es handelt sich gewissermaßen um eine Kapitalakkumulation in einem fiktiven "Futur II". Das Geldkapital, das nicht mehr rentabel in die Realökonomie reinvestiert werden und daher keine Arbeit mehr ansaugen kann, muss verstärkt auf die Finanzmärkte ausweichen.

Schon der fordistische Schub der Verwertung in den Zeiten des "Wirtschaftswunders" nach dem Zweiten Weltkrieg war kein vollständig selbsttragender mehr. Weit über seine Steuereinnahmen hinaus nahm der Staat in einem bis dahin unbekannten Ausmaß Kredite auf; weil die Rahmenbedingungen der Arbeitsgesellschaft anders nicht mehr finanzierbar waren. Der Staat verpfändete also seine zukünftigen reellen Einnahmen. Auf diese Weise entstand einerseits für "überschüssiges" Geldkapital eine finanzkapitalistische Anlagemöglichkeit - es wurde dem Staat gegen Zinsen geliehen. Dieser beglich die Zinsen mit neuen Krediten und schleuste das geliehene Geld umgehend wieder in den ökonomischen Kreislauf zurück. Er finanzierte also damit andererseits Sozialausgaben und Infrastruktur-Investitionen und schuf so eine im kapitalistischen Sinne künstliche, weil durch keinerlei produktive Arbeitsverausgabung gedeckte Nachfrage. Der fordistische Boom wurde so über seine eigentliche Reichweite hinaus verlängert, indem die Arbeitsgesellschaft ihre eigene Zukunft anzapfte.

Der Arbeitsgötze ist klinisch tot, aber er wird künstlich beatmet durch die scheinbar verselbständigte Expansion der Finanzmärkte. Industrielle Unternehmen machen Gewinne, die gar nicht mehr aus der längst zum Verlustgeschäft gewordenen Produktion und dem Verkauf von realen Gütern stammen, sondern aus der Beteiligung an der Aktien- und Devisenspekulation. Öffentliche Haushalte weisen Einnahmen aus, die gar nicht mehr durch Stetsern oder Kreditaufnahme zustande kommen, sondern durch eifriges Mitgehen der Finanzverwaltung an den Zockermärkten.


Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Dieser zynische Grundsatz gilt noch immer und heute mehr denn je, gerade weil er hoffnungslos obsolet wird. Angesichts dessen ist heute jeder Schrei nach Arbeit und "Arbeitsplätzen" nur noch regressiv. Notwendig ist vielmehr der Kampf gegen die Arbeit. Soziale Emanzipation setzt den kategorialen Bruch mit dem gesellschaftlichen Zwangsprinzip voraus, dem die Menschheit sich über zwei Jahrhunderte lang unterworfen hat.

Manifest gegen die Arbeit, Gruppe krisis

Bezug:
www.krisis.org (Deutschland)
www.streifzuege.org (Österreich)


Literatur

Gruppe Krisis (1999): Manifest gegen die Arbeit (Online-Version: http://www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit).

Marx, Karl/Engels, Friedrich (MEW 3): Die deutsche Ideologie, Berlin 1978.

Marx, Karl (MEW 23): Das Kapital. Erster Band, Berlin 1985.

Marx, Karl (Grundrisse): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953.

Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003.

Trenkle, Norbert (2004): Arbeitskritik und soziale Emanzipation. Eine Replik auf Kritiken am "Manifest gegen die Arbeit", in krisis 28, Münster 2004.

Raute

Die Zeit der Arbeit

von Julian Bierwirth

Wer über Arbeit reden will, sollte über die Zeit nicht schweigen. Wenn der Kapitalismus in seinem Wesen auf dem Terror der Arbeit beruht, dann ist dieser bei Lichte betrachtet nicht mehr als die Tyrannei der Zeit.

Kaum etwas dürfte - neben der Arbeit - dem modernen Menschen so in Fleisch und Blut übergegangen sein wie die Zeit. Nicht nur, dass wir uns selber aufgrund unseres Alters oder doch zumindest aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lebensabschnitt definieren (und somit über so etwas wie einen Lebenslauf verfügen) - wir sind auch darüber hinaus in ein umfangreiches und sich neuerdings ständig wandelndes Zeitregime eingebunden. Egal ob in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Gang zum Amt oder bei der Anmeldung zur Prüfung - überall begegnen uns abstrakte, unser Leben reglementierende und sich stetig wandelnde Zeitvorgaben, die einzuhalten von uns verlangt wird - zumindest wenn wir denn bekommen wollen, wonach uns der Sinn steht.


Vor der modernen Zeitform

Über Jahrhunderte hinweg war eine solche Diktatur der Zeit nicht einmal vorstellbar. Die gängigen Zeitvorstellungen waren keineswegs auf Leistungsvergleich und Disziplinierung abgestellt, sondern an den Anforderungen der allgemeinen Lebensumstände und der kulturellen Gepflogenheiten bemessen. Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Ernte- und Aussaatzeit waren einige der relevanten Pfeiler, an denen sich die Zeitvorstellungen der Menschen für gewöhnlich gebildet haben. Dabei waren diese aus heutiger Perspektive nicht selten als "natürlich" erscheinenden Marker der allgemeinen Zeitregulierung in kulturell-traditionelle Lebenspraktiken eingebunden. Eine besondere Bedeutung hatten dabei nicht selten religiöse Riten. Zwar hängen sowohl die Einteilung des Jahres in zwölf Monate als auch die weitere Einteilung in Wochen und Tage mit beobachtbaren Naturphänomenen zusammen, oft haben diese Beobachtungen jedoch nicht von sich aus, sondern erst durch eine theologische Setzung ihre Bedeutung für das jeweilige Sozialwesen bekommen. Alleine die Unterschiedlichkeit vieler Zeitrechnungsverfahren, die sich teils auf die Sonne, teils auf den Mond bezogen, macht deutlich, dass hier nicht objektive Natur, sondern bereits deren sozio-kulturelle Interpretation die zeitgenössischen Zeitvorstellungen prägte.

Entgegen einer oberflächlichen Wahrnehmung wurden bei solchen zyklischen Vorstellungen von Zeit die natürlichen Phänomene wie der sich wiederholende Auf- und Untergang der Sonne anhand der täglichen Lebenspraxis durch eine bestimmte sozio-kulturell geprägte Brille betrachtet und entsprechend interpretiert. Das neue Jahr wurde im Mittelalter als erneute Wiederholung von etwas bereits Bekanntem gefeiert, obschon sich doch niemals tatsächlich Identisches wiederholte. Die Zeit war die Zeit Gottes, sie war Heilszeit und als solche auf Weltuntergang und Erlösung ausgerichtet. Anders als in vielen zeithistorischen Studien nahegelegt, war die vormoderne Zeitvorstellung nicht naturnäher, sondern lediglich durch andere soziale und kulturelle Praktiken gerahmt, als das in der kapitalistischen Gesellschaft der Fall sein sollte.


Die Etablierung der modernen Zeitform

Die ersten Vorboten der modernen Zeitform etablierten sich im ausgehenden 14. Jahrhundert. Oftmals wird ihre Ausbreitung mit der Erfindung der mechanischen Uhr durch europäische Handwerker verknüpft. Erst sie habe es ermöglicht, die linear fließende Zeit zu messen. Eine solche Reduktion der gesellschaftlichen Entwicklung auf technische Neuerungen ist jedoch wenig plausibel, zumal solche Uhren beispielsweise in China bereits lange Zeit bekannt waren, ohne dass sie dadurch gesellschaftliche Relevanz gewonnen hätten. Ganz im Gegenteil: Obwohl die dortigen Uhrwerke oftmals auf ein- und ausfließendem Wasser beruhten, wurden komplexe Erweiterungen der Maschinerie erdacht, um die Uhr an die Zeiterfordernisse der Menschen anzupassen.

Stattdessen geht die Etablierung der gleichförmigen, unabhängigen Stunde auf die frühe Stoffmanufaktur in Westeuropa zurück. Durch Notlagen sahen die in diesen Manufakturen beschäftigten Pauper sich genötigt, um eine Ausdehnung ihrer Arbeitszeit zu kämpfen - um so eine Erhöhung des Lohnes zu erreichen. Das wiederum wurde nur möglich durch den Bezug auf abstrakte Zeiteinheiten, die den Arbeitstag unabhängig von Tag und Nacht messen konnten. Mit der sich ausbreitenden Warenwirtschaft und der zunehmenden Bedeutung von Handel und Lohnarbeit setzte sich diese Logik innerhalb der folgenden Jahrhunderte Stück für Stück und zumeist nicht ohne den erbitterten Widerstand der aus ihren bisherigen sozialen Zusammenhängen entbetteten Menschen durch.


Die Logik der modernen Zeitform

Schon ihr Entstehungsprozess macht deutlich, dass die moderne Zeitform nicht jenseits der Logik von Arbeit und Ware gedacht werden kann. Und so hat auch bereits Marx darauf verwiesen, dass kapitalistisch produzierte Waren sich nicht einfach aufgrund beliebiger Zufälle austauschen, sondern aufgrund der verausgabten Arbeit. Und auch nicht einfach aufgrund der tatsächlich geleisteten Arbeit und der für sie aufgewendeten Zeit, sondern aufgrund der Arbeitszeit, die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendig ist, um die jeweiligen Waren herzustellen. Die produzierten Waren werden (etwa auf dem Markt) miteinander in Beziehung gesetzt, indem die zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeiten miteinander verglichen werden. Dieser Vergleich zeigt, was der gesellschaftliche Durchschnitt an abstrakter Zeit ist, der für die Produktion der jeweiligen Ware angemessen ist. Während also die Arbeiten der Produzenten und der Bezug dieser Arbeiten aufeinander zunächst das gesellschaftlich relevante Zeitquantum konstituieren, müssen sie sich gleichsam dem Ergebnis dieses gesellschaftlichen Vermittlungsprozesses beugen. Der so durch menschliches Handeln etablierte Maßstab menschlichen Tätigseins verwandelt sich bereits in dem Moment, in dem er entsteht: er ist nicht bloß ein Resultat der Arbeit, sondern zugleich ihr Maßstab. Die Zeit wird so einerseits abhängig vom Handeln der Menschen und gleichzeitig die Voraussetzung für deren Handeln. Und die Menschen selber sind, obschon sie das alles doch erst durch ihr Tun ermöglicht haben, der so geschaffenen Logik der Zeit gleichsam unterworfen.

Das so von den Menschen errichtete Herrschaftsregime der Zeit ist jedoch keineswegs statisch. Ganz im Gegenteil: die Notwendigkeit, den Anforderungen des Zeittaktes genügen zu können, verlangt ihnen immer neue Höchstleistungen, immer komprimiertere Arbeitsprozesse und einen immer dichteren Zeittakt ab. Der Aufwand bzw. das Arbeitstempo, das als abstrakte Zeiteinheit (etwa: eine Stunde) gilt, ist einem geschichtlichen Wandel unterworfen. Diese auf gesellschaftlicher Ebene angesiedelte historische Bewegung der Beschleunigung nennt Moishe Postone "historische Zeit".

Auf der Ebene der Subjekte sieht die Sache ganz ähnlich aus: Die je Einzelnen bringen zwar via Warenproduktion ihre eigene Unterwerfung hervor, imaginieren sich jedoch gleichsam als handelnde AkteurInnen und versuchen so im Rahmen der von ihnen hervorgebrachten Struktur möglichst viel Aktivität zu entfalten - die dann eben nur als ewiges Mehr von bloßem Handeln gedacht werden kann. Hier hat die moderne Beschleunigungsmaschinerie ihre zweite Quelle.

Es lohnt sich die mit der historischen Zeit einhergehende gesellschaftliche Dynamik genauer zu betrachten. Um den stets steigenden gesellschaftlichen Ansprüchen genügen zu können, muss die eigene Arbeit stetig beschleunigt werden. Nun ist der kapitalistische Gesamtprozess auf die Zeit als Maßstab für gesellschaftlichen Reichtum ausgerichtet. Seine Dynamik ist auf eine Erhöhung der Menge verausgabter Zeitquanta ausgerichtet, die dann in der Kritischen Theorie unter dem Begriff Wert firmieren. Gleichzeitig jedoch strebt eben diese Dynamik dazu, die in den individuellen Produktionsprozessen verausgabte Zeit zu minimieren.

Dieser innere Widerspruch der Warenproduktion hatte lange Zeit eine ziemlich durchsichtige Verlaufsform: Durch eine stete absolute Ausdehnung der produktiv vernutzten (Arbeits-)Zeit und damit durch eine stete Ausdehnung der produzierten Warenmassen wurde die gesamtgesellschaftlich akkumulierte tote Zeit stetig erhöht. Die absolute Masse des produzierten Wertes stieg an. Doch als dann in Folge der mikroelektronischen Revolution die Produktivität in einem vorher kaum für möglich gehaltenen Maße anstieg, versagte dieser Mechanismus. Von nun an war es augenscheinlich nicht mehr möglich, die an der einen Stelle freigesetzten Kapazitäten durch Erweiterungen an anderer Stelle wieder auszugleichen. Seitdem schrumpft die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendig verausgabte Arbeitszeit - und damit die produzierte Wertmasse. Das Regime von Arbeit und Zeit geriet in seine große Krise.


Die Zeit und ihr Anderes

Die neue Zeitform prägt das Leben in modernen, kapitalistischen Gesellschaften - und doch ist sie trotz ihrer Dominanz nicht die einzige Zeitlogik, die für moderne Menschen erlebbar ist. Sie konnte ihre historisch beispiellose Effektivität nur dadurch erreichen, dass sie durch raumzeitliche Trennung alle lebensweltlichen Momente aus ihren Abläufen zu verbannen wusste. Diese Momente wurden in gesonderte, eigens zu diesem Zweck etablierte gesellschaftliche Sphären abgeschoben: die der Freizeit, der Familie, der Religion etc.

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits Marx hat darauf verwiesen, dass mit der Etablierung der Zeit als Arbeitszeit zugleich die zeitliche Beschränkung dieser Arbeitszeit gesetzt ist. Sie hat einen Anfang und ein Ende - und bezieht sich derweil auf ihr abstraktes Gegenüber, die Freizeit. Freizeit ist dementsprechend, da sind sich die Sozialwissenschaften ausnahmsweise mal ganz einig, in erster Linie dazu da, die kapitalistischen Arbeitssubjekte wieder fit zu machen für das Arbeitsleben.

Die Durchsetzung dieser Sphärentrennung gilt hier als zentrales Merkmal der Moderne. Und tatsächlich ist die Abtrennung aller lebensweltlichen, nicht-rationalen Bezüge aus der Arbeitswelt keineswegs ein historischer Zufall, ohne den die kapitalistische Moderne zwar einen anderen, aber eben doch einen stabilen Entwicklungspfad beschritten hätte.

Denn das selbstidentische Wandeln innerhalb von Zeitstrukturen mit dem steten Zwang zu Optimierung und Rationalisierung würde, beherrschte es die Gesellschaft in ihrer Totalität, die Subjekte an den Anforderungen gnadenloser Selbstdisziplin scheitern lassen und so das kapitalistische Unterfangen als solches bedrohen. Würde etwa Kindererziehung ausnahmslos nach dem Prinzip der Zeitrationalisierung vorgenommen, wäre als Ergebnis dieses Erziehungsprozesses kaum ein den gesellschaftlichen Anforderungen gewachsenes Subjekt zu erwarten. Und gäbe es tatsächlich keine Möglichkeit für die Subjekte, sich auf sich selbst zu fokussieren und abzuschalten, wäre vermutlich für niemanden das Leben langfristig auszuhalten.


Das Geschlecht des Anderen

Wenn also das Leben der kapitalistischen Subjekte von diesem Doppelcharakter von Arbeits- und Freizeit geprägt ist, stellt sich die Frage, wer derweil den Abwasch macht. Dieser Lebensbereich wird als Reproduktion bezeichnet, als "Aufrechterhaltung" der gesellschaftlichen Bedingungen. Historisch wurde dieser Bereich zumeist Frauen überantwortet, die hier ausgeführten Tätigkeiten (umsorgen, pflegen, zuhören, putzen) wurden als "weibliche Eigenschaften" entsprechend naturalisiert. Die Reproduktionssphäre kennt weder die festen Zeitstrukturen der Arbeit noch die Freizeit als ihr Gegenstück. Haushaltsbezogene Tätigkeiten enden nie und sind doch gleichsam unsichtbar. Berichte aus dem Alltag von Hausfrauen belegen eindrücklich, das hier eine (mindestens gefühlte) stete Zuständigkeitserwartung vorherrscht, die sie von morgens bis abends unter Strom setzt, ihnen keine Ruhe und keine Auszeit lässt. Wenn Kinder und Mann nach Hause kommen, wollen sie (nicht selten zu je verschiedenen Uhrzeiten) etwas zu essen haben, bedürfen der Zuwendung, des Zuspruchs und der Zuneigung. Es ist gerade dieser Anspruch an stete Verfügbarkeit, der die haushaltsbezogenen Tätigkeiten jenseits der Welt der Arbeit gleichsam als deren Voraussetzung implementiert.

Trotz alledem - oder gerade deshalb - bleiben die vielfältigen Tätigkeiten im Haushalt zumeist unsichtbar. Das regelmäßige Putzen und Aufräumen der Wohnung mag aufwendig und anstrengend sein - kaum sind die übrigen Familienmitglieder eine Weile daheim, sieht es wieder aus, als sei seit Längerem nicht aufgeräumt worden. Es ist diese Verunsichtbarmachung, die Roswitha Scholz versucht hat mit dem Terminus der Abspaltung zu umschreiben.

Dabei ist stets klar, dass die Trennung der gesellschaftlichen Sphären und die Wirkmächtigkeit von Zeitlogiken niemals vollständig synchron übereinander lagen. Schon immer waren sowohl die Freizeit als auch die Organisation des Haushalts mit Rationalitätskriterien konfrontiert, die von der Arbeitswelt in die übrigen Lebensbereiche ausgestrahlt sind. Und auch andersherum spielen emotionale Momente spätestens seit den 40er Jahren eine nicht zu unterschätzende Rolle in der rationalen Betriebsorganisation. Trotz allem zeigen ihre Bedeutung und Dynamik, dass hier keineswegs von wahlloser Beliebigkeit die Rede sein kann, sondern dass die beiden Zeitpraktiken in einem systematischen Verhältnis der Über- und Unterordnung sowie der gleichzeitigen gegenseitigen Verwiesenheit stehen.


Die Krise der modernen Zeitform

Zusammen mit der Krise der Arbeitsgesellschaft entsteht auch eine Krise des modernen Zeitregimes und seiner dunklen Rückseite. Der Modus einer simplen quantitativen Ausdehnung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit scheint an seine absolute Grenze gestoßen zu sein. Seitdem zapft der Kapitalismus in erster Linie die Zukunft an: Fiktive Kapitalien, die nicht auf bereits verausgabte Arbeitszeiten, sondern auf in einer potentiellen Zukunft zu erwirtschaftende Werte verweisen, stehen im Mittelpunkt der spätkapitalistischen Dynamik.

Seit einigen Jahren ist zudem eine Erosion dieser spezifischen modernen Zeitarrangements zu beobachten. Die starre Trennung von Arbeits- und Freizeit bricht auf, ihre Grenzen verfließen mehr und mehr. Die Folge davon ist jedoch keinesfalls eine völlige Kontingenz der Zeitlogiken, sondern vielmehr eine immer umfassendere Kolonisation der lebensweltlichen und verunsichtbarten Zeitpraktiken durch die moderne Zeitform. Jede Lebensregung soll sich nun vor den unumstößlichen Ansprüchen an Effizienz und Rationalität bewähren. Dies führt nun aber dazu, dass sich in allen Lebensbereichen das Gefühl ausbreitet, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein und gewissermaßen auf rutschenden Abhängen zu stehen: Eine vollständig auf den lebensweltlichen Alltag ausgedehnte Tretmühlen-Zeitlogik bewirkt nicht weniger als stete Unruhe und Betriebsamkeit, was letzten Endes bei vielen ZeitgenossInnen zu dem Gefühl führt, für nichts mehr Zeit zu haben und selbst hinter den notwendigsten Anforderungen nicht mehr herzukommen. Die Folgen sind unübersehbar: Burn-Out, Stress, Herzinfarkt, Karoshi und Depressionen sind nur einige der prominentesten Symptome der postmodernen Arbeits- und Beschleunigungsgesellschaft.

Während die Arbeitswelt in der Frühmoderne noch vor irrationalen, ineffektiven Zeitpraktiken geschützt werden musste, hat ihre Dominanz in Laufe der Jahre die übrige Lebenswelt erfolgreich infiziert. Sie hat im Innern der kapitalistischen Arbeitssubjekte derart erfolgreich Wurzeln geschlagen, dass diese auch in ihrem Freizeitverhalten derart auf fremdbestimmte Zeiteffizienz getrimmt sind, dass der abstrakten Zeit von dieser Seite aus keine Gefahr mehr droht.

Auch die starre Aufteilung in Produktion und Reproduktion, wie sie viele im Laufe des Fordismus liebgewonnen haben, ist in ihrer idealtypischen Reinform längst überholt. Damit ist das dieser Trennung eingeschriebene patriarchale Geschlechterverhältnis jedoch keineswegs überwunden. Es lebt vielmehr weiter als ein Phänomen, das als "Doppelte Vergesellschaftung" beschrieben wird: Frauen sind zwar für gewöhnlich erwerbstätig, bleiben jedoch nichtsdestotrotz in weiten Teilen für Hausarbeit und Kindererziehung zuständig.

Unproblematisch ist diese Entwicklung also nicht. Weder für die Menschen, noch für die Reproduktionsfähigkeit des Systems. Denn auch wenn die abstrakte Zeit ihren Siegeszug endlos fortsetzen zu können scheint, unterminiert sie mit jeder gewonnenen Schlacht ihre eigenen Voraussetzungen. Die gesellschaftlichen Institutionen, die den Subjekten als Haltepunkte in der sich immer mehr beschleunigenden Gesellschaft gedient haben, erodieren nämlich mehr und mehr. Familie, abstrakte Ich-Identität, Verlässlichkeit von Vertragsbeziehungen - alles das, was zwar selber Teil des modernen Horrors darstellt, seine Funktion aber nicht zuletzt darin fand, die Verhältnisse für die Subjekte auf perfide Weise erträglich zu machen, tritt uns im Zustand seiner Auflösung entgegen. Das zunehmende Tempo der Moderne führt nicht nur zur Krise der Arbeit, sondern mit ihr zur Krise der Moderne als ganzer.


Literatur

Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg, Ca Ira 2003.

E.P. Thompson: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Ders.: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jhdts., Frankfurt a. M., Berlin, Wien, Ullstein 1980.

Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M., Suhrkamp 2005.

Regina Becker-Schmidt; Gudrun-Axeli Knapp; Beate Schmidt: Eines ist zuwenig, beides ist zuviel: Erfahrungen von Arbeiterfrauen zwischen Familie und Fabrik, Bonn, Dietz 1984.

Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/New York, Campus 2004.

Raute

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Wert und Arbeit

Warum also ist es die Arbeit, die den Wert schaffen soll? Die hier verfochtene Antwort lautet: weil Wert keine Naturkonstante ist, sondern ein spezifisches gesellschaftliches Verhältnis ausdrückt.

Dieses gesellschaftliche Verhältnis ist die Folge der großen Transformation der traditionellen Sozialwesen in moderne Gesellschaften. Durch diese Veränderungen, die im wesentlichen mit der Entbettung der Individuen aus den traditionellen Sozialinstitutionen einhergehen, sind die Einzelnen nun als Einzelne ganz wortwörtlich auf sich selbst gestellt - und damit gegen alle anderen.

Zum eigenen Wohle, aber auch auf eigene Rechnung sind sie gezwungen, ihren Lebensunterhalt in Konkurrenz zu den Anderen zu verdienen. Als eine solche fernab aller Sozietät auf sich selbst zurückgeworfene Monade erhalten die Einzelnen ihr Leben dadurch, dass sie Dinge für andere tun: sie opfern ihre Zeit und produzieren Waren. Diese Arbeitsprodukte stellen sie dann - über den Markt - anderen zur Verfügung. Hier entscheidet sich, welche der vorab geleisteten Arbeiten gesellschaftliche Anerkennung erfahren und welche nicht.

Und weil es eben die Produkte ihrer Arbeit sind, für die die Menschen zuvor ihre Zeit verausgaben mussten, ist es eben auch die Arbeit - gemessen in der Zeit ihrer Verausgabung -, die hier den gesellschaftlichen Reichtum bildet. Nicht weil es in der Natur der Dinge läge, sondern weil die Menschen im Kapitalismus ein spezifisches gesellschaftliches Verhältnis eingehen, das sich dann im getrennten Tätigsein der abstrakten Individuen darstellt - die Arbeit. Dass auch Maschinen und Natur dazu beitragen, stofflichen Reichtum in die Welt zu setzen, soll hier gar nicht bestritten werden, nur gehen Maschinen und Natur eben keine gesellschaftlichen Verhältnisse miteinander ein. Das macht die Besonderheit der Arbeit aus - nicht universell, sondern hier im Kapitalismus.

J.B.

Raute

Massenausfall(*)

Wie der Kapitalismus an seiner eigenen Produktivität erstickt

von Norbert Trenkle

Die Entfesselung der Finanzmärkte wird als der schlechthinnige Sündenfall gebrandmarkt, der die aktuelle Krise ausgelöst haben soll. Wurde in der Diskussion über die "Krise der Arbeitsgesellschaft" in den 1970er und 1980er Jahren noch der durchschlagende Effekt der Produktivkraftentwicklung thematisiert und darüber nachgedacht, wie die neuen Reichtumspotentiale vor allem durch Arbeitszeitverkürzung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Gesellschaft genutzt werden könnten, so verschob sich seit den 1990er Jahren der Fokus immer mehr hin zu einer verkürzten "Kapitalismuskritik", die sich darauf fixierte, das Problem sei das "Überwuchern" der Finanzmärkte.

Keinesfalls jedoch ist die "übertriebene" Spekulation die Ursache für die ökonomischen und sozialen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte, und sie trägt auch nicht die Schuld an dem aktuellen Krisenschub, der immer bedrohlichere Dimensionen annimmt. Gerade umgekehrt gilt: Ohne die massenhafte Kapitalisierung von Zukunftserwartungen hätten die gewaltigen Rationalisierungseffekte der dritten industriellen Revolution bereits in den 1980er Jahren eine unaufhaltsame Spirale massenhafter Entwertung in Gang gesetzt, und das warenproduzierende System wäre zunehmend an sich selbst erstickt. Die Entfesselung von Spekulation und Kredit verhinderte dies zunächst, weil sie neue Anlagemöglichkeiten für Kapital schuf, die in den Kernsektoren der Verwertung aufgrund der beschleunigten Verdrängung lebendiger Arbeitskraft nicht mehr gegeben waren. Doch das Verdrängte kehrt nun mit vervielfachter Gewalt zurück.


Wie die Produktivitätsrevolution unsichtbar gemacht wird

In den 1980er Jahren galt es noch allgemein als ausgemacht, dass die breitflächige Anwendung der IuK-Technologien zu einer massenhaften "Freisetzung" von Arbeitskraft führen würde und deshalb, wie es damals hieß, "der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht". Diese Einschätzung ist jedoch in dem Maße zurückgenommen worden, wie die dritte industrielle Revolution voranschritt und ihre einschneidenden Auswirkungen den anfänglichen Schrecken verloren, während gleichzeitig die Aufblähung des fiktiven Kapitals nicht nur die Krise der Kapitalverwertung überdeckte, sondern auch zur Schaffung neuer Jobs führte. Nun lag freilich der Schwerpunkt der neu geschaffenen Arbeitsplätze keinesfalls in der Industrieproduktion, sondern im sogenannten Dienstleistungssektor, der allenthalben als der große Hoffnungsträger gehandelt wurde. Schon seit den 1970er Jahren galt es als ausgemacht, dass sich die moderne Gesellschaft von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wandeln werde. Und in der Tat schienen sich, gemessen an der quantitativen Verschiebung zwischen den Beschäftigungssektoren, diese Prognosen auch zu bestätigen. In allen kapitalistischen Kernländern ist seit den 1970er Jahren die Beschäftigung im primären und sekundären Sektor massiv zurückgegangen, während der Dienstleistungssektor einen gewaltigen Zuwachs an Arbeitsplätzen erlebt hat. So ist in den G7-Staaten der Anteil des tertiären Sektors von 62 Prozent im Jahr 1984 auf 74 Prozent in 2007 angewachsen. In den USA waren es im Jahr 2007 sogar 79 Prozent (OECD 2008, S. 38 f.).

Dieser empirische Befund darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass damit auch die Abschmelzung der Arbeits- und Wertsubstanz gestoppt worden wäre. Denn entscheidend für die Verwertung des Werts ist ja nicht, dass überhaupt gearbeitet wird, sondern dass diese Arbeit einen Wert und einen Mehrwert "produziert", der abgeschöpft werden kann. Das ist aber nur dort der Fall, wo Arbeitskraft in der Produktion von Waren im Dienste eines Kapitals vernutzt wird - und genau das trifft für einen Großteil der im Dienstleistungssektor verausgabten Arbeit gerade nicht zu.

Die durchgreifenden Effekte der dritten industriellen Revolution sind aber nicht nur mit Blick auf das scheinbare "Jobwunder" im tertiären Sektor geleugnet worden. Teilweise ist auch ganz grundsätzlich in Frage gestellt worden, dass sie überhaupt einen nennenswerten Sprung in der Produktivitätsentwicklung bewirkt habe. (So etwa auch Exner 2009.) Am weitesten ging die These vom sogenannten Produktivitätsparadoxon der IT, die zuerst von dem US-Ökonomen Robert M. Solow im Jahr 1987 aufgebracht und vor allem in den 1990er Jahren heftig diskutiert wurde. (Vgl. im Überblick Piller 1998.) Ihr zufolge soll die Einführung der Informationstechnologien überhaupt keine signifikanten Produktivitätssteigerungen zur Folge gehabt oder die Produktivitätsentwicklung sogar gebremst haben. "You can see computing everywhere but in the productivity statistics", so Solows drastische Formulierung (Solow 1987). Die empirische Beweisführung für diese These war jedoch selbst nach den gängigen statistischen Standards immer schon mehr als fragwürdig und ist daher auch vielfach kritisiert worden; mittlerweile gilt sie als widerlegt (Arens 2004, S. 252).

Im Wesentlichen operierten die Vertreter der Produktivitätsparadoxon-These mit hochaggregierten Zahlen der volkswirtschaftlichen Statistik, die alle Sektoren zusammenfassten und schon allein aus diesem Grund für eine Analyse des behaupteten Kausalzusammenhangs völlig ungeeignet sind. So argumentierte Solow, dass die IT-Investitionen in den USA seit den frühen 1960er Jahren zwar exponentiell zugenommen hätten, bei der gesamtwirtschaftlichen Produktivität jedoch keine signifikante Veränderung feststellbar sei. Unter die Kategorie "IT-Investitionen" subsumierte er dabei im Prinzip aber alle irgendwie gearteten Ausgaben für die Computertechnologie im weitesten Sinne, ganz egal, welche Anwendungen sich dahinter verbargen. Teilweise wurden sogar die Gesamtverkaufszahlen von Computern als Indikator für den IT-Einsatz herangezogen, ohne auch nur privaten Konsum und Investitionen auseinanderzuhalten (Brödner/Rolf 2005). Es ist klar, dass die Umstrukturierungen im Produktionsprozess sich damit nicht einmal annäherungsweise erfassen lassen, sondern im Gegenteil statistisch unsichtbar gemacht werden. Soweit Solow und seine Anhänger überhaupt zwischen volkswirtschaftlichen Sektoren unterschieden, mussten sie zwar zugeben, dass die Produktivitätsentwicklung in der Industrieproduktion deutliche Steigerungen aufwies, doch galt ihnen das als nicht sehr bedeutsam, weil dieser Sektor vor allem in den USA einen nur geringen Anteil der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigung repräsentiere. Im Mittelpunkt der Argumentation stand daher der Dienstleistungssektor, dessen (der statistischen Messung zufolge) äußerst schwache Produktivitätsentwicklung als Beleg für das Produktivitätsparadoxon galt.

Nun sind zum einen die Kriterien für die Produktivitätsberechnung im Dienstleistungssektor selbst nach den üblichen statistischen Methoden ziemlich willkürlich und daher auch heftig umstritten: "Wenn die Statistik den Umsatz als Output-Maßgröße wählen würde, dann würde sie beispielsweise im Falle geringerer Abschlussgebühren für Versicherungen von einer fallenden Produktivität ausgehen, wenngleich die Senkung der Gebühren der gestiegenen Produktivität der Verwaltung geschuldet sein mag. Aus diesem Grunde nimmt das US-amerikanische Bundesamt für Statistik für die meisten dieser Bereiche die Lohnsumme als Maßgröße für die Ausbringungsmengen. Dies führt allerdings dazu, dass das Produktivitätswachstum weitgehend mit den Lohnsteigerungen gleichgesetzt wird." (Scherrer 2000, S. 11 f.) Entscheidend ist hier aber noch ein anderer Aspekt: Mit der Fokussierung auf den tertiären Sektor wurden ausgerechnet die technologisch-organisatorischen Umwälzungen im für die Wertproduktion zentralen sekundären Sektor ausgeblendet und für nebensächlich erklärt. Mehr noch: Die Abnahme der Beschäftigung in der Industrieproduktion, die ja wesentlich der rasanten Rationalisierung geschuldet war, geriet sogar implizit zum Argument für die These vom mangelnden Produktivitätszuwachs im Gefolge der IT-Investitionen.

Schon eine einfache Aufschlüsselung auf Branchenebene verdeutlicht die Haltlosigkeit dieser These. Robert Brenner zufolge lag in den USA das Wachstum der Arbeitsproduktivität in den Industriezweigen für dauerhafte Güter von 1993 bis 1999 im jährlichen Durchschnitt zwischen 3,5 Prozent bei Kfz und Ausrüstungen, 12,9 Prozent bei Maschinerie für Handel und Gewerbe und stolzen 20,1 Prozent bei elektrischen und elektronischen Ausrüstungen (Brenner 2002, S. 256, FN 12). Von einer schwachen Produktivitätsentwicklung also keine Spur.

Aber selbst diese durchaus beeindruckenden Zahlen zeichnen noch ein höchst unvollständiges Bild vom tatsächlichen Ausmaß der dritten industriellen Revolution. Denn die üblichen statistischen Indikatoren zur Berechnung der Arbeitsproduktivität tendieren dazu, die Entwicklung dieser Größe systematisch zu unterschätzen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Arbeitsproduktivität ein Verhältnis zwischen stofflichem Output und Arbeitseinsatz darstellt, also in der Menge an hergestellten Waren pro Arbeitsstunde gemessen werden müsste. Da aber die Statistik gewöhnlich auf monetären Größen (Preise, Umsatz, Kosten, Einkommen, Gewinne etc.) basiert, kann sie nur indirekte Rückschlüsse auf die stoffliche Ebene ziehen (Costas 1984, S. 141). Dieses Zurückrechnen wirft jedoch eine ganze Reihe von letztlich unlösbaren Problemen und Widersprüchen auf, die umso stärker ins Gewicht fallen, je höher das statistische Aggregationsniveau ist, je mehr unterschiedliche Waren und Produktionszweige also auf einen gemeinsamen monetären Nenner gebracht werden.

Ein ganz offensichtliches Problem besteht zunächst darin, dass in die Preise alle möglichen betrieblichen und außerbetrieblichen Komponenten eingehen, die mit dem Produktivitätsniveau in der Produktion nicht das Geringste zu tun haben: Verwaltungs- und Vertriebskosten, Steuern und Abgaben, Währungsschwankungen und Rohstoffspekulationen etc. Deshalb sind selbst schon auf der Ebene von Einzelunternehmen direkte Rückschlüsse vom Umsatz auf den stofflichen Output mehr als fraglich. Und selbstverständlich verschärft sich das Problem, je mehr Zahlen von Unternehmen und Branchen zusammengefasst werden. Eine Berechnung der "volkswirtschaftlichen Produktivität" aus dem Verhältnis BIP zu Arbeitseinsatz, also auf dem höchsten Aggregationsniveau, ist daher für eine Analyse der gesellschaftlichen Produktivkraft vollkommen unbrauchbar. Allenfalls hat sie den Charakter einer Rentabilitätsberechnung (also ein Verhältnis von Geldgrößen), sagt aber rein gar nichts über die Entwicklung der stofflichen Produktivität aus.

Hinzu kommt aber noch ein ganz grundsätzlicher Aspekt, der sich direkt aus dem inneren kapitalistischen Selbstwiderspruch zwischen abstraktem und stofflichem Reichtum ergibt. Wenn die Produktivitätsentwicklung ein Verhältnis zwischen physischen Größen (Menge an Produkten) und verausgabter Arbeitszeit bezeichnet, dann heißt das nichts anderes, als dass sie in der Dimension des stofflichen oder konkreten Reichtums angesiedelt ist. Steigerung der Produktivität bedeutet, dass eine größere Menge stofflichen Reichtums pro Zeiteinheit hergestellt werden kann. Damit wird die gesellschaftliche Arbeitsstunde, also die zeitliche Norm, die den Wertmaßstab bestimmt, neu definiert: Der Wert jeder einzelnen Ware des betreffenden Produktionszweiges sinkt, weil sie ja nun, bezogen auf den gesellschaftlichen Standard, weniger abstrakte Arbeitszeit repräsentiert. Das bedeutet aber nicht, dass sich der Wert der gesellschaftlichen Arbeitsstunde verändern würde. Dieser sinkt nicht und steigt nicht, sondern bleibt immer gleich (Postone 2003, S. 434 f.). Was sich verändert, ist die zeitliche Norm, die den stofflichen Inhalt bestimmt. Mit jedem Zuwachs der Produktivität stellt sich die in einer gesellschaftlichen Arbeitsstunde verausgabte abstrakte Arbeit in einem höheren Produktausstoß dar, was umgekehrt heißt, dass sich die durch sie repräsentierte Wertsumme auf eine größere Anzahl von Waren aufteilt. Wird also beispielsweise die Produktionszahl von Flachbildfernsehern pro Arbeitsstunde verdoppelt und deshalb der Wert pro Stück von, sagen wir, 600 Euro auf 300 Euro halbiert, dann bleibt der Produktionswert pro Stunde gemessen in Geldeinheiten genau gleich, nur dass die 600 Euro sich jetzt in zwei Fernsehern statt in einem darstellen. (Anm. d. Verf.: Zum Zweck der Veranschaulichung liegen dieser Argumentation einige vereinfachende Annahmen zugrunde. Zum einen wurde so getan, als ließe sich der Wert direkt in Preise übersetzen, was aus verschiedenen Gründen nicht der Fall ist. Zum anderen: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die Preisentwicklung die Wertminderung adäquat widerspiegelt, reduziert sich durch eine Halbierung der notwendigen Arbeitszeit zunächst nur der in der Produktion des Fernsehers neu zugesetzte Wert. Andere Wertbestandteile, die auf das Produkt übertragen werden, dargestellt etwa in Rohstoffen, Vorprodukten und anteiligem Maschinenverschleiß, werden im Zuge einer allgemeinen Produktivitätsentwicklung auch reduziert, aber möglicherweise nicht im gleichen Ausmaß.)

Versuchen wir nun aber, die Produktivitätsentwicklung in monetären Größen zu messen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass gar keine Veränderung stattgefunden hat. Die gleiche Zahl an Arbeitskräften "produziert" die gleiche Wertsumme wie zuvor. Dass diese Wertsumme sich auf eine größere Menge stofflichen Reichtums aufteilt, kann in der Dimension des abstrakten Reichtums gar nicht abgebildet werden, weil in ihr ja gerade vom konkreten Inhalt der Produktion und mithin auch von den veränderten Produktionsbedingungen abstrahiert wird. Damit wird aber auch die historische Basisdynamik ausgeblendet, die, vom inneren kapitalistischen Selbstwiderspruch angetrieben, jenen "Tretmühleneffekt" erzeugt, der sich auch als eine permanente Verdichtung der Zeit beschreiben lässt (Postone 2003, S. 436 f.). In der Dimension des abstrakten Reichtums herrscht ein merkwürdiger unhistorischer Stillstand, der in einem schreienden Kontrast steht zur ungeheuren historischen Dynamik, die der Kapitalismus gerade aufgrund des daraus resultierenden Zwangs zur ständigen Neubestimmung der vorherrschenden zeitlichen Norm, also der "gesellschaftlichen Arbeitsstunde", entwickeln muss: "Die abstrakte Zeiteinheit lässt ihre historische Neubestimmung nicht manifest zutage treten: sie behält ihre konstante Form als Gegenwartszeit. Somit existiert der historische Fluss hinter dem Rahmen abstrakter Zeit, erscheint aber nicht in ihm. Der historische 'Inhalt' der abstrakten Zeiteinheit bleibt genauso verborgen wie der gesellschaftliche 'Inhalt' der Ware." (Postone 2003, S. 444) Aus diesem Grund ist jeder Versuch, die Produktivitätsentwicklung monetär abzubilden, von vorneherein und ganz grundsätzlich zum Scheitern verurteilt.


Der hedonische Preisindex und seine Brüder

Ganz besonders deutlich wird das ausgerechnet dort, wo die Statistiker versuchen, der Tatsache methodisch Rechnung zu tragen, dass nicht nur die Produktionsverfahren sich verändern, sondern auch die Produkte im Zuge des technischen Fortschritts komplexer werden. So unterscheidet sich etwa ein Auto aus dem Jahr 2011 ganz wesentlich von einem aus den 1970er Jahren. Selbst ein Kleinwagen ist heute vollgestopft mit Elektronik und allerlei Sicherheitstechnologie, die früher nicht einmal in Luxuskarossen enthalten war, weil die Technik dafür schlicht nicht zur Verfügung stand. Ein Golf der ersten Generation hat mit dem neuesten Modell von heute eigentlich nur noch den Namen gemeinsam. Noch krasser stellt sich dieses Problem bei allen Produkten und Anwendungen der IuK-Technologien, wo der technologische Fortschritt extrem schnell voranschreitet. Dem sogenannten Moore'schen Gesetz zufolge verdoppelt sich die Leistung von Mikroprozessoren und Computern alle achtzehn Monate, während im gleichen Zeitraum der Preis für rechnergestützte Informationsverarbeitung auf die Hälfte fällt. Wie aber lässt sich das statistisch abbilden? Wie schlägt es sich in der Produktivitätsberechnung nieder, dass ein PC heute sehr viel billiger ist als vor zehn Jahren, dabei aber ein Vielfaches der Rechenkapazität enthält, oder ein Handy inzwischen zu einem tragbaren Multimediagerät geworden ist?

Die Statistiker haben dafür verschiedene Methoden entwickelt, deren bekannteste der sogenannte hedonische Preisindex ist. Im Kern laufen alle diese Methoden darauf hinaus, die qualitativen Veränderungen der Produkte monetär zu bewerten, um auf diese Weise eine allgemeine Vergleichbarkeit herzustellen. (Vgl. Europäische Gemeinschaften 2005, S. 20 ff; Statistisches Bundesamt 2002.) Demnach wird dann beispielsweise ein Auto der neuesten Modellreihe, das gegenüber seinem Vorgängermodell zusätzliche Ausstattungsmerkmale besitzt, rechnerisch mit einem, sagen wir, 10 Prozent höheren Wert angesetzt. Ist nun der Verkaufspreis ebenfalls um 10 Prozent angehoben worden, gilt das nicht als Preiserhöhung, sondern als monetäre Entsprechung eben dieser qualitativen Verbesserung. Weil dem Mehr an Geld ja auch ein Mehr an Leistung entspricht, wird der gestiegene Preis in der Statistik daher wieder herausgerechnet.


Sie weist dann bei Autos eine Inflationsrate von null aus. Bleibt der nominelle Verkaufspreis gleich, vermeldet die Statistik gar eine Preissenkung, weil ja für die gleiche Geldsumme mehr "Nutzwert" gekauft werden kann. Tatsächlich ist aus diesem Grund der offizielle Preisindex für Automobile beispielsweise im Zeitraum 1995 bis 2001 um nur 5,2 Prozent gestiegen, während die Verkaufspreise mit 17,2 Prozent deutlich stärker zugelegt haben. Die Differenz, so die Erklärung des Statistischen Bundesamtes, "ist auf Qualitätsverbesserungen der PKWs zurückzuführen, die im gesamten Zeitraum einen Wertanteil von 11,9 Prozent der Verkaufspreise des Jahres 1995 ausmachen" (Statistisches Bundesamt 2003). (Zu den Berechnungsmethoden im Einzelnen vgl. Frei 2005.)

Was dabei freilich unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass die Neuwagenkäufer ja gar nicht die Wahl zwischen einem Auto der neuen und einem der alten Modellreihe haben und daher die höheren Preise so oder so zahlen müssen, auch wenn die Statistik etwas anderes vermerkt. Der Alltagsverstand hat also durchaus nicht ganz Unrecht, wenn er sich über die Diskrepanz zwischen der offiziellen Inflationsrate und dem von ihm wahrgenommenen Kaufkraftschwund wundert.

Nun könnten der hedonische Preisindex und ähnliche Verfahren zwar zunächst einmal als Versuch gewertet werden, die Veränderungen auf der Ebene der stofflichen Reichtumsproduktion wenigstens annäherungsweise abzubilden. Doch statt diese Veränderungen als solche in den Blick zu nehmen und systematisch darzustellen, richtet sich das ganze Bemühen darauf, sie monetär zu beziffern, also in die Kategorien der abstrakten Reichtumsproduktion zu übersetzen. Dadurch wird aber der Widerspruch zwischen den beiden Dimensionen der kapitalistischen Reichtumsform nicht etwa aufgelöst, sondern auf absurde Weise noch einmal reproduziert, womit dann die Verwirrung komplett wäre.

Schauen wir uns das Vorgehen noch einmal an: Um die Qualitätsveränderungen zu erfassen, wird zunächst der in der Wertproduktion vollzogene Abstraktionsprozess zurückverfolgt. Wurden hier die qualitativ unterschiedlichen Waren A, B, C etc. einander gleichgesetzt und darauf reduziert, Ausdruck einer bestimmten Summe an Wert zu sein, versuchen die Statistiker nun in sehr aufwendigen Verfahren die stofflich-konkreten Unterschiede wieder zu entschlüsseln, die auf der Wert- und Preisebene unsichtbar sind, bei Autos beispielsweise eine Verbesserung des Bremssystems, ein höherer Aufprallschutz und hellere Scheinwerfer oder bei Computern eine höhere Taktfrequenz, schnellere Zugriffszeiten etc. Selbstverständlich kann das aufgrund der hohen Komplexität der Produkte und der Produktionsverfahren allenfalls ansatzweise gelingen, weil eine Vielzahl von Parametern berücksichtigt und verglichen werden müssen, dennoch findet zumindest eine gewisse Annäherung an die Ebene der stofflichen Reichtumsproduktion statt.

Dann aber wird die ganze Sache sogleich wieder auf den Kopf gestellt. In einem nächsten Schritt werden nun nämlich die so identifizierten qualitativen Differenzen mit einem fiktiven monetären Maßstab bewertet, um daraus dann die neuen statistischen Pseudopreise zu berechnen. Kostet also beispielsweise ein Computer im Laden genauso viel wie das Vorgängermodell, sagen wir 500 Euro, weist aber eine höhere Taktfrequenz und schnellere Zugriffszeiten auf, die von den Statistikern mit 100 Euro bewertet werden, so ist er rechnerisch um 100 Euro billiger geworden, wird in der Verbraucherpreisstatistik also nur mit 400 Euro ausgewiesen, obwohl der Käufer eben jene 500 Euro hinblättern musste. Der kurze Ausflug in die Dimension des Stofflich-Konkreten endet also wieder genau da, wo er seinen Anfang nahm: in der Dimension des abstrakten Reichtums. Nur dass mit den Maßstäben auch die Ergebnisse verändert wurden, ganz so, als wollten die Statistiker den Prozess der Wertabstraktion, der seinem Wesen nach bewusstlos und hinter dem Rücken der Menschen verläuft, bewusst nachvollziehen und rechnerisch "korrigieren".

Wer sich jetzt die Augen reibt, hat Recht. Nicht ganz zufällig erinnert das Ganze an die Versuche im sogenannten Realsozialismus, die "wahren Werte" der Produkte auszurechnen und für die volkswirtschaftliche Planung zu nutzen; eine Planung, die zum Scheitern verurteilt war, weil sie immer schon die Grundkategorien der kapitalistischen Reichtumsform (Ware, Wert, Geld, Preis, Lohn etc.) voraussetzte und sich einredete, die der Wertproduktion inhärenten, objektivierten Zwangsgesetze ließen sich bewusst steuern und "anwenden". Dies zu versuchen kommt jedoch einer Quadratur des Kreises gleich. (Vgl. Stahlmann 1990 sowie etwas ausführlicher Kurz 1991.)

Aber nicht nur methodisch, sondern auch politisch gesehen lassen sich Parallelen zum verblichenen Staatssozialismus ziehen, insofern nämlich Verfahren wie der "hedonische Preisindex" das Material für eine systematische Schönfärberei der offiziellen Statistik liefern, die durchaus mit der im ehemaligen Ostblock vergleichbar ist. Einen Effekt haben wir schon angesprochen: Durch die monetäre Bewertung der Qualitätsverbesserungen wird die in der offiziellen Statistik ausgewiesene Inflation kleingerechnet. Weit weniger wahrnehmbar, weil weit entfernt von der unmittelbaren Erfahrung, ist der zweite wichtige Effekt: die statistische Vergrößerung des BIP. Dieser Effekt kommt so zustande, dass in Umkehrung des bei der Inflationsberechnung angewandten Verfahrens die Umsätze der qualitativ verbesserten Produkte rechnerisch höher angesetzt werden und als solche in die volkswirtschaftliche Bilanzierung eingehen.

Das klingt verrückt, folgt aber der immanenten Logik, alle qualitativen Veränderungen auf der Preisebene abzubilden. Um noch einmal auf das Beispiel des Computers zurückzukommen: Da dieser unverändert 500 Euro kostet, aber die genannten technischen Verbesserungen enthält, die von den Statistikern mit 100 Euro bewertet werden, korrigieren sie in der BIP-Statistik den Preis um eben diesen Betrag nach oben, auf 600 Euro. Beträgt dann der jährliche Gesamtumsatz mit diesen und ähnlichen Computermodellen effektiv sagen wir 5 Mrd., so weist hingegen das BIP einen rechnerischen Betrag von 6 Mrd. aus. Mit anderen Worten: Das offizielle BIP, das eigentlich nur die monetäre Summe der Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert wurden, ausweisen sollte, enthält in Wahrheit auch rein fiktive Zahlen, denen keine realen Umsätze entsprechen.

Spätestens hier schlägt das Verfahren des hedonischen Preisindex' vollends ins Absurde um. Was als Versuch begann, die stofflich-konkreten Prozesse abzubilden, gerät zu einer blanken Manipulation der Statistik. Statt die Dimension des stofflichen Reichtums sichtbar zu machen, mündet die monetäre Bewertung der mühsam herausgefilterten Qualitätsveränderungen gerade im Gegenteil darin, die Akkumulation abstrakten Reichtums schönzurechnen.

Es ist gewiss kein Zufall, dass diese kosmetische Operation an der Statistik in den USA ausgerechnet in den 1990er Jahren eingeführt wurde, als die dritte industrielle Revolution an Fahrt gewann - die EU zog rund zehn Jahre später nach (Statistisches Bundesamt 2002; FAZ 21.4.2005). Ausschlaggebend war vor allem der rasante Preisverfall bei IT-Produkten im Gefolge des gewaltigen Produktivitätssprungs, der sich negativ auf die offiziellen Wachstumszahlen auswirkte. Der stoffliche Reichtum rückte also ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ins Visier der politischen Statistik, als dieser in ein zunehmendes Missverhältnis zur Dimension des abstrakten Reichtums geriet und die Produktivitätsentwicklung zunehmend die Wertproduktion untergrub. Wo diese Tendenz ihre Spuren im BIP hinterließ, besann sich die Politik plötzlich darauf, dass die monetäre Dimension ja gar nicht den gesamten gesellschaftlichen Reichtum abbildet - allerdings nur, um genau diese Dimension noch einmal kosmetisch zu rehabilitieren.

Dass fiktive rechnerische Umsätze keinen Beitrag zur Kapitalverwertung leisten, wird sogar der unkritischste Volkswirt wohl zugeben müssen. Zu den Kuriositäten des auf der Dynamik des fiktiven Kapitals beruhenden Krisenaufschubs gehört es aber, dass das statistische Facelifting dennoch seinen Teil dazu beigetragen hat, die weltwirtschaftliche Dynamik wieder in Schwung zu bringen. Denn obwohl sich die Manipulation der Statistik vor den Augen der Öffentlichkeit vollzog und in Wissenschaft und Medien breit diskutiert und kritisiert wurde, war das bald wieder vergessen und die geschönten Wachstumszahlen galten schließlich doch als Zeichen für die gewaltigen Zukunftsperspektiven der "New Economy".

Die Simulation dynamischen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitig niedriger Inflation schürte so jene Zukunftserwartungen, die den Treibsatz der Aktien- und Wertpapierspekulation ausmachten, welche wiederum auch die Realwirtschaft wieder in Schwung brachte. Insofern ist die systematische statistische Schönfärberei ein Moment der zunehmenden Fiktionalisierung der Ökonomie seit den 1990er Jahren, die auf einer permanenten Errichtung potemkinscher Dörfer beruhte. Auch darin erwies sich der westliche Kapitalismus seinem untergegangenen Bruder aus dem Osten als weit überlegen.

(*) Es handelt sich um einen gekürzten Auszug aus dem Buch "Die große Entwertung", das der Autor zusammen mit Ernst Lohoff derzeit verfasst und das im Frühjahr 2012 im Unrast Verlag erscheinen wird.


Literatur

Arens, Thomas (2004): Methodische Auswahl von CRM-Software, Göttingen 2004.

Brenner, Robert (2002): Boom & Bubble, Hamburg 2002.

Brödner, Peter/Rolf, Arno (2005): Das Produktivitätsparadoxon der IT. Wahn und Wirklichkeit einer neuartigen Technik. Thesen zur 25. Tagung "Mensch-Maschine-Kommunikation" (MMK 2005),
http://tu-dresden.de/die_tu_dresden/zentrale_einrichtungen/mz/veranstaltungen/konferenzen/2005/mmk_2005/arbeitsgruppen/moderation_ag1.pdf

Costas, Ilse (1984): Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialstatistik, Frankfurt/M. 1984.

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Exner, Andreas (2009): Krise der Produktivität, Grenzen des Wachstums, in: Streifzüge 46/2009.

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Kurz, Robert (1991): Der Kollaps der Modernisierung, Frankfurt/M.

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Solow, Robert M. (1987): Review of 'Manufacturing Matters', in: The New York Times Book Review, 12.7.1987.

Scherrer, Christoph (2000): "New Economy": Theoretische Perspektiven, in: Duisburger Arbeitspapiere Ostasienwissenschaften, Nr. 34/2000, S. 1-16.

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Trenkle, Norbert (1999): Es rettet Euch kein Billiglohn, in: Kurz, Robert/Lohoff, Ernst/Trenkle, Norbert (Hrsg.): Feierabend. Elf Attacken gegen die Arbeit, Hamburg 1999.

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Die Nehmer

Wenige heutige Ausdrücke sind so rücksichtslos demaskierend wie der Ausdruck "Arbeitnehmer". Er stammt natürlich von den Arbeitgebern. Und da Geben seliger ist denn Nehmen, fällt auf den dem Ausdruck "Arbeitnehmer" entsprechenden Ausdruck "Arbeitgeber" sogar ein gewisser religiöser Schimmer. In meiner Jugend gab es nur Arbeiter. Die wussten, was sie gaben, wie sie sich ausgaben und was ihnen genommen wurde. Und der Schlachtruf "Arbeitnehmer aller Länder, vereinigt euch!" wäre ungehört verhallt. Auch die Arbeiter hatten natürlich ans "Nehmen" gedacht, d.h. sie waren darauf bedacht, soviel Lohn zu kriegen wie möglich; und die sozialistischen unter ihnen auch darauf, sich die Produktionsmittel zu nehmen. Aber auf den Gedanken, sich die Arbeit, die sie ja (sofern sie nicht arbeitslos waren) ohnehin hatten, bzw. die sie hatte, zu nehmen, auf den Gedanken wäre natürlich keiner gekommen.

Heute dagegen empfinden viele ihre neue Firmierung, die ja durch die falsche Bezeichnung dessen, was es zu nehmen gilt, den totalen Verzicht auf das ehemalige Ziel besiegelt, als ehrenvoll. Offenbar haben sie auf Grund der neuen Etikette das stolze Gefühl, sich wirklich etwas genommen zu haben und wirklich einen Gipfel erstiegen zu haben: nämlich den Gipfel der Sozialpartnerschaft. Dass es sich dabei um einen kümmerlichen Gipfel des Godesberges handelt und nicht um den Gipfel, den ihre Großväter vor hundert Jahren im Auge gehabt hatten, das spüren sie nicht nur nicht, das wollen sie auch nicht spüren.

Aus: Günther Anders, Eskalation des Verbrechens. Aus einem ABC der amerikanischen Aggression gegen Vietnam,
Union Verlag, Berlin 1971, S. 84-85. Mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Oberschlick.

Raute

Immaterial World

Arbeit

von Stefan Meretz

Wenn alle gegen die Arbeit reden, soll hier für die Arbeit das Wort ergriffen werden. Nein, falsch, die Arbeit kann nicht belobigt werden, denn in einer abstrakten Redeweise kann man nicht für oder gegen die Arbeit sprechen bzw. schreiben. Wir kommen also auch hier nicht um die Mühe des Begriffs herum, die kolumnengemäß kurz ausfallen muss.

Ausgangspunkt ist die schlichte Tatsache, dass Menschen ihre Lebensbedingungen nicht einfach vorfinden, sondern aktiv herstellen. Das Herstellen bezieht sich auf alle Lebensbedingungen, also nicht nur auf die materiellen, sondern auch auf die sozialen. Der Aspekt der Herstellung der materiellen Lebensbedingungen wird traditionell mit dem Begriff der "Arbeit" verbunden. Mit dieser terminologischen Abstraktion wird jedoch ein bedeutender Teil der produktiven menschlichen Lebenstätigkeiten abgeschnitten und in ein unsichtbares Reich verbannt. Versuche, diese Tätigkeiten durch Einbeziehung in das "Arbeits-Reich" - als Beziehungsarbeit, Hausarbeit, affektive Arbeit etc. - wieder sichtbar zu machen, sind weitgehend gescheitert. Die Gründe dafür sind in der Theoriebildung zu finden.

Überlegungen von Karl Marx und sich auf ihn beziehende Ansätze lassen sich in drei Phasen einteilen. Zunächst war Arbeit für Marx identisch mit Entfremdung, mit einer Umkehrung von Mittel und Zweck: Anstatt das "produktive Leben", das "Gattungsleben" (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 516) als Selbstzweck zu verwirklichen, gerät Arbeit bloß zum Mittel für einen fremden Zweck und ist nur "Diener des Lohns" (ebd., 520). Alle Tätigkeit des Gattungslebens ist Produktion, Schöpfung der Lebensbedingungen, während entfremdete Arbeit als Ursache des Privateigentums bestimmt wird.

Mit der "Kritik der politischen Ökonomie" unterscheidet Marx in der nächsten Phase dann Gattungs- und Formbestimmung: Die nützliche Arbeit ist "eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln" (Kapital I, 57); die gesellschaftliche Form warenproduzierender Arbeit zeigt sich als Verhältnis von konkreter "besonderer zweckbestimmter" und abstrakter "gleicher menschlicher" Arbeit (ebd., 61). Diese Fassung wirft bis heute diskutierte Probleme auf, nur zwei seien genannt.

Erstens: Die überhistorische Fassung von "nützlicher Arbeit" und der historisch-spezifische Formaspekt der "konkreten Arbeit" (die als solche keine eigenständige Existenz hat) werden in eins gesetzt. Marx tut dies selbst, indem er "konkreter nützlicher Arbeit" (ebd.) die ewige Fähigkeit zuschreibt, "Bildnerin von Gebrauchswerten" (ebd., 57) zu sein. Dies hat viele Interpretationen dazu verleitet, die "konkrete Arbeit" nicht als unselbständiges Moment der warenproduzierenden Arbeit anzusehen, sondern als verselbständigte, neutrale Entität, die es von der Lohnform zu befreien gelte. Dabei rückt aus dem Blick, dass die besondere Zweckbestimmung der konkreten Arbeit die Realisierung des Tauschwerts ist, was auch die sinnlich-konkrete Gestalt der Waren bestimmt.

Zweitens: Zwar unterscheidet Marx wie unvollkommen auch immer - Gattungs- und Formbestimmung, doch indem er dies mit der "Abstraktion der Kategorie 'Arbeit', 'Arbeit überhaupt', Arbeit sans phrase" (Grundrisse, 38) tut, geraten all jene Tätigkeiten des "Gattungslebens" aus dem Blick, die er vorher noch ganz allgemein als "produktives Leben" gefasst hat. Marx weiß, dass es die "Verhältnisse (sind), die diese einfache Abstraktion erzeugen", mit der der "Ausgangspunkt der modernen Ökonomie erst praktisch wahr" (ebd.) geworden ist, befestigt damit aber theoretisch die reale Abspaltung und Entwichtigung der Sphäre der Nicht-Arbeit.

Als dritte Phase kann die wertkritische Rekonstruktion des Marxschen Ansatzes gelten, insbesondere durch Moishe Postone (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft). Er unterscheidet eindeutig überhistorische Gattungsbestimmung und historisch-spezifische Form der Arbeit. Erstere meint die produktiven Tätigkeiten im allgemeinen Sinne, die in nicht-kapitalistischen Gesellschaften "ihre Bedeutung aus den gesellschaftlichen Beziehungen (erlangen), in deren Kontext sie stehen" (ebd., 233). Im Gegensatz dazu stellt die kapitalistische Arbeit selbst die gesellschaftliche Vermittlung her und verleiht dieser ihre uniforme Bedeutung ("was sich rechnet, das zählt"). Beide Aspekte überlagern sich im Kapitalismus, wobei die formspezifische Arbeit dominant ist.

Doch auch Postone rutscht entgegen erklärter Absicht am Ende wieder in eine universalisierende Redeweise von der "Arbeit", wenn er die Gattungsdimension benennt. Dadurch entsteht der Eindruck einer Aufteilung in eine "gute konkrete" Arbeit an der Gattung und eine "schlechte abstrakte" Arbeit am Kapital. So kann er als Alternative zur gesellschaftlichen Vermittlung durch warenförmige Arbeit nur eine intensivierte "politische öffentliche Sphäre" (ebd., 543) denken.

Wie der junge Marx wusste, ist das "produktive Leben" insgesamt als Quelle der Schöpfung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu begreifen. Während die Abstraktion "Arbeit" immer eine "Nicht-Arbeit" von sich abstößt und damit implizit behauptet, nur "Arbeit" würde die Lebensbedingungen herstellen, schließt der Begriff der produktiven Lebenstätigkeit alle gesellschaftlichen Tätigkeiten ein, die die Voraussetzungen menschlich-gesellschaftlichen Lebens schaffen.

Nun könnte man einwenden, dass genau diese transhistorisch-allgemein verstandene produktive Lebenstätigkeit gemeint sei, wenn man von "Arbeit" schlechthin rede. Das wäre denkbar, allerdings nur dann, wenn man "Arbeit als produktive Lebenstätigkeit" von "warenproduzierender Arbeit" unterscheidet und dabei nicht in den Fehler verfällt, eine Dimension der doppelt bestimmten Arbeit mit einer transhistorischen Bestimmung zu verwechseln.

Da scheint es mir doch einfacher, begrifflich "produktive Lebenstätigkeit" von "Arbeit" abzuheben und deutlich zu machen, dass Emanzipation voraussetzt, dass die Sphärenspaltung in Arbeit und Nicht-Arbeit aufgehoben wird. Dies wären Verhältnisse, in denen individuelle, besondere Menschen ihre Besonderheit als gesellschaftlich Allgemeines so zur Geltung bringen, dass dies nicht auf Kosten anderer geht, sondern alle anderen einschließt.

Raute

"Reich der Notwendigkeit" und "Reich der Freiheit"

Zum Verhältnis von Arbeit und freier Aktivität

von Emmerich Nyikos

1.

"Arbeit" ist hier als produktive Tätigkeit (genauer: gebrauchswertproduktive) zu verstehen, nicht aber als "Lohnarbeit", die auf dem Verkauf der Arbeitskraft beruht, welcher Verkauf dann für den Lohnarbeiter die eigentliche "Gewinnung des Lebensunterhalts" darstellt; diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als die Arbeitskraft im Anschluss an ihren Verkauf auch für gänzlich unproduktive Zwecke genutzt werden kann, die mit der Gewinnung des Lebensunterhalts, von der Warte der Gesamtgesellschaft aus, gar nichts zu tun haben (wie etwa das Aktenordnen an der Börse, das Texten eines Werbespruchs oder das Nachschleppen der Schläger und Bälle auf dem Golfplatz). Der Sinn der Arbeit ist hier gänzlich pervertiert: Arbeit, ursprünglich Bedingung der Hominisierung ("Hand und Wort"), wird als Lohnarbeit (oder als freelance) mehr und mehr zur unsinnigen Beschäftigung.

Verstanden als "Gewinnung des Lebensunterhalts" im engeren Sinn weist Arbeit, als anthropologische Konstante (die sie zumindest bis hin zum post-modernen Zeitalter ist), stets zwei Hauptaspekte auf:

1. die Plackerei als Verausgabung von Lebenssubstanz, sei sie nun "materiell" oder "geistig" (aber streng zu unterscheiden vom Zwangscharakter der Arbeit in Klassengesellschaften, der wohl dafür verantwortlich ist, dass in vielen Sprachen der Ausdruck für "Arbeit" ursprünglich die Bedeutungskomponente "Qual" implizierte oder überhaupt darauf etymologisch zurückgeht) und
2. die produktive Bereitstellung von Gütern.

Die Betätigung der Arbeitskraft entzieht Lebenssubstanz, was sich am Ende des Arbeitsprozesses als Erschöpfung und Müdigkeit äußert; sie bringt aber auch stets Gebrauchswerte hervor, die (mehr oder weniger) notwendig sind für das menschliche Leben (als Basis der Konsumtion im weitesten Sinn) und nicht zuletzt auch notwendig zur Rekreation des Arbeitsvermögens.

Man muss hier aber strikt unterscheiden zwischen der Arbeit, die immer instrumentell im Hinblick auf die Konsumtionssphäre ist (direkt oder indirekt), und der freien Aktivität, die nicht-instrumentell ist, nicht induziert durch einen äußeren Zweck, sondern selbstreferent als ungebundene Betätigung der menschlichen Wesenskräfte als solche, was natürlich nicht heißt, dass sie nicht auch nützliche Resultate zeitigen kann. (Freie Aktivität - free activity - darf freilich auch nicht mit Spiel an und für sich verwechselt werden, sie kann auch ziemlich "harte Arbeit", "geistige Knochenarbeit", sein.)


2.

Ursprünglich freilich (vor dem Aufkommen der Maschinenarbeit) implizierte die Arbeit (und nicht nur die freie Aktivität) auch ein kreatives Moment, insofern sie auf der Realisierung eines ideellen Planes beruhte, der so in der Natur keineswegs vorkam: In diesem Sinne konnte sie als durchaus schöpferisch gelten.

Nur ist im Arbeitsprozess das Schöpferische stets sekundär, da es sich hier im Prinzip lediglich um die Gewinnung des Lebensunterhalts handelt, was bedingt, dass in den Arbeitsprozessen das einmal Bewährte stets wiederholt wird - dass die Arbeit mithin zur Routine gerät -, wodurch sich der kreative Aspekt der Tendenz nach verflüchtigt.


3.

In einer Klassengesellschaft schließlich sondern sich voneinander Arbeit und freie Betätigung ab, zwei Bereiche, die zuvor noch eng verflochten waren, wie zahlreiche ethnographische Berichte über "primitive Gesellschaften" betonen. Denn das Jagen und Sammeln wechselt hier mit der Ausführung von Riten ab, die aber bis zu einem bestimmten Punkt selbst instrumentell im Hinblick auf die Produktion sind, und diese wiederum mit der Zubereitung des Essens usw. Dabei wird die Arbeit den subalternen Klassen aufgehalst - eine Plackerei, deren Mühsal durch den Zwangscharakter der Arbeit dann nur noch verschärft wird -, während den herrschenden Klassen infolge ihrer Freistellung vom gesellschaftlichen Arbeitsprozess die freie Aktivität zufallen kann, da sie allein - insofern sie das Mehrprodukt absorbieren - über die Muße verfügen, die die Bedingung für free activity ist. Das wussten schon die frühen Theoretiker der Klassengesellschaft, allen voran der große Aristoteles.

Die Arbeit verliert darüber hinaus oftmals auch gänzlich ihre kreativen Aspekte (oder das, was als solche nachsichtigerweise noch durchgehen kann), dann nämlich, wenn die Elite die Planung und Leitung von der Ausführung ablöst und exklusiv für sich reklamiert, wobei es freilich auch vorkommen kann, dass das Planen und Leiten an Spezialisten subalterner Natur delegiert wird (an die Verwalter der Latifundien mit ihren Aufsehern, die selbst Sklaven sind, an die Vögte der Gutshöfe und an die Manager und Ingenieure der modernen Fabriken), da die herrschende Klasse selbst zumeist jede Art von Arbeit verachtet und als Banausentum schmäht, wobei sich hier vor allem antike Schriftsteller wie Aristoteles und Xenophon hervorgetan haben.


4.

Mit der kapitalistischen Produktion, der Lohnarbeit und dem Verkauf des Arbeitsvermögens, also der totalen Subsumtion unter das Prinzip der Verwertung, ist schließlich ein Endpunkt erreicht: Nicht nur wird die Trennung von geistigem Entwurf und Realisierung in der Zerstückelung und Zerlegung des Arbeitsprozesses in Handgriffspartikel zu einer Konsequenz der Technologie (im Gegensatz zur Option früherer Zeiten), also irreversibel, auch die Entfremdung der Arbeit von ihrem Produkt steigert sich bis zum Extrem, da der Maschinenarbeiter als solcher (also als eine Person) in der Tat nichts mehr herstellt, insofern das greifbare Produkt das Resultat der anonymen Handgriffe von vielen Arbeitern ist.

Die Arbeit wird hier gänzlich zur Qual, die lediglich übertüncht wird durch die Illusion, aufgrund des Lohns "auf eigenen Beinen" zu stehen. - In der bürgerlichen Gesellschaft, so Marx, ist die Arbeit "nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin hervor, dass, sobald kein physischer Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird." (K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW 40, S. 514)


5.

Heißt das nun, dass wir der verlorenen Welt der kleinen Produktion, die irgendwie noch kreative Aspekte besaß, nachtrauern sollen? Durchaus nicht. Denn einmal abgesehen davon, dass jedes Nachtrauern als witzlos erscheint, sobald man die Sache, der man hinterherweint, objektiv nicht mehr wiederherstellen kann, und ganz abgesehen davon, dass diese "kleine Produktion", was ihre kreativen Aspekte betrifft, doch ziemlich armselig war, ist es doch so, dass das System, das vom Kapitalverhältnis beherrscht wird, notwendigerweise die Bedingungen schafft, welche die "Arbeit" als solche - als eine Aktivität, die von einem äußeren Zweck dominiert wird - überhaupt obsolet werden lassen.

Man denke hier nur an die Automatisierungstendenz, welche die lebendige Arbeit nach und nach aus der Produktionswelt verdrängt. Denken wir uns - hypothetisch - zu dem noch hinzu, dass Mode und geplante Obsoleszenz - die moralische Veraltung der Dinge -, da an und für sich irrational, in einer befreiten Gesellschaft verschwinden und die Dauerhaftigkeit der Güter zur Norm gemacht wird. Denken wir uns weiter hinzu, dass das Produktionsvolumen dadurch gesenkt wird, dass die Gesellschaft Rüstungsgüter, Schnickschnack und sinnlosen Luxus nicht mehr hervorbringt, weil sie dies alles im Grunde nicht braucht. Denken wir uns schließlich noch dies eine hinzu, dass mit dem Ende der Warengesellschaft auch alle Tätigkeiten wegfallen müssen, die sich nur der spezifischen Form dieser Gesellschaft verdanken: Kommerz, Reklame, Finanz.

Dann allerdings haben wir eine Gesellschaft vor uns, wo die Arbeitszeit, die gesellschaftlich notwendig ist, in der Tat auf ein Minimum, das fast schon an Null grenzt, reduziert worden ist. (Und ganz nebenbei verschwinden mit dieser décroissance bis zu einem bestimmten Punkt auch die ökologischen Übel, die das "Wachstum" der Produktion unvermeidlich hervorbringt.)

Damit aber wird die Zeit, über die die Gesellschaft verfügt, zu, wie Marx es genannt hat, free time, disposable time, die "teils zum Genuss der Produkte, teils zur free activity" genutzt werden kann (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, in: MEW 26.3, S. 253). Und diesmal für alle, und nicht nur - wie in der Klassengesellschaft - für eine Minorität.

Hier haben wir es dann natürlich nicht mehr mit "Freizeit" zu tun, die nur Komplement der Arbeitszeit ist, weil sie bloß der Regeneration der Arbeitskraft dient: "Freie Zeit" ist vielmehr die Zeit für kreative Betätigung ganz jenseits der Produktion. Sie "gehört zu einer freien Gesellschaft, Freizeit zu einer repressiven". (H. Marcuse, Das Individuum in der "Great Society", in: H. Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Suhrkamp (1976), S. 175)

Marx hat dies das "Reich der Freiheit" genannt (K. Marx, Das Kapital III, in: MEW 25, S. 882), eine Freiheit, die für uns greifbar nah ist, weil das Kapitalsystem infolge der Produktion des relativen Mehrwerts - obgleich gänzlich unbewusst und von allem nichts ahnend - ihr schon auf das Erfreulichste vorgearbeitet hat. - "Die Schöpfung von viel disposable time außer der notwendigen Arbeitszeit für die Gesellschaft überhaupt und jedes Glied derselben ..., diese Schöpfung von Nicht-Arbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals, wie aller frühren Stufen, als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige. Das Kapital fügt hinzu, dass es die Surplusarbeitszeit der Masse durch alle Mittel der Kunst und Wissenschaft vermehrt, weil sein Reichtum direkt in der Aneignung von Surplusarbeitszeit besteht; da sein Zweck direkt der Wert, nicht der Gebrauchswert. Es ist so, malgré lui, instrumental in creating the means of social disposable time, um die Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren; und so die Zeit aller frei für ihre eigne Entwicklung zu machen." (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Dietz (1953), S. 595f.)

Die Befreiung selbst allerdings fällt uns nicht von allein in den Schoß: Sie muss - von uns - erarbeitet werden, und nicht nur in dem Sinn, dass eine Gesellschaft, die auf Gemeineigentum und Planung beruht, erst hergestellt werden will (was an und für sich schon eine Titanenarbeit ist), sondern auch, weil es durchaus nicht als selbstverständlich erscheint, dass free time zur free activity genutzt werden wird, was sich, wie man sich leicht vorstellen kann, als fatal herausstellen würde. Denn schlimmer noch als jede Plackerei ist der Müßiggang, wenn der Kopf leer ist. Hier müsste nicht nur die Produktions-, sondern auch die ganze Lebensweise umgewälzt werden. Und dies ist nun wirklich - transformatorische Knochenarbeit.

Raute

Reich der Arbeit

von Franz Schandl

In folgendem Aufriss soll der überaffirmative Arbeits"begriff" des Nationalsozialismus als Zuspitzung und Ausdehnung des obligaten gesellschaftlichen Wertekonsenses dechiffriert werden.


"Sieg der Arbeit" heißt ein Buch, das der Nazi-Schriftsteller Anton Zischka (1904-1997) im Jahr 1941 im Goldmann Verlag veröffentlicht hat. "Kein schönerer Sieg der Arbeit ist je erfochten worden als der jenes ausgebluteten, niedergetretenen Deutschlands, das zu sich selbst fand, aus eigenster Kraft den Sieg errang über die reichsten und mächtigsten Imperien der Welt." (Z:15) In aller Welt sei jetzt "sichtbar, dass die Arbeit die Regentin unseres öffentlichen und privaten Lebens ist." (Z:23) Arbeit sei fortan nicht Mühsal, sondern "schöpferische Lust" (Z:23). "Denn in Deutschland ist seit 1933 Arbeit eine Ehre." (Z:288) "'Der Betrieb ist eine zum Nutzen von Volk und Staat arbeitende Leistungsgemeinschaft', sagt der § 1 des deutschen Gesetzes zur Ordnung der Arbeit." (Z:288) "Der Arbeitsvertrag ist dadurch in ein gegenseitiges Treue- und Fürsorgeverhältnis umgewandelt und das Arbeitsverhältnis auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden. Die Arbeit ist Dienst, nicht mehr ,Ware'; Ehre, nicht mehr Fron." (Z:289) "Die Wertung des Menschen nach seiner Arbeit, nach seiner Einstellung gegenüber dem Volksganzen ist heute so selbstverständlich geworden..." (Z:289)


Bann und Dienst

Dass der Wert der Menschen sich aus ihrer Arbeit ableitet, ja dass Menschen überhaupt einen Wert haben müssen, darin unterscheiden sich die Faschisten nicht von ihren Kontrahenten. Warum diese und andere Parallelen so wenig aufbereitet werden, liegt wohl auch daran, dass durch eine solche Fokussierung sofort die enge Verwandtschaft mit den liberalen und konservativen, sozialdemokratischen und stalinistischen, ja sogar linksradikalen Prinzipien offenkundig wäre. Daran kann niemand so recht eine Freude haben, gelten doch die Nazis als das Andere und die Anderen schlechthin. Nicht einmal wo wir mit ihnen identisch sind, wollen wir an sie anstreifen. Der Erkenntnis ist das freilich nicht besonders förderlich.

Die Arbeit ist tatsächlich eine alle Anschauungen und Strömungen umfassende Beschwörung. Wenn man sich auf etwas einigen könnte, dann darauf, dass immer gearbeitet wurde und dass ewig gearbeitet werden muss. Die Arbeit wird in dieser gemeinen Sichtung stets ihrer spezifischen Beschaffenheit entkleidet und zu einem überhistorischen Fixum erhoben. In Zischkas Untertitel wird sie etwa als "Geschichte des fünftausendjährigen Kampfes gegen Unwissenheit und Sklaverei" präsentiert.

Die Nazis stehen ganz im Bann der Arbeit. Indes, sie spitzen bloß zu. Ihr Arbeitsbegriff ist nicht neu (geschweige denn kritisch), aber er ist neu dimensioniert. In seiner Beschaffenheit vorgegeben, säuberten sie ihn von den klassenkämpferischen und ständischen Bezügen und Beigaben und stülpten ihn der gesamten Gesellschaft über. Hatte man in der Arbeiterbewegung bei aller Arbeitsanbetung auch noch den Arbeitslohn und die Arbeitsbedingungen im Blickfeld, so wurde im Faschismus mit diesen Akzenten aufgeräumt.

Das Reich, das die Nazis sich vorstellten, war tatsächlich eines der Arbeit und des Arbeiters. Sie eigneten sich nichts an, was ihnen äußerlich gewesen wäre. Arbeit ist hier auch kein Begriff mehr, sondern eine apriorische Gestalt, ein Vokabel, das Ernst Jünger (1895-1998) sein langes Leben lang verwendete und prägte. "Denn die Gestalt ist das Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile enthält" (J:34f.), heißt es etwas kryptisch. Arbeit ist nicht bloß Faktum sondern Fatum, es ist klar, dass "Arbeit kultischen Ranges ist" (J:153), schließlich geht es um die "planetarische Herrschaft" (J:306) dieser Gestalt. Dem kann, also hat sich niemand zu widersetzen.

Wenn man wissen will, was die Bezeichnung "Arbeiter" im Namen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu suchen hat, dann ist Jünger gefragt. Sein Buch "Der Arbeiter" (1932) ist eine kaum zu überbietende Lektürehilfe. Jünger spricht davon, dass der Führer der "erste Diener, erste Soldat, erste Arbeiter ist". (J:15) Kriegs- und Arbeitsfront sind sowieso identisch (vgl. J:114). Der so installierte Arbeiter ist nicht der freie Arbeiter am Markt, sondern die eherne Keimzelle des nationalen Staates: Diener, Soldat, Arbeiter in einem. Pflicht aus Freude ist dessen Wille. Dieser Arbeiter ist Glied, er hat sich nichts mehr auszusuchen, er ist elementarer Bestandteil der Volksgemeinschaft, nicht bloß verdinglichtes Subjekt, sondern dienstbares Organ. Dieser Arbeiter hat kein gesondertes Interesse zu haben, denn sein Interesse ist das allgemeine Interesse seines Staates. Jeder ist Arbeiter und jeder hat Arbeiter zu sein. Auch der Unternehmer als Wirtschaftsführer ist ein Arbeiter, was sonst. Der Arbeiter besitzt "rassemäßige Qualität" (J:212), er ist nicht von seinem Status zu befreien, sondern seine Gestalt ist zu universalisieren.


Kranker Menschenverstand

Auch die Einheit von Kapital und Arbeit war zentrales Credo der NSDAP. "Deutschland wandte sich gegen den Kapitalismus, nicht gegen das Kapital, denn Kapital kann ja nur aus Arbeit entstehen, und es ist nicht einzusehen, warum es weniger daseinsberechtigt sein soll als die Arbeit selbst." (Z:284) Dass Kapital verwertete Arbeit ist, sieht Zischka ja völlig richtig. Das Kapital wird hier nicht mystifiziert, mystifiziert wird erst der Kapitalismus. Der Nationalsozialismus will nun diese Einheit von Kapital und Arbeit keineswegs überwinden, sondern zur Vollendung führen, indem er auch noch die inneren Widersprüche verbietet und alle Anstrengungen in den Dienst der Volksgemeinschaft stellt.

Die vorgenommene Scheidung von Kapital und Kapitalismus gehört seit Jahrhunderten zum Arsenal des gesunden Menschenverstandes. Dass ausgerechnet der Kapitalismus nicht Ausdruck des Kapitals ist, sondern als gegen dieses gerichtete Machenschaften (Gier, Ausbeutung, Korruption, Spekulantentum) zu begreifen ist, mag ein seltsamer Reflex sein, aber es ist der vorherrschende. Auch aktuell. An allen Ecken klopft er seine Sprüche und kontaminiert das Unbehagen.

Bleiben wir doch noch bei den gängigen Volksvorurteilen: "Nur Arbeit vermag Güter zu schaffen, im Grunde seines Herzens weiß das ein jeder. Geld ist nur ein Mittel, Arbeitserträge aufzuspeichern, neue Arbeitsgelegenheiten zu schaffen; es ist ausschließlich ein Tauschmittel und Wertmesser." (Z:21) Da stimmt doch jeder zu, und doch ist es Unsinn. Güter werden nämlich nicht durch die Arbeit geschaffen, sondern durch ihre Herstellung und Produktion, durch die Arbeit wird nur ihre vergleichende Inwertsetzung ermöglicht, kurzum ein Tauschwert realisiert. Diese Täuschung ist jedoch allen Mitgliedern der Gesellschaft geläufig und selbstverständlich, weil praktiziert und somit praktisch, sie erscheint nicht als analytische Denkleistung, sondern als synthetische Vorleistung, der per Vollzug nachzukommen ist. Sie denken, was sie tun, aber sie denken nicht, was sie tun.

Arbeit ist eben nicht eine konkrete Tätigkeit, die sich vollzieht, sondern die abstrakte Bezüglichkeit entspezifizierter Tätigkeiten zueinander, indem diese in Wert gesetzt werden und nur ihren Zweck erfüllen, wenn sie sich vermarkten oder doch durch ihre Mitgift diese Vermarktung substanziell ermöglichen. Güter sind Folge konkreter Aktivität, Geld ist Folge eines abstrakten Vergleichs. Und doch muss in der Warenwirtschaft das eine immer als das andere erscheinen, diese Verwechslung ist ein Grundpfeiler allen bürgerlichen Handelns und Handels.


Arbeit als Leben

Sie spitzten aber nicht nur zu, sie dehnten auch aus. Dass Arbeit nicht nur die Arbeit, sondern das ganze Leben zu umfassen hatte, auch darin waren die Faschisten Vorreiter. Selbst die gedankenlose Inflationierung des Arbeitsbegriffs, wie sie sich heute in den terminologischen Aufladungen und Neuschöpfungen (von der Erziehungsarbeit über die Liebesarbeit bis zur Trauerarbeit) offenbart, hat ihre nationalsozialistischen Ahnen. Auch die dachten die Arbeit durch und durch kolonialistisch. "Arbeit und Leben sind so eng verflochten, dass eine Geschichte der Arbeit eigentlich alles enthalten müsste, was mit dem menschlichen Leben zusammenhängt, dass sie zugleich Kultur- und Weltgeschichte sein müsste, eine Geschichte der Erfindungen, aber auch der Kunst, eine Religionsgeschichte....", schreibt Anton Zischka. (Z:5) Ganz entrückt und in höhere Sphären vordringend auch Ernst Jünger: "Es kann nichts geben, was nicht als Arbeit bezeichnet wird. Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tag und bei Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sternensysteme bewegt." (J:68)

Wir haben es hier also letztlich mit einer gesprengten Kategorie zu tun: "Arbeit ist also nicht Tätigkeit schlechthin, sondern der Ausdruck eines besonderen Seins, das seinen Raum, seine Zeit, seine Gesetzmäßigkeiten zu erfüllen sucht. Daher kennt sie keinen Gegensatz außer sich selbst (...) Das Gegenteil der Arbeit ist nicht etwa Ruhe oder Muße, sondern es gibt unter diesem Gesichtswinkel keinen Zustand, der nicht als Arbeit begriffen wird." (J:91)

Leben ist Arbeit. Recht ist Pflicht. "Der Wille zur Arbeit aber, der Wille zum Leben, lag unserem Volk so stark im Blute, dass es auf den Führer hörte, der dieser Arbeit wieder ihren Sinn gab, das Recht auf Arbeit allen anderen voranstellte, die Pflicht zur Arbeit wieder zum Leitgedanken machte." (Z:153) Ganz ähnlich Jünger: "Es ist aber nichts einleuchtender, als dass innerhalb einer Welt, in der der Name des Arbeiters die Bedeutung eines Rangabzeichens besitzt und als deren innerste Notwendigkeit die Arbeit begriffen wird, die Freiheit sich darstellt als Ausdruck eben dieser Notwendigkeit oder, mit anderen Worten, dass hier jeder Freiheitsanspruch als ein Arbeitsanspruch erscheint." (J:67) Die totale Mobilmachung bedingt eine "umfassende Arbeitsdienstpflicht" (J:302).

Nirgendwo wird der Gedanke, dass das Recht auf Arbeit mit der Pflicht zur Arbeit einher geht, so deutlich ausgesprochen wie bei den Nazis. Arbeit ist Auftrag zur Erledigung. Ein verpflichtender Arbeitsdienst ist nur die organisatorische Folge dieser Überlegungen. Die von der Ideologie Beseelten empfanden diesen Zwang aber tatsächlich als Freiheit. Müssen heißt Wollen. Eine derartige Totalidentifizierung mit den Herrschaftsparametern ist bisher nur der NSDAP gelungen. "Arbeit macht frei", das war für diese Leute durchaus eine Wahrheit. Aber auch das unterscheidet Nazis nur graduell von Demokraten. Die scheuen nur vor den letzten expliziten Konsequenzen (bei Inländern mehr als bei Migranten) zurück, substanziell ist der Arbeitszwang angelegt und implizit ist er sowieso gegeben.


Menschenschlag

Bei Jünger ist übrigens auch immer wieder die Rede vom "Menschenschlag" (J:37; 130 usw.): Da ist sogleich zu fragen, wer oder was denn diesen Menschen diesen Schlag angetan hat. Und wie man denn in die Lage gerät, zu diesem Schlage gehören zu müssen. Deutlicher als der Begriff des Typus legt die Gestalt des Schlages ja etwas a priori und definitiv fest. Da gibt es kein Entkommen. Nicht einmal partiell. Der Schlag ist unhintergehbar. Und das soll auch so sein. Die sich ihm widersetzten, konnten in dieser Logik auch nur als Schädlinge und Verräter, als Asoziale und Deserteure aufgefasst werden.

Menschen müssen geschlagen werden, und sie sind es auch in jeder Hinsicht. Gerade Schläger brauchen viele Schläge, um austeilen zu können, was sie eingesteckt haben und um in letzter Konsequenz nicht nur Krieger, sondern dezidiert Schlächter zu werden. Denn in diesem bösen Spiel kann es laut Jünger nur Triumph oder Tod (J:137) geben. Da läuft es kalt über den Rücken und das Ende von Sensibilität und Empathie ist erreicht. Indes, Verletzte sind auch die Sieger. Und damit sie es bleiben, müssen sie immer wieder raus in den Kampf, und sie können nicht austeilen, ohne Blessuren davon zu tragen. Konkurrenz ist Schädigung und Opferung in Permanenz.

Der Nationalsozialismus war der bisherige Gipfel der Arbeitsanbetung, nirgendwo sonst hat die "Schwerkraft des totalen Arbeitscharakters" (J:306) so zugeschlagen wie im Dritten Reich. Arbeit meint nicht kreative Tätigkeit, sie meint verletzen, zerstören, umbringen, vernichten.


J: Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1982.

Z: Anton Zischka, Sieg der Arbeit. Geschichte des fünftausendjährigen Kampfes gegen Unwissenheit und Sklaverei, Leipzig 1941.

Raute

Dein Schulbuch lügt

Wie die Schule systematisch eine Traumwelt schafft - Kapitel "Arbeit"

von Juliane Gross

Kaum hast du als Schüler die Schule verlassen, ganz gleich mit welcher Qualifikation, musst du einen Beruf erlernen oder dir zumindest eine Arbeit zulegen. Wozu eigentlich?


Was Arbeit eigentlich ist...

Dass Arbeit kein Vergnügen ist, weiß jeder. Ganz für sich genommen und unabhängig davon, wie auf sie in unserer Arbeitswelt Bezug genommen wird, ist Arbeit nichts weiter, als seinen Körper und Geist ganz auf die Erledigung einer gestellten Aufgabe zu richten. Oder anders gesagt: Irgendwas muss erledigt werden, und dann macht man es halt. Dabei gibt es Aufgaben, die viel körperliche Anstrengung und/oder viel geistige Konzentration erfordern, es gibt welche, die sich schnell erledigen lassen, welche, die regelmäßig aufs Neue anfallen, es gibt monotone und anregende Arbeiten.

Dabei haben alle Varianten gemeinsam, dass ihr Ziel die Erledigung der Aufgabe ist. Dann ist die Arbeit getan und man hat sie nicht mehr. Wer keine Arbeit hat, kann sich freuen, denn er hat Zeit zur freien Verfügung.

In einer Marktwirtschaft sieht das leider anders aus. Wer hier keine Arbeit hat, freut sich nicht, denn er hat auch kein Einkommen, und somit Not, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wer jedoch arbeitet, tut dies in erster Linie, um Geld zu verdienen und nur in zweiter Linie, um Aufgaben zu erledigen. Arbeiten ist somit sein einziges Mittel, um an Geld zu kommen, da dieses wiederum sein einziges Mittel ist, um an Güter zur Bedürfnisbefriedigung zu kommen.

Auf diese Weise erhält Arbeit in unserer Gesellschaft einen anderen Charakter: Statt die Erledigung einer Sache zu meinen, steht sie dafür, dass sich Menschen für Geld (Lohn) in den Dienst anderer Menschen (Arbeitgeber) begeben.


...und wozu sie gut ist

Es ist zunächst nichts dagegen einzuwenden, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft so gut es eben kann, seinen Beitrag zu ihr leistet. Und das Sozialkundebuch der Sekundarstufe I erklärt auf S. 134 auch, warum Arbeit gut ist: "Die Hauptaufgabe von Arbeit und Wirtschaft liegt in der Erfüllung der materiellen Bedürfnisse des Menschen." [aus: Mensch und Politik S I, Band 1, 2005 Bildungshaus Schulbuchverlage (Schroedel)]

Wir erfahren wenige Seiten später, dass wir in einer "modernen Industriegesellschaft" leben, die sich durch "Arbeitsteilung" auszeichnet. Eine farbenfrohe Grafik zeigt, dass in unserer Wirtschaft ein reges Geben und Nehmen herrscht. Jede der vier beteiligten Parteien (das sind: Banken, der Staat, die Haushalte und die Unternehmen) gibt den anderen Parteien etwas und erhält von diesen dafür etwas anderes zurück. Was nach der "Hauptaufgabe" dann die "Nebenaufgabe" sei, wird allerdings verschwiegen.

Das Schulbuch malt hier ein idyllisches Wunschbild, wenn es behauptet, es sei die Aufgabe von Arbeit und Wirtschaft in unserem kapitalistischen System, die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.

Jedes Wirtschaftsleben in einer Gesellschaft sollte diesem Zwecke dienen, das ist richtig - doch wie sieht es mit der Realität in unserer freien Marktwirtschaft aus? Stellen Arbeitgeber etwa Leute ein, um deren materielle Bedürfnisse zu befriedigen?

Vergeben sie nicht vielmehr nur dann einen Arbeitsplatz, wenn die Arbeit ihnen Gewinne in Geldform verschafft? (Und sobald diese Gewinne ausbleiben, ist es auch sofort wieder vorbei mit den schönen Arbeitsplätzen.) Nicht einmal der Staat erhält die marktwirtschaftliche Ordnung deswegen aufrecht, damit die Leute kriegen, was sie zum Leben brauchen. Allenfalls achtet er darauf, dass die Menschen das Nötigste erhalten, um auf dem Arbeitsmarkt brauchbar zu sein. Sein Grund, diese Wirtschaftsform zu betreiben liegt ebenfalls in der Geldvermehrung - da geldwerter Reichtum seine Macht- und Handlungsgrundlage ist.

In der Tat ist es so, dass viele Menschen in unserem Wirtschaftskreislauf Geld erhalten und damit materielle Bedürfnisse befriedigen können. Doch das ist noch lange kein Grund, diese Realität gleich als Zweck zu missinterpretieren (soviel Aufrichtigkeit beim Argumentieren sollte schon sein).

Deshalb muss der Schulbuchsatz korrekt lauten: Die Hauptaufgabe von Arbeit und Wirtschaft liegt in der Vermehrung von geldwertem Kapital, wobei sozusagen als Nebenaufgabe die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen bewältigt wird.

Genauso, wie es Realität ist, dass viele Menschen mithilfe dieses Systems an ihre Lebensmittel gelangen, ist es auch Realität, dass die Funktionsweise dieses selben Systems gleichzeitig sehr viele Menschen davon ausschließt, an ihre Lebensmittel zu gelangen. (Hier erhält man übrigens eine erste Ahnung davon, warum Armut hierzulande kein "bedauerlicher Unfall" ist, sondern notwendig von Marktwirtschaft und Kapitalismus verursacht wird; wie das im Einzelnen geht, wäre gesondert auszuführen.)


Warum die Schule lügt...

Wenn im Schulbuch die Wunschbild-Definition von Arbeit und Wirtschaft steht anstelle der korrekten, so liegt der Grund darin, dass die Schüler ja später selbst mal ihren Platz im Wirtschaftskreislauf einnehmen sollen: sei es als Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Arbeitsloser. Dafür ist es aber wichtig, dass sie das Leben mit - oder ohne - Arbeitsplatz im Prinzip in dieser Wirtschaftsform gut finden.

Wenn - und solange - sie daran glauben, dass diese Arbeits- und Wirtschaftsweise zur Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen dient, werden sie sich auch weiterhin freiwillig und protestlos in den fremdbestimmten Dienst zur Gewinnvermehrung ihrer Arbeitgeber einspannen lassen.

Raute

Sp(r)itzenleistungen

Doping am Arbeitsplatz dürfte langsam aber sicher zum Normalfall werden

von Peter Samol

Um in der Arbeitsgesellschaft als vollwertiges Mitglied zu gelten, genügt es für gewöhnlich nicht, eine Arbeit zu haben. Man muss darüber hinaus auch ein gewisses Maß an Leistung vorweisen. Meistens ein sehr hohes. Sonst drohen Anerkennungsverlust, Druck von Seiten der Kollegen bzw. Vorgesetzten und nicht selten am Ende der Rauswurf. Darüber hinaus verdichten sich in allen Berufsfeldern stetig die Leistungsanforderungen, meist begleitet von wachsendem Konkurrenzdruck und der Angst vor Stellenstreichungen. Um all dem besser gewachsen zu sein und damit man nach außen hin immer noch den fleißigen und belastbaren Mitarbeiter geben kann, steigt die Bereitschaft zur Einnahme von Medikamenten, die der Leistungssteigerung dienen sollen. Allein in Deutschland putschen sich mehr als zwei Millionen gesunde Menschen regelmäßig auf, um besser mit ihrer Arbeit fertig zu werden. Das sind fünf Prozent aller Beschäftigten. Es ist zu befürchten, dass diese Art des Medikamentenmissbrauchs künftig zunehmen wird.


Sport im Drogenkoma

Begonnen hat der Missbrauch von Medikamenten zur Leistungssteigerung im Sport. Hier wird die Einnahme entsprechender körperfremder Substanzen als Doping bezeichnet. Zum ersten Mal wurden leistungssteigernde Substanzen im Jahr 1910 beim Pferdesport nachgewiesen. Richtig los ging es mit dem Sportdoping in den 1950er Jahren. Von dieser Zeit an wurden verschiedene Substanzen für den Leistungszuwachs von Sportlern systematisch erprobt und verwendet.

Es begann seinerzeit mit Pervitin, einer Substanz, die Soldaten bereits im zweiten Weltkrieg gegen Müdigkeit und zur Steigerung der Aufmerksamkeit verabreicht wurde. In den Siebzigern waren dann Anabolika, sprich muskelaufbauende Präparate, das bevorzugte Mittel der Wahl, kurz darauf gefolgt von Wachstumshormonen. Anfang der 1990er Jahren geriet dann vor allem das Blut in den Fokus der künstlichen Leistungssteigerung. Beim Blutdoping wird die Anzahl der roten Blutkörperchen durch die Gabe von Fremd- oder Eigenblut sowie durch Epo-Präparate (Erythropoetin - kurz Epo - ist ein Hormon, das die Produktion der roten Blutkörperchen anregt) über den Normalwert hinaus gesteigert. Dadurch kann das Blut mehr Sauerstoff zu den Muskeln transportieren, was die sportliche Leistungsfähigkeit deutlich erhöht.

Mittlerweile ist der Spitzensport total von der Pharmakologie durchdrungen. Bei anonymen Umfragen räumt fast jeder zweite Spitzensportler freiwillig ein, schon einmal verbotene leistungssteigernde Substanzen zu sich genommen zu haben (siehe Pitsch, Emrich, Klein 2005, S. 68). Man kann also getrost davon ausgehen, dass nur ein relativ geringer Teil der Spitzensportler nicht gedopt ist. Vor allem, da die Leistungen im Spitzensport häufig nur um winzige Bruchteile von Sekunden oder Millimetern voneinander differieren. Hier kann eine leistungssteigernde Substanz den entscheidenden Unterschied zum Sieg ausmachen.

Eine Sportlerkarriere ist Darwinismus pur. In ihr setzen sich nur die Starken durch, während die Schwachen auf der Strecke bleiben und aussortiert werden. Noch dazu haben fast alle Spitzensportler ihre Kindheit und ihre Jugend dem Sport geopfert. Sie haben oft nichts anderes mehr und leben ständig in der begründeten Angst, diesen auch noch zu verlieren, wenn sie nicht gut genug sind. Was aber sollen sie tun, wenn sie bereits alles aus sich herausgeholt haben und es immer noch nicht reicht? Dann ist die Versuchung ungeheuer groß, mit unerlaubten Mitteln nachzuhelfen. Die Namensliste der erwischten Sportler ist lang. Sie umfasst die Radsportprofis Lance Armstrong und Jan Ulrich, den 100-Meter-Sprintprofi Justin Gatlin und viele andere. Das Thema schwebt über allen Sportarten, vor allem über denjenigen, bei denen es um individuell zurechenbare Einzelleistungen geht: Radrennen, Boxen, Gewichtheben, Kugelstoßen, Schwimmen, Leichtathletik, Tennis, Biathlon, Skilanglauf, Eisschnelllauf und viele mehr.

In den meisten Hochleistungssportarten werden immer neue Rekorde gefordert, um sie interessant zu halten. Aber weil die natürlichen Grenzen des menschlichen Körpers längst erreicht sind, ist das auf normalen Wegen praktisch nicht mehr zu schaffen. Wenn dessen ungeachtet buchstäblich übermenschliche Leistungen gefordert werden, dann wird die Unterstützung durch unerlaubte Mittel zur systemimmanenten Größe. Wie sollen sonst die ständig neuen Bestwerte im Spitzensport noch zustandekommen? Man kann davon ausgehen, dass viele Weltrekorde nur mit pharmazeutischer Hilfe errungen wurden. Ein Beispiel von vielen ist der 100-Meter-Sprint-Weltrekord des amerikanischen Athleten Justin Gatlin bei den olympischen Spielen in Athen 2004, der ihm später wieder aberkannt wurde.

Noch schwerer als die Rekordsucht dürfte der Umstand wiegen, dass die Sportler auf Erfolgsprämien und Sponsorenverträge angewiesen sind. Beides macht aus den Sportlern Leistungslöhner. Bei den Siegprämien von mehreren 10.000 Dollar sowie Weltrekordprämien von etwa 100.000 Dollar herrscht das "The-Winner-Takes-It-All-Prinzip". Die Erstplatzierten bekommen fast alles; allenfalls erhalten Zweit- und Drittplatzierte noch nennenswerte Beträge und Ehrungen, während alle anderen gar nichts bekommen, egal wie gut sie ansonsten gewesen sind.

Und nur Sieger bekommen lukrative Sponsorenverträge. In den meisten Spitzensportarten verdienen weltweit nur die ungefähr zehn Besten von mehreren tausend Anwärtern nennenswerte Geldsummen. Wenn aber der Sieg zur Frage der Existenz wird, dann sind rasch alle Mittel recht. Wer nicht dopt, verspielt die eigenen Chancen auf den Sieg und damit auf Geld und Ruhm. Fast jeder Sportler steht früher oder später vor der Alternative, entweder als nicht leistungsfähig genug ausscheiden zu müssen oder zum Betrug mit Hilfe nicht erlaubter Substanzen zu greifen. Vor diesem Hintergrund ist die Erkenntnis, dass im Sport auf breiter Basis gedopt wird, so wenig überraschend wie die Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist.


Doping für die Arbeit

Nachdem Doping im Leistungssport schon seit Jahrzehnten der Normalfall ist, wandert es zunehmend auch in die Arbeitswelt ein. Der schillernde spanische Philosoph und Essayist José Ortega y Gasset pflegte den Sport als "Bruder der Arbeit" zu bezeichnen. Die Verwandtschaft gründet darin, dass in beiden Bereichen Leistung das wesentliche Prinzip ist.

Immer mehr Beschäftigte nehmen systematisch körperfremde Substanzen ein, um ihre Arbeit besser, schneller und ausdauernder verrichten zu können. Eine im Auftrag der DAK (Deutsche Angestellten-Krankenkasse) durchgeführte deutschlandweite Befragung von gut 3.000 Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 50 Jahren aus dem Jahr 2008 ergab, dass fünf Prozent der Befragten regelmäßig dopen, um den Stress am Arbeitsplatz besser zu bewältigen oder ihre Leistung zu steigern (DAK-Gesundheitsreport 2009, S. 105). Umgerechnet auf die etwa 40 Millionen in Deutschland Beschäftigten ergibt das eine Zahl von zwei Millionen Dopingfällen. Darüber hinaus wären 60 Prozent der Berufstätigen dazu bereit, Mittel zur Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit zu nehmen, wenn keine Nebenwirkungen zu befürchten und sie legal erhältlich wären (ebd., S. 37).

Weit mehr als die Hälfte aller Berufstätigen haben sich also bereits mit dem Gedanken an eine Einnahme leistungssteigernder Substanzen im Job angefreundet. Diese hohe Einnahmebereitschaft dürfte stark mit den Veränderungen der modernen Arbeitswelt zusammenhängen. Ist doch die allgemeine Arbeitssituation durch wachsenden Stress, Arbeitsplatzunsicherheit und starken Konkurrenzdruck geprägt (ebd., S. 107). Tabletten erleichtern endlose Arbeitstage, schaffen Abhilfe bei wachsender Arbeitsverdichtung, hohem Zeitdruck sowie permanenter Verfügbarkeit rund um die Uhr. Alles in allem bekommt man zunehmend den Eindruck, dass für die Arbeitswelt nur noch olympiareife Athleten in Frage kommen.

Ähnlich wie beim Sport muss sich auch hier jeder gegen die Konkurrenz durchsetzen sowie stets am Ball und auf keinen Fall auf der Strecke bleiben. Kein Wunder also, dass immer mehr gesunde Menschen mit Medikamenten nachhelfen, um ständig auf Höchsttouren laufen zu können und den wachsenden Anforderungen am Arbeitsplatz zu genügen.

Anders als bei Leistungssportlern geht es bei der Arbeit aber nicht um eine Steigerung der körperlichen, sondern vor allem um eine der geistigen Leistungsfähigkeit. Um schneller, länger und konzentrierter arbeiten zu können, im Kundenkontakt "besser drauf zu sein" oder mit weniger Schlaf auszukommen, beeinflussen arbeitende Menschen mit Hilfe von Medikamenten vor allem ihre Hirnfunktionen.

In diesem Zusammenhang nimmt der außermedizinische Einsatz von Psychopharmaka seit Ende der 1980er Jahre ständig zu (siehe Schäfer, Groß 2008, S. 188). Dabei handelt es sich vor allem um Mittel, die normalerweise bei Demenzerkrankungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen oder zur Beruhigung gegeben werden. Manager schlucken Beruhigungsmittel, um dem Stress besser gewachsen zu sein, Außendienstmitarbeiter nehmen Mittel gegen Demenz sowie Stimmungsaufheller, um sich die Namen ihrer Kunden besser merken und sie stets freundlich bedienen zu können, und Büroangestellte verordnen sich selbst Aufputschmittel, um nach einer Sechzehn-Stunden-Schicht am nächsten Morgen wieder frisch auf der Matte zu stehen.

Je nach Bedarf wird medikamentös aufgeputscht, beruhigt und vor allem die kognitive Leistungsfähigkeit gesteigert, um den Belastungen bei der Arbeit gewachsen zu sein. Das wird auch als "Neuroenhancement" bezeichnet. "Enhancement" bedeutet dabei soviel wie "Steigerung", "Verbesserung" oder "Stärkung". Andere Begriffe in diesem Zusammenhang sind auch "Performance Enhancement", "Hirndoping", "Brain-Boosting" oder "Minddoping". Sie bedeuten alle dasselbe: Den Versuch, die kognitiven Fähigkeiten oder psychischen Befindlichkeiten von gesunden Menschen mit Hilfe von Medikamenten über das normale Maß hinaus zu steigern.

Selbst junge Menschen sind zunehmend gedopt. In den spätkapitalistischen Gesellschaften gilt das Prinzip des Wettbewerbs oft schon ab dem Kindergarten. Im Bildungssystem macht sich zunehmend eine Haltung breit, wonach Freude über "nur" mittelmäßige Leistungen verpönt ist und ein Leben ohne Abitur praktisch schon als gelaufen gilt. In dieser Situation verschaffen viele Eltern ihren Sprösslingen bereitwillig "Unterstützung" durch entsprechende Medikamente. Eine hohe Dunkelziffer von Schulkindern wird für Klassenarbeiten gedopt.

Tabletten sollen das Pauken in den Tagen vor der Prüfung erleichtern, Ängste mindern oder die Konzentration während der Prüfung erhöhen. Laut einer Befragung würden 80 Prozent der Schüler und Studenten leistungssteigernde Medikamente einnehmen, wenn diese frei zugänglich wären; nur für elf Prozent von ihnen käme ihre Einnahme überhaupt nicht in Frage (Lieb 2010, S. 25).

Alles in allem genießt die Einnahme von Medikamenten zur Problembewältigung gesellschaftlich ein höheres Ansehen als beispielsweise kürzer zu treten, sich Ruhe zu gönnen oder Krankheiten auszukurieren. Mindern doch all diese Maßnahmen die Leistungsbilanz, während Medikamente schneller und unkomplizierter wirken und obendrein auch noch die Leistung steigern. Daher wird Doping mehr und mehr zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit. Dass die Optimierung der menschlichen Leistungsfähigkeit auch einträgliche Geschäfte verspricht, versteht sich in einer kapitalistischen Gesellschaft sowieso von selbst - der weltweite Handel mit Dopingmitteln aller Art ist mengenmäßig durchaus mit dem Drogenhandel vergleichbar.

Auch die mit den Mitteln verbundenen Risiken werden gern ignoriert. Viele Medikamente sind noch so neu, dass "die Langzeitfolgen bei dauerhafter Einnahme noch nicht ausreichend erforscht sind" (Schäfer, Groß 2008, S. 189). Bei den Mitteln zur geistigen Leistungssteigerung besteht aber auf jeden Fall die große Gefahr, dass die natürlichen Gehirnprozesse massiv beeinträchtigt werden. Die Neuro-Pillen greifen in hochkomplexe Hirnstrukturen ein und bringen dabei eine sehr fein aufeinander abgestimmte Physiologie durcheinander. Es kann dabei zu Hirnveränderungen kommen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Im schlimmsten Fall können die Mittel sogar Wahnvorstellungen oder Psychosen auslösen.


Gedopte Zukunft

Alles deutet darauf hin, dass wir uns erst am Anfang einer künftigen allgemeinen gesellschaftsweiten Doping-Praxis befinden, die weit über den Sport hinausgeht. Dass immer mehr Menschen bereit sind, diese Risiken einzugehen, um sich für noch mehr und noch intensivere Leistungen im Beruf fit zu machen, ist Ausdruck für eine strukturelle Überforderung. Die Leistungsgesellschaft verlangt den Menschen mehr ab, als sie auf Dauer zu erbringen vermögen. Wenn obendrein Schwächeren die Ausgrenzung droht, dann ist die Angst, von den Intelligenteren, Ausdauernderen ins Abseits gedrängt zu werden, allgegenwärtig. Dabei sinkt nicht nur die Hemmschwelle für den Gebrauch von Psychopharmaka, es entsteht auch ein wachsender Druck auf diejenigen, die nicht bereit sind, leistungssteigernde Mittel einzunehmen.

Wenn alle Menschen schneller und effizienter als ihre Mitkonkurrenten sein müssen, um sich die eigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sichern und immer mehr von ihnen zu diesem Zweck leistungssteigernde Mittel verwenden, dann verschieben sich über kurz oder lang die Standards dessen, was als "normale" Leistung gilt. "Dann könnten die Leistungen der nicht 'verbesserten' Personen als unterdurchschnittlich angesehen werden" (Schäfer, Groß 2008, S. 189). Am Ende wird sich praktisch jeder dazu gezwungen sehen, aus Wettbewerbsgründen zu leistungssteigernden Medikamenten zu greifen.

Auf diese Weise wird eine Konkurrenzspirale in Gang gesetzt, bei der immer mehr gedopt wird, egal ob Körper und Psyche das auf Dauer aushalten oder nicht. Was bedeuten schon die gesundheitlichen Folgen von morgen, wenn es um die Existenz von heute geht? Eine Gesellschaft, in welcher der Leistungsgedanke alles andere beiseite fegt, entsorgt früher oder später auch die Grundlagen, auf denen Doping überhaupt als Problem wahrgenommen werden kann. Als Problemfälle gelten dann vielmehr diejenigen, die nicht dopen. Natürlich wird dadurch das Grundproblem der Konkurrenzgesellschaft in keiner Weise angetastet. "Minderleister" gibt es in der Konkurrenz immer, ganz egal wie hoch das allgemeine Leistungsniveau liegt. Eine gesellschaftsweite Doping-Praxis spitzt den allgemeinen Leistungswahnsinn einfach nur weiter zu. Das dürfte spätestens dann jedem klar werden, wenn Menschen selbst mit Spritze im Arm und Pille im Bauch deklassiert und ausgeschlossen werden, weil sie nicht genügend Leistung erbringen.


Literatur

DAK-Gesundheitsreport: Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz, in: ders. S. 37-90 sowie 105-108, 2009.

Lieb, Klaus: Hirndoping: Warum wir nicht alles schlucken sollten, Mannheim 2010.

Pitsch, Werner; Emrich, Eike; Klein, Markus: Zur Häufigkeit des Dopings im Leistungssport, in: Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge, Jg. 46, Heft 2, S. 63-77, 2005.

Schäfer, Gereon; Groß, Dominik: Enhancement - Eingriff in die personale Identität, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 105, Heft 5, S. 188-190, Februar 2008.

Raute

Die post-revolutionäre Möhre. Hier und Jetzt

Solidarische Landwirtschaft auf dem Weg zur Schenkökonomie

von Jan-Hendrik Cropp

Wir, ein Kollektiv von fünf "Gärtner_innen", suchten uns eine Gruppe von 60 Personen, die "Begärtnerten", die von uns durch die Bearbeitung von 5000 qm Ackerfläche im nordhessischen Witzenhausen-Freudenthal mit Gemüse von April bis November versorgt werden wollten. Zusammen formten wir eine verbindliche Gemeinschaft.

Wann und wieviel wir Gärtner_innen in diesem Projekt arbeiten, nein besser, tätig sein wollen, wurde von jedem einzelnen selbstverantwortlich und je nach Bedürfnissen (flexibel) festgelegt und im Kollektiv vereinbart. Der Teil unserer finanziellen Bedürfnisse ("Lohn"), der über das Projekt befriedigt werden soll, wurde weitgehend unabhängig von dieser Tätigkeitszeit bestimmt und mit den laufenden Betriebskosten (ohne Investitionen) zu den Gesamtkosten (Budget) einer Jahresproduktion zusammengerechnet.

Die Begärtnerten boten dann anonym einen auf den Zeitraum der Produktion verbindlichen, monatlichen finanziellen Beitrag, der ihren Möglichkeiten entspricht. Von null Euro aufwärts war und ist alles möglich. Diese Zusage und andere Punkte (Entscheidungsfindung, Ausstiegsgründe, Scheiterkriterien, gemeinsame Übernahme von Verantwortung und Risiko, Kommunikation etc.) wurden in einer Vereinbarung schriftlich und verbindlich festgehalten und unterschrieben. Das zuvor beschriebene Budget wurde mit diesen freiwilligen finanziellen Beiträgen gedeckt, woraufhin der genaue Bedarf an Gemüse abgefragt und mit der Produktion des Gemüses begonnen wurde.

Die Ernte wird der Gemeinschaft von Begärtnerten in Depots frei zur Verfügung gestellt. Die Verteilung vor Ort organisiert die Gemeinschaft je nach den individuellen Bedürfnissen. Es gibt keine genormten "Gemüsekisten", sondern jede_r nimmt, was gebraucht wird. Ein weiteres Mitwirken am Projekt durch Mitarbeit, Erntesicherung / Einmachen und das Einbringen von weiteren Fähigkeiten steht den Mitgliedern frei, ist aber erwünscht und wird gemeinsam organisiert.

Durch dieses Experiment sollen kapitalistische Prinzipien in unserem Verhältnis zueinander überwunden und transformiert werden:


Freiwilliges Beitragen und Schenken statt Tausch, Wert, Ware

• Niemand muss, alle können nach ihren Fähigkeiten (u.a. finanziell) beitragen.

Bedürfnisse werden erhoben und ihnen entsprechend wird produziert. Daher werden den Leuten keine Waren mehr vor die Füße geschmissen, für die sie dann doch bitte auch ein Bedürfnis haben sollen; sondern Bedürfnisse werden formuliert und die Produktion wird dafür selbst organisiert.

• Die Produkte haben keinen Tauschbzw. Geldwert. Damit werden Dinge nicht abstrakt gleichgesetzt wie im Kapitalismus: Alles, was einen Euro kostet, ist gleich viel "wert". Alles, was nix kostet, ist nix "wert".

• Daher entfällt Geld als primäre Wertschätzung und es kann mit neuen Formen der Wertschätzung experimentiert werden; durch Worte, Gesten und vor allem gegenseitige Verantwortung.


Freies Tätigsein statt abstrakter Arbeit in Konkurrenz

• Tätigkeit wird zu Arbeit und Arbeit zur Last, wenn unsere Produkte auf dem Markt einen Wert erzielen müssen oder wir primär für einen Lohn arbeiten.

• In unserem Projekt müssen wir beides nicht: Wir liefern keine normierten Waren und unsere finanziellen Bedürfnisse werden von vornherein abgedeckt.

• Daher können wir Anbauweise und Arbeitsabläufe frei bestimmen, um unsere und die Bedürfnisse anderer Menschen zu befriedigen.

• Kommt es zu Problemen, lösen wir diese nicht wie in der Gesellschaft der Vereinzelten mit dem Ellenbogen und dem "Ausschalten von Konkurrenten" sondern durch kollektive Lösungsfindung.


Zur Entstehung dieses Textes: Er wurde von mir selbst als persönliche Reflexion verfasst und spricht deshalb hauptsächlich für mich. Allerdings wurde er auch der gesamten Gemeinschaft vorgelegt und etwaige Kommentare wurden berücksichtigt.


Knapp 11 Monate nach Beginn des Projektes haben sich allerdings einige Problemfelder in unserem Projekt aufgetan. Deren Analyse halte ich für wichtig, wenn Projekte über die Waren- und Tauschgesellschaft hinausweisen wollen:


Problemfeld 1

Der verinnerlichte Kapitalismus im Kollektiv

Das Problemfeld betrifft vor allem uns als Kollektiv von Gärtner_innen. Was Tausch und Geld im Kapitalismus so hervorragend machen, nämlich Menschen und Tätigkeiten zu vergleichen und gleichzusetzen, verschwindet in einem weniger kapitalistischen System nicht sofort. Diese Verhaltensweisen scheinen wir tief verinnerlicht zu haben. Wir, also einmalige Individuen, die im Kollektiv zusammenarbeiten, vergleichen weiterhin, wieviel Zeit wir in das Projekt investieren. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen, weil wir "zu wenig" tun, oder werden grummelig, weil wir "zu viel" tun. Schnell kommt es zu Situationen, in denen wir uns für unsere Bedürfnisse (die ja so sind wie sie sind) rechtfertigen wollen, oder denken, dass wir es müssen. Oft ist es gar nicht das Kollektiv, das diesen Druck erzeugt, sondern wir, die Individuen selbst. Denn schließlich ist unser Kopf vom allgegenwärtigen Kapitalismus vollkommen durchzogen.

Eine schnelle Abhilfe für das Problem scheinen die üblichen Abstraktionen des Kapitalismus zu bieten. So geschieht es beizeiten auch in unserem Kollektiv: Ein Ruf nach einer Abstraktion der Zeit in greifbare "Arbeitsstunden" oder "Urlaubszeiten" wird laut. Und darauf aufbauend: Das Verlangen nach einem abstrakten Gerechtigkeitsbegriff. Statt zu sagen: "Es soll allen gut gehen mit dem, was und wieviel sie tun", sagen wir schnell: "Alle sollen das gleiche Maß an Arbeit verrichten bzw. die gleiche Anzahl an Urlaubswochen haben". Nicht nur, dass eine Stunde an einem Tag sich anfühlen kann wie acht Stunden an einem anderen. Nein, wer Arbeitsstunden normieren will, ist auch schnell dabei, die ganze Tätigkeit zu normieren: Was zählt als Arbeitszeit? Welche Tätigkeit ist wichtig, welche nicht? Was, wenn eine Person schneller oder "effizienter" (was ist das?) arbeitet als die andere? Diese Fragen und Probleme und die Erkenntnis, dass es statt Gleichmacherei darum gehen sollte, dass sich alle Beteiligten wohl fühlen, führen diese Abstraktions-Versuche schnell ad absurdum.

Ähnlich schwierig zu akzeptieren scheint auch die Gleichgewichtung aller Tätigkeit außerhalb der Projektes zu sein. Es sollte schließlich egal sein, ob einzelne außerhalb des Projektes (freiwillig) an der Uni büffeln oder in der Badewanne mit einem Glas Sekt liegen und sich ein gutes Buch zu Gemüte führen. Diese Akzeptanz erfordert allerdings eine hohe Selbstverantwortung und ein gutes Reflexionsvermögen.

Hinzu kommt: Der Acker ist vor der Tür. Wir wohnen zwar in verschiedenen WGs, aber doch zusammen auf einem Hof, und die räumliche Nähe führt zu einem Gefühl sozialer Kontrolle, das die oben beschriebenen Tendenzen verstärkt. Wir bekommen schließlich alles von den anderen mit. Ob eine räumliche Distanz das Problem löst oder nicht vielmehr beiseite schiebt, bleibt dahingestellt. Eine Lösung wären klare Vereinbarungen (z.B. feste Tage und Zeiten, in denen man im Projekt tätig ist) und trotzdem ein flexibler Umgang damit (z.B. andere spontane Absprachen, wenn die Zeiten mal nicht passen), um den Bedürfnissen der einzelnen im Jetzt den angemessenen Respekt zu zollen. Dann kann kollektiv nach einer Problemlösung gesucht werden, statt individuelle Schuldzuweisungen und Selbstausbeutungs-Forderungen zu formulieren. Angenommen, eine_r von uns ist überlastet, dann kann so z.B. gemeinsam nach Mithilfe gesucht werden, um der_dem Betroffenen entsprechenden Freiraum zu gewähren. Dennoch bleibt diese Frage bestehen und muss kontinuierlich neu beantwortet werden: Wie stehen individuelle Bedürfnisse im Jetzt und Verantwortung für im Kollektiv getroffene Vereinbarungen zueinander? Klar ist beides wichtig. Eine Grenze ist allerdings überschritten, wenn selbstbestimmte Tätigkeit zu abstrakter, entfremdeter Arbeit wird und es Menschen dadurch mittelfristig schlecht geht.

Wenn Tätigkeit wieder zur abstrakten Arbeit wird (ein fließender Übergang?), wird "der Rest der Zeit" schnell wieder zur "Freizeit". Letzteres macht Spaß. Das erstere "muss getan werden". Sollte die aktuelle "Arbeits"situation tatsächlich unerträglich sein, kann die Wiedereinführung dieser Trennung in Arbeit und Freizeit ein Rettungsanker sein. Eine Möglichkeit zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Dazu braucht es aber sehr wahrscheinlich die oben beschriebene Normierung von Zeit und Tätigkeit. Wenigstens für eine_n selbst: "Ich hab so und so viel gearbeitet - deshalb hab ich jetzt frei!" Eine Überwindung dieser Trennung und ein konkretes Tätigsein statt einer abstrakten, entfremdeten Arbeit sollten aber weiterhin die Losung bleiben.

Auch in unserem Tätigsein können sich andere (z.B. feministische) Ansprüche verlieren. Wenn das Gemüse ruft und wir alle Hände voll zu tun haben, stellt sich stereotypes Verhalten ein und bleibt wenig Zeit, unsere Privilegien zu reflektieren und uns gegenseitig Fähigkeiten beizubringen, vor deren Aneignung wir sonst Scheu hätten. Oder ich (ein männlich sozialisierter Gärtner) habe den ganzen Tag auf dem Acker verbracht, komme zurück in meine WG und ärgere mich darüber, dass ich, gerade ich (!), es bin, der um neun Uhr Abends noch anfangen "muss" (!) zu kochen und zu spülen, weil es niemand anderes gemacht hat. Als ob die anderen Mitbewohner_innen nichts zu tun gehabt hätten. Wir wollen die geschlechtliche Arbeitsteilung (produktiv / "männliche" vs. reproduktiv / "weibliche") überwinden? Pustekuchen!

Allgemein sei auch noch angemerkt, dass Landnutzung, um sie fachlich gut und angepasst betreiben zu können, ein mehrjähriges Engagement verlangt, das in Zeiten steigender Flexibilisierung und Unverbindlichkeit nicht so leicht organisierbar ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen könnte. Wir haben uns im Kollektiv auch nur für ein Jahr zusammengetan.

In diesem Sinne abschließend noch ein kleiner Seitenhieb in Richtung Revolutionsromantiker: Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entstehen also nicht automatisch mit dem Wegfall der kapitalistischen Strukturen. Dies ist zwar eine notwendige Voraussetzung. Hinreichend wird es aber erst, wenn wir uns vom Kapitalismus in unserem Kopf befreien. Und dies ist ein langwieriger, kollektiver genauso wie individueller Prozess.


Problemfeld 2

Lustprinzip und Verantwortung

Auch in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft braucht es Verantwortung und Verbindlichkeit. Wir haben einer Gruppe von 60 Menschen zugesagt, für sie Gemüse zu produzieren. Damit rechnen sie. Zwar kann durch den weiterhin bestehenden Zugang zum kapitalistischen Markt ein Ernteausfall durch den Gang zum Supermarkt oder Container abgefedert werden. Aber die Vermeidung eines solchen Rückgriffs ist ja erklärtes Ziel des Projektes. Zwar ist anzunehmen, dass eine vernetzte, nicht-kapitalistische landwirtschaftliche Produktion entsprechende Lücken in der Versorgung durch Risikostreuung (verschiedene Anbaustandorte etc.) überbrücken kann. Aber (vielleicht) nicht, wenn alle Beteiligten (v.a. die Produzierenden) unbedingt dem Lustprinzip ("Ich mach, wozu ich Lust habe.") folgen. Das Lustprinzip kann zwar eine Leitlinie sein. Allerdings ist Landnutzung vor allem die Kunst, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Da kann die Witterung ein Handeln erzwingen, auf das mensch gerade keine Lust hat. Das erzeugt Druck. Druck, der aus gegenseitiger Abhängigkeit, Verantwortung und Verbindlichkeit und aus einem Arbeiten mit der Natur entsteht. Auch dieser wird in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft nicht gänzlich verschwinden. Wir mussten uns dieses Jahr zum Beispiel durch eine beispiellose Trockenheit kämpfen: Die Pflanzen warten nicht darauf, bis jemand Lust hat, sie zu gießen. Sie vertrocknen einfach. Diesen Druck erzeugen wir allerdings auch durch uns selbst. Lohnenswert bleibt deshalb darüber nachzudenken, welches Handeln wir gerade für unbedingt erforderlich halten und welches nicht. Wie weit wollen wir das Lustprinzip hinten runterfallen lassen? Was passiert mit meiner Lust, wenn alles vertrocknet und es nix mehr zu ernten gibt? Wie weit geht unsere Verantwortung für andere? Ähnlich wie bei der Balance zwischen Kollektiv und Individuum bleibt es auch bei Lustprinzip und Verantwortung ein Lernprozess, die Situationen richtig einzuschätzen und aus Fehlern zu lernen.


Problemfeld 3

Abhängigkeit vom Kapitalismus und die Frage nach dem technischen Niveau

Es ist leider unmöglich, das technische Niveau einer nicht-kapitalistischen landwirtschaftlichen Produktion abzusehen. Dafür müsste die Grundlage des technischen Potentials, nämlich die Rohstoffe dieser Erde, als globales Gemeingut eingerichtet werden. Dann könnte darüber verhandelt werden, ob überhaupt, wie und für welche Technik wir sie als Menschheit verwenden wollen. Die Ergebnisse dieses hypothetischen Aushandlungprozesses bleiben zwangsläufig unbekannt. Deshalb wird es zu dem Thema, welches technische Niveau einer nicht-kapitalistische Produktion angemessen ist, unterschiedlichste Einschätzungen geben.

Diese Unklarheit spielt in unserem landwirtschaftlichen Projekt folgendermaßen eine Rolle: Durch den Kauf moderner Technik greifen wir erstens auf die kapitalistische Gesellschaft und ihre Durchsetzungsmechanismen von Landraub, Vertreibung und Umweltzerstörung durch Rohstoffgewinnung und industrielle Produktion zurück. Deshalb können wir den Menschen, für deren Nahrungmittelversorgung wir Verantwortung übernehmen, nicht versprechen, dass es Traktoren und Landmaschinen in der heutigen Form in einer nicht-kapitalistischen Welt weiterhin geben wird. Schlimmer noch könnte es sein, dass das Wissen um weniger technisierte Anbauverfahren in der Zwischenzeit verloren geht und damit die Nahrungsmittelversorgung in Frage gestellt wird.

Ganz konkret entsteht durch den Rückgriff auf die kapitalistischen Durchsetzungsmechanismen besonders dann ein Bedürfniskonflikt, wenn ich mich nach Rationalisierung und effektiver "Arbeitswirtschaft" statt "Selbstausbeutung", durch arbeitserleichternde Landmaschinen sehne und sich auf der anderen Seite eine Bäuerin in Bergbaugebieten in Chile wünscht, dass ich dem kapitalistischen Zwangssystem, das ihre Lebensgrundlage zerstört, keinen Vorschub leiste, indem ich darauf basierende Waren kaufe.

Wollen oder können wir die Produktion von Landmaschinen nicht selbst organisieren, können wir dem Dilemma aus dem Weg gehen, indem wir die nicht-kapitalistische landwirtschaftliche Produktion mit wenig technisierten Verfahren organisieren und bei der Anschaffung neuer Geräte auf die lange Haltbarkeit, einfache Reparierbarkeit, Recycelbarkeit und Durchschaubarkeit der Technik achten, sowie deren ökologische Verträglichkeit in Produktion und Nutzung, sowie den Enfremdungsgrad für die Produzierenden und Nutzer_innen prüfen. Die eventuell entstehende Mehrarbeit in einem wenig technisierten System könnte auch, wenn gewollt, von der Gemeinschaft um das Projektkollektiv erledigt werden, um einem Gefühl der Selbstausbeutung und Monotonie der Hauptproduzierenden vorzubeugen.

Ein weiterer Schritt, um die Abhängigkeit vom Kapitalismus zu mindern, wäre es, die laufenden Kosten zu minimieren, d.h. das Produktions- System unabhängiger von Geld-Inputs zu machen. Größere Investitionen in Infrastruktur sollten dann nur getätigt werden, wenn sie uns langfristig unabhängiger von Geld-Inputs machen: ausgeklügelte Handmaschinen, Ölpressen zur Kraftstoffgewinnung, Infrastruktur / Geräte zur eigenen Saatgut-Gewinnung; oder andere Betriebe in das Netzwerk integrieren, die diese Möglichkeiten haben.


Problemfeld 4

Fehlende Selbstorganisation im Netzwerk und Erweiterung des Konzeptes

Genauso wie wir Gärtner_innen in unserem Tätigsein Aspekte der "arbeitswahnsinnigen" Gesellschaft verinnerlicht haben, so haben die "Begärtnerten" sehr wahrscheinlich eine Konsumhaltung verinnerlicht. Gerade auch der freiwillige, monatliche finanzielle Beitrag kann diese Haltung verstärken. Während sich einige eine weitreichende Selbstorganisation als radikales Experiment gegen den Kapitalismus wünschen, ist anderen die "alternative Gemüsebeschaffungsmaßnahme" revolutionär genug. Wichtig, um Enttäuschungen durch diese Tendenz vorzubeugen, kann die Formulierung der gemeinsamen Vision sein und darauf folgend die selbstbestimmte, aber verantwortliche Übernahme von anfallenden Aufgaben (in der oder um die Produktion herum) je nach den Fähigkeiten und Wünschen der "Begärtnerten". In diesem Dialog können dann auch Hindernisse auf dem Weg der Selbstorganisation (Prioritätensetzung, Zeit- und / oder Geldmangel, fehlende Transparenz, Unlust etc.) gemeinsam beschrieben und überwunden werden.

Wenn die Vision auch eine Ausweitung der schenkökonomischen Prinzipien auf andere Lebensbereiche beinhaltet, macht es Sinn, eine Vernetzung mit anderen umsonstökonomischen Projekten anzustreben und zu forcieren. Innerhalb des Projektes wäre es weiterhin auch möglich, die Bedürfnis-Befriedigung der "Produzierenden" (d.h. uns Gärtner_innen), nicht durch Geld, sondern durch die Fähigkeiten der Gemeinschaft zu decken. So könnte ein Begärtnerter, der gleichzeitig Arzt ist, andere in der Gemeinschaft, vor allem aber die Gärtner_innen, umsonst behandeln. Oder der Schlosser im Netzwerk könnte unsere Maschinen umsonst reparieren. Damit werden scheinbar erst mal unvermeidbare finanzielle Kosten (hier z.B. Geld für Krankenversicherung oder Werkstattkosten) irgendwann wegfallen.


Problemfeld 5

Investitionen in und Zugang zu Produktionsmitteln

Das oben beschriebene Budget beinhaltet weder den Kauf von Hof und Land noch die Investition in teurere Produktionsmittel. Hierfür müssen Lösungen gefunden werden: Zum Beispiel durch das Abschreiben und Einbeziehen der Investitionen in das Budget oder die Einrichtung eines Fonds für nicht-kapitalistische Projekte, in den geneigte und betuchte Menschen Gelder investieren, die dann entweder eine Sicherheit für Kredite bieten oder direkt für den Kauf von Produktionsmitteln verwendet werden. Beispiele dafür gibt es z.B. in Frankreich.

Diese Produktionsmittel sollten dann für ein langfristig angelegtes nicht-kapitalistisches Experiment unumkehrbar entprivatisiert werden. Dafür braucht es eine Rechtsform, die genau diese nicht-kapitalistischen, ökologischen Nutzungsbestimmungen festschreibt und verankert. Dies würde auch der Forderung Rechnung tragen, dass Land von jenen bewirtschaftet werden sollte, die es am ehesten im Einklang mit den Bedürfnissen der zu versorgenden Gemeinschaft und den ökologischen Gesetzmäßigkeiten nutzen.


Problemfeld 6

Der Zugang zu den zur Zeit begrenzten nicht-kapitalistischen Erzeugnissen

Ähnlich wichtig wäre die Beantwortung der Frage danach, wer Zugang zu den nicht-kapitalistischen landwirtschaftlichen Erzeugnissen bekommt. Nicht-kapitalistisches Gemüse ist unter jetzigen Verhältnissen ein begrenztes Gut. Die Wartelisten von uns ähnlichen Höfen zeigen auch, dass sich das Problem nicht "einfach" bzw. kurzfristig mit der "Neugründung weiterer Projekte" oder der "Vergrößerung" bestehender Projekte lösen lässt. Dies wäre die ideale Lösung und ihr sollte die meiste Energie zufließen.

Wer hat also Zugang zu den Erzeugnissen? Diejenigen, die als erste da waren? Die mit den besseren persönlichen Connections? Auf jeden Fall nicht (nur) diejenigen, die (am meisten) zahlen? Oder jene, die die brauchbarsten Fähigkeiten einbringen? Wohl eher auch nicht. Schließlich geht es um die Entkoppelung von Geben und Nehmen. Ohne die Frage abschließend beantworten zu können, bleibt klar: Das finanzielle Budget des Projektes muss gedeckt werden. Und alle Beteiligten sollen glücklich sein. Im Ergebnis wohl ein weiterer Aushandlungsprozess.

Eine weitere Frage des Zugangs stellt sich, wenn wir reflektieren, dass unser Projekt zumeist aus Menschen der weißen Ober- und Mittelklasse besteht. Was ist mit sozial Ausgegrenzten? Wir stellen unser Gemüse zwar auch illegalisierten Migrant_innen in der Umgebung zur Verfügung. Diese sind allerdings nicht organisiert, wurden an den Stadtrand gedrängt, und es bestehen deshalb Barrieren auf Grund fehlender Mobilität (keine Fahrräder, kein Geld für die Öffentlichen), sozialer Isolation und auch unterschiedlicher Sprachen. Die Abholung und Verteilung der Produkte steht und fällt deshalb mit den wenigen Migrant_innen, bei denen diese Barrieren überwindbar sind und zu denen wir deshalb einen Kontakt aufbauen konnten. Hier wäre kontinuierlicher Austausch mit den Menschen vor Ort nötig. Einfacher hingegen könnte die Arbeit mit organisierten Zusammenhängen sein (z.B. Erwerblosen- und Flüchtlingsinitiativen), zu denen wir Kontakt aufzubauen versuchen.


Die Zukunft. Kommende Herausforderungen

Überzeugt von dem Potential dieser Idee erwarten wir, dass sich in Zukunft Fragen nach der Erweiterung auf zwei Ebenen stellen.

Wir könnten regional mehr Gemüse und auch mehr Produkte nach diesem Modell organisieren. Hier sind Imker_innen und Obstbäuer_innen bereits am Grübeln. Allerdings stellt sich die Frage der Organisierung neu, wenn immer mehr Menschen in einer Region Teil des Projektes werden. Wie können wir uns in Großgruppen methodisch organisieren? Ab wann müssen wir uns aufteilen und wollen wir delegieren?

Außerdem könnten wir uns überregional umschauen, wo unser Wein und unsere Avocados herkommen könnten. Wer stellt diese zur Verfügung? Was für Bedürfnisse haben deren Produzent_innen? Können wir dazu irgendetwas beitragen? Wird es dann nicht wieder zum Tausch? Kohl wollen sie in Spanien als Gegenleistung doch eh nicht haben.

Wenn die beschriebene Gegenseitigkeit also weiter ausgedehnt werden soll, wird es umso komplizierter. Es stellen sich ganze neue Fragen der Organisierung, Bedarfserfassung, Logistik, Ausstattung und Finanzierung. Fragen also, die wohl am besten im Tun beantwortet werden können.

Abschließend sei auch noch auf das "Netzwerk Solidarische Landwirtschaft"
(http://www.solidarische-landwirtschaft.org/) hingewiesen, das versucht bestehende, ähnliche Projekte zu vernetzen, Neugründungen zu unterstützen und die Idee in der Öffentlichkeit bekannter zu machen.

Kontakt zum Autor: jhc@riseup.net

Raute

Dead Men Working

Die Pantoffelhelden der Arbeit

von Maria Wölflingseder

Was ist eigentlich mehr Arbeit, eine Arbeit zu haben oder keine? Was kostet mehr Energie und Substanz? - Meist macht es mehr Arbeit, und es ist viel nervenaufreibender ohne Arbeit zu sein. Weil du ohne nicht ganz richtig bist. Weil du in einem unmöglichen Zustand gefangen bist, in dem du unmöglich über die Runden kommen kannst. Die Arbeit bist du los, aber ohne Beschäftigung bist du mitnichten. Keine Hitzewelle bringt dich so ins Schwitzen wie das Jobsuchen. Und sei es nur ein kleines Mini-Jobberl, das du suchst, mit dem du 374 Euro zum Arbeitslosengeld dazuverdienen darfst. Jedes Mal ist es von neuem unfassbar: Du sitzt stundenlang, tagelang, wochenlang vorm PC, suchst nach Anzeigen, bewirbst dich, aber die Reaktionen sind gleich null. Je älter, je gebildeter, oder welche "Mängel" auch immer du aufweist, desto ungefragter bist du. Genau so gut könntest du gegen die Wand reden, schreiben und telefonieren. Warum ist noch niemand auf die Idee gekommen, diese Unmengen an Nicht-Arbeit abzuschreiben? Negativ-Steuer - warum nicht auch Negativ-Arbeit? Schadet dieses massenhaft mutwillig vergeudete Tun nicht uns allen? Wozu soll dieses vorsätzliche Zerstören ungeheuren Potentials dienen? - Du meinst, die Arbeit selbst sei erst recht eine Verschwendung? Ein beispielloses Zerstören von menschlichen und ökologischen Ressourcen? - Ja, was könnte in dieser Zeit, mit dieser Energie nicht alles an Notwendigem und Vergnüglichem vollbracht werden? Schreiben und Schrauben, Komponieren und Kompostieren, Kichern und Kochen, Malen und Melken, Backen und Palavern, Schmusen und Schmieden und so weiter und so fort. Aber so darf es nicht sein.

Stattdessen gerät unter dem Joch der Arbeit alles unter immensen Druck, unter Zeit- und Gelddruck, unter Zeit-ist-Geld-Druck. Trotzdem betteln landauf, landab selbst die kritischen Geister um Arbeit, um "richtige Arbeit", die "fair bezahlt" ist, für die man einen "gerechten Lohn" bekommt. Nicht einmal die Gewissheit, dass die Menge an zu verteilender Arbeit ständig kleiner wird, weil die Produktivität enorm gestiegen ist, und auch nicht die knallharte Realität der unzumutbaren Arbeitsbedingungen veranlasst die Leut' zum Hinschauen, zum Denken, zum Erkennen. Erkennen, dass die "Rechnung" auch innerhalb einer "echten Demokratie", innerhalb "eines gezähmten Kapitalismus" nie und nimmer aufgehen kann, Allein schon aus dem höchst simplen Grund, weil das an grenzenloses Wachstum gebunden wäre. Dieses Wachstum aber hat uns jetzt schon in den ökologischen und sozialen Ruin getrieben. Ganz schön vernichtend diese richtige Arbeit.

Auch nicht die immer abstruser werdenden Vorschläge der Politik, z.B. das Pensionsalter immer weiter in die Höhe zu schrauben - obwohl 45-Jährige kaum mehr einen Job bekommen -, lösen einen Aufschrei aus. - Noch viel gruseliger ist's aber, wie hoffärtig manche (vor 30 Jahren ach so linke) Wissenschaftler die vermeintliche theoretische Fundierung übernehmen. Kaum wagst du es wieder einmal, den bei der österreichischen kritischen Intelligenzija so beliebten Öl-Radiosender aufzudrehen, traust du deinen Ohren nicht. Wenn es da um Politisches und Soziales geht, schlägt das meist schwer auf den Magen. In einer vierteiligen Radiokolleg-Reihe (11.-14. Juli 2011) ging es um das "aktive Altern". Der Titel der ersten Sendung lautete: "Wie man schon vor der Pension entdeckt, was man wirklich will". Die zweite Sendung allerdings war nicht viel mehr als eine politische Belangsendung, in der Bernd Mann - Executive Director des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung - mit seinen gewohnt zynischen Aussagen über den untragbaren Zustand im Pensionssystem das Sagen hatte. Wie kein anderer - nicht einmal die Politiker selbst - versprüht der Exekutor vom Dienst regelmäßig auf Ö1 und im Standard sein Gift gegen die Pensionisten - offenbar, um das Geld vor ihnen zu retten. Sekundiert wurde er in dieser Sendereihe vom Altersforscher, dem Soziologen Franz Kolland: Dieser ereiferte sich über die Wichtigkeit von Arbeit auch für die Alten und begründete das mit Marie Jahoda (die an der großen Untersuchung über die Arbeitslosen von Marienthal in den 1930er Jahren mitgewirkt hat): "In der Arbeit gehe es ja nicht nur um Brot- und Lohnerwerb, sondern vor allem auch um Strukturierung, Anerkennung und soziale Beziehungen." - Ja, genau das ist ja das Verquere, dass Anerkennung und Beziehungen an die Arbeit gebunden sind anstatt an des Menschen Dasein selbst.

Nichtsdestotrotz tun sich die G'studierten die schlimmsten Verrenkungen an, um das Lied von der Arbeit nicht verstummen und das Leid der Arbeit nicht enden zu lassen. Noch einer, der ins Horn der unerlässlichen biologischen Bedürfnisbefriedigung trompetet: "... aber auch die Bedürfnisse nach Abwechslung und nach orientierungs- und/oder handlungsrelevanten Informationen werden insbesondere im Arbeitsleben befriedigt... Das Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung (Liebe, Freundschaft, aktiv/passiv) lässt Freundschaften und Beziehungen auf dem Arbeitsplatz entstehen und das Bedürfnis nach spontaner Hilfe der Menschen hat schon manch einen Arbeitskollegen bei der Erledigung einer mehr oder minder schweren Aufgabe gerettet. Das Bedürfnis nach subjektiver Sicherheit/Gewissheit verlangt nach einem sicheren Arbeitsplatz, während unser Streben nach Autonomie (Autonomiebedürfnis) die selbständige Aufgabenerledigung als Jobenrichment erfahren lässt. ... Das Bedürfnis nach (Austausch-)Gerechtigkeit lässt Betriebsräte und Gewerkschaften entstehen und sorgt dafür, dass wir eine gewisse Gleichbehandlung auf dem Arbeitsplatz als selbstverständlich betrachten." - Das schreibt kein treuer Staatsdiener im Auftrag des Arbeitsamtes, sondern Michael Klassen, der Leiter des Studiums Soziale Arbeit (FH) am Management Center Innsbruck, in seinem Beitrag "Arbeiten um zu leben? Leben um zu arbeiten?" im Buch "Land der Hämmer zukunftsreich? Von Arbeit und Arbeitslosigkeit" (2006), herausgegeben vom Salzburger universitären Verein "unicum:mensch" - initiiert vom Universitätsprofessor Clemens Sedmak -, der sich "um einen Brückenschlag zwischen Universität und humanitärer Praxis bemüht".

Vergeht einem da nicht jegliche Lust auf freudiges Wirken und Werken, Schöpfen und Schaffen, Formen und Fertigen, Schauen und Bauen, Hegen und Pflegen, Flanieren und Phantasieren?

Raute

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Außerirdischer

Faul war ich nicht. Ich bin gern für meine Mutter einkaufen gegangen, auch Holz holen war kein Problem. Und die Bauernbuben, die zu Hause in der Wirtschaft geholfen haben, habe ich beneidet statt bedauert. Mit meinem Freund, der ein Hüterbub war, bin ich auf die Weide mitgelaufen, mit dem Großvater Heu auf- und abladen hab ich gemocht, die Kornmandl auf den Wagen bugsieren und im Stadl abwerfen, hat mich stolz gemacht. Wirklich "drangekommen" bin ich ja nicht - wir selber hatten keine Landwirtschaft -, bloß einmal hab ich mich übernommen, beim Burgunder-Graben. Aber auch das hatte mir niemand angeschafft, so zu arbeiten wie die Großen. In der Art weitermachen, das konnte ich mir gut vorstellen, dass ich so lebe. Für alles war gesorgt, die Leute waren meistens nett zu mir, ich hatte viel zu tun den ganzen Tag mit Freunden und Spielgefährten, und manchmal habe ich mich eben auch zusammen mit den Erwachsenen nützlich gemacht.

Ich war in der dritten oder vierten Klasse Volksschule, als mir der Gedanke gekommen ist. Der war unangenehm und machte mir Angst: Ich würde einmal mit Arbeit Geld verdienen müssen. Was ich mir vorstellte, war, ich musste fremden Leuten einreden, bei mir und nicht beim anderen im Nachbarort was zu bestellen, und dann musste ich ums Geld streiten, das sie mir schuldeten. Das hatte ich von meinem Vater. Der wollte Opernsänger werden, musste aber von meinem Opa und vom Onkel ein Baugeschäft übernehmen. (Geschäftsmann war er wirklich keiner und hat seine Firma gleich wieder verkauft, als die alten Männer nicht mehr dreinreden konnten. Glücklich war er als Angestellter aber auch nicht.)

Konkurrenz schafft mir Unbehagen, ist irgendwie zum Frösteln. Natürlich bin ich ihr nicht entgangen, gesucht hab ich sie aber nicht. Ich mag es, wenn man mich lobt, ich möchte es rechtfertigen, aber dem Lob nachlaufen, gar es wem abjagen macht mich schnell müde. Der Ehrgeiz reicht nicht. Ich war ein guter Schüler und Student. Karriere nachgetragen hat mir niemand. Gottseidank, vielleicht wär ich ja drauf reingefallen. Also wurde und blieb ich in der Schule. So wie die Lage war, war es als Lehrer auszuhalten. Mit den jungen Leuten bin ich meist gut ausgekommen und bei manchen von ihnen und manchmal überhaupt habe ich vergessen können, wozu ich in der Schule angestellt bin. Aber: So oder so, "es ist eine Anstalt", sagte mein letzter Direktor treffend, "und ist daher der Mühe nicht wert", sagte ich und griff zu, als meinereinem ein "Vorruhestand" auf dem Blechtablett angeboten wurde.

Auf einem Lehrerseminar vor so zwanzig Jahren hat uns einmal ein Manager, so richtig fest mit beiden Beinen auf dem "festen Grund der Wirklichkeit" und persönlich 60 Stunden auf der Matte jede Woche, erklärt, wie er die Weltprobleme mit immer mehr vom selben löst. Das nenne ich Arbeit, und was ich will, ist "nicht von dieser Welt", ich bin ein Außerirdischer sozusagen, das ist mir so eingeschossen. Der Sache nach war es nicht neu. Auf der Suche nach einer ganz andern, bessern Welt bin ich schon lang, oft mit mehr Irrtümern als Erkenntnissen, gelobt, geschmäht, mit Mühen und manchmal auch mit Freude an den Weggefährten. So lang ich Knochen, Hirn und Mundwerk halt noch rühren kann.

Lorenz Glatz


Scheiß Arbeit

Es ist 7:30, die durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen versprechen einen strahlend schönen und heißen Sommertag. Er beginnt für mich mit einem kurzen und kargen Frühstück - mehr verträgt und will mein Magen um die Zeit noch nicht. Noch schnell Zähneputzen, in die Arbeitskleidung schlüpfen und schon kann es losgehen.

Zuerst eine rasche Inspektion der Baustelle, das angestrebte Plansoll für heute steht ohnedies schon fest. Frisch ist es noch um diese Zeit, doch Zementsäcke sind schwer und die Jacke kann ich mir sparen. Mit wenigen routinierten Handgriffen wird das benötigte Material herangeschafft und schon bald läuft die Mischmaschine. Es dauert nicht lange, bis die Muskulatur sich wieder an die vertrauten Bewegungsabläufe erinnert, sie kräfteschonend und effizient ausführt.

Während sich der Putz beständig mit dem Mauerwerk verbindet, fühle ich mich fast als bloßer Beobachter, der seine Tätigkeit nur kurzfristig unterbricht, um die Radioantenne neu einzustellen. Lustig, dass ich früher nie Radio gehört habe. Nun ist es hier mein ständiger Begleiter. Und es ist bei weitem nicht so schlimm, wie ich immer dachte. Der Trailer für "Blöder leben - eine Phänomenologie der Verdummung" ist sogar ein absolutes Highlight.

Wäre nicht der Radio mit dem Wechsel der ModeratorInnen, könnte ich nur an den leeren Putzsäcken und den sich verändernden Wänden festmachen, wie die Zeit vergeht. Und daran, dass es immer wärmer wird und meinem verdreckten und verschwitzten Körper langsam die Energie ausgeht. So ist ein zeitiges Mittagessen höchst willkommen. Doch es ist nur eine kurze Unterbrechung.

Schon bald läuft wieder die Mischmaschine und während das Werk vorangeht, beginnen die Gedanken zu wandern. Längst Vergangenes nimmt wieder Gestalt an, Träume und Begierden verlangen gelebt zu werden. Kaum zu glauben, wie emotional es sein kann, feuchten, grauen Putz gegen alte Ziegelmauern zu klatschen. Und wie schnell dabei die Zeit vergeht. Schnell, aber nicht spurlos. Bei den 19 Uhr Nachrichten funktioniert die Kommunikation zwischen Gehirn und ausführenden Organen zwar immer noch, die Ausführung selbst ist jedoch schon höchst mangelhaft. Das war's dann wohl für heute.

Noch schnell das Werkzeug versorgen, ein letzter Blick auf das, was heute alles geschafft wurde, und dann zum Essen hinsetzen. Der Moment, in dem sich die große Müdigkeit breit macht und die Gabel genau so schwer wie die Kelle samt Mörtel erscheint. Irgendwie schaffe ich noch den Weg in die Dusche. Auf dem Sofa wird es dann nicht mehr lange dauern, bis mir das Buch aus der Hand fällt.

Und morgen geht es weiter. Was für ein geiles Wochenende!

Nur schade, dass ich montags wieder arbeiten gehen muss.

Ricky Trang

Raute

Innehalten.
Das Erspüren von Boden unter den Füßen

von Andreas Exner

Am Ende des fossilen Zeitalters treibt die verwaltete Gesellschaft ihren Zahlenspuk ins Extrem. Die Vorstellungen der Zukunft werden von mathematischen Funktionen dominiert, bis in die Mitte des Jahrhunderts extrapoliert, der Verlauf unserer Leben geglättet und Abweichungen unter das Gesetz der Statistik gezwungen. Die Funktionen nehmen die Gestalt von Kurven an, die einer immergleich linearen, klinisch in homogene Stückchen zerlegten Zeit man einzuschreiben sich gewöhnt hat.

Der starre Blick auf die Zukunft, dem entgeht, dass er selbst sie konstruiert, enthüllt nur das, was aus ihm selber schaut, und bestätigt in seinen eigenen Augen daher die endlose Haltbarkeit dessen, was ist. Trachteten vergangene Epochen sich als Abglanz oder höchster Spross einer glorifizierten Vergangenheit zu legitimieren und feierte sich das Bürgertum klassisch im Lichte von Erfolgen, auf die es induktiv seinen Fortschrittsglauben baute, so scheint das Kapital in seinem Endzustand Rechtfertigung nur mehr aus Künftigem und der Vermeidung von Schlimmerem zu beziehen. Die Vergangenheit wird zur Last. Nicht mehr von errungenen Siegen über Mensch und Natur ist so sehr die Rede, sondern vom Bösen, das geschah, vom noch Böseren, das über uns zu kommen droht, das abgewehrt werden muss mit jedem Mittel und dem folglich alle Vorbereitung im Hier und Jetzt zu gelten hat.


Kontrolle

Wie in einem paranoiden Zirkelschluss folgt aus der Unsicherheit der Kapital gewordenen Welt der Kontrollwahn. Die Zukunft wird in ein flirrendes Auf und Ab von Detektorausschlägen am Radar der Experten eingebannt. Man glaubt, diese Gesellschaft berechnen zu können, wo doch schon in ihren alltäglichsten Operationen das Unberechenbare, Unzurechnungsfähige sich schlagend durchsetzt.

Das kollektive Denkvermögen befindet sich im Zangengriff einer paradoxen Bewegung aus fortschreitender Kontrollgewalt, die am liebsten Menschen künstlich reproduzieren und mit Chips ausgestattet als organische Roboter und Verbraucher dem Kapital zuschieben wollte, und einer ebenso ansteigenden Verunsicherung, die freilich gerade aus der allumfassenden Kontrollsucht resultiert.

Ein tiefreichendes Prinzip sozialen Lebens ist hier offenbar am Werk, wodurch aus der für die Kapital- und Staatsepoche typischen Ordnung in Form einer starren Rasterung von Verhaltensroutinen und rigiden Umweltnormen mit fast schon naturgesetzlicher Sicherheit das genaue Gegenteil entspringt. Der Gipfelpunkt bürgerlicher Vernunft ist demgemäß zugleich der Abgrund grenzenloser radioaktiver Verseuchung, unkontrollierbarer genetischer Verschmutzung, einer nach menschlichem Ermessen immerwährenden Vermüllung der Ozeane, dauerhafter Abtragung und Abtötung der Böden, jahrhundertelanger planetarischer Turbulenz des Luftraums, ökonomischer Dauerkrise und vieler anderer Facetten eines alle Raster sprengenden zügellos lebensfeindlich Unvernünftigen, das immer mehr und noch mehr Vernunft, Voraussicht und Kontrolle erforderlich zu machen scheint.

Worin gründet diese eigenartige Vernunft, die selbst ihr Gegenteil herbeizwingt?

Als Urgrund des Kapitals gilt nicht mehr ein fassungslos alleiniger Quell universellen Lebens, wie in vorpatriarchaler Zeit, ja, nicht einmal mehr ein ungleiches Menschenpaar, das ein in den erdfernen Himmel katapultierter Vatergott aus dem zu totem Staub erklärten lebendigen Boden stampft. Urgrund des Kapitals soll sein der Abgrund, der sich in den Reagenzgläsern und Versuchskammern seiner Firmen und akademischen Weihestätten auftut und im Nu die menschliche Welt - und damit sich selbst - zum Nichts machen kann. Die Macht, Leben zu gebären und zu behüten, ist ersetzt durch die Macht zu töten und zu zerteilen. Schon bei den aus den Steppen Südrusslands stammenden, frühindoeuropäischen Kurganreitern, die in das "Alte Europa" (Marija Gimbutas), die "Donauzivilisation" (Harald Haarmann) der Kupferzeit eindrangen und Waffen ehrten, später bei Abrahams Opfer und, mit technologischer Hebelwirkung vielfach vergrößert, in den Arsenalen dieser Tage.

Die Macht des Lebens besteht aus sich selbst heraus. Die Macht zu töten dagegen parasitiert, sie zehrt von etwas, was sie nicht schaffen, sondern nur kontrollieren kann. Sklave ist in Wahrheit sie, nicht das, was ihr als unterworfen gilt. Je mehr sie in ihrer Kontrollsucht überheblich voranschreitet, desto eher entpuppt sie sich als abhängig, hilflos und verheerend selbstzerstörerisch. Sie versteht immer mehr durch Zerlegung und begreift deshalb immer weniger. Der Entschlüsselung des genetischen Codes und der Gene der Menschen entspricht keine Einsicht in ihr Wesen und ihre Möglichkeiten. Die populationstheoretisch präzise Ausformulierung der Darwinschen Evolutionstheorie erklärt die großen Sprünge der Entwicklung des Lebendigen nicht. Die fortgeschrittensten Theorien der Physik eignen sich zum Bau von PCs, aber nicht mehr zum Verstehen der Welt. Gibt die Physik Einsicht in den Kosmos und der Menschen Stellung darin?

Die Autonomie des Lebendigen setzt sich als eine unbegriffene, unvorhergesehene Dynamik, chaotisch also, weil konzeptionell wie lebenspraktisch ausradierte Einheit, gegen die Macht des Tötens durch. Die sich über dem schwindelerregenden Abgrund des kapitalistischen Weltenbaus entwickelnde Risikowissenschaft und Sicherheitsforschung gleicht mehrfach multiplizierten Tabus und rituellen Methoden der Zukunftsschau - eine letzte Form bloß noch fiktiver Kontrolle, zu der eine Gesellschaft greift, die ihres herrschaftsbedingten Leidens nicht mehr Herr wird.


Anpassung

Die Reform, die seit den 1980er Jahren die permanente Revolution des Kapitals bezeichnet hat, wird abgelöst durch Anpassung. Wenn Form und Inhalt, der Zwang dieser Gesellschaft und das in Gesellschaft Gezwungene, immer mehr in Eins fallen, so kann es in der Tat kaum noch um Reformen gehen, also um eine Veränderung der Form, sondern muss die Veränderung des Inhalts, die Passbarmachung an eine als unveränderlich und unbeeinflussbar gedachte soziale oder natürliche Umwelt ins Zentrum rücken. So hat Roland Atzmüller unlängst die Rolle von Bildung für die Identifikation von Ich und Krise, den Zusammenfluss von menschlichem Innenraum und sozioökonomischer Außenwelt des Kapitals analysiert. Was John Holloway als "Wir sind die Krise" in hoffnungsvoller Kritik entziffert, gerinnt in der Praxis des Kapitals zur umso schrecklicheren Affirmation: "Die Krise bist Du".

Im Diskurs der Anpassung wird das im selben Maße wie die kapitalstaatliche Kontrolle anwachsende chaotische Meer des Unkontrollierbaren zum absoluten Äußeren erklärt und zugleich zum Innersten des Menschseins gemacht. Anpassung bezeichnet so die letzte Entäußerung, geradezu Selbstentleibung der Menschen, von denen außer Unpässlichkeit nichts übrig zu bleiben scheint.

Der Klimawandel bietet dafür ein Beispiel. Fast im selben Atemzug gilt er als Frucht planetarer Übervölkerung, als todbringende Konsequenz eines chaotischen Naturtriebs nach Fortpflanzung, und als Feind, gegen den man Krieg führen kann im "war on climate change", als handelte es sich um das Alien eines fernen Planeten, das verhängnisgleich vom Himmel fiel. Das Kontrollversagen kann nur von noch mehr Anpassung, noch mehr Kontrolle kompensiert werden, das ist das eigenverantwortliche Abschneiden von Restwiderständigkeit, dessen, was in diese Welt nicht passt. Wo die Gesamtheit der Menschen als ärgerlicher Gesamtwiderstand den Lauf der Welt hemmt, wird ihre Selbstausrottung Stück für Stück zur letzten Konsequenz. Wenn die Deutschen ihren Krieg nicht gewinnen, so sollen sie eben krepieren, meinte Hitler.

Dass gerade die Evolution des Lebendigen, einem vorherrschenden Missverständnis zum Trotz, nicht aus Anpassung an eine vorgegebene Umwelt erklärt werden kann, wie die Organismische Evolutionstheorie zu zeigen begonnen hat, nimmt sich da wie eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte aus. Die Ideologie der Anpassung ist ihrem biologischen Theoriehabitat entstiegen und verdoppelt den Alptraum, der das Leben in dieser Gesellschaft für viele, für andere in vielen Momenten und für alle in mancher Hinsicht ist. Die biologische Anpassung, als naturalisiertes Abziehbild des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft ursprünglich von Charles Darwin, vermittelt über den Soziologen Herbert Spencer, aus der Anschauung ihrer unentwickelten Manchester-Frühform entnommen, hat ihren Weg in die Gesellschaft zurückgefunden: Anpassung an den Klimawandel, an Peak Oil, an Unsicherheit.

Ehrbare Institutionen einer ehrlosen Gesellschaft ergehen sich in demographischen Prognosen, in immergleichen Wortschleifen werden Szenarien beschworen, die ein Bild der Ausweglosigkeit zeichnen, die eine Anpassung an das Verhängnis dieser Gesellschaftsform unausweichlich scheinen lassen und dieses Verhängnis damit in einer selbst erfüllten Prophezeihung erst zu vollstrecken trachten. In logischer Konsequenz der demographischen Zukunftsfiktion steht am Ende die Vernichtung der Ausrangierten. In logischer Konsequenz von Peak Oil steht am Ende die Abwicklung der Menschheit und der Tod der vielen Überzähligen. In logischer Konsequenz des Klimawandels steht am Ende die Umwandlung der blauen Himmelsatmosphäre in einen gelben Giftnebel, der angeblich vor weiterer Erwärmung schützen soll. So jedenfalls sind die Fluchtlinien der offiziellen Vorstellungen dieser Gesellschaft von sich selbst beschaffen.


Herren-Zeit

Die lineare, zerstückelte Uhr-Zeit dominiert andere Formen der Zeit, die sie behelligen und formieren, aber nicht auslöschen kann. Ihr Lauf selbst beschreibt in der analogen Mechanik einen Kreis, der Zyklus wird zur Metapher der linearen Zeit. Nur durch Zählen der Wiederkehr, der Rückkehr an den Ausgangspunkt, wird die Zeit als eine Abfolge gleicher Zeitstücke zuerst messbar. Und nur im Geist der bürgerlichen Vernunft setzen sich diese Zeitstücke zu einem Zeitpfeil zusammen, der linear von der Vergangenheit in eine endlose Zukunft weist. Digital ist es die Schwingung der Atome, ein zyklischer Prozess, der als maschinelle Metapher der linearen Zeit herhalten muss. Die Auslöschung aller Unterschiede, die diese konstruierte Zeit vorspiegelt und in limitierten Lebensbereichen auch ermöglicht, ruht auf der differenzierten Zyklizität und der Erschöpfung natürlicher Verläufe.

Die Uhr-Zeit bedient sich des Instruments anders gearteter Zeitformen, die dann nur mehr als Durchgangsform ihres Laufs erscheinen und nicht mehr mit dem Gewicht eigener Größe wirken. So ist der Kalender eine große Gestalt zyklischer Zeit, Einheit, Zahl und Abfolge der Monate ein tief sedimentiertes Relikt kreisläufiger Zeitfassung. Wie die Ware als Verkörperung von Geld-Wert erscheint, sich in ihr Gegenteil verkehrt, erscheint der Zyklus natürlicher Vorgänge so als Verkörperung einer Linearität.

In gleicher Art verkehrt sich in den Szenarien der permanenten Zukunftsschau, die diese Gesellschaft immer mehr zum existenznotwendigen Ritual ihrer Haltbarkeit erhebt, die Gegenwart in eine Verkörperung ihrer Zukunft. Das Reale ist dann immer noch nicht da, die Zeit des Friedens liegt immer erst vor uns. Das zeigt sich auch in den persönlichen Biographien. Das Kind gilt als kommender Lohnabhängiger und die Gesellschaft, in der es aufwächst, richtet es immer mehr aus auf das, was es nicht ist. Schon im Vorschulalter soll es Mathematik lernen, es soll sprechen können bevor es laufen kann, und am Besten hätte schon das Baby den Volksschulabschluss in der Tasche. In den USA machte neuerdings ein Buch Furore, das sich wie die systematische Heranzüchtung der ärgsten Seelenschäden ausnimmt, indem es dazu anhält, Kinder zu vermeintlichen Künstlern, Tausendsassas und Genies zu dressieren, mit Gefühllosigkeit und Härte, zum Nutzen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit.

Der Lohnabhängige wiederum gilt als kommender Pensionist und Rentner und sein Sinn und Streben, das sich in einem wuchernden Versicherungswesen und der Verschiebung von Lebensträumen (und damit des Lebens selbst) ausdrückt, zielt auf etwas, was er nicht ist. Als Pensionistin und Rentnerin schließlich lebt eins notgedrungen da, wo alles ist, und in dieser Gesellschaft daher nichts: im Jetzt. Nach dem Tod der Idee vom Jenseits und der vor das Patriarchat zurückreichenden Idee der Wiedergeburt gibt es dann nichts mehr, worauf hin sich eins zukunftsflüchtig gesellschaftskonform ausrichten könnte, wohin sich anzupassen es vermöchte. Also revoltiert sich eins in die eigene endlose Gegenwart oder leidet darunter oder zerbricht daran.

Woher kommt die Idee der endlos linearen abstrakten Zeit?

Die Idee der Geschichte als Linearität ist vermutlich alt, aber nicht so alt, dass nicht die Idee der Geschichte als Zyklus als eine ursprüngliche kenntlich würde, bei Platon oder in der Archäologie Europas vor der Durchsetzung des Patriarchats, wo Gräber in Gestalt weiblicher Innenkörper angelegt und der Tod offenbar als Wiedereintritt in das Mysterium undifferenzierten Lebensquells konzipiert war. Wie auch immer die Entwicklung der Idee unfruchtbarer Linearität über das patriarchale Heidentum und dann Christentum zu zeichnen ist, sie erhält noch eine Zuspitzung mit der Durchsetzung des Kapitals und der es begleitenden bürgerlichen Denkweise.


Die Last der Vergangenheit scheint aus der Zukunft hereinzubrechen

Die Substanz des Kapitals ist eine Fiktion, die Idee, dass menschliche Lebenszeit sich in Diensten oder Dingen wie ein körperloser Gegenstand vom Leben selbst absondern und in Zahlenform verkörpern lässt. Das Kommando der Kapitalisten über die Arbeitskraft der Gesellschaft lässt sich reduzieren auf die Verfügung über fremde Zeit. Anders als in der Verfügung der Feudalherren über die Zeit der Bäuerinnen und Bauern ist der Effekt der kapitalistischen Verfügung über die Zeit der Lohnabhängigen eine Entäußerung ihrer Lebenszeit, die sich den Produkten der lebendigen Tätigkeit unter diesem Kommando anzuheften beginnt und sie wie mit eigenem Leben begabt, das schließlich auch die Herren selbst unter Kuratel stellt. Wie unsichtbar bildet die zum abstrakten Wert der Waren geronnene und in Gestalt des Kapitals als fremde Macht der Gesellschaft entgegentretende festgefrorene Lebenszeit der arbeitenden Klasse die Beziehung zwischen Herren und Untertanen. Fast so, John Holloway folgend, als hätte sich das Verhältnis der Herrschaft im Verlauf der sozialen Kämpfe des ausgehenden Mittelalters bis an seine äußerste Grenze gespreizt, indem es die harten Fesseln der persönlichen Verbindung gegen die Leine des stummen Zwangs fiktiv entäußerter Lebenszeit austauscht, der die arbeitende Klasse wie von selbst immer wieder unter das Kommando zwingt, rhythmisiert freilich von der lauten Gewalt des Staates, der nicht ohne die allzu persönliche Faust der Polizei auskommt.

Wo die Produkte des Lebens als vergegenständlichte Zeit gelten, verliert es selbst seine Kraft, hört auf, wenn es sich nicht mit seiner Zeit wiederverbinden kann. Das jedoch geschieht so, dass es sich dem Taktstock dieser Zeit, dem Kapital und seinem Verwertungszyklus, unterwerfen muss. Nur dann erhält es Lohn und folglich Brot. Der Abzug der Zeit vom Leben und deren künstliche, an zahlreiche Bedingungen gekoppelte und daher ständig prekäre Wiederverbindung macht beides separat und spaltet ihre organische Einheit. Die Illusion entsteht, die Zeit könnte ohne das Leben existieren, womöglich sogar ohne den Kosmos, Füllung und Fülle der Welt. Als könnte die Zeit selbst einen Lauf vollziehen und uns sich unterwerfen.

Auf Basis dieser sozial durchgesetzten und in den Strukturen der Ideologie eingelassenen Illusion, die der Illusion ähnelt, die Macht des Tötens könne in Selbstumkehrung das Leben neu erschaffen, entfaltet sich die dem Kapital eigene Zyklizität. Sie zeigt sich zuerst als Rückkehr der vorgeschossenen Summe Geld zu ihrem Ausgangspunkt und durch Vergleich entlang des Zeitpfeils Ableitung der Profitrate. Aus der Überlagerung von linearer Uhr-Zeit und bloß quantitativem, produktivem Zyklus der Akkumulation ergibt sich das Kapital als Inbegriff von Geschichte. Auf Seiten der den Wert bildenden abstrakten Arbeitszeit und der sie möglich machenden Hausarbeit, die Verwertung speisend, gibt es dagegen nur ewige Wiederkehr zum Ausgangspunkt Null, reproduktiven Zyklus, Verlängerung der proletarischen Kondition, mit Nichts als der Hände und des Kopfes Arbeitskraft zur Vermehrung einer fremden Macht über sie selbst beizutragen und zu bloßer Potenzialität zurückzukehren, als Stoff eines anderen Geistes.

So sehr sich diese Macht aufbaut, wird indes die Last der Vergangenheit erdrückend, die getane Arbeit vergangener Hände und Köpfe beschwert jede weitere Handlung anstatt sie zu erleichtern, sie engt den Lauf der Dinge ein und zieht ihn hinab in einen Zirkelschluss aus vergangenen Schrecklichkeiten, die künftige Schrecklichkeiten notwendig hervorzurufen scheinen und deren Mittelglied eine uns immer weiter auf den Pelz rückende Anpassung bildet.

Die Kollision der auseinander laufenden Zeit-Dinge, die sich gegeneinander verselbstständigen, einerseits und der Zeit-Dinge mit der Zeit der Natur und der Menschen andererseits ist vorgezeichnet. Die Zyklizität des Kapitals, die sich in den differenten Umschlagsdauern der einzelnen Kapitalien konkretisiert, verdichtet sich kollektiv und zerbricht immer wieder an der Widerständigkeit der Welt, ein Widerspruch, der sich in den Akkumulations- und Krisenzyklen niederschlägt.


Hier und Jetzt

Die Möglichkeit der linearen abstrakten Uhr-Zeit, die, wie zu sehen war, zyklische Naturzeiten als maschinelle Metapher für etwas Anderes nimmt, sagt nichts aus über ihre objektive Realität. Die Fähigkeit der Menschen, Uhren zu bauen, die alle in der gleichen Weise funktionieren, auf die Sekunde, Millisekunde und Nanosekunde genau und noch genauer, sagt etwas aus über diese Fähigkeit, aber nichts weiter.

Daraus zu schließen, die Zeit verliefe von hinten nach vorne, wie eben in einem Zeitpfeil metaphorisch, als eine nur räumlich denkbare Anordnung dargestellt - und die Zeit ist scheinbar immer nur als Raum denkbar, jedenfalls in indoeuropäischen Sprachen Europas, ein Hinweis auf die wesentliche Verwobenheit dieser beiden Realitätsmomente - dieser Schluss ist voreilig.

Existent ist realiter, das heißt in der unmittelbaren Erfahrung, nur das Hier und das Jetzt. Alle Vergangenheit ist in diesem bewegten Zustand enthalten, der unbeholfen gesagt das Leben selbst ist, ebenso alle Zukunft. Die Vergangenheit und die Zukunft, die, personifiziert fast wie Götter, unsere Sprache und damit zwangsläufig auch unser Denken bevölkern, sind Fiktion. Diese Fiktionen verweisen auf etwas Reales, andernfalls hätten sie nicht die kollektive Lebenswelt bestimmend zur sozialen Denknorm erhoben werden können - allerdings gibt es auch andere Sprach- und Denkstrukturen, die ohne Zeitbegriff im indoeuropäischen Sinn auskommen, was sie als gleichermaßen mögliche und damit reale Welten ausweist. Dieses Reale existiert jedoch immer nur in einem Punkt, nur dort kann es erfahren werden. Auch die Planung von Zukunft, die Trauer um Vergangenes findet statt in einem Hier und Jetzt, das nichts kennt außer sich selbst, ununterschiedene Gegenwärtigkeit, ewige Momentaneität im Sinn einer augenblicklichen Zeitlosigkeit.

Nicht existiert etwas außer allem, was jetzt existiert.


Freisein

Ein wahres Paradox, kann Befreiung weder individuell noch kollektiv als Bewegung hin auf eine Zukunft konzipiert werden. Sie ist wesentlich Freisein, das ist oder ist nicht und widerspricht der Idee des Fortschritts, der sich einer unerreichbaren Zukunft nähert. Sie kann freilich in Stücken geschehen, aber sie selbst existiert, sei es als ein Stück oder als ein Ganzes, nur und immer hier und jetzt. Sicherlich hat eine Befreiung bestimmte Voraussetzungen. Die können aber nicht in der Zukunft liegen, sie müssen vielmehr im Hier und Jetzt, das heißt zugleich immer wieder neu, beständig gegenwärtig eingespürt und aufgefühlt werden, ohne Ausflüchte in eine Fiktion von Gegenwart an einem anderen Ort am Zeitpfeil.

Man kann immer eine logische Erklärung der Zwangsläufigkeit der Vergangenheit konstruieren. Man könnte in hundert Jahren eine zwangsläufig schlüssige Erklärung des Verlaufs des uns Heutigen Gegenwärtigen geben. Man wäre indes ebenso gut in der Lage heute eine exakte Prognose des morgen nicht Eingetretenen zu geben - und tut dies mit nicht näher bekannter Sicherheit in unzähligen Fällen.

Das Kapital findet seinen Urgrund in der Auslöschung aller Differenz und damit allen Sinns in seiner Doppelbewegung aus der immer gleichen Rückkehr-Schleife entlang eines sich endlos erstreckenden Zeitpfeils, der aus seiner Akkumulation eine Art von Dauerspirale macht. Der Ideologie der Bedürfnisbefriedigung, die seine Verfechter ins Feld führen wollen, spricht der realen Unmöglichkeit, dieser Zeitstruktur gemäß je zufrieden zu sein, Hohn. Der Student, der seine wahren Leidenschaften unterdrückt, um dereinst, nach Abschluss seiner Ausbildung, in geruhsamer beruflicher Stellung das zu tun, was ihm wirklich Freude macht, nimmt Erich Fromm zum Beispiel, erliegt einer Illusion. Ein Milliardär könnte mit seinen finanziellen Mitteln ein Übermaß an Gutem tun und tut es eben genau deshalb nicht, weil er als Milliardär von solchem Charakter sein muss, der verhindert, dass er sein Geld altruistischen Zwecken widmet. Ein Milliardär, der keiner sein will, wäre keiner geworden.

Der "Weg bestimmt das Ziel, das erreicht werden kann. Gilt der Weg als Metapher für die Linearität der abstrakten Zeit, so ist der Schritt das Bild der Zyklizität organisch differenziert gegliederter, rhythmisierter Zeit. Ebensowenig wie Sinn und Freude einer musikalischen Darbietung in ihrem Schlussakkord liegen, sollte die Konzentration auf die Bedingungen des Freiseins sich in eine Weg-Ziel-Dichotomie zerstreuen. Befreiung liegt im Verlust von Fußfesseln, nicht im Erreichen eines Ziels.

Es darf Abschied genommen werden davon, etwas erreichen zu sollen, dessen Voraussetzungen sich nicht schon vollständig, und seien sie noch so tief verborgen, im Hier und Jetzt finden. Der Macht des Hier und des Jetzt sollte der Vorzug gegeben werden gegenüber der Entleibung aller Wesenskräfte in die Fiktion einer Zukunft, die wie aus einem Schattenreich unangreifbar uns in ihren Zwang einbannt.

Zukunft ist nicht, Gegenwart alles.

Raute

Hinter den Masken des Akademischen

Wie Kapitalinteressen und Hochschulreformen die Universitäten verändern

von Carl Unwert

Eine kurze "Typisierung" der Akteure an deutschen Universitäten zwischen klassischen Hierarchisierungen und dem Versuch ihrer Umgestaltung nach betriebswirtschaftlichen Kriterien.


In der Institution Universität liegt die klassische Dreiteilung von Forschung, Lehre und Verwaltung in der Natur der Sache. Angestellte im administrativen und technischen Bereich, wissenschaftliches Personal, gestaffelt nach ProfessorInnen, wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und Lehrbeauftragten, und selbstverständlich Studierende sind die Akteure, die sich in dieser institutionellen Struktur verorten müssen. Was sich u.a. mit den so genannten Hochschulreformen und dem Einfluss privater Unternehmen zunehmend verändert, sind Forschungs- und Lehrinhalte, das Verhältnis des "Personals" untereinander und zu den Studierenden und insbesondere Funktion und Zielsetzungen von Universitäten - womit sich auch ihre "Beschäftigen" und die Studierenden ändern.

"Eure Spektabilität, sehr verehrte Herren Professoren" - die Anrede stammt aus einer vergangenen Zeit und scheint überwunden zu sein. Weit gefehlt, ein derartiger oder ähnlicher Beginn, z.B. einer Disputation, ist nur ein Ausdruck von zunehmend hierarchisierten Verhältnissen in einer zunehmend zum "Betrieb" verkommenden Lehr- und Forschungsanstalt.


Oberbau...

An der Spitze dieser Hierarchisierung lassen sich zumindest vier Kategorien von ProfessorInnen identifizieren, die in "Reinform" aber auch in Mischformen vorkommen.

Die "Arrivierten": Sie lehnen sich nach ihrer Berufung zurück, versuchen sich aus allem herauszuhalten, machen nur das Nötigste, gestalten ihre Forschungsinhalte und teils auch ihre Pflichtlehrveranstaltungen womöglich nach individuellen Vorlieben. Warum trinken Frauen lieber ein Gläschen Wein und Männer lieber Bier? Aus solchen und ähnlichen Fragen wird dann ein soziologisches Seminar zur Kulinaristik. Es hat bei manchen dieser ProfessorInnen den Anschein, als sei ihre letzte wissenschaftliche Tätigkeit ihre Habilitation gewesen. Eine Gewichtung bzw. Differenzierung von Themen nach deren gesellschaftlicher Bedeutung ist einem Großteil von ihnen verpönt. So kommt es, dass Themen und aktuelle Problemfelder wie die gegenwärtige Ernährungskrise, ökonomische Krisen oder der Klimawandel im Lehrangebot oftmals fehlen, während das zuvor genannte Thema der Getränkepriorität, teils noch kulturell überhöht, Gegenstand sozialwissenschaftlicher Kompetenzbildung in den Seminaren wird.

Die "Fürsten": Sie bauen sich womöglich nach ihren Vorstellungen ihr "eigenes" Institut auf. Ihr Wort gilt, wer es des Öfteren in Frage stellt, stellt letztlich den eigenen Arbeitsplatz in Frage. Da sie z.T. die einzigen ProfessorInnen an ihrem für sie maßgeschneiderten Institut sind und über allen anderen stehen, entscheiden oder delegieren sie letztlich fast alles. Hieraus wächst Borniertheit, was häufig dazu führt, dass sie ihre Entscheidungsmacht mit Kompetenz und Leistungsfähigkeit gleichsetzen oder gar verwechseln. An ihnen scheinen die im Verlauf der "68er-Bewegung" erkämpften und vielfach wieder abgeschafften Reformen, die u.a. zu demokratischeren Strukturen an den Hochschulen führten, gänzlich vorbeigegangen zu sein.

Die "KarrieristInnen": Vermutlich in Zukunft die bedeutendste Fraktion innerhalb der ProfessorInnenschaft, sie schmücken sich mit Kontakten zu den Chefetagen der Unternehmen, betrachten Universitäten als Dienstleister für zahlungskräftige Nachfrager und leiden z.T. darunter, nicht selber in diesen Etagen zu sitzen. Sie sitzen oftmals in vielen Gremien, "Gesellschaften" und in einer Reihe namhafter Institutionen und sind dort äußerst engagierte Männer und Frauen. Ihr Erfolg, teils von wissenschaftlichen Fähigkeiten entkoppelt, definiert sich wesentlich über ihr "social-networking", die Summe eingeworbener Drittmittel und über die Anzahl von teils belanglosen, von Kritik befreiten Publikationen, insbesondere in so genannten peer-reviewed Zeitschriften, Magazinen u.ä. Während die "Fürsten" ihre untergebenen MitarbeiterInnen verpflichten, derartige Texte zu verfassen, die sie dann zensieren und mit ihrem Namen versehen (die Namen der MitarbeiterInnen werden dabei oftmals erst nach den der ProfessorInnen genannt), arbeiten die KarrieristInnen und ihre MitarbeiterInnen wie besessen, um so viel wie möglich zu veröffentlichen. Denn ein Kriterium, um in der akademischen Hierarchie aufsteigen zu können, ist die Anzahl, weniger die analytische Schärfe oder die Kritiktiefe der Veröffentlichungen.

Die "Fossile": Sie sind eine gesellschaftskritische Minderheit an den Universitäten, die im Zuge der o.g. Reformen an die Hochschulen "gespült" wurden. Sie sind oftmals intern isoliert, werden zum Teil als Relikte oder Exoten belächelt und bleiben insbesondere mit ihren gesellschaftspolitischen Ansprüchen von KollegInnen und StudentInnen zumeist unverstanden. Sie sind oftmals nicht willens oder in der Lage, die von ihnen mitinitiierte Linie der kritischen Wissenschaften durch die Integration Jüngerer in die Hochschulen fortzusetzen, wodurch an den Universitäten insbesondere die Kritik an gesellschaftlichen Praxen als wissenschaftlicher Anspruch zunehmend verschwindet. Für jüngere kritische Intellektuelle bedeutet das u.a. ihren allmählichen "akademischen Genozid", da ihre berufliche Einbindung in den akademischen Betrieb in Zukunft u.a. durch die Ausdehnung der Drittmittelforschung, d.h. der direkten und indirekten Umgestaltung der Forschung nach Erfordernissen und Vorgaben herrschender Politiken und der Privatwirtschaft - nahezu ausgeschlossen sein wird. Es sei denn, sie sind bereit, unbezahlt oder "fremdfinanziert" an den Hochschulen zu arbeiten.


...und Unterbau

Wissenschaftliche MitarbeiterInnen werden vielfach als ZuarbeiterInnen für ProfessorInnen "verheizt" und haben dadurch nur wenige Möglichkeiten, ihre eigenständigen Forschungsinteressen - soweit diese überhaupt noch vorhanden sind -, zu verfolgen. Lehrverpflichtungen von bis zu 16 Semesterwochenstunden überfrachten sie zudem, und die permanente Angst, ihre zur Regel gewordenen befristeten Arbeitsverträge nicht verlängert zu bekommen, erzeugt nicht nur Druck. Selbst bei habilitierten WissenschaftlerInnen, die für eine Berufung zu fast allem bereit sind, werden Schlaflosigkeit und gesundheitliche Probleme - vom Erschöpfungssyndrom bis hin zum "Burn-out" allmählich zur neuen Normalität, die sie jedoch bereit sind, in Kauf zu nehmen, denn die Angst vor "Hartz IV" ist inzwischen auch bei ihnen angekommen.

Unabhängige Forschung ist demnach aus mehreren Gründen kaum möglich: Personelle Abhängigkeiten und ökonomische Unsicherheiten, politische Richtungs- und Zielvorgaben und vor allem die Interessen privater Kapitale, alles und jeden danach zu beurteilen, wie schnell und in welchem Umfang ihr investiertes Kapital wächst, werden so zu Kriterien der Entwicklung von Forschungsfragen und -richtungen. Hiermit wächst auch die Gefahr der inneren Distanzierung der WissenschaftlerInnen zum Gegenstand ihrer Arbeit oder der Identifikation mit ihnen fremden Forschungsinhalten und -methoden. Abhängigkeiten, Identitätskonflikte und Entfremdung werden somit auch an Universitäten verstärkt zu Begleitern des Kapitals.

Werden wissenschaftliche MitarbeiterInnen wenigstens während ihres befristeten Angestelltenstatus mit Gehältern bezahlt, die ein "durchschnittliches" Leben ermöglichen, sind Lehrbeauftragte praktisch die Paria der WissenschaftlerInnen. Sie tragen zwar wesentlich zur thematischen Vielfalt in der Lehre bei, sichern z.T. in einigen Studienbereichen sogar das vorgesehene Grundangebot in der Lehre, beraten und prüfen darüber hinaus Studierende bis zu ihrem Studienabschluss, wodurch die so genannten "Hauptamtlichen" erheblich entlastet werden. Sie haben aber keine Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Hochschule und keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen der gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Die "Bezahlung" von Lehraufträgen ist gesetzlich nicht geregelt. Es gibt lediglich empfehlende Richtlinien. So variiert selbst innerhalb einer Universität die Vergütung zwischen den einzelnen Instituten erheblich, wobei die überwiegende Mehrheit der Lehrbeauftragten oftmals gar nicht bezahlt oder mit Honoraren in Höhe von einigen Hundert Euro pro Semester abgespeist werden. Sie bleiben trotzdem - oft in der Hoffnung, ihre Chancen auf eine Stelle als hauptamtliche/r MitarbeiterIn zu erhöhen - jahrelang in diesem unteren prekären Zustand, ohne dass für sie arbeitsrechtliche Mindestvorschriften wie Urlaub, Mutterschutz oder Kündigungsschutz existieren und leben demzufolge oftmals auf relativem Armutsniveau von "Nebenjobs", einem/er lohnarbeitenden LebenspartnerIn oder von so genannten sozialen Transferleistungen.

Die oftmals ignorierten Studierenden sind sich dieser Realitäten fast nie bewusst. Für die meisten von ihnen sind "die Lehrenden" DienstleisterInnen, die die Vorgaben zu vermitteln haben, die für ein erfolgreiches Studium erforderlich sind. So sollen angestellte und auf Honorarbasis arbeitende WissenschaftlerInnen gleichermaßen als Exekutivkräfte von Studienordnungen den Ansprüchen vieler StudentInnen gerecht werden, d.h. vor allem, sie arbeitsmarkttauglich zu machen. Denn insbesondere mit der Bachelorisierung des Studiums wandelt sich das Anforderungsprofil. Studiengebühren, wachsende formale Anforderungen und zeitlich und inhaltlich restriktivere Studienordnungen erschweren vertiefte Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand des Interesses und engen Freiräume für kreative und soziale Prozesse zunehmend ein. Ein Studium wird so zu einem von bestimmten politischen und ökonomischen Interessen zugeschnittenen Schnelldurchlauf, der darüber hinaus durch einen zunehmend ideologischen Filter gepresst wird. Das diszipliniert, richtet zu, führt zu verkürzten Verständnissen und zu einer Kultur der Oberflächlichkeit.

Kompetenzen sedimentieren durch so einen Apparat der Anpassung in die Form, die von den jeweiligen ArbeitgeberInnen vorgegeben ist. Bildung wird so reduziert auf Ausbildung, um auf dem sich schnell wandelnden Arbeitsmarkt konkurrenzfähig sein zu können. Solche Wissenschaft ist nicht Werkzeug der Erkenntnis bzw. dient nicht der Kritik von Gesellschaft und der Beförderung emanzipatorischer Praxen, sondern stellt sich zunehmend in den Dienst des Kapitals und der herrschenden Politiken. Das kommt dem unausgesprochenen Motto vieler angepasster StudentInnen - "Creditpoints statt kritische Analysen" - entgegen.


Der Verlust der Forschung

Durch den Abbau von Personal auch in der Verwaltung müssen administrative Tätigkeiten vermehrt von ProfessorInnen, überwiegend aber vom akademischen Mittelbau übernommen werden, was zu einem Wandel im Verhältnis von Forschung, Lehre und Verwaltung führt. Das wissenschaftliche Personal muss immer mehr Zeit für diese Art von Arbeiten aufwenden, die dann für Forschungstätigkeiten fehlt.

So entwickeln sich "Professoral-Universitäten", in denen die Qualität der Forschung und somit auch der Lehre sinkt, in denen sich ein Denken in ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen breit macht, und undurchsichtige und undemokratische Entscheidungsprozesse - ob bei Berufungsverfahren (die einer "Black Box" gleichen) oder z.B. bei der Vergabe und Vergütung von Lehraufträgen - den Alltag der Akteure bestimmen.

Mit derartigen Entwicklungen stellt sich verstärkt die Frage nach den zukünftigen Orten der kritischen Analyse von gesellschaftlichen Prozessen, des Denkens in übergreifenden Zusammenhängen und des Anspruchs der Verbindung von Kritik, Praxis und Emanzipation. Die zuvor geschilderten Universitäten scheinen hierfür zunehmend ungeeignet.

Raute

Rückkopplungen

Nevermind

von Roger Behrens

Nach Wikipedia: "Eine Rückkopplung ... ist ein Mechanismus in signalverstärkenden oder informationsverarbeitenden Systemen, bei dem ein Teil der Ausgangsgröße direkt oder in modifizierter Form auf den Eingang des Systems zurückgeführt wird ... Rückkopplungen kommen überall in technischen, biologischen, geologischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen vor. Je nach Art und Richtung der rückgeführten Größe kommt es zur Selbstverstärkung des durch das System bedingten Prozesses oder zu dessen Abschwächung oder Selbstbegrenzung."

Pop ist ein System ideologischer Rückkopplung: Aufklärung wird zu einem Verblendungszusammenhang übersteuert. Es ist die bewusste Verstärkung des Fetischcharakters der Ware (den Marx im "Kapital" bereits physikalisch mit dem "Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv" analogisierte).


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Amy Winehouse, 1982 bis 2011: Der traurige Tod und das ebenso traurige Leben der Musikerin offenbart zynisch, wie es um das Glücksversprechen der so genannten Kultur bestellt ist. Es heißt, sie hätte Drogenprobleme gehabt. Gesungen hat sie darüber. Und die Leute haben geklatscht, sie gelobt als authentische Frau, die authentischen Soul macht. - Vom Tod erfahre ich durch das Internet, nämlich durch die Seiteninformationsleiste von www.zeit.de. Ein paar Tage später gibt es hier den kleinen Clip "Amy Winehouse beigesetzt"; er erscheint unter der Rubrik: "Videos zum Thema Kultur".


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Gemeinhin datieren die Anfänge der Popmusik, die mehr ist als bloß popular music, nämlich Rock 'n' Roll und Soul, auf Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. "Roll over Beethoven" skandiert Chuck Berry 1956. Im selben Jahr findet in London die Pop-Art begründende Ausstellung "This is tomorrow" in London statt. Und die Lettristen fordern bereits "eine leidenschaftliche Umwälzung des Lebens ... Diese große kommende Zivilisation wird Situationen und Abenteuer konstruieren." So ist es zumindest in einem Pamphlet der Lettristischen Internationale 1954 zu lesen. Schließlich kommt mit dem Lärm auch die Ruhe: 1952 wird John Cages aus drei Sätzen tacet (i. e. Pause) bestehendes "4'33" in Woodstock uraufgeführt.

Doch diese Anfänge haben ihre Ursprünge, Vorwegnahmen und Ankündigungen. "... Aber eine Konsequenz wird durch Ives' vierte Symphonie ... sicher kenntlich ...: die - wahrscheinlich nicht ganz freiwillige - Erfindung der Pop-Musik durch den Meister aus New England. Versteht man Pop-Musik nämlich vor allem als einen Umgang mit Musik, der sich weniger um die immanente Organisation von Klängen und Tönen kümmert, sondern auf fertige, in sich geschlossene Klangobjekte rekurriert, die unabhängig von ihrer musikalischen Logik durch eine ihres (öffentlichen) Gebrauchs, ihres 'Bildes', ihrer Funktion geprägt sind, dann war diese Symphonie, insbesondere ihr zweiter Satz, der erste Schritt in diese Richtung." (Diedrich Diederichsen, "Musikzimmer. Avantgarde und Alltag", Köln 2005, S. 209f.)

Märsche, Hymnen, Jahrmarktrummel, Straßenlärm sind zu hören, montiert, aber nicht im Sinne der Geräuschcollage, sondern als mehrschichtige Komposition, eben, eventuell ähnlich zu Eisensteins Kino: als Montage-Komposition, Montage-Konzert, Montage-Sinfonie. - "Fertig, aber beweglich", wie Diederichsen meint.

"Auch Wetter, ein anderes Lieblingsthema, wollte er, anders als der musikalische Impressionist, nicht unbedingt als ein von einem bestimmten Ort aus agierendes Naturereignis, in das sich das Subjekt zu versenken hätte, sondern als permanente Überschreitung der musikalischen Kompetenzen durch die Musik begreifen: Es kommt von allen Seiten, agiert und überrascht den Hörer. Den Rezipienten wird keine Kontemplation gegönnt. Für Ives ist die Welt um ihn herum schon so mit Klängen, sei es kulturellen, sei es meteorologischen, aufgeladen, dass eine Musik, die von einer Bühne oder einem zentralen Lautsprecher herkommt, nicht mehr interessant ist. Die Quellen sind so über die Welt verstreut und beweglich wie später Transistorradio und Walkman." (Diederichsen, Musikzimmer, a.a.O., S. 210 f.)


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Es kommt nicht von ungefähr, dass im Vorjahr des Mai 68 und mitten im Krieg (Vietnam etc.) das Spektakel von einem Spektakel der Verweigerung konterkariert wird: 1967 ist der "Summer Of Love", der Höhepunkt der Hippiebewegung - The Mamas And The Papas singen "San Francisco":

If you 're going to San Francisco,
Be sure to wear some flowers in your hair,
If you come to San Francisco,
Summertime will be a love-in there.

Flower Power, Love and Peace, Golden Gate Park, Haight-Ashbury, schließlich das Monterey Pop Festival im Juni 1967 mit Jimi Hendrix, Otis Redding, The Who, Janis Joplin, Blood, Sweat & Tears, Canned Heat, Eric Burdon, Jefferson Airplane und Ravi Shankar. Ebenfalls 1967 veröffentlichen The Beatles "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band", ihr achtes Album, mit einem Cover vom Pop-Art-Künstler Peter Blake: The Beatles stehen hier als Zirkusband vor mehreren Dutzend "historischen Persönlichkeiten" der Moderne, vom neunzehnten Jahrhundert bis 1967; um die meisten zu nennen: Aleister Crowley, die Schauspielerin Mae West, Karlheinz Stockhausen, der Schauspieler W.C. Fields, Carl Gustav Jung, Edgar Allan Poe, Fred Astaire, The Vargas Girl (ein Pin-up), der Architekt Simon Rodia, Bob Dylan, der Premierminister Sir Robert Peel, Aldous Huxley, Dylan Thomas, der Schauspieler Tony Curtis, Marilyn Monroe, William S. Burrough, einige Gurus, Stan Laurel und Oliver Hardy, der Künstler Richard Lindner, Karl Marx, H.G. Wells, Sigmund Freud, der früh verstorbene erste Beatles-Bassist Stuart Sutcliffe, The Petty Girl (noch ein Pin-up), Marlon Brando, Oscar Wilde, der Entdecker David Livingstone, Johnny Weissmuller, George Bernard Shaw, der Fußballspieler Albert Stubbins, Lewis Carroll, der Boxer Sonny Liston, Marlene Dietrich, ein Fernsehgerät, eine Steinfigur von Schneewittchen, ein Gartenzwerg ... Gandhi wurde entfernt; abgelehnt wurden die Vorschläge John Lennons, aus Spaß auch Jesus Christus und Adolf Hitler aufzunehmen. Auch Mickey Mouse oder Walt Disney fehlen ...

Mit einer Parodie des Covers erschien 1968 "We're Only In It For The Money" von Frank Zappa and The Mothers of Invention, zugleich eine Kritik an der Hippie-Bewegung und dem Love-and-Peace-Spektakel.


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Chronik

1951. - Geschrieben während des Ersten Weltkriegs, erscheint 1917, im Jahr der Oktoberrevolution, das Buch "Growth and Form" von D'Arcy Wentworth Thompson (1860 - 1948). Die These des Biologen: Mathematik und Physik haben einen größeren Einfluss auf die Formgestalt der Natur als die evolutionäre Anpassung. Dem Buch widmet sich 1951 eine Kunstausstellung im Londoner ICA, der Buchtitel wird übernommen.

Die Ausstellung ist mehr als eine Vergegenwärtigung der Thesen von Thompson: Es ist der Versuch, die Idee des Fortschritts mithilfe der Kunst, den Humanismus der Wissenschaft, genauer den modernen Humanismus der modernen Naturwissenschaft, vor eben der Katastrophe zu retten, mit der sich die Welt damals, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, konfrontiert sah. Dieser Rettungsversuch, der allgemein erstmals als Modernismus bezeichnet wurde, ist zugleich eine Wiederbelebung der ästhetischen Avantgarde, reaktiviert zudem einen radikalen Positivismus: Eine mit Wissenschaft verschmolzene Kunst soll das Design der Zukunft bilden, Ästhetik konvergiert mit der "technologischen Rationalität".

Die ausstellenden Künstler sind Mitglieder der ein paar Jahre später gegründeten Independent Group: Reyner Banham, John McHale, Lawrence Alloway und Richard Hamilton. Mit "Growth and Form" skizziert die Gruppe das Programm einer gleichermaßen organisch wie mechanisch erweiterten Ästhetik, die ähnlich wie beim Bauhaus von der Architektur aus gedacht wird, ihre Gestalt mithin aber nicht an der sozialen Form, sondern am Biomorphen orientiert - Vorbilder sind hierbei die Arbeiten von Buckminster Fuller; und es kommt nicht von ungefähr, dass die nächste Ausstellung 1953, wieder im ICA, "Parallel of Life and Art" heißt, die folgende, 1955, wieder von Richard Hamilton kuratierte schließlich "Man, Machine and Motion".

Diese Ästhetik bekommt 1956 in der Whitechapel Art Gallery, London, mit der bahnbrechenden Ausstellung "This is tomorrow" (und auch hier ist der Titel Programm, die Künstler zeigen U.S.-amerikanische Massenkultur) einen neuen Namen: "Pop". Als Markenzeichen eines Dauerlutschers ist das Wort auf einer Collage zu sehen, die Hamilton als Poster für diese Ausstellung anfertigte: "Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?". - Richard Hamilton starb am 13. September 2011 im Alter von 89 Jahren.

1961. - Die Beatles treten das erste Mal auf (im Cavern Club, Liverpool).

1971. - Film. Pop, der sich in den Sechzigern endgültig musikalisch etablierte, konvergiert mit dem bewegten Bild. Im April kommt "Sweet Sweetback's Baadasssss Song" von Melvin Van Peebles in die Kinos, im Juli "Shaft" von Gordon Parks, im Dezember "Clockwork Orange" von Stanley Kubrick und "Dirty Harry" von Don Siegel. Das sind Soundtracks von Isaac Hayes, W. Carlos mit Ludwig van Beethoven und Lalo Schifrin. Und Melvin Van Peebles hat für seinen Film die Musik selbst gemacht.

1981. - Einstürzende Neubauten veröffentlichen ihr erstes Album. Es heißt "Kollaps".

Auf der Funkausstellung in Berlin wird die Compact Disc vorgestellt. Sie ermöglicht technisch 74 Minuten digitale Musikspeicherung, das entspricht der damals längsten verfügbaren Aufnahme von Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie. Fraglich war angeblich zunächst die Größe der CD: Man glaubte, dass die Scheibe mit zwölf Zentimetern Durchmesser nicht in übliche Anzugjacketttaschen passen würde. Sie passt doch. Interessant daran: dass die CD offenbar von vornherein als mitnehmbarer Konsumartikel für den prosperierenden Lifestyle damals reüssierender Yuppies gedacht war. Und ohnehin wurde Popmusik transportabel: Zur selben Zeit kamen der "Walkman" und die so genannten Ghettoblaster auf. - Transportabel wurde der Pop auch auf anderer Ebene: als Fernsehen wurde die Musik in Form von Video-Clips erstmals nonstop ins Haus geliefert: 1981 geht MTV auf Sendung und die Ära des so genannten Musikfernsehens beginnt.

Schließlich aber auch das, "Idiotismus des Landlebens" (Marx und Engels): die in Großenkneten, Landkreis Oldenburg in Niedersachsen, gegründete Band Trio nimmt im Sommer 1981 ihre erste Platte in einem provisorisch dafür hergerichteten Stall bei Husum auf, spielt am 23. November 1981 in Hamburg, im berühmten Onkel Pö "Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha." So etwas hat es in dieser Konsequenz seit Hugo Balls Lautgedichten nicht mehr gegeben. Trio präsentierten eine Ästhetik des konkreten Minimalismus: nämlich einen auf das Wesentliche reduzierten Pop, was doch nichts anderes ist als die Erscheinung. Ein im Stehen gespieltes Schlagzeug, eine Gitarre, ein Minikeyboard, Spielzeuginstrumente und Sprechgesang. Am 23. November 1981 war Rock vorbei. Peter Marxen, Betreiber des Onkel Pö bis 1979, beobachtet das aus dem Abseits (nämlich im Forsthaus Hessenstein, Lütjenburg) und ahnt, dass es bald zu Ende geht. Das Onkel Pö wird 1985 geschlossen.

1991. - Robert Kurz veröffentlicht seine erste große krisentheoretische Arbeit: "Der Kollaps der Modernisierung".

"Nevermind", das zweite Studioalbum von Nirvana, erscheint am 24. September 1991. Es ist das wichtigste Album der Neunziger, auch das meistverkaufte. Pop heißt: die Ware wird als Kultur hypostasiert, das Gebrauchswertversprechen im Tauschwert eingelöst. Auf dem Cover: Ein nacktes Baby schwimmt einer, an einem Angelhaken hängenden Dollarnote hinterher.


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"Solange keine Genealogie der Popkultur in Angriff genommen wird, die sich mit all den Mythen beschäftigt, die rund um Pop ranken und die nach den Ursachen dieser Mythen fragt, wird auch weiterhin alles Geschmacksurteil bleiben. Der Rolling Stone wird weiterhin die Stones, Neil Young und Nirvana als Spitzen der Pop-, genauer der Rockgeschichte festigen, Indie-Nostalgiker werden weiterhin Joy Division und Bauhaus nachtrauern - kurz: Alle werden an ihren kleinen Mythen festhalten, über die es sich bequem leben lässt. Statt schnell, sexy, schön, vergänglich zu sein, dient Pop den meisten Rezipienten ja längst schon als letzte beständige Bastion, als letzter Ort der Sicherheit." (Büsser, "Music is my Boyfriend", Mainz 2011, S. 116)

Raute

Der Conferencier als Condottiere

von Franz Schandl

Auch in seinem neuesten Buch beweist Slavoj Zizek sich als Großmeister der Sprunghaftigkeit.


In den Köpfen herrscht die Matrix: "Ganz gleich wie sehr wir den natürlichen Reproduktionskreislauf stören, wir vertrauen auf die Natur und erwarten, dass sie ihren stabilen Lauf fortsetzt. Ganz gleich wie viel wir spekulieren, wir vertrauen auf den Markt und erwarten, dass er sich wieder erholt. Dieses grundsätzliche Vertrauen ist mehr als eine nur psychologische Kategorie. Es konstituiert erst unseren Realitätssinn." (S. 304) "Wir glauben nicht weniger, sondern viel stärker, als wir uns zu glauben einbilden." (S. 8)

Selbst die Empörung vieler Menschen ist mehr Pose als Praxis, nicht mehr als eine ledige Haltung: Wir glauben zwar an nichts mehr zu glauben, tatsächlich aber sind wir aktivierte Affirmatiker. Abgeklärte Monaden, die trotzig an dem festhalten, selbst wenn wir meinen zu verneinen. "Aufgrund ihres alles durchdringenden Charakters erscheint die Ideologie als ihr eigenes Gegenteil, als Nichtideologie, als Kern unserer menschlichen Identität jenseits aller ideologischen Etikettierungen." (S. 243)

Zuallererst ist das Treiben des Slavoj Zizek ein äußerst sympathisches. Überall dort, wo die radikale Linke abgerüstet hat (und wurde), dort rüstet er kräftig auf. Der Kommunismus erscheint bei ihm alles andere als antiquiert - als eine brandaktuelle Aufgabe. Und er selbst versteht sich als Meister des Zündelns. Vor allem wendet er sich auch gegen die obligate Beschwörung der Demokratie, die nach noch mehr Demokratisierung schreit. Da ist Zizek (in Anlehnung an Alain Badiou) nicht mit von der Partie. Einer dieser lästigen, aber letztlich harmlosen Denker, das möchte er nicht sein.

Die Zunft und ihre Gepflogenheiten kümmern unseren Philosophen jedenfalls wenig. So gesehen ist Zizek auch nicht unbedingt seriös. Aber was ist schon seriös? Der sich wiederkäuende Mainstream der wissenschaftlichen Wüste, die Pragmatiker des Sachzwangs, die fußnotenheischenden Fetischisten, die hermetischen Hermeneutiker, die flagranten Kartellzitierer, die Podiumsbesetzer und Talkschwätzer? Da ist Zizek weiter, wenn auch wie zu zeigen sein wird - auf der gleichen kulturindustriellen Sprossenleiter.


Bluff und Blende

Es gibt keinen Intellektuellen, der nicht blufft und blendet, zweifellos. Werden diese Prädikate aber substantivistisch aufgeladen, das Treibmittel zur Methode verdichtet, zerstören sie die Substanz des Denkens. Rausch, Droge, Placebo. Alles in Ordnung. Wie soll das Versetzen von Wirklichkeit in Wahrheit auch sonst gelingen? Durch eine Statistik? Eine Kurve? Gar ein Diagramm? Es gibt keine Reflexion ohne Rausch, aber ein Rausch ist noch keine Reflexion. Die Dosis, mit der Zizek operiert, ist jedoch eine Überdosis. Was Theorie betrifft, ist Zizek kein Trinker, sondern ein Säufer.

Da begegnen uns etwa Passagen, die zwar in ihrer Konstruktion nicht kompliziert erscheinen, letztlich aber in ihrer Dekonstruktion Leere hinterlassen. Beispiel: "Das Reale ist gleichzeitig generativ und destruktiv: destruktiv, wenn es freie Hand bekommt, aber auch wenn es verneint wird, da seine Verneinung eine Wut freisetzt, welche es imitiert - ein Zusammenfall der Gegensätze." (S. 19) Was mag das wohl heißen? Oder sollte man gar nicht wagen, solche Fragen zu stellen, weil sie nur die eigene Unkenntnis bloßlegen? Oder werden wir vom Theoretiker bloß gelegt?

Zizek zerstört zwar nicht die Form der Sätze, er ruiniert aber deren inhaltliche Aussage. Sequenzen wie die eben zitierte finden sich einige und man hat das Gefühl, dass der Verfasser schon bei der Abfassung über das Publikum lacht. Über jene, die es nicht verstehen, sowieso, aber mehr noch über jene, die es verstehen. Denn die verstehen tatsächlich das Unverständliche. Und was würde der schlagfertige Autor, darauf angesprochen, sagen? Nun, dass man nicht alles, was man schreibt, auch selbst verstehen muss. Locker bleiben, ganz locker. Dialektik ist mitunter auch die Finesse, diverse Ungereimtheiten elegant zu umschiffen. Es ist überhaupt ein Kennzeichen unseres Philosophen, unvereinbare Botschaften in sich zu vereinen.

Slavoj Zizek ist ein Großmeister der Sprunghaftigkeit. Noch ehe der Rezipient den vorgetragenen Gedanken verdauen kann, serviert der Denker bereits den übernächsten. Der Leser ist ein armer Hund, er kann davonlaufen oder hinterherhecheln. Mehr Möglichkeiten bietet die Zizeksche Führung nicht. Der Autor zieht die Register. Kein Fass, das nicht geöffnet wird. Dazu gehört auch die Abschweifung in Permanenz: Das wäre noch zu bemerken, und übrigens verweise er auf, und da sei auch noch, und zu Adorno und Althusser und Freud und und und wäre auch noch vieles zu sagen. und in der Unzahl der Klammersätze wird es sowieso angedeutet. Uff!


Heidegger als Wegbereiter

Wenn es nach Zizeks neuestem Buch geht, dann ist der große Wegbereiter dieser Linken des 21. Jahrhunderts ein gewisser Martin Heidegger. Fast ein Drittel des Bandes ist ihm gewidmet und immer wieder tritt er als Zeuge auf. Man fühlt sich direkt an den frühen Sloterdijk erinnert, der einst eine heideggersche Linke einforderte. Indes drücken diese Abschnitte doch einiges an Befangenheit aus. Der Provokateur stolpert des Öfteren: "Heidegger ist nicht trotz, sondern wegen seines NS-Engagements 'groß', seine Beteiligung ist ein wesentliches Element seiner 'Größe" (S. 49), heißt es etwa. Oder: "Sein NS-Engagement war nicht 'völlig falsch' - das Tragische ist, dass es fast richtig war, indem es die Struktur eines revolutionären Akts aufwies, die dann durch die faschistische Verzerrung zerstört wurde." (S. 74) Es mag zwar einen falschen Schritt in die richtige Richtung geben, was aber ein richtiger Schritt in die falsche Richtung ist, ist uns schleierhaft. Eben einen solchen soll Heidegger laut Zizek 1933 getan haben. (S. 13)

Dass Zizek die Gefahr nicht scheut. spricht zwar für ihn, dass er aber ungesichert durch Heideggers Schwarzwald läuft, lässt an seinem Verstand zweifeln. Mehr als eine gefinkelte Apologie ist nicht drinnen, dazu steht er zu sehr im Bann des deutschen Meisterdenkers. Nicht dass er sich dem "Fascinating Fascism" stellt, ist das Problem - das ist gegen den seichten antifaschistischen Mainstream notwendiger denn je - sondern wie er es tut. Er verliert sich ganz in der Affinität.

"Es ist nichts 'in sich Faschistisches' an Begriffen wie Entscheidung, Wiederholung, Annahme des eigenen Schicksals (oder mehr auf die 'gewöhnliche' Politik bezogen, an Begriffen wie Massendisziplin, Opfer für die Gemeinschaft usw.)." (S. 70) Formal mag das stimmen, aber wie es vorgetragen wird, liest es sich so, als hätte die Totalitarismustheorie in ihrer Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus denn doch recht. Es ist allerdings ein Unterschied, ob in bestimmten Situationen Disziplin nötig ist (man denke etwa an den Straßenverkehr) oder ob man Disziplin (noch dazu jene der Massen) zur Tugend kürt. Ein apodiktischer Satz wie "Wer nichts hat, hat nur seine Disziplin" (S. 73), ist völlig durchgeknallt. Was die Gesellschaft einfordert, wird hier einfach dupliziert. Es kann nicht Aufgabe des Kommunismus sein, Kaserne und Fabrik nachzubauen. Das hatten wir schon. Gegen die gesellschaftliche Disziplin diszipliniert vorzugehen, mag eine taktische Varianz ausdrücken, mehr aber nicht. Jede Aufladung solcher Notwendigkeiten zu Prinzipien und Imperativen ist unangebracht.


Gewalt und Terror

Das Böse wird in dieser Logik als unvermeidbar, als "nicht aufhebbares Grundwesen" (S. 84) vorgestellt. Es ist nicht Resultat (wie doch jeder noch so krude Materialismus nahe legen würde) einer bestimmten historischen Konstellation und Sozialisation, es ist "nicht einfach ein Abfall vom ontologischen Wesen des Menschen, sondern muss in diesem ontologischen Wesen begründet liegen." (S. 84) Man staunt nur so: Ontische Emanationen erscheinen als ontologische Gegebenheiten, um es heideggerisch zu formulieren. Das Böse rührt aus "den Windungen des Seins" (S. 84), gleicht einem Trieb (S. 85).

Diesem Trieb gibt Zizek sich nun ganz hin. Wenn schon, denn schon. Das Böse ist nur böse, wenn es von den Bösen kommt; gut wäre demnach böser als die Bösen zu sein. Auf dieses Programm lassen sich diverse Ausführungen bringen, mögen sie auch noch so elaboriert daherstolzieren. Auf Heidegger schließen dann viele Seiten ausgelobter Mao-Exzerpte an. Nahtlos.

Getreu dem Motto, dass es besser ist Schrecken zu verbreiten als sich schrecken zu lassen, singt Zizek das Lied des Terrors, denn "dieser Schrecken ist nichts Geringeres als die Bedingung der Freiheit" (S. 113): "Wer A sagt - Gleichheit, Menschenrechte und Freiheit -, sollte nicht vor den Folgen zurückschrecken und den Mut aufbringen, auch B zu sagen, um A wirklich verteidigen und behaupten zu können, braucht es den Terror." (S. 96) Denn "göttliche Gewalt = unmenschlicher Terror = Diktatur des Proletariats". (S. 102) So reden gedopte Schreckgespenster, denen es darum geht, "den emanzipatorischen Terror neu zu erfinden" (S. 119).

Tatsächlich ist es bereits daneben, den Kommunismus anhand der bürgerlichen Werte zu definieren. Schlimmer aber ist, dass Stalin und Mao nicht eingemeindet werden in die leidvolle Geschichte der kapitalistischen Modernisierung (und nichts anderes stellten diese Regimes dar), sondern als nicht so ganz geglückte Alternativen weiterhin hofiert werden. Der Stalinismus wird "mit Bedauern" (S. 175) gutgeheißen. Indes, der Stalinismus war eine ernsthafte Tragödie, der nicht nachzuweinen ist. Ob des Kommunismus oder für den Kommunismus oder beides, das alles wären spannende Fragen. Die Beschönigungen hingegen sind schon in den 1930er Jahren falsch (aber angesichts des Nationalsozialismus teilweise verständlich) gewesen, heute jedoch sind sie bloß noch eine unerträgliche Farce.

So plädiert Zizek - und der absolute Tiefpunkt ist nun erreicht -, als Subjekt zu "einer Art 'lebendem Toten' zu werden, auf alle persönlichen Eigenarten zu verzichten und sein ganzes Leben der Vernichtung derer zu widmen, die es gezwungen haben, die Opfertat zu begehen. Eine solch 'unmenschliche' Position der absoluten Freiheit (in meiner Einsamkeit kann ich tun und lassen, was ich will, niemand hat Gewalt über mich) gepaart mit der absoluten Hingabe an eine Aufgabe (der einzige Sinn meines Lebens besteht darin, Rache zu üben) charakterisiert vielleicht am treffendsten das revolutionäre Subjekt." (S. 115)

Unfreiwillig punziert sich dieser Kommunismus der lebenden Toten als Zombie-Bolschewismus. Der nüchterne Lenin hätte nie so einen Blödsinn geschrieben, für ihn "unterscheidet sich der Marxismus von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er die Bewegung nicht an irgendeine Kampfform bindet." (Lenin, Der Partisanenkrieg (1906), in: LW 11, S. 239) Bei Lenin kann man zweifellos einiges lernen, bei Zizek ist er lediglich ein Abziehbild. Diese Zeilen erinnern auch mehr an Ernst Jüngers heroischen Realismus, an einen Menschenschlag, "der sich mit Lust in die Luft zu sprengen vermag." (Ernst Jünger, Der Arbeiter, S. 37)

Gegen Anpassung und Opportunismus propagiert Zizek jedenfalls die Tugend des Terrors. Robespierre, der auch oft zu Wort kommt, lässt grüßen. Das Buch ist geradezu von kratologischer Lust getragen. In der Gewaltdebatte bringt es freilich keinen Jota weiter, im Gegenteil, es zieht Fronten auf und plädiert für den Krieg. Cui bono? Da werden keine Verhältnisse zum Tanzen gebracht, sondern nur ein Beitrag zur Eskalation der gesellschaftlichen Kommunikation geleistet.

Abseits aller Bekenntnisse zum Gewaltmonopol des Staates einerseits als auch zur revolutionären Gewalt andererseits ist die Gewalt als gesellschaftliche Drohung und Notwendigkeit zu realisieren, aber stets in der Perspektive ihrer Abschaffung zu debattieren. Ein Kern der Herrschaft liegt ja nach wie vor in der Gewalt, so domestiziert sie in den Rechtsstaaten auch daherkommt. Gesellschaftliche Transformation ist ohne Bruch des Gewaltmonopols nicht zu haben. Das muss man sich nicht unbedingt gewalttätig vorstellen, es kann aber auch durchaus gewalttätig vor sich gehen. Das Problem ist nicht, dass Zizek die Gewaltfrage aufmacht, das Problem ist, dass er sie gleich wieder zumacht.


Böse Großkapitalisten

Wenn jemand sagt: "Die Juden sind an unserem Elend schuld', dann meint das eigentlich: 'Das Großkapital' ist an unserem Elend schuld.". So "verdeckt der 'schlechte' explizite Inhalt (Antisemitismus) den 'guten' impliziten Inhalt (Klassenkampf, Hass gegen Ausbeutung) (S. 276) Zizek aber sagt damit, dass die Grundstruktur dieses Reflexes adäquat sei - die Leute spüren das Richtige, sie suchen den Schuldigen bloß im falschen Adressaten. Ein Feinbild aber muss sein: Das Großkapital ist unser Unglück. Das ist, gelinde gesagt, Unsinn. Nach wie vor werden hier gesellschaftliche Zustände auf Schuldige und Unschuldige projiziert, nicht als Zwangsverhältnisse gesehen, die in unterschiedlichem Ausmaße alle gesellschaftlichen Mitglieder drangsalieren, sie als Interessensträger Positionieren und als Konkurrenten gegeneinander aufbringen. Aber an sich weiß Zizek das doch, an anderer Stelle verweist er selbst auf "die falsche 'Personalisierung' ('Psychologisierung') eigentlich objektiver sozialer Prozesse." (S. 317)

Und sind Hass und Kampf (somit auch der Klassenkampf) von oben, aber auch von unten, in letzter Konsequenz nicht destruktive Formen, die die Gesellschaft der Konkurrenten zusammenhalten, indem sie die Menschen gegeneinander um das Gleiche kämpfen lassen: Geld? Sind Hass und Kampf Alternativen zu Krise und Zusammenbruch oder deren immanenter Bestandteil? Wenn der Kapitalismus zusehends die Verhältnisse barbarisiert, dann schreit Zizek: Das können wir auch. Seien wir froh, dass es nicht stimmt, er nur ein Condottiere in einem Cabaret ist. Die Revolution ist mehr als ein Maskenball, wo alle noch einmal ihre historischen Kostüme anziehen. Zizek aber ist zweifellos dessen Conferencier. Dass den Buchumschlag Hammer und Sichel zieren, ist bezeichnend.

Es ist schon eigenartig: Einerseits verkündet unser Autor selbst das Ende der Epoche der Oktoberrevolution, sie werde zwar "für immer ein wesentlicher Teil unserer Erinnerung bleiben, aber diese Geschichte ist vorbei, alles sollte neu überdacht werden, wir sollten wieder bei null anfangen" (S. 295), andererseits vermag er nichts anderes zu unterbreiten als folgendes Szenario: "Revolutionäre müssen geduldig auf den (meist sehr kurzen) Moment warten, in dem das System offensichtlich versagt oder zusammenbricht; dieses kleine Zeitfenster müssen sie nutzen, die Macht an sich zu reißen, die in diesem Moment sozusagen auf der Straße liegt und greifbar ist, und diese Macht dann festigen, repressive Apparate aufbauen usw., sodass es, wenn die Verwirrung vorüber und die Mehrheit ernüchtert und vom neuen Regime enttäuscht ist, zu spät sein wird, um es wieder loszuwerden, weil es bereits verankert ist." (S. 298f.)

Stünde das in einem kleinen linksradikalen Blatt, würden die Leute lachen. Warum lachen sie bei Zizek nicht? Was habt ihr vor?, werden die Kommunisten gefragt. Und die sagen: Wir machen es so wie 1917. ?!?! Das ist doch eine Parodie! An diesen Überlegungen ist nicht einmal eine Nuance neu, geschweige denn weiterführend. Welch Posse: Da machen Verwirrte eine Revolution, und wenn sie dann genug davon haben und zu den alten Zuständen zurückwollen, werden sie durch Repression daran gehindert. Mit Verlaub, das sind trübe Aussichten. Es ist nicht einmal in Ansätzen auszumachen, was an diesem Modell irgendwie attraktiv sein soll. Wie Zizek alsdann die beschworene Arbeiterklasse, die heute in drei Teile, die geistigen Arbeiter, die 'proletenhaften' Arbeiter und die Ausgestoßenen (S. 324), gespalten ist, nicht nur einigen, sondern für dieses Programm begeistern könnte, ist ein völliges Rätsel.


Himmel als Hölle

Nicht einmal das Jüngste Gericht darf in diesem katholisch dampfenden Kommunismus fehlen. Was da kommen soll, ist ein "Tag der vollkommenen Abrechnung" (S. 325). "Die 'göttliche Gewalt' wäre der Akt des Ziehens der Notbremse im Zug des historischen Fortschritts." (S. 326) Wir tun eh nix, wir sind eh brav, das war gestern, nun vermittelt der (laut Eigenwerbung des Verlags) "gefährlichste Philosoph des Westens": Wir reißen euch den Arsch schon noch auf! Zweifellos, ersteres ödet an, letzteres lässt Aufreißer und Aufgerissene wohlig erschauern. Da kommt Prickeln auf. Endlich ist da einer, der sich nicht duckt. Der gibt's uns aber. Und darin liegt auch seine Faszination. Slavoj Zizek verteilt revolutionäre Potenzpillen an ein ausgehungertes Publikum. Die schmecken nicht so schlecht, vor allem aber machen sie high. Sie erhitzen, aber sie haben keine Wärme, die hält.

Nicht nur im Katholizismus vermag ein Turiner Leichentuch seine Wirkung zu entfalten, auch Putin lässt einen Revolutionsführer im Mausoleum liegen, und Zizek möchte diesen gar wieder auftauen. Schließlich gelte es Lenin als Helden zu wählen (S. 75) und die "nicht realisierten Möglichkeiten des Leninismus ans Licht bringen" (S. 75). Wenn kritisiert wird, Che Guevara funktioniere doch als Ikone und Poster, dann legt Zizek sinngemäß nahe: Wir brauchen solche Ikonen und noch viel mehr Poster. "Warum sollte die revolutionäre Politik denn nicht den katholischen Märtyrerkult übernehmen? Man sollte auch nicht davor zurückschrecken, hier ganz konsequent zu bleiben und (für so manchen Liberalen sicherlich undenkbar) dasselbe auch für Leni Riefenstahl gelten zu lassen." (S. 71)

Es ist wahrlich der Ballast von gestern, der via Zizek eine geradezu penetrierende Energie entwickelt hat. Revolutionärer Kitsch, bestenfalls Pop. Anstatt die bösen Geister auszutreiben, will er sie wieder zum Glühen bringen. Doch wenn dieser sphärische Treffpunkt mit Paulus und Stalin, Heidegger und Mao, Chesterston und Riefenstahl der Himmel ist, dann sollte man diesen wie Heinrich Heine "den Engeln und den Spatzen" überlassen und sich vor solchen Himmelfahrten hüten. Ein lebendiger Kommunismus sollte weniger seine Leichen schminken, als seine Toten begraben, auch wenn man deren Leistungen durchaus hoch einschätzen möchte. Sie mögen etwas vorgelegt haben, aber sie sind dezidiert keine Vorlage.

Eigentlich ist der ganze Band eine einzige Themenverfehlung. Anstatt über die Perspektive der Emanzipation zu schreiben, schweigt da einer in seiner selbst gebastelten Ahnengalerie. Es wird mehr analogisiert als analysiert und vor allem in einem fort schwadroniert. Man hat das Gefühl, herumliegende Manuskripte mussten unbedingt unter einen Deckel, und der Titel des Bandes wurde aus Verkaufsgründen gewählt. Bei dieser geistlichen Auferstehungsprozession kommt das irdische Dasein einfach zu kurz. Sehr wenig sagt Zizek über den bürgerlichen Alltag, das tägliche Kaufen und Verkaufen, die grenzenlose Vermarktung und Verwertung der Welt, das ökologische Desaster und die galoppierende Zeitnot, auch nichts über das gute Leben. Dafür redet er von Terror und Disziplin, von Kadern und Opfern.

Nichts ist heute notwendiger, als offen und offensiv über den Kommunismus nachzudenken. Zizek aber vergibt diese Chance leichtfertig, und das ist äußerst ärgerlich.

Raute

Unsere Gedanken sind nicht ohne Grund

von Lorenz Glatz

Die Zwangsgemeinschaft transnationalen Kapitals und des Welthandels, in der ungeheure Massen von Waren und Geld von nichts als Profiterwartungen dirigiert frei um den Globus strömen, aber Menschen in Grenzzäunen und Polizeiwachen hängen bleiben, ist uns vertraut. Jetzt aber grassiert tiefe Unruhe bei den Reichen und bei den Armen, sowohl im Trikont als auch in den Metropolen.

Die Aufstände in Arabien werden hierzuland auch von den Wächtern des Status quo grade noch als Streben nach Demokratie angesichts korrupter Diktatoren wohlwollend betrachtet. Peinlich ist bloß, dass es sich dabei meist um geschätzte, zuverlässige Partner und oft persönliche Freunde hochgestellter Persönlichkeiten der "freien Welt" handelte. Es brauchte daher einige Umstellungen im Sprech der veröffentlichten Meinung und politischen Verlautbarungen, bis die befreundeten Herren Präsidenten und Stützen der Weltordnung zu verabscheuungswürdigen Monstern zurechtberichtet waren. Der nunmehr gelynchte Gaddafi war sogar erst unlängst zu einem "Mann tiefer Weisheit" (Berlusconi, der ihm sogar die Hand küsste) und einem Revolutionsführer, "dessen Geheimdienste mit westlichen Diensten zusammenarbeiten" (Sarkozy) geadelt geworden.

Noch keimen die Hoffnungen und Versprechungen, dass Demokratisierung die prekären Lebensbedingungen von zig Millionen Menschen zwischen Atlantik und Indischem Ozean verbessern, ja sie an den geltenden Weltstandard des Westens heranführen wird, noch bombardierte die NATO in Libyen die Demokratie herbei - da kommt der (allen Prognosen der Wirtschaftsweisen schon wieder Hohn sprechende) nächste Schub der totgesagten Weltwirtschaftskrise. Im Hort der Demokratie, in EU und USA. Damit auch hier eine Welle von Demos, Streiks, Unruhen und Straßenkämpfen im Paradies der Freiheit und des Wohlstands. Auch die Parolen haben viel Ähnlichkeit mit denen in Arabien: für Demokratie und mehr Geld, gegen die Korruption und Gier der Herrschenden.

Es zeigt sich: Die Unruhe ist das Kind der Ordnung, nach der sie kommt. Wenn die bislang wohlintegrierten Mittelschichten sich empören und das Wort ergreifen, spricht aus ihnen spontan die alte Ordnung, die sich über das empört, was aus ihr geworden ist. Es soll weitergehen mit Staat, Recht, Geld und Arbeit, bloß anders, mit ehrlichen Bankern, Unternehmern und Politikern statt Heuschrecken und korrupten Bonzen, gerecht verteilen soll man das Geld des Staats, statt es "den Märkten" in den Rachen zu werfen, und vor allem: wirklich demokratisch soll es zugehen und alle sollen "gutes Geld für gute Arbeit" haben.

Nur die Leute, die vom System schon als überflüssig abgestempelt sind, glauben derlei nicht mehr. Sie wissen, dass sie abgeschrieben, ein Fall fürs Sozialamt und die Polizei sind. Es ist ihr Frust, der sie an die herrschende Ordnung bindet. Wenn sie dem Luft machen, schlagen sie die Scheiben ein und nehmen sich, was man aus der Werbung kennt, schlagen nieder, fackeln ab. Bis Polizei, Nationalgarde und was sonst für die Ordnung prügelt, schießt, verhaftet, sie wieder zur Räson bringen. No future. Das ist, was sie verkörpern, das schlechte Beispiel, das, was passiert, wenn eins es nicht schafft. In den letzten Jahren erspart sich die Politik auch schon die früher üblichen Versprechungen, man werde die Leute wieder in die schöne alte Welt von Arbeit und Konsum reintegrieren: Sarkozy hat für die Banlieue den "Kärcher" übrig, Cameron droht: "fightback is under way".

Es ist nicht zu entscheiden, ob uns die Illusionen oder die blanke Desillusionierung mehr dran hindern, uns ein besseres Leben zu machen. Beide stecken fest im Leben, das wir gelernt haben. Doch: So sieht spontane Unruhe aus, wenn eins aufwacht aus dem Alptraum eines Lebens in allgegenwärtiger Konkurrenz miteinander, in der unsere Kooperation nur als ein Teil von jener existiert, im grundsätzlichen Misstrauen gegeneinander und in der Fragilität und Fragwürdigkeit jeder Freundschaft und persönlichen Bindung, in Abhängigkeit von unpersönlichen Strukturen wie Staat, Nation und Recht, Arbeit und Kapital, die allein dem chaotischen Gewusel der Individuen Gestalt und Sicherheit oder wenigstens ein gemeinsames Feindbild geben. Das alles sind doch Dinge, die sich jeden Tag dutzendmal bestätigen und längst das Aussehen von "Natur" erhalten haben.

Es stiftet Angst und Wut, wenn man entdeckt: Dieser "Natur" gemäß zu handeln führt immer weiter in die Bredouille. Und: Wer auch immer ihn verwaltet, ob Diktatoren oder Demokraten, ehrliche Makler oder gerissene Banker und Manager, Linke oder Rechte, der Kapitalismus schleift sie zu und mit, kränkt und tötet täglich Menschenmassen und verwandelt das, wovon wir leben, in großem Stil in Abfall und Gift. Nicht aus bösem Willen oder "menschlichem Versagen", sondern schlicht aus der Logik der Verhältnisse. Das muss erst einmal in einen Kopf hinein. Da wird es Fragen geben, da kann unsereins sich erst nützlich machen.

Das Leben in den überkommenen Strukturen beschädigt Leib und Seele mehr denn je. Das lässt sich nur durch Bruch mit der destruktiven Ordnung heilen. Vom Haarriss bis zum Abbruch. Fähigkeit zu und Lust an Zusammenwirken und Gemeinschaft, Bedürfnis nach Zuneigung und Anerkennung aktiv und passiv - darauf beruht das Menschsein. Ohne dies könnte der Kapitalismus so wenig bestehen wie jede Herrschaft bisher auch, und nur so haben Menschen die schlimmsten Katastrophen überlebt.

Das Schöne in allen Krisen von Herrschaft ist daher: Am Horizont taucht auf: Es geht auch ohne. Freiheit irrlichtert aus den Rissen der Festung. In einer Fundamentalkrise, wie sie sich anbahnt, bebt die Ordnung von Jahrtausenden. Patriarchat, Rassismus und das Kapital. In den Strukturen und vor allem in uns selber. Freilich, alles kann schiefgehen. Aber zugleich wird wieder in Farben vorstellbar: Das bis tief hinein in jeden einzelnen gestaffelte System der Herrschaft samt "thought control" ist überwindlich. Ersetzbar durch Solidarität und Freundschaft. Unsere Wünsche sind nicht albern, unsere Gedanken nicht ohne Grund: Freiheit und Lust sind zu haben. Weitermachen!

Raute

Auslauf

Arbeit?

von Franz Schandl

Es ist schon mühsam. So schreibt uns etwa eine Leserin aus Berlin: "Auch Deinem Satz: 'Arbeit meint schlicht die gegen jeden konkreten Inhalt gleichgültige Verausgabung von Arbeitskraft gegen Geld' widerspreche ich, solange Du vor Arbeit nicht 'Erwerbs'- oder 'Lohn'- setzt. Denn so eindeutig, wie Du den Begriff 'Arbeit' ableitest, ist es eben nicht, zumal in unserer Kultur 'Arbeit' auch sehr positive Konnotationen hat. Jedes konstruktive Tätigsein wird ebenso als Arbeit bezeichnet: Wissensaneignung, wissenschaftliches und künstlerisches Schaffen wird als Arbeit bezeichnet wie Beziehungsgestaltung und Überwindung von Trauererfahrungen, selbst jede Teilnahme an gesellschaftlicher Gestaltung außerhalb staatlicher Institutionen wird als solche empfunden und bezeichnet."

Tja, die positive Konnotation und die Konstruktivität, unsere Kultur und der gesunde Menschenverstand. Diese so empfindsam Bezeichneten, sie sind wahrlich die Geister der Trägheit. Tatsächlich fragt man sich dann manchmal, wozu und wogegen man schreibt. Dass hier diverse Lebensäußerungen mit der Arbeit in Zusammenhang gebracht werden und somit mit ihr verwechselt werden sollen, ist aber zweifellos gesellschaftlicher Konsens. Was so gemütlich als Alltagsweisheit daherkommt, ist hochkonzentrierte Ideologie. Arbeit wird demnach als eine alles übergreifende Kategorie präsentiert, ja schlimmer noch: gefühlt. Wir arbeiten doch? Und wie!

Warum ist selbstverständlich, was nicht einmal verständlich ist? Wahrscheinlich, weil im Normalfall, also in allen alltäglichen Situationen, unser Reflex nicht aus unserem Denken rührt, sondern aus unserem Handeln. Das, was wir tun, erscheint uns als das, was zu tun ist, und das wiederum als das, was zu sein hat, denn sonst würden wir es ja nicht machen. Diese bestechende Logik dreht sich zwar im Kreis, ist reine Tautologie, aber hartnäckig und wirkmächtig allemal. Wir fallen täglich darauf rein. Die Arbeit ist das zentrale Gerücht der Konvention.

Derweil, was uns innerlich ist, lediglich verinnerlicht wird. Schon der junge Marx betonte, "dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung." (Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Leipzig 1974, S. 155.)

Arbeit ist Verlust des Lebens, das sie geradewegs ruiniert. Via Arbeit betreiben wir ein autoaggressives und ein autodestruktives Spiel, in dem wir gefangen und befangen sind. Nur dabei ist die Arbeit eine Selbstverständlichkeit. Der Großteil unserer Existenz erschöpft sich in der Arbeit, bzw. in all den vor- und nachgelagerten Reproduktionstätigkeiten, die in Form und Dimension ebenfalls aus der Arbeit rühren und organisch dieser zugehörig sind. Dieses unentwegte Treiben, das einen nicht auslässt, sondern in Beschlag nimmt, ist überall spürbar: in den Lebensmitteln, in den Behausungen, in den Beziehungen, ja an den Körpern und Geistern, die physisch und psychisch geschunden outburnen.

P.S. Als Gegengift sei nach wie vor das von der krisis herausgegebene "Manifest gegen die Arbeit" ans Herz gelegt.

Raute

AutorInnen

Günther Anders, 1902-1992. Philosoph. In Breslau geboren, emigrierte er 1933 nach Paris, 1936 in die USA, lebte seit 1950 in Wien. Engagierte sich in der internationalen Anti-Atombewegung und gegen den Vietnamkrieg. Zahlreiche philosophische, journalistische und belletristische Publikationen; langjähriger Autor des FORVM.

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen, Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de

Jan-Hendrik Cropp studierte in einigen Ländern. Erlernt gerade den Müßiggang wieder zwischen dem guten Leben, theoretischer Kritik, landwirtschaftlicher Praxis, sozialen Bewegungen und dem Aufbau schenkökonomischer Alltagsprojekte.

Andreas Exner, 1973. Streifzüge-Redakteur. beteiligt.

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Juliane Gross, 1964. Möchte mehr umgraben als nur das eigene Beet. Seit 1987 Beschäftigung mit Marxismus. Lohnarbeit als Software-Entwicklerin in Teilzeit, dadurch viel Freiraum für eigene Projekte. Lebt in einem Wohnprojekt im Münchner Osten.

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat" der Streifzüge.

Emmerich Nyikos, 1958. Studium der Geschichte, lebt als freier Autor in Berlin und Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, 2010.

Erich Ribolits, 1947. Lebt in Wien. Pensionist, weiterhin aktiv als Bildungswissenschafter an der Universität Wien. Jüngst erschienen: Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs, Löcker Verlag, Wien 2011.

Peter Samol, 1963. Studium der Philosophie und der Soziologie in Marburg. Freier Journalist und "hauptberuflicher" Vater eines 5-jährigen Sohnes.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Ricky Trang, Streifzüge-Redakteur.

Norbert Trenkle, 1959. Aufgewachsen in Lateinamerika, lebt in Nürnberg. Durch das Studium der Betriebswirtschaft in die Ökonomiekritik getrieben. Freier Publizist; Redakteur und Autor der Zeitschrift krisis.

Carl Unwert, in prekären Verhältnisse aktiv als Autor radikaler Kapitalismusanalysen. Ratgeber zur Widerständigkeit, insbesondere für seine Kinder. Auf der Suche nach emanzipatorischen Arbeits- und Lebenszusammenhängen.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

Raute

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Quelle:
Streifzüge Nr. 53, Herbst 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2011