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STREIFZÜGE/020: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 47, Dezember 2009


Streifzüge Nummer 47 / Dezember 2009

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Andreas Exner: Neuland statt Krise

Franz Schandl: Raum für die meiste Zeit -

Lose Vermutungen zur alltäglichen Praxis des Wohnens

aramis: ortsansässig?

Peter Pott: Schöner Wohnen - in der Kommune

Roger Behrens: Gentrification und urbane Bewegung

Günter Schneider: Von Mieterrevolten zum freien Markt -
Stadtentwicklung und Mietrecht in Wien. Ein Abriss

Hausprojekt: Umsonstökonomischer Ansatz - Eine Dokumentation

Franz Schandl: Sonderbare Sonderware - Zur Politischen Ökonomie des Wohnens

Birgit v. Criegern: Ausharren im Nirgendwo - Flüchtlinge in Deutschland

Nicoletta Wojtera: Hinterwirklichkeiten - Gedanken zum literarischen (Wohn-)Raum
von Rainer Maria Rilke bis Botho Strauß und David Foster Wallace

Home Stories: Mit Beiträgen von Maria Wölflingseder, Sara Kleyhons, Franz Schandl,
Severin Heilmann und Lorenz Glatz

Lothar Galow-Bergemann: You can't get something for nothing

Erich Ribolits: Bildung hat keinen Wert - Über den Verlust von Bildung,
sobald dieser Wert zugeschrieben wird

Lorenz Glatz: What we do matters - Zu Friederike Habermann:
Der homo oeconomicus und das Andere

Kolumnen
Dead Men Working von Maria Wölflingseder
Immaterial World von Stefan Meretz
Rückkopplungen von Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Julian Bierwirth ( J.B.)
Franz Schandl (F.S.)
Dominika Meindl (D.M.)
Ricky Trang (R.T.)
Pichl Peter (P.P.)

Raute

Einlauf

von Franz Schandl

Wohnen. - Ist das nicht ein fades Thema? Zwar tun wir es die ganze Zeit, doch denken wir darüber ernsthaft nach? Zum Wie? vielleicht, aber zum Was? und zum Warum?, da findet sich wenig. Wohnen scheint also tatsächlich eine "Hinterwirklichkeit" (Kafka) zu sein - zwar von Bedeutung, aber ohne Herausforderung zu besonderer Betrachtung und gesonderter Begrifflichkeit. Spricht das nicht dafür, dass wir unseren unmittelbaren Lebenslagen doch etwas indifferent gegenüber stehen? Ja, die Kritik des Wohnens ist unterentwickelt, zweifellos.

Diese Ausgabe der Streifzüge will nun versuchen, dieser Indifferenz etwas entgegenzusetzen. Natürlich begeben wir uns damit auf ein Feld, das wir bisher fast gar nicht beackert haben. Doch das hat auch seine Reize. So ist es immer wieder notwendig, sich thematisch nicht zu beschränken und auch diverse Alltagsbereiche, die sich einem wahrscheinlich gerade aufgrund ihrer Unmittelbarkeit nicht und nicht aufdrängen, in Theorie und Praxis entsprechend zu berücksichtigen.

Selbstverständlich sind auch diese Streifzüge Streifzüge geworden. Sie können nicht alles abdecken, aber doch versuchen Akzente zu setzen. Manches war geplant, manches hat sich ganz zufällig ergeben. Andererseits gibt es zu wichtigen Fragen keine gesonderten Beiträge, etwa zur Wohnungspolitik oder zur Preisentwicklung am Wohnungsmarkt, zur Obdachlosigkeit oder zu den elendiglichen Wohn- und Lebensbedingungen in vielen Gegenden dieser Erde. Aber da kann ja noch etwas nachgereicht werden.

Wie dem auch sei, wir haben uns wie immer bemüht, eine ansprechende Nummer zu gestalten. In jeder Hinsicht wollen wir uns verbreitern und verbreiten. Punkto Wohnen kann das globale Ziel doch nur und bloß und lediglich darin bestehen, den "Fluch dieser nichtswürdigen Behausungsverhältnisse" (Karl Marx) zu überwinden. Nichts weniger ist zu wollen als das gute Leben für alle.

P.S.: Mit dieser Ausgabe hat Françoise Guiguet unser Layout übernommen. Herzlichen Dank und willkommen!

P.P.S.: Wir freuen uns über jedes Abo, jede Spende, jede Hilfe. Jedes Mal. Danke.

Raute

Neuland statt Krise

von Andreas Exner

Anleger fassen Vertrauen, Unternehmer fassen Mut: Es geht bergauf, so glaubt man. Fad, aber wahr: die Krise bleibt. - Wo bitte geht's hier raus?

"Die deutschen Profianleger fassen Vertrauen in den Wirtschaftsaufschwung", vermeldet die deutsche Ausgabe der Financial Times (FTD, 26.10.). "Deutlich mehr Anleger als zuvor erwarten bis Frühjahr 2010 steigende Aktien - und vor allem fallende Anleihekurse", so heißt es weiter. Grundlage ist eine Umfrage von Feri Eurorating Services und FTD. "Die Serie der positiven Konjunkturnachrichten reißt nicht ab. Deshalb weichen langsam die Zweifel", sagt einer in der FTD-Umfrage. Skeptische Stimmen sind aber nicht verstummt, sagt das Blatt.

In der FTD vom 3.11. (online) dann "Star-Ökonom" Nouriel Roubini: "Die Fed sorgt für eine neue Monsterblase." Auf der lockeren Geldpolitik der Fed baue sich schon der nächste Spekulationscrash auf. Anleger investieren bei Minuszins mit dem schwachen Dollar in äußerst rentable Risikoanlagen. "Eines Tages wird diese Blase platzen und zum größten koordinierten Vermögenskollaps der Geschichte führen", meint Roubini.


Chamäleon

In den Augen der Betrachter wechselt die Wirtschaftskrise seit ihrem vollen Ausbruch 2008 so rasch ihren Charakter wie die Stimmungslage an der Börse. Waren die ersten Reaktionen auf die Turbulenzen auf den US-Häusermärkten in Europa einhellig ungerührt, so entwickelte sich nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers rapide Panik. Auch sonst laufen die Ausschläge von Aktienkursen und veröffentlichter Meinung weitgehend parallel. Nicht zufällig gründet sich die oben zitierte positive Einschätzung der FTD auf der Erwartung, dass die Aktienkurse steigen werden. Ob sich fundamentale wirtschaftliche Daten dagegen verbessert haben, interessiert erst im zweiten Schritt. Hauptsache, die Erwartung stimmt.

Ein Blick auf die Krisendeutungen zeigt allerdings, dass der anfängliche Meinungsmonolith sich fragmentiert. Die Ausdifferenzierung begann, als Konsens wurde, dass die Krise nicht so rasch bereinigt ist. Zwar ist immer noch die Rede von "Konjunkturprogrammen", und die Hoffnung auf den "Konjunkturaufschwung" gehört fast zum guten Ton, so als befände man sich in einem der üblichen Wellentäler kapitalistischer Prosperität. Dennoch hat auch ein Diskurs, der nicht solch einen naiven Optimismus verströmt, inzwischen seinen Platz. So meinen Experten des Centre for Global Energy Studies in London laut Handelsblatt (27.10.): "Der Ölpreis bleibt volatil, denn die wirtschaftlichen Signale sind mit großer Unsicherheit behaftet und können schnell falsch interpretiert werden." Fachleute der japanischen Bank Nomura schätzten die Lage ähnlich ein.


V, U oder W?

Das war die Preisfrage dieses Sommers: V, U oder W. Oder anders gesagt: Glauben Sie an einen raschen, steilen Aufschwung (V), einen langsamen (U) oder schon an den nächsten Einbruch (W)? Ein L, das heißt eine langfristige Stagnation stand nicht zur Auswahl. Vorausgesetzt bleibt, dass der Aufschwung kommt.

Die Hoffnung auf denselben stützt sich freilich auf äußerst dürftige Indizien. Im Grunde gilt die Verlangsamung des Produktionsrückgangs schon als Beleg dafür. Die Stahlbranche registrierte laut FTD (27.8.) prosperierende Signale mit dem Argument, die Nachfrageerholung könne man nicht allein auf die Wiederauffüllung von Lagern zurückführen. Das Ifo-Institut sprach dortselbst bereits von Aufschwung, weil sich das Geschäftsklima im Gewerbe verbesserte. Nur um hinzuzufügen: "Man kann noch nicht davon ausgehen, dass die Aufwärtsbewegung nachhaltig ist" - und zwar aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit.

Wie fadenscheinig momentan der Optimismus ist, zeigen dagegen Meldungen wie die vom Einbruch des Index für das US-Verbrauchervertrauen Ende Oktober (Der Standard , 27.10.): Fast jeder Zweite gab an, es sei derzeit schwierig, einen Job zu bekommen. Das stimmt das Kapital bedenklich, denn zwei Drittel der US-Wirtschaftsleistung entfallen auf Konsumausgaben. Auch andere Indizien deuten auf persistierende Schwierigkeiten. So nimmt derzeit die Kreditvergabe in der Euro-Zone ab, und zwar das erste Mal seit Einführung der Statistik 1992.

Die Staatsschuld kommt, interessant genug, nur am Rande in Betracht. In der genannten FTD-Ausgabe finden sich zwar auch skeptische Einschätzungen, doch als Marginalie. Man zitiert die Befürchtung des US-Ökonomen Nouriel Roubini, dass der "Double Dip" drohe - ein, wie es hieß "vorübergehender Rückfall", sobald die Schubkraft der Konjunkturpakete nachlasse, die Arbeitslosigkeit steige und die Staaten ihre hohen Defizite wieder abbauen müssten. Der Bundeswirtschaftsminister Theodor zu Guttenberg sah im Sommer eine "diffuse konjunkturelle Hügellandschaft" vor sich. Auch Stefan Bierlmeier von der Deutschen Bank ließ Vorsicht walten: "Bislang sei der Anstieg des Ifo-Geschäftsklimas vor allem erwartungsgetrieben, in den realen Daten lasse sich der Aufschwung noch gar nicht ablesen" (FTD, 27.8.).


Schuldig

Die Krise des neoliberalen Wachstumsmodells kam 2008 zum Ausbruch, als Zweifel um sich griffen, ob die ins Extrem akkumulierten Ansprüche des Kapitals auf zukünftigen Mehrwert noch lukriert werden könnten. Die Besitzer von Wertpapieren versuchten, das ihnen auf dem Papier gegebene Reichtumsversprechen als Kontobuchung einzulösen. Nachdem die akkumulierten Ansprüche die tatsächlich verfügbare Mehrwertmasse um ein Vielfaches überstiegen, begann ein allgemeiner Kampf um die Verteilung der Verluste unter den Besitzern von Kapital und Vermögen. Der Zweifel entsprang wie ein Haarriss im US-amerikanischen Immobilienmarkt, als 2007 aufgrund steigender Energiepreise und einer Erhöhung der Zinsen die finanziell am schlechtesten gestellten privaten Schuldner das Handtuch warfen. Deren Kreditschulden hatten die Banken zu einem handelbaren Gut gemacht. Diese Verbriefung der Kredite war die Basis für eine Kette von ebenso ausgedehntem wie undurchsichtigem Handel. So konnte sich der Haarriss auf dem Immobilienmarkt vertiefen und binnen Kurzem bis in die Verästelungen des globalen Bankensystems verzweigen. Nicht nur die US-amerikanische Immobilienblase platzte, auch andernorts, in Spanien, England oder Irland, begannen die Häuserwerte zu fallen. Das Vertrauen der Finanzwelt wurde bis ins Mark erschüttert.

Der Konsum der USA war bis 2007 das Herz der globalen Konjunktur. Aber dieses Herz war schwach, denn es hing am Tropf einer steigenden Verschuldung der privaten Haushalte. Seit die Schuldenpyramide einzubrechen begann, sackte auch das Fundament der weltweiten Nachfrage immer weiter nach unten. Der eine Prozess verstärkte den anderen, was im Ganzen einen Riesenabschwung ergab.

Der Staat sprang frühzeitig als Retter des Systems ein. Anders als in der Zwischenkriegszeit existierten dafür die politischen Instrumente und eine gewisse fachliche Kompetenz. Darüber hinaus gab es zwei gute Gründe für hastige "Rettungsaktionen": Erstens hatten die Interessen der Vermögensbesitzer ja schon der ganzen neoliberalen Periode ihren Stempel aufgedrückt, sodass auch jetzt "Krisenpakete" zur Rettung von Banken und Vermögen Vorrang hatten, auch vor den Interessen der warenproduzierenden Unternehmen. Zweitens macht die seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich gewachsene Macht der Gewerkschaften einen ungebremsten Fall ins Bodenlose, zwangsläufiger Effekt eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, für die politische Elite mehr als riskant.

De facto haben die bisherigen Staatsaktionen die Ansprüche des fiktiven Kapitals zum großen Teil lediglich umverteilt. Nun fungiert der Staat als Sachwalter der Ansprüche auf zukünftigen Mehrwert. Auch wenn diese durch den Fall von Aktienkursen und durch Insolvenzen zum Teil vernichtet worden sind, existiert ein Großteil nach wie vor. Das ist es, was in den enorm gewachsenen Staatsschulden zum Ausdruck kommt. Das fiktive Kapital, das vor Ausbruch der Krise im luftleeren Raum der Börsen flottierte, bekommt nun Zähne, seit der Staatsapparat es unter seine unheilvollen Fittiche nimmt. Anders als ein Kapitalist kann der Staat die Abpressung von Mehrwert nämlich mit dem Backup von Polizei und Militär handfest erzwingen. Er kann große Teile der in seinen Zwinger gesperrten Leute, die mehr oder weniger auf Transferleistungen angewiesen sind, fast auf Nulldiät setzen und eine Intensivierung der Ausbeutung von Arbeitskraft tatkräftig unterstützen.

Das hat er zwar der Tendenz nach auch zuvor getan, allerdings lukrierte er durch die Verschuldungsfähigkeit vieler privater Haushalte, die Autos, Häuser, Studien usf. auf Pump finanzierten, eine Befriedungsrente; und so blieben die Ansprüche auf künftigen Mehrwert, solange sie nur in den Himmel wuchsen, ein im Vergleich noch kleines Übel. Das fiktive Kapital, das sich ganz einfach "reichgerechnet" hat, übte nur indirekt, durch die Shareholder, Druck auf die Profitabilität der Unternehmen und damit auf die Beschäftigten aus. Nun aber ist bare Zahlung, nackte Buchung in Geld erfordert, um die faulen Kredite zu bedienen und die Banken "zu retten". Deshalb muss die Auspressung der Lohnabhängigen eine neue Dimension annehmen.

Das Ausmaß der Schuldenberge ist zumindest zu erahnen, wenn man sie mit der realen Wirtschaftsleistung ins Verhältnis setzt. So betrug laut Information des US-Finanzministeriums (www.tresurydirect.gov) bis 31. August 2009 der Stand der US-Staatsschuld des Bundes und der Bundesstaaten 11,8 Billionen Dollar. Zum Vergleich: Das jährliche Brutto-Inlandsprodukt der USA betrug 2008 ca. 14,3 Billionen Dollar. Laut Internationalem Währungsfonds soll die Staatsschuld der G20 auf Basis "gegenwärtiger Trends" bis 2014 auf 118 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts angewachsen sein (Financial Times, 4.11.). Die EU-Finanzminister schließlich warnen, dass die Staatsschuld der EU bis 2014 rund 100 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts ausmachen und "weiter zunehmen" könnte. Dabei setzen sie allerdings die "langfristigen Wachstumsraten der Zeit vor der Krise", also eine zügige wirtschaftliche Erholung voraus (Financial Times, 9.11.). Wie zu erwarten, mahnen sie "fiskalische Disziplin", das heißt soziales Elend, ein.

In gewissem Sinn ereilt die Massen des globalen Nordens nun die "Strukturanpassung", die seine Eliten in den vergangenen zwei Jahrzehnten dem globalen Süden verordnet hatten. Wie die Staatsapparate der Dritten und der Zweiten Welt ihre Bevölkerungen durch Kürzung von Sozialleistungen, Verschärfung der Arbeitsdisziplin, Privatisierung von Infrastrukturen und von gemeinschaftlichen Gütern unter das Joch der akkumulierten Renditeansprüche der Anleger drückten und damit die Akkumulation des Kapitals per Schuldendienst befeuerten, so wendet sich nun derselbe Mechanismus gegen die Bewohner des globalen Nordens. Die Mechanismen des Kapitals erscheinen hier nur deshalb erst jetzt so ungeheuerlich, wie sie sind, weil diese bis dato nicht in voller Härte zu spüren waren. Wir profitierten alle von dieser internationalen Herrschaftsarchitektur, bis hinunter zur Sozialhilfeempfängerin.


Krisenebenen

Die hiesige Linke thematisiert zwar die absehbaren sozialen Folgen der Überschuldung, schweigt aber zumeist zu ihrer ökonomischen Problematik. Dass die Krise schon jetzt global enorme Opfer kostet, bleibt seltsam blass. Man hofft offenbar auf einen Aufschwung und meint, die Krise wäre vorrangig eine finanzielle Verteilungsfrage. Diese Ansicht kann durchaus damit einhergehen, einen Aufschwung frühestens erst in einigen Jahren für denkbar zu halten, wie etwa bei Joachim Bischoff. Dass der Giftkuchen der Verwertung insgesamt schrumpfen und klein bleiben dürfte, wird von den meisten ausgeblendet.

Für das Kapital als eine objektivierte Beziehungsstruktur gibt es nur eine einzige Form von Krise: wenn sein Profit niedergeht. Maß der Verwertung ist die Profitrate, Ziel kapitalistischer Produktion ist ihre Maximierung, ihr Fall bedeutet Krise. Im Hirn der Kapitalagenten zeigt sich dies als eine Verschlechterung des Klimas für die Investition. Bei rückläufigen Profitraten wird sich der Drang, die Produktion auszuweiten, in Grenzen halten, Investitionsvorhaben werden eher zurückgestellt, man trifft Vorbereitungen für Schlimmeres. Die ökonomische Krise macht sich bemerkbar als wachsender Druck, die Unternehmen zu restrukturieren, die Kosten zu senken, die Ausbeutung der Arbeit zu verschärfen und die Konkurrenzfähigkeit zu verbessern. Sofern solche Gegenmaßnahmen den Fall der Profitrate aufhalten, sie stabilisieren oder gar erhöhen, ist für die Augen des Kapitals von einer ökonomischen Krise nichts zu sehen.

Während die Profitrate den Anreiz zur Investition regelt, bestimmt die Profitmasse, vermittelt über das Bankensystem und seine kreditären Hebeleffekte, den Umfang der möglichen Akkumulation des Kapitals. Sofern ein Fall der Profitrate dazu führt, dass auch die Erweiterung des Kapitalstocks leidet und die Profitrate stärker fällt als die Rate der Akkumulation (Neukapital im Vergleich zum Kapitalstock), so schrumpft die Masse des Profits, sein Gesamtvolumen bezogen auf das gesellschaftliche Gesamtkapital.

Eine Abnahme der Akkumulation freilich bedeutet strikt ökonomisch noch keine Krise. Jene muss, anders als ein Fall der Profitrate, den Akteuren überhaupt nicht als eine Krise ins Bewusstsein treten. Nehmen wir als Beispiel die neoliberale Periode. Ihren ganzen Verlauf über blieb die Akkumulationsrate vergleichsweise gering. Der Freisetzungseffekt der Rationalisierung überstieg den Beschäftigungseffekt der Akkumulation des Kapitals, was zumindest im globalen Norden im Kontext einer Internationalisierung des Kapitals strukturelle Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Und doch geht der Neoliberalismus in die Geschichte der industrialisierten Länder nicht als eine Phase der Krise, sondern einer beängstigenden Stabilität und Kohärenz trotz wachsenden Elends und einer Zuspitzung von sozialen Widersprüchen ein.

Nehmen wir umgekehrt das Beispiel der Krise des Fordismus am Ende der 1960er Jahre. Die Krise seines Akkumulationsregimes und der entsprechenden politischen Vermittlung entsprang keineswegs allein ökonomischen Mechanismen. Nicht nur waren diese durch soziale Faktoren wesentlich mitbedingt, etwa indem Arbeitskämpfe die fordistische Manier von Produktivitätsfortschritt begrenzten und zugleich die Lohnkosten in die Höhe trieben. Vielmehr erodierte überhaupt der gesellschaftliche Konsens darüber, was als gut und erstrebenswert und was als zwangsläufig angesehen wurde. Ab dem Punkt, an dem die für den Fordismus wesentliche Kommandoloyalität aufgesprengt wurde, traten alle Akteure in einen umfassenden Suchprozess ein - auf der einen Seite nach neuen Formen der Prozessierbarkeit von Herrschaft, auf der anderen Seite nach Befreiung davon. Als vorläufiges Resultat etablierte sich aus der Verquickung der rebellischen Motive mit einem vermögenszentrierten Pfad der Akkumulation ein neuer, temporär stabiler Konsens, mit Gewaltmitteln abgestützt, den wir den Neoliberalismus nennen.

Eine Krise, die nicht erfahren wird, ist keine. Zwar kann kein Kapitalist den Fall der Profitrate ignorieren. Ob aber gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, die historisch bestimmten Lebensperspektiven der Menschen und das Gefühl der Zwangsläufigkeit sozialer Entwicklungen sich fortschreiben oder nicht, hängt nicht allein, vielleicht nicht einmal wesentlich von ökonomischen Krisenbedingungen ab, sondern eben von der Vorstellung, der Perspektive und dem Gefühl. Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Krise und dem Krisenbewusstsein der breiten Masse ist vermittelt. Die eine bedingt das andere nicht von Natur aus, ja es kann sich umgekehrt ein Krisenbewusstsein der Masse als Ausdruck des Gefühls der Unhaltbarkeit herrschender Zustände zur Krise des Kapitals auswachsen.


Worauf es ankommt

Ökonomisch sind die Perspektiven des Kapitals gemischt. Wie in jeder Krise werden Kapitalien vernichtet, jene, die übrig bleiben, finden verbesserte Verwertungsbedingungen vor aufgrund der Verbilligung der Kosten für Kapital und Arbeit. Dass sich daraus ein neuer Schub der Akkumulation ergibt, ist damit keinesfalls schon ausgemacht. Ganz im Gegenteil erfordert ein halbwegs stabiles Akkumulationsregime nicht nur ein entsprechend breites Feld rentabler Möglichkeiten der Investition, sondern ebenso ein aufeinander abgestimmtes Netz von Institutionen, Normen und Aushandlungsprozeduren. Nicht zuletzt liegen Investitionsfelder nicht einfach da unter freiem Himmel, sondern müssen politisch erst konstituiert und, wie die Geschichte ebenso zeigt wie die Gegenwart, gegen sozialen Widerstand durchgesetzt werden. Keine ausgemachte Sache also.

Selbst nach einem neuen Aufschwung, der zum Mindesten eine großangelegte Kapitalvernichtung oder langfristige Abschreibung der Verluste auf dem Rücken der Lohnabhängigen zur Voraussetzung hat, wird sich angesichts von Ressourcenverknappungen kein neues Regime der Akkumulation etablieren. Dabei, das ist zu bedenken, lauern gravierende Gefahren im Abbau der Staatsschuld als einem Versuch, die notwendige Kapitalvernichtung irgendwie kontrolliert zu bewerkstelligen. Wird sie auf Kosten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen zu rasch zurückgeschraubt, so trifft sie erst recht das Wachstum; wird sie bis auf Weiteres mit neuen Krediten unterfüttert, so kann dies Zweifel an der Zahlungsfähigkeit und damit Bonität der staatlichen Gläubiger nähren und die Kosten der Kreditaufnahme erhöhen, Inflationstendenzen inklusive.

Der Effekt der jüngsten staatlichen Ausgabenproramme wird nur von kurzer Dauer sein, und die steigende Arbeitslosigkeit und weitere Ausfälle bei Konsumkrediten werden den Abschwung eher verstärken. Der relativ gute Zustand der chinesischen Wirtschaft als neue Hoffnung ist zwar nicht auf Sand, dafür auf einer Vergrößerung des Überhangs an Produktionsmitteln gebaut. Die Investitionsgüterindustrie war in China allerdings schon vor der Krise aufgebläht. China bürgt also ebenso wenig wie die konzertierten "Abwrackprämien" für einen bruchlosen "Aufschwung".

Dass der US-Dollar noch lange Weltgeld bleibt, wie manch einer annimmt, scheint ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Eher stellt sich die Frage, ob eine Flucht aus dem Dollar einsetzt oder ein langsamer Niedergang erfolgt. Mit dem weiteren Abstieg der USA als einer wirtschaftlichen und mittelfristig auch als einer militärischen Macht ist eine grundlegende Verschiebung in den internationalen Beziehungen eingeleitet. Aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit des äußerst fraglichen Neo-Hegemons China und der verfallenden Vorrangstellung der USA ist eine Weitergabe des Feuers der Akkumulation an Südostasien schwer vorstellbar. Das wahrscheinlichste Szenario ist ein Teufelskreis der Instabilität.

Ein für gesellschaftliche Intervention brauchbarer Krisenbegriff darf sich darauf nicht verkürzen. Die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wird nicht allein und unmittelbar vom Rückgang der Akkumulation, der wohl auf absehbare Zeit anhalten und den die Ressourcenverknappung noch verschärfen wird, in Frage gestellt. Die Verschiebung der Beziehungen zwischen kapitalistischer und nicht-kapitalistischen Produktionsweisen könnte Stabilität bei einer adäquaten Mischung aus Zwang und Konsens durchaus auf niedrigerem Lebensstandard der Massen und bei verschärfter Ausbeutung wiederherstellen. Schon bisher war eine "solidarische Ökonomie" nicht nur Moment der kapitalistischen Produktionsweise selbst, sondern mehr noch Teil der Überlebensstrategien der Massen an Armen und Verarmten. Sofern solidarische Produktionsweisen nicht das Herz von Unterdrückung und Exklusion, das in der Verwertung liegt, angreifen und überwinden, bleiben sie ein "Schockabsorber", der die vom Kapitalismus produzierte soziale Unordnung selbstorganisiert verarbeitet und das Gesamtsystem damit stabilisiert. In jedem Fall wird schon auf kurze Sicht das Elend zugenommen haben, selbst wenn sich die Profitraten erholen würden.

Die ökonomistische Krisenanalyse war immer schon verkürzt. Sie konnte dem Aufweis der Limitierung, ja Borniertheit sozialdemokratischer Konzepte dienen und ein besseres Verständnis der Krisenpotenziale ermöglichen. Spätestens jetzt, wo die Krise längst in den Köpfen der Eliten tobt, weil ihr Besitzstand vielfach in Gefahr ist, und die soziale Krise, die sich schon seit rund zwanzig Jahren vertieft, unleugbar ein neues Barbarisierungsniveau erreicht, muss sich der strategische Fokus jedoch verschieben. Es geht unter diesen Bedingungen weniger darum zu zeigen, dass das sozialdemokratische Wirtschaftswunderideal definitiv für den Müll ist, als vielmehr um die Kritik der kollektiven Vorstellungen von "gutem Leben", die sich an Verwertung und Lohnarbeit ketten und damit alles nur noch schlimmer machen. Es geht darum, den Konsens, dass ein Leben ohne Kauf und Verkauf nicht denkbar sei, mit Verweis auf Neuland, das ganz anders und viel schöner zu beziehen ist, zu verlassen. Während viele ihr Heil in der individuellen und nationalen Konkurrenzfähigkeit suchen, muss der Gedanke der Kooperation umfassend Wurzeln schlagen und sich als Struktur des Zusammenlebens realisieren - in einer Solidarischen Ökonomie, die vom "Schockabsorber" zu einer dauerhaften Lebensperspektive wird.

Raute

Raum für die meiste Zeit

Lose Vermutungen zur alltäglichen Praxis des Wohnens

von Franz Schandl

Wenn wir wohnen - was tun wir, was geschieht uns? So ungefähr lauten unsere Ausgangsfragen, von denen aus wir unsere Überlegungen entwickeln möchten.

Wohnen könnte man vorerst einmal umschreiben als das regelmäßige Dasein in einer Behausung, die Realisierung exklusiver Verfügung von Räumlichkeiten. Es geht um ein (in doppeltem Wortsinn) festes Zuhause in einem überschaubaren und abgeschlossenen Bereich. Der Bezug zur Wohnung ist geprägt von einer sich stetig durchsetzenden Hingezogenheit, die mehr als episodischen Charakter hat, sie ist permanenter Natur. Im Wohnen drückt sich aus ein mächtiges Wo, welches das Wohin immer an das Woher verweisen will. Wohnen hat was von Zurückkommen und Zusichkommen.

Tür und Tor sind Scheidepunkte der Welt in ein Innen und ein Außen. Und diese Grenze will jeder und jede wahrgenommen sehen. Durch die Wohnung setze ich anderen eine Schranke, die nicht verletzt werden soll. Eine Wohnung ist so betrachtet der Prototyp des nichtöffentlichen Raumes. Die Möglichkeit des Versperrens, des unbegründeten Abschließens und Abschottens hat gewährleistet zu sein. Das bürgerliche Wohnen baut auf einem sehr strikten Gegensatz von Exklusion und Inklusion. Der Wohnraum selbst ist nach innen weniger porös als der Staat, die Eigner verfügen rigoros, nach außen zu freilich soll jener absolut durchlässig sein. Alle sollen raus dürfen, aber nur wenige rein.


Existenzielle Verortung

Die Zeit, in der wir leben, die ist uns vorgegeben. Der Ort, an dem wir leben, da sind wir relativ autonom. Die Wohnung als Immobilie ist in ihrem empirischen Sosein die Konkretion eines aktuell unversetzbaren Sitzes. Sie verortet die unmittelbare Existenz oder noch genauer: die Koordinaten räumlichen Existierens. So könnte man die Wohnung definieren als physische Behausung mit metaphysischem Gehalt. Nicht nur wir sitzen in der Wohnung, die Wohnung sitzt auch in uns, weil wir ihr Teil geworden sind. Ähnlich der Nahrung und der Kleidung verkörpert die Wohnung wohl die erste Kategorie der Lebensmittel.

Existenzielle Bedürfnisse sind hier zugegen: Schlafen, Essen, Vögeln, Kleiden, Waschen, Pflege, Erziehung oder Spiel, aber auch sehr lästige Pflichten wie Putzen oder Bügeln, Aufräumen oder Verstauen. Die notwendige Ausdifferenzierung der Genannten kann aber bloß angedeutet werden; insbesondere auch das ausufernde Fernsehen oder das Internet-Surfen müssten als Gelegenheiten, die a priori nicht existenziell sind, wohl aber so erscheinen, in die Analyse der Struktur des Wohnens noch einbezogen werden.

Die Wohnung ist ein Ort, der die Regelmäßigkeit des Alltags ordnet, primär den Reproduktionsbereich. Berufsleben und öffentliches Leben finden anderswo statt, wenngleich in den letzten Jahren Ersteres immer mehr in den privaten Raum zurückgedrängt wird, Heimarbeit zusehends obligat werden möchte, um Kosten auszulagern.

In der Wohnung hat alles seinen Platz, was in der Unmittelbarkeit der Reproduktion vonnöten ist: Kochstellen, Ruhestätten, Esstische, Rückzugsorte, Waschgelegenheiten, Aborte, Aufbewahrungsräume. In den bürgerlichen Haushalten sind diese zu erkennen als Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer, WC, Badezimmer, Speisekammer. Alles fein separiert und arbeitsteilig angelegt.

Im Wohnen drücken sich ganz wichtige Aspekte profaner Begehrlichkeiten aus. Die Wohnung garantiert an sich Widersprüchliches: Sie gewährleistet das Vereinzeln ebenso wie das Verrudeln mit bestimmten Leuten. Die Frage, wer da zusammen wohnt, ist eine Frage nach der Typologie der Bewohner. (Vgl. ausführlich Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens, Weinheim und München, 2. Aufl. 2000, S. 322ff.) Wir unterscheiden etwa in Großfamilien, Kleinfamilien (mit und ohne Patchwork), Kernfamilien, Alleinerziehende mit Kind(ern), Wohngemeinschaften, Singlehaushalte, Heime, Klöster, Kinderdörfer, Haftanstalten etc. - Vorherrschend ist wohl immer noch die neuzeitliche Kleinfamilie, das heterosexuelle Paar und seine ein bis zwei Kinder. Anzumerken bleibt aber, dass der allen geläufige Zentralbegriff der Familie erst im 18. Jahrhundert seinen Eingang in die Umgangssprache gefunden hat.


Abgewandter Lebensmittelpunkt

Das Wohnen ist einem nahe, nicht fern. So nahe, dass man sich kaum distanzieren kann. Eben weil Personen und Gegenstände des Alltäglichen in und um die Wohnung anzutreffen sind und dies alles als emotionale Einhegung wahrgenommen wird. Schon das Kind greift mangels Alternative eifrig danach, ohne es auch nur begreifen zu können. Einhegung ist in ihrem ersten Erleben eine unwidersprochene Vorgabe für jeden Menschen.

Die Wohnung bildet einen sinnlichen Lebensmittelpunkt, d.h., sie ist ein Platz, der (von Ausnahmen abgesehen) täglich angesteuert wird, die permanente Anlaufstelle, der Ort des Niederlegens und des Aufstehens. Zentral sind das Private und das Intime, das der übrigen Welt Entzogene. Wohnen erfährt sich als sinnliche Hingabe nach innen, eins will dabei nach außen unsichtbar und unhörbar, unberührbar und unriechbar bleiben. Natürlich ist dieser Abschluss einmal rigider, einmal offener, aber Abschluss bleibt Abschluss. Am allerwichtigsten ist ja auch nicht, dass die Wohnung geschlossen ist, sondern dass sie schließbar ist.

Die häusliche Intimität ist gezeichnet durch das Geborgene wie das Verborgene. Intimität ist drinnen, nicht draußen. Wohnung kann verstanden werden als die der Öffentlichkeit abgewandte Seite. Hier will man seine Eigenheiten entfalten, ohne auf Äußerlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen. Die Wohnung gilt als nichtbeobachtetes Kontinuum, als Ort diverser Geheimnisse des Lebens, als Heimstätte für das vermeintlich Individuelle, wenngleich bei näherer Sichtung dieses so individuell wiederum nicht ist.

Diese Abgeschiedenheit entfaltet eine eigene Ordnung, wo etwa der Rhythmus, die Gerüche oder die Lichtverhältnisse charakteristische Potenzen entfalten. Die darin Lebenden begreifen alles als unmittelbar, weil es für sie das Unmittelbare ist. Aber auch dieses Begreifen ist (gleich dem Kind) ein Betätigen, mehr Können als Kennen, mehr Kennen als Erkennen.

Wohnen ist fixierter Bestandteil des Lebens, ohne dass dieses in jenem aufgeht. Die Wohnung ist der Raum für die meiste Zeit, wenngleich der Großteil dieser Zeit wohl Schlafenszeit ist. Das eigene Bett erscheint so als hohes Gut und ist wohl der privateste Platz menschlicher Wesen. Zweifellos, dort finden wichtige Dinge statt, vor allem was Geborgenheit und Verborgenheit betrifft. Wenn die Wohnung eine Zelle ist, dann ist das Bett der Zellkern. Was aber auch heißt: Der Raum für die meiste Zeit ist nicht der Raum für die meiste Tätigkeit.


Die Tür

Fenster und Tür sind Stellen der Öffnung (aber nicht der Offenheit) wie der Schließung (aber nicht der Geschlossenheit). Ob diese Möglichkeiten realisiert oder sistiert werden, soll ganz den Inhabern überlassen sein. Tür und Fenster sind so fest verankerte, aber bewegliche Teile des unbeweglichen Ganzen. Eine Phänomenologie zentraler Wohnungsbestandteile und deren Entzifferung wäre sicher eine reizvolle Aufgabe. Eminent erscheint insbesondere die Disproportion einiger Objekte, was das Innere und Äußere betrifft. Fenster: etwas, wo es leichter ist, rauszuschauen als reinzuschauen; Tür: etwas, wo es leichter ist, rauszugehen als reinzukommen; Bett: etwas, wo es leichter ist, reinzuhüpfen als aufzustehen. Versuchen wir trotzdem, einige Gedanken anhand der Tür zu präzisieren.

"Die Tür!", schreit Gaston Bachelard, "sie ist ein ganzer Kosmos des Halboffenen..." (Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987, S. 221) Ihre Dialektik besteht tatsächlich darin, dass sie offen nach innen und außen, aber auch geschlossen nach innen und außen sein kann. Von drinnen nach draußen lässt sie einen ins Freie laufen. Von außen nach innen lässt sie uns in die Geborgenheit flüchten. Draußen ist immer, zumindest in letzter Konsequenz, das Unbestimmte, es kann alles Mögliche passieren. Drinnen hingegen soll das Bestimmte sein, wenn es geht, gar das Selbstbestimmte, es hat nichts zu passieren.

Den Gesetzen der formalen Logik folgend haben Innen und Außen hohe Eindeutigkeit. Das Eine kann nicht das Andere sein. Hier macht sich eine antagonistische Differenz geltend, die an Vehemenz nicht zu wünschen übrig lässt. In etwa: Alle, die drinnen sind, dürfen rausgehen, aber nicht alle, die draußen sind, dürfen reingehen, abgesehen davon, dass sie ob des Platzmangels sowieso nicht reingehen dürften. Drinnen und Draußen können nicht einfach umdefiniert werden, vor allem dann nicht, wenn wir Innen als das Umschlossene erkennen und Außen als das Umschließende.

In einem metaphysischen Anfall hat Gerhard Ruiss das in seinen Mani-Matter-Übersetzungen treffend und glänzend besungen:

es is oft a viaeggaz loch in der waund
und in dem loch drinnen aum seitlichn raund
a viaeggaz brettl zum draan darau, dafia
kauns das aufduan und zuaduan; ma nennt des a dia

a dia hod noamal, ob glaa oda groos
a schnoin drau zum druggn und meisdns a schloos
waunst de dia aufmochsd, kaunsd aus und kaunsd ei
waun d dia auwa zua is, daun loss besser sei

es gibt nua zwa oatn: offn und zua
is offn is offn, is zua daun is zua
is offn kaunsd eine und aussa dazua
nua waun zua is is zua und is zua daun is zua

(Gerhard Ruiss/Herbert Prenn/Manni Matter, Gö, Wien 1994)

Der häusliche Kosmos wird komplizierter, je genauer wir ihn anschauen und uns jenseits sinnlicher Gewissheiten postieren. Das Innen ist das Geschlossene, das Außen ist das Offene, das Außen kann verschlossen bleiben, aber nie geschlossen werden. Das Innen kann geöffnet werden, aber nie das Offene sein. Betrachten wir das Wohnen vom Standpunkt des Erlebens, dann gilt: Das Draußen ist weiträumiger - und macht uns deswegen kleiner; das Drinnen ist kleinräumiger, aber macht uns daher größer.


Eigenheim als Eigenheit

Die Wohnung möchte jedenfalls die Eigenheiten der Wohnenden erlauben und fördern. Denken wir bloß an die Möbel, die zentralen Gegenstände der Einrichtung. Gar nicht wenige Eigentümlichkeiten sind allerdings mehr die Folge des schnöden Mammons bzw. umgekehrt die eines eklatanten Geldmangels. Werfen wir einen Blick in unsere Wohnung, wo sich einiges eingerichtet hat, was wir so nicht eingerichtet hätten, etwa die Küche, die mein Großvater im Jahre 1974 meinen Eltern spendierte. Unser Wunsch wäre die nie gewesen, doch die Geldbörse sagte 1996 nur: Nehmt sie, seid froh, dass ihr sie habt. Und so nahmen wir sie, da wir keine neue kaufen konnten, in Kauf. Dieses Relikt aus vergangenen Tagen erfüllt zwar einige Notwendigkeiten, ist aber jenseits praktischer Kompatibilität, von der Ästhetik ganz zu schweigen. Mit unserem Geschmack hat diese Küche absolut nichts zu tun. Diese Einrichtung sagt nichts über unsere Ausrichtung, wohl aber über unsere finanzielle Lage in einer bestimmten Situation.

Geschmack ist natürlich auch keine Geldfrage. Selbst ausfinanzierte Eigenheiten in Eigenheimen stellen sich oft als Multiplikationen der Konvention heraus, an denen nichts Eigenes zu erkennen ist. Man kann, aber muss da gar nicht an IKEA denken. Trotzdem erscheint das Häusliche als das einem unbedingt Zurechenbare. Ein Winkel kann noch so daneben, ein Zimmer noch so verunglückt sein, es sind doch eigene. "Hier bin ich", schreit dann eine Identität, die mehr aus Referenzen denn Reflexionen besteht. Die Angst, nichts Eigenes zu sein, ohne Eigentum zu haben, sitzt tief, und sie ist der bürgerlichen Konstitution, die Freiheit nur über Rechtstitel zulässt, entsprechend.


Demobilisierung und Etappe

Die Wohnung dient als Ruhe- und Fluchtpunkt vor der andauernden Mobilisierung und den Zwängen. Jene will sich behaupten als der abgedichtete Raum gegen die Außenwelt, als Schutz und Aufgehobenheit, als Innenraum des menschlichen Lebens, sowohl verstanden als innerster als auch als innigster. Daheimsein meint Schonzeit, weil sie der unmittelbaren Konkurrenz entzogen ist. Wohnen ist verbunden mit Rasten und Ruhen. Doch dieses Schonen ist nicht Selbstzweck, sondern komplementär zu einer äußeren Zweckentsprechung der Verwertung.

Die Demobilisierung ist der Mobilisierung vor- und nachgeordnet, sie gleicht der Etappe im Krieg. Die Regeneration dient vornehmlich dem Fit-Machen für Job und Schule, Geschäft und Markt. Der von Konkurrenz und Kampf weitgehend geschützte Raum erfüllt also gerade wegen dieser Schonung seinen Zweck für jene. Die Begriffe "Freizeit" und "Erholung" drücken das vorzüglich aus.

Freizeit und Erholung sind wiederum unterbrochen, ja oft dominiert durch unvermeidbare Haushaltstätigkeiten. Das Reaktive als das zu Reaktivierende, die Reproduktion als das zu Reproduzierende beherrschen den Alltag, geben ihm Struktur durch die Notwendigkeit der Verrichtungen. Diese sind nach wie vor geschlechts- und generationsspezifisch strukturiert. Auch Draußen und Drinnen sind männlich und weiblich codiert. Wobei dies heute weniger eine Konsequenz patriarchaler Zuschreibung ist als eine Folge traditioneller Trägheiten. Nach wie vor leisten Frauen den meisten Reproduktionsdienst, Männer noch immer weniger.


Gewohnheit und Gewöhnung

"In seinen Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da", schrieb Gaston Bachelard in seiner "Poetik des Raumes" 1957. (S. 35) "Für solche Untersuchungen sind die Träumereien nützlicher als die Träume." (Ebenda) Zweifellos, da wird auf einen ganz wichtigen Aspekt verwiesen. Unsere Träumereien mögen so gar nicht stimmen, aber sie erscheinen uns stimmig. Sie sind positive Projektionen, d.h. spezifisch angereicherte Partikel des Vergangenen, die nun als geschönte und harmonisierte Sequenzen uns laben. Das, was man haben will, verlegt man in die Vergangenheit und tut so, als ob man es je schon gehabt hätte. Es ist keine aufgespürte Erinnerung, sondern eine gespürte Innerung, die sich als beständige Äußerung gewisser Sentimentalitäten zu erkennen gibt. Diese sind jedoch allzu oft auch das Grab von Praxis und Perspektive, eben weil man sich einer nostalgischen Utopie hingibt.

Die Wohnung jedenfalls ist unser Bewahrungsort, ein Gehäuse, das als entrückter Raum einen bedächtigen Kreislauf ermöglichen soll. Dieser Raum muss nicht immer aufs Neue erkundet werden, wir sind durch Gewohnheit kundig. Gewohnheit hängt ganz eng mit Wohnen zusammen, die Sprache verrät das auch. Wohnung ist das, wo ich schon öfter, ja regelmäßig gewesen bin. Sie ist Anziehungspunkt, der Ort, der mich abseits bestimmter Anlässe stets attrahiert. Das bedeutet aber nicht, dass man dort, wo man einst seinen Sitz hatte, sesshaft bleiben muss. Wohnung ist keineswegs an eine originäre Herkunft geknüpft, sie kann sich von dieser gänzlich entfernen. Auch muss es nicht nur einen Wohnort geben, wenngleich es nicht viele davon geben kann, sondern maximal einige wenige, um überhaupt eine Ansässigkeit und Vertrautheit begründen zu können, die jenseits eines formalen Besitztitels sich geltend machen.

Das Zuhause könnte man mit Marcel Proust wohl beschreiben als "die regelmäßig wiederkehrenden Abweichungen, die innerhalb der bestehenden Einförmigkeit eine zweite Art von Ordnung etablieren". (Marcel Proust, In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil, Frankfurt am Main 1981, S. 148-149) Und an anderer Stelle sagt er: "Ja, die Gewohnheit! Sie ist eine geschickte, wenn auch langsame Umzugskünstlerin, die zunächst einmal unseren Geist wochenlang in einem Provisorium schmachten lässt; aber man ist doch froh über ihr Vorhandensein, denn ohne sie und aus eigener Kraft wäre man außerstande, ein Heim bewohnbar zu machen." (Ebenda, S. 16)

Ohne Gewohnheit wäre es uns unmöglich, sich an das Leben zu gewöhnen. Diese Selbstvergewisserung ist eine der Grundlagen unserer vermeintlichen Sicherheit. Zu untersuchen wäre, was an der Gewohnheit historischen Charakter hat, aber auch, was darüber hinausreicht oder hinausreichen könnte. Gewohnheit sagt aber nicht, dass es immer so gewesen ist, sondern bloß, dass das Durchgesetzte sich Raum und Zeit verschafft hat und nun meint, Gültigkeit als Ewigkeit suggerieren zu können. Durch Tradition und Brauch versucht sich die Gewohnheit als Ontologie zu verfestigen. Die Vergangenheit sagt der Gegenwart, dass sie Zukunft sein will.

Eins ist dieser Wohnraum jedenfalls nicht: der Raum der gesellschaftlichen Transformation. Wohnen hat sogar eine eminent affirmative Seite, man hat sich eingerichtet und man möchte einen Kreislauf aufrechterhalten. Der Identifizierung ist schwer zu entgehen: Wenn ich mich andauernd hineinlege in mein Bett, dann identifiziere ich mich früher oder später damit. Egal, ob es mir passte, hat es mir zu passen, bis es mir passt. Das gilt für die Couch genauso wie für den Schrank, ja für die gesamte Räumlichkeit. Denn in einer gewissen Hinsicht müssen sie mir entsprechen, sonst hätte ich sie nicht, so der Zirkelschluss. Und die Außensicht widerspricht dieser Innensicht gar nicht.

Eine zu große Portion an Häuslichkeit neigt indes zu Biederkeit und Stupidität, sie verwandelt das Heim in eine Konservendose ewig gleichen Geschmacks. Diese Beständigkeit wirkt abgestanden, es riecht muffig. Und doch würden wir die Langeweile, die sich aus den Kontinuitäten des Eigenheims ergibt, durchaus zweischneidig betrachten. Einerseits als Fadesse und Tristesse des Alltags, andererseits aber auch als Voraussetzung, überhaupt Gedanken jenseits der Funktionalität fassen und schöpfen zu können. Selbst das Dämmern ist mitnichten eine bloß zu verachtende Größe. Auch es kennt zwei Richtungen und ist nicht nur Oblomowerei.

Die Gewohnheit ist also weniger eine Folge der Gestaltung als der Gewöhnung. Das hat schon was von einer resignativen Anpassung an die Verhältnisse. Der konkrete Fall oder besser noch: Zufall erscheint als Vorgegebenheit, eben weil jene sich täglich reproduziert und ihre Veränderungen bedächtig, wenn auch inzwischen immer weniger langsam vor sich gehen. Die temporalen Disparitäten betreffend die Gewohnheit wären aber auch schon wieder ein eigenes Thema. Die Gewohnheit, so sehr sie uns als Sicherheit dienlich ist, wird zusehends selbst zu einer antiquierten Größe, wenngleich die Wohnung noch zu den Einheiten größerer Resistenz zu zählen ist als etwa das Auto, der Computer oder gar das Handy. Die Grundtendenz ist wohl diese: Wir können uns an nichts mehr richtig gewöhnen, sind aber gewöhnt, uns an alles zu gewöhnen. Das postmoderne Subjekt ist ein in Raum und Zeit zerrissenes.


Wonne und Behagen

Letztlich möchte die Wohnung gar der Ort des unbedingten Behagens sein, mehr als eine Unterkunft. Wohnen und Wonne haben ja die gleichen etymologischen Wurzeln. Das Verhältnis zur Wohnung ist emotional, nicht pragmatisch. Die Wohnung ist auch ein mentales Gehäuse, eine dritte Haut. Dort, wo Wohnen gelingt, sprechen wir von einer wohltemperierten und harmonischen Fügung der Sinne im Sinne des Behagens oder einfach der Gemütlichkeit. Doch geht das? Ohne Schummeln - um hier ein freundlicheres Wort als das des Verdrängens zu gebrauchen - wohl kaum.

"Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften 4:42) Indes, wir sind nicht jenseits, und so sind der wahre Zug und die richtige Spur nur als Teil des Falschen zu haben. Man sollte jene genießen, ohne sie zu idealisieren. "Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen." (4:43) Geradewegs so.

Raute

ortsansässig?

von aramis

grundsätzlich gehe ich davon aus, dass land niemandem oder allen gehört. die geeignetsten menschen mögen es anvertraut bekommen und das für viele beste daraus machen. in meiner jugend gab es besetzungen von orten, häusern, die von ihren eigentümern nicht genützt, meist als spekulationsobjekte verwendet wurden. ich habe mich, abgesehen von solidaritätsaktionen mit den "landlosen", hauslosen, anders verhalten - suchte nach grundstücken und häusern, die jahrzehntelang verlassen, dem verfall preisgegeben waren und schloss mit den eigentümern verträge in form von naturalpacht: freies wohnen und gestalten für eine gewisse zeit, nach ablauf derer ich grund und häuser in restauriertem zustand zurückgebe. burg linth, schloss lind mit kapelle, wirtschaftsgebäuden, obstgarten, wäldchen, weiden, teich und alten bäumen ist mein viertes projekt dieser art. dass alles unter ensembleschutz des bundesdenkmalamtes steht, kommt mir sehr entgegen, hindert es doch den eigentümer, dieses oder jenes gebäude einfach verschwinden zu lassen. durch diesen zugang wird arbeiten und leben zur einheit. das einfühlen in historische bauten und anlagen zur "bildung": indem ich am bilden bin, bildet sich meine persönlichkeit heraus.

bei den orten meines lebens handelt es sich also immer um "temporäre" heimaten. wer lebt, übe sich bei zeiten im abschiednehmen: der tod ist uns allen gewiss. un-heimlicher aber als abschied und tod ist mir stets ein "totes leben", ein in gewohnheit, wohlstand, abgesichert-sein versandendes existieren erschienen. dem un-heimlichen dieser wohlstandsgesellschaften, von denen diese meine inseln umzingelt sind, deren kultur zersetzendes, fressendes technisches überformen immer größere teile der welt zur ortlosigkeit verdammt, gilt mein kampf: ich verteidige, solange es geht, oasen einer anderen kultur gegen die herrschende zivilisation, deren bewohner immer barbarischer und ferngelenkter werden. zu sehen wie sich dieser totalitäre formierungsprozess von menschen, orten und ganzen landschaften immer schneller bahn bricht, ist das un-heimlichste für mich.

die möglichkeiten historischer "substanz" liegen für mich im er-innern. im gegensatz zu einer bildungsvorstellung, die nur mehr aus-, fort-, weiterbildung kennt und deren durch "lebenslanges lernen" getriebene schüler immer mehr vom kopf und den wuchernden virtuellen anschlusswelten bestimmt werden, betrachte ich die arbeit mit dem ganzen körper als grundvoraussetzung von bildung. das leben und arbeiten in und mit historischen substanzen formt über die jahre persönlichkeiten, die sich gegen die abziehbilder des stets wechselnden zeitgeistes abheben: das ziel, "ein mensch" zu werden, wird so nicht verloren.

musealisierung ist natürlich eine form von aus-dem-verkehr-ziehen. objekte, die in museen gesammelt sind, verlieren ihre politische brisanz. für mich gilt: politik ist nicht die frage, wer zu wählen sei, sondern wie zu leben sei. das "andere heimatmuseum" (des Autors aktuelles Projekt: www.schosslind.at - Anmerkung der Redaktion) nimmt deswegen auch zu gesellschaftlichen vorgängen ausdrücklich stellung. gesellschaftskritische, d.h. die unterscheidungsfähigkeit zwischen guten und schlechten bzw. sinnvollen und unsinnigen veränderungen schulende interventionen mit den mitteln von gegenwartskunst sind politische eingriffe, zwischenrufe, widerstandsformen, halten alternativen in bewusstsein, versuchen "heimat" zu ermöglichen. sind selbst eine art von heimat.

"wohnen, dämmern, lügen", heißt ein band eines zeitgenössischen dichters nicht ohne grund. mein ganzes selbstständiges leben habe ich so etwas wie ein "wohnzimmer" nicht eingerichtet. ich lebe mit meiner familie, den freunden und gästen in gehäusen, die in zimmer, säle, kabinette, galerien gegliedert sind und wo dies und jenes möglich ist und geschieht. die weihnachtsbäume wandern durchs haus und versammeln um sich die feiernden in verschiedenster umgebung. im sommer wohnt unsereins so viel als möglich draußen. da ist alles weit. im winter zieht man sich auf wenige räume zurück. lebt um die kachelöfen und herde herum. aber immer "wohnt" man arbeitend am land: ob heu machend oder den schafen zutragend. ob holz schneidend und hackend oder im garten pflanzend, jätend, laub rechend. ob am gemäuer restaurierend, am hölzernen bundwerk, an den dächern: immer ist es ein leben auf der bau-stelle. immer ist für "gymnastik" gesorgt, für ein "sportliches" leben. bis der tod uns das werkzeug aus der hand windet und alles erneut zur disposition stellt.

Raute

Schöner Wohnen - in der Kommune

von Peter Pott

Wer seine Individualität mit der eines anderen Individuums belastet, schränkt die eigene nicht ein. Er schränkt sie ein, wenn er sie als Arbeitskraft verkauft, mit der Institution der Ehe belastet, sie in ein Eigenheim zwängt. Ohne Einschränkung assoziiert sich die individuelle Lebensäußerung des einen - ein unwiederholbares Lächeln, ein unwiederholbarer Tanzschritt, eine einmalige Wortwahl z.B. - den Lebensäußerungen des anderen Individuums und erweitert und bestärkt dessen Ausdrucksvermögen. An die Stelle herrischer Abmachungen, die die individuellen Lebensäußerungen als abgemacht ausmachen, den tastenden Tanzschritt als Bemühen, den Standardtanz zu tanzen, den Singsang der Sprache als Zuspruch zum Abgesprochenen, das sinnende Lächeln als Zustimmung zum Vorbestimmten tritt eine Assoziation von Individuen, die einander zugetan sind und den Staat und seinen Befehl zur Treue überflüssig macht, doch nicht die Sache, die sie vereint, ein Haus z.B., das ihnen auch Unterkunft bietet - und nicht nur Unterschlupf: ein Haus, das schwer enttäuscht wäre, wenn seine Bewohner sich weigerten, ihr miteinander belastetes Leben auf es zu übertragen und Kräfte in ihm anzusprechen, die seinen "beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus treiben zu einem menschenwürdigen hin" (Adorno: Noten).


Haus und Zuhause

Es gehört zu "meinem Glück", bekennt Nietzsche, "kein Hausbesitzer zu sein". Man muss heute hinzufügen, meint Adorno: "Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein" (Adorno: Minima, S. 41). Vorausgesetzt: "Das Haus ist vergangen" (ebd.) - und lässt sich nicht wieder beleben. Adorno sieht da keine Chance. "Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet von der der sozialistischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen zum schleichenden Unheil gerät. Kein Einzelner vermag etwas dagegen" (ebd.). Natürlich nicht. Zwei, drei, vier Menschen, die im Gespräch, im Tanz oder weiß wo sich als "Fahrzeug" zu "schöner bewegtem Sein" erfahren haben und für dieses "Fahrzeug" eine Bleibe suchen, vermögen durchaus etwas dagegen. Sie können, was ein Einzelner nicht kann. Sie können ein Haus besetzen, in dem man auch wohnen kann. Sie müssen es, wenn ihr "Fahrzeug", das sie sind, Bestand haben soll - und nicht in seine Einzelteile zerfallen, die dann nur irgendwo Unterschlupf finden können.

Die Frage der Unterkunft kann nicht nur die Frage sein, wie ihr mit Sachverstand beizukommen ist. Die Frage muss immer auch sein, was zu tun und zu lassen ist, damit sie sich als menschenwürdig erweist. "Bei allen Gedanken muss man also die Menschen suchen, zu denen hin und von denen her sie gehen, dann erst versteht man ihre Wirksamkeit", so Bertolt Brecht (Me-ti, S. 18). Bei Marx heißt das: "Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den andren und des andren für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit, erst hier ist sie da als Grundlage seines eignen menschlichen Daseins. Erst hier ist sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur" (Ernst Bloch, S. 537f.).

"Also die Gesellschaft" - die Bewohner des Hauses, und zwar alle, Männer, Frauen, Kinder, gleichgültig, über welchen Sachverstand sie verfügen - ist die Grundlage des menschlichen Daseins des Hauses, das auf dieser Grundlage nicht als Wertobjekt da ist, sondern als gegenständliches Band, das den einen mit dem anderen "in seinem individuellsten Dasein" (ebd. S. 535) verbindet und das "Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit" ist. Dazu müssen sie das Haus allerdings auch haben, wie sie auch andere Dinge haben müssen, die, wie die Dinge liegen, nur als Wertobjekte zu haben sind. Geld macht es möglich.

Geld macht das Unmögliche möglich. Es "zwingt das sich Widersprechende zum Kuss", verwandelt "den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn" (ebd.). Es kann Misstrauen mit Vertrauen, Treue mit Untreue, Hass mit Liebe verwechseln. Es kann niemand ermächtigen, sich mit einer "Lebensäußrung als liebender Mensch ... zum geliebten Menschen" zu machen (MEW EB, S. 566f.). Geld macht nicht glücklich! Doch wo es regiert, ist ohne Geld nichts zu machen. Man muss es haben.


Eigentum haben

Man muss "Eigentum haben", wie Adorno schreibt, "wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt" (Adorno: Minima, S. 42). Und dafür muss man in der Regel zur Arbeit gehen - und mit seinen "Humanressourcen" einen Produktionsapparat beliefern, der einem nicht gehört. Was man nicht muss? Man muss sein privat erworbenes Eigentum nicht unbedingt privat verzehren. Man kann es auch kommunistisch genießen. Um aber nicht da zu enden, wohin die Reise im Zuge des kapitalistisch bestimmten technischen Fortschritts ohnehin führt -, nicht in jener Nacht, in der alle Katzen grau sind, jedes menschliche Individuum als "Humankapital" erscheint, das völlig uneigensinnig jede seiner Aktivitäten auf die Dynamik des kapitalistischen Verwertungsprozesses ausrichtet -, ist mit dem negativen auch "das positive Wesen des Privateigentums" zu erfassen - und eine Kommune zu bilden, die die in der Konkurrenz dumm und einseitig verteidigte und im Arbeitsprozess zerriebene bürgerliche Bildung vielseitig und produktiv nutzt.

Wenn Weib und Kind und natürlich auch der Mann innerhalb der Kommune aus dem "Verhältnis der exklusiven Ehe mit dem Privateigentümer" heraustreten, so verabschieden sie sich doch nicht von ihren individuellen Differenzen - und damit auch nicht von deren gesellschaftlicher Natur, der ein differenziertes gesellschaftliches Verhältnis nur lieb und teuer ist. Statt sich den Spielraum zu einer individuellen und somit gesellschaftlichen Bestimmung ihres Lebens und Daseins weiter einengen zu lassen, ist der Ausbau des Spielraums ihr ausdrückliches - nein: nicht ihr Programm, nicht "ein Zustand, der hergestellt werden soll". Es geht nicht um den Ausbau einer Räumlichkeit, der Subjekte voraussetzt, die den ausgebauten Raum schon in ihrem "Kopf gebaut" haben, bevor sie ihn materialisieren. Der Ausbau oder besser gesagt: die Ausweitung des gesellschaftlichen Spielraums der Individuen, die die positive Aufhebung des Privateigentums beinhaltet, beinhaltet logischerweise auch die positive Aufhebung der Privatperson: die bewusste und willentliche Rückkehr des bürgerlichen Subjekts "in sein menschliches, d.h. gesellschaftliches Dasein", in dem die Individuen ohne Angst verschieden sein können, ihre furchtlos geäußerten Einfälle sich zu einer Vorstellung von der Wirklichkeit vermitteln, die die alte aufhebt. Und das nicht nur im Spiel, sondern mit der Kraft, die Fakten schafft - und Arbeit heißt, mit der die Gemeinschaft sich als Produktionsapparat setzt, mit dem sie sowohl ihr sachliches wie auch ihr lebendiges Vermögen, die Qualität und Quantität der ihr zur Verfügung stehenden Produkte und ebenso ihre Produktivkraft vermehrt. Fragt sich allerdings, ob das eine möglich ist, wenn das andere nötig ist: ob "das wirkliche Leben, das den jetzigen Zustand aufhebt" (Marx), sich so zu organisieren vermag, dass es den herrschenden Zuständen auch tatsächlich trotzen kann, wenn doch die Trotzigen nicht umhinkönnen, sich den Anmaßungen der herrschenden Klasse zu beugen.


Richtiges Leben

Adornos Feststellung, dass es "kein richtiges Leben im falschen" gibt, ist wenig ermutigend. Sie trifft nur bedingt zu. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Leben nie das richtige ist, es das richtige immer noch vor sich hat - und dieses Vorhaben im falschen Leben auch lebt. Es gibt im falschen Leben ein richtiges, das das falsche aufhebt: "die wirkliche Bewegung", die Marx und Engels kommunistisch nennen, "welche den jetzigen Zustand aufhebt" (MEW 3, S. 35). Diese Bewegung gibt es unter jeder Bedingung. Es gibt nicht immer und überall, gibt nirgends, gab nie Bedingungen, unter denen das richtige Leben sich ohne Einschränkung auch zu realisieren vermochte. Stets unterlag es staatlichen Beschränkungen, wenn auch lange nicht in der umfassenden Weise des modernen bürgerlich-kapitalistischen Staates. Es gibt auch in diesem falschen Leben ein richtiges, das dem falschen trotzt - und bei allem Trotz sich beugt. So tief inzwischen, dass Zweifel erlaubt sind, ob es je wieder aus seinem Tiefsinn auftaucht, um über den oberflächlichen Erfahrungsaustausch menschlicher Individuen wieder richtig in Form zu kommen, die abgetauchte wirkliche Bewegung sich auf eine Gesellschaft zubewegt, die vermeidet, "die Gesellschaft ... als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren" (MEW EB, S. 539). Der Zweifel bleibt, auch wenn nicht zu zweifeln ist, dass genügend Spielraum ist, sich der routinierten Verbeugung vor der Herrschaft des Interesses zu entziehen - und sich auf eine liebenswürdigere Lebens- und Arbeitsweise zu besinnen als die, der die Individuen notgedrungen nachgehen müssen. Dass die Masse diesen Spielraum dann doch nicht nur verspielt, beweist schon die Masse "Schwarzarbeit", in der mit mehr Liebe als sonst und guten Bekannten ein Haus gebaut oder sonst eine Arbeit gemeistert wird, die dem offiziellen Arbeitsmarkt im wahrsten Sinne des Wortes abhanden kommt. Sie beweist allerdings auch, dass Individuen, die sich zusammentun und mit schwarzer Arbeit der weißen trotzen und weitergehen als die Polizei erlaubt, doch in der Regel nicht weit genug gehen, um dem richtigen Leben im falschen eine wirkliche Chance zu geben, die verlangt, dass die schwarz miteinander verbundenen Produzenten ihr Produkt nicht auf den Markt tragen, sondern es auch gemeinsam genießen, das miteinander gebaute Haus auch miteinander bewohnen und so gewohnheitsmäßig mit mehr Liebe zur Sache kommen, mehr Leben im Haus sich abspielt. Es läge nahe.

"Der Kommunismus ist wirklich die geringste Forderung, / Das Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige", heißt es in dem Anfang der 1930er Jahre geschriebenen Gedicht "Der Kommunismus ist das Mittlere" von Bertolt Brecht. Er bietet "die praktikablen Erkenntnisse", so erläutert Walter Benjamin brieflich Brechts Gedicht Werner Kraft, "die unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspektive auf totale Systeme aufzugeben, und den Versuch zumindest zu unternehmen, den Lebenstag der Menschheit ebenso locker aufzubauen, wie ein gutausgeschlafener, vernünftiger Mensch seinen Tag antritt" (zitiert nach Erdmut Wizisla, S. 272).

Schwarzarbeit, die so weit nicht geht, dass die in ihr unvermeidlichen menschlichen Begegnungen sich auch als "das energische Prinzip der nächsten Zukunft" (Marx) organisieren, hat kaum eine Chance, "die unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen abzustellen". Die Produzenten bleiben dem Tiefsinn verhaftet, der sie an "die unbescheidene Perspektive auf totale Systeme" kettet. Von der Erfahrung ihrer produktiven Energie berauscht und praktisch mit Auge und Ohr, mit allen fünf Sinnen darauf eingestellt, mehr mit- und füreinander zu tun, erleben sie mit dem Rückzug ins "Privatleben" die kollektive Erfahrung des Rausches als private Potenz, mit der sie die gesellschaftliche Macht, die ihnen noch zu eigen ist, als belanglos abtun und lieber ihr Leben lassen, als das "Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige" zu tun.

Welche Macht sie noch haben? Sie haben ein mehr oder weniger ausgekochtes Leben, das trotz eindringlicher Verformungen die "revolutionäre Energie" besitzt, die versteinerten Verhältnisse immer wieder zum Tanzen zu zwingen, um in dem "Ausnahmezustand, in dem wir leben", die individuelle Energie als gesellschaftliche Macht zu erleben, mit der sich auch "schwarz" arbeiten lässt. Wenn sie die Chance nicht nutzen bzw. sie nicht weitgehend genug nutzen, zwar mit mehr Liebe als sonst und guten Bekannten ein Haus sich bauen, doch dieses Haus nicht nutzen, um es mit den ihm "schwarz" verbundenen Produzenten auch zu bewohnen und mit ihnen gewohnheitsmäßig mit Liebe zur Sache zu kommen, dann ... Dann sollten sie nicht nur die Herrschenden anklagen und darüber klagen, dass "die Möglichkeit des Wohnens ... von der der sozialistischen Gesellschaft" vernichtet wird, "die, als versäumte, der bürgerlichen zum schleichenden Unheil gerät". Wie Adorno klagt (Minima, S. 41). Sie sollten stattdessen das Versäumte nach Maßgabe des Möglichen unversäumt nachholen.


JedeR Einzelne

"Kein Einzelner vermag etwas dagegen." Wendet Adorno ein. Kein Einzelner aber ist so vereinzelt und bar aller Mittel, um sich und seine Mittel nicht einem Verein von "Bekannten, Erreichbaren, viele Kennenlernenden und Erreichenden in der Masse der Unbekannten" anvertrauen zu können (Brecht) und damit eine Wohnung zu beziehen, in der anders als in den "traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind", nicht "jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie" zu bezahlen ist (Adorno: Minima, S. 40), sondern mehrere Familien eine Wohngemeinschaft bilden, die ihr vereintes Privatvermögen nicht nur vereint verzehren, sondern auch als Mittel zu ihrer Produktion nutzen. Aber wer will das schon? Adorno nicht. Er ist überzeugt: "Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so zu belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. ... Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, dass das Privateigentum einem nicht mehr gehört...; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortschritt des Besitzverhältnisses zugute kommt. Aber...", so muss Adorno eingestehen: Die Verteidigung des Privateigentums ist "schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen" (S. 41f.).

Adorno entschuldigt sich: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" (ebd.). Stimmt. Es gibt in den herrschenden Verhältnissen für das menschliche Miteinander keine richtige, keine glückliche Lösung. Es gibt aber eine bessere als die, die Adorno vorschlägt. Deren Kunst bestünde darin, mit dem privaten Eigentum, das man haben muss, "wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortschritt des Besitzverhältnisses zugute kommt", ein Privatleben zu führen, das sich nicht nur moralisch für unangemessen hält und nur theoretisch für ein anderes Leben spricht. Es bleibt dabei: Nicht genug, dass man "die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern" (MEW 3, S. 7), wenn nicht im Ganzen, dann doch im Kleinen.

Auch wenn die Gesellschaftsordnung nur ein privat geführtes Leben duldet, so muss man doch keineswegs so geduldig wie Adorno auch die aufs Privatleben eingeschworenen Bedürfnisse dulden - und Verhältnisse ertragen, die unerträglich sind. Zumal die eigenen Bedürfnisse gar nicht so geduldig sind - und ungeduldig darauf bestehen, dass mehr Leben ins Haus kommt, als die bürgerliche Hausordnung vorsieht: die Aufregung, die von draußen kommt, die schon mit der Geburt eines und aufregender noch mit der mehrerer Kinder ins Haus kommt, und die dann auch noch zahllose fremde Kinder mitbringen.


Frischer Wind

Der frische Wind, der mit Kindern ins Haus kommt und seine Behaglichkeit tilgt, wird freilich nur bleiben und den Muff vertreiben, wenn der Hausherr seine Beherrschung verliert - und ihm die fremden Kinder so lieb sind wie die eigenen und diese ihm durch ihre Zuneigung zu den fremden noch lieber werden. Womit er auch das Verhältnis zu seiner Frau aufs Spiel setzt, die als Mutter ihren Mutterstolz hat, der sie zwingt, sich unsterblich in das Leben zu verlieben, das sie ohne viel Bedenken zur Welt gebracht hat. Nicht auszuschließen, dass der Mutter Bedenken kommen, das eigene Leben in dem ihrer Kinder zu suchen, statt mit einem eigenen in das der Kinder zu treten. Denkbar, dass die Gattin die Unbeherrschtheit des Gatten, die ihm die Vater- und ihr die Mutterrolle verleidet, nicht länger entsetzt - und sie ermuntert, für das sich auflösende und mit fremden Lebensweisen sympathisierende Familienleben ein Unterkommen zu suchen, in dem es mit anderen Familien unterkommt, die es satt haben, "mit schlechtem Gewissen das Ihre zu behalten".

Dass man "Eigentum haben muss, wenn man nicht ... in Abhängigkeit und Not geraten will", ist keine Frage. Die Frage ist, ob man es für sich allein haben muss. Man muss es nicht! Wenn man das Privateigentum auch nicht allgemein aufheben kann, so kann man doch sein Eigentum, ohne in Not und Abhängigkeit zu geraten, mit dem Eigentum anderer zusammentun - und zugeben, dass das zusammengetane Eigentum nicht nur nicht "einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge" Vorschub leistet, "die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt", wie Adorno befürchtet (ebd.), sondern eher einer liebevolleren Beachtung der Dinge und notwendigerweise auch der Menschen dient.

Statt die Dinge, die man geerbt, durch Arbeit oder sonst eine Beschäftigung in seinen privaten Besitz gebracht hat, im Privatbesitz zu belassen, sie nur als Mittel zur Sicherung und Erweiterung der privaten Existenz wertzuschätzen, lassen sie sich bei gutem Willen auch als gesellschaftlich produziertes und so zu produzierendes Eigentum genießen - und das nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Das "ist wirklich die geringste Forderung". Sie fordert nicht, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun - und mit der wertlosen schwarzen Arbeit keiner wertvollen Lohnarbeit mehr nachzugehen. Das kann sich kein Arbeiter leisten. Er bleibt, so reichhaltig auch die Eigenproduktion ist, auf die Mittel angewiesen, die das Kapital der Kapitalisten bilden, so dass er notgedrungen aus dem Haus heraus und zur Arbeit gehen bzw. surfen muss, um das "Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte" (MEW 23, S. 193) in einer Anordnung zu genießen, mit der nicht zu spielen ist. Anders als dort, wo er mit "Bekannten, Erreichbaren" zu Hause ist. Da kann der Arbeiter das Spiel seiner körperlichen und geistigen Kräfte auch in eigener Anordnung genießen - und das durchaus auch zu produktiven Zwecken: in der Erzeugung von Lebensmitteln, die ihn nicht von der Lohnarbeit befreit, aber eine Menge davon erspart, die um so größer ist, desto größer die Zahl der "Bekannten, Erreichbaren" ist, die ihr privates Hab und Gut zusammentun, ohne es lediglich verzehren zu wollen.


Literatur

Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt/M. 1984.
Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1989.
Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung I-III, Frankfurt/M. 1968.
Bertolt Brecht: Me-ti, Buch der Wendungen, Frankfurt/M. 1971.
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW), Berlin 1981.
Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht, Frankfurt/M. 2004.

Raute

Gentrification und urbane Bewegung

von Roger Behrens

"My lifestyle my deathstyle."
Metallica, "Frantic"

Die einstige Hoffnung der funktionalistischen Planung, die moderne Stadt sei in ihrer Raumgestalt fertig, und hätte zumindest soviel Dauer und Bestand, dass in ihr die Menschen noch im neuen Jahrtausend leben könnten, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Seit den achtziger Jahren zeichnet sich immer deutlicher ein Prozess der massiven Umgestaltung der Metropolen und ihrer Grundstruktur ab, in dem sich die allgemeinen gesellschaftlichen Tendenzen der politischen Ökonomie manifestieren: Die fordistische Stadt (eine Stadt der Inklusion) wird von der postfordistischen Stadt (eine Stadt der Exklusion) abgelöst. Welche Veränderungen das sozial und architektonisch nach sich zieht, zeigt sich an den paradox scheinenden Diagnosen der 'Endless Cities' einerseits, der 'Shrinking Cities' andererseits. Tatsächlich sind die bis in die siebziger Jahre hinein in Beton gegossenen Riesenstädte keineswegs statisch, stabil, "steinern"; vielmehr sind sie höchst veränderbar, dynamisch, von Krisen und Katastrophen gekennzeichnet, die sich im Einsturz, Abbruch, Leerstand, Zerfall und Verwüstung äußern.

Mitten in den Metropolen Shanghai, Dubai oder Berlin gibt es Brachen, Neuland als Baufläche, auf der ganze urbane Zonen neu entstehen. In Hamburg wird im Zentrum mit der "Hafen City" ein neuer Stadtteil gebaut - ein in diesem Ausmaß und dieser Lage weltweit einzigartiges Bauvorhaben. Das hat Auswirkungen auf die umliegenden Stadtteile: vor allem das Schanzenviertel, St. Pauli und, im Zuge des Hafen City-Projekts, Wilhelmsburg.

In diesen Vierteln gibt es ohnehin Wandlungsprozesse, die zunächst auf der Erscheinungsebene auffällig geworden sind: Andere Leute, andere Läden etc. Es manifestieren sich Veränderungen, die nur zu offensichtlich scheinen. "Gegner" dieser Prozesse - Stadtteilaktivisten, Hausbesetzer und Wohnprojektler, Autonome und sonstige Engagierte sprechen von Gentrifizierung. Mittlerweile ist dieser der kritischen Stadtsoziologie entnommene Begriff kaum mehr als ein Schlagwort, mit dem in seiner allgemeinsten Definition beklagt wird, dass vorgeblich alteingesessene, "ursprüngliche" Bewohner durch steigende Mieten von beruflich und finanziell gut situierten "Reichen" verdrängt werden. Damit einher geht eine Verwandlung des gewohnten und liebgewonnenen Straßenbildes und damit ein Verschwinden des das jeweilige Viertel - angeblich - bestimmenden Lebensgefühls: die eine "Viertelkultur", bei der suggeriert wird, dass sie "authentisch" sei, werde zerstört und ersetzt durch eine neue "Kommerzkultur", die "hier" gar nicht hingehöre: Modeläden, Bars, Restaurants der Neuen Küche (Fingerfood etc.) und ein damit identifiziertes Publikum prägen fortan die Szenerien.

Die in der Regel nur durch vage Informationen bestätigte Meinung, dass sich die meisten der bisherigen Bewohner diesen Kommerz beziehungsweise die Verteuerungen nicht mehr leisten können, ist nur ein Aspekt der gentrifizierungskritischen "Bewegungen". Tatsächlich konzentriert sich darauf gar nicht die Hauptkritik der Gentrifzierungsgegner; gerade die bei diesen beliebte Parole "Reclaim the Streets" zeigt an, dass es primär um das Leben auf der Straße geht, um den dort präsenten und repräsentierten Lifestyle. Es geht nicht um Haushalts- und Wohnformen, radikale Kritik an Immobilieneigentum; weder um sozialreformerische Forderungen nach infrastrukturellen Verbesserung der Versorgung, noch um stadtkritische Utopien. Verteidigt werden die eigene Position innerhalb des "öffentlichen Raums", und damit das postmoderne Derivat der "Privatsphäre", die längst in diese "Öffentlichkeit" aufgelöst wurde.

Diese Verschiebung des "Privaten" ins "Öffentliche" kündigte sich ebenfalls in den achtziger Jahren an, allgemein durch den Neokonservatismus der Ära Reagan-Thatcher-Kohl, in der Linken in Bezug auf das Stadtleben durch das Ende der Hausbesetzerbewegung und die Konzentration auf kulturelle Freiräume (in Hamburg zum Beispiel: Kemal-Altun-Platz, Rote Flora, Park Fiction). Mit der Abspaltung des "Politischen" durch die Etablierung einer Poplinken und eines vermeintlich hedonistischen Lebensstils wurde diese Verschiebung schließlich besiegelt: in der urbanen Selbststilisierung durch Mode, adaptierte Rollen und Stereotypen und andere Formierungen eines repräsentativen Geschmacks.

Eine Kritik des Kapitals, das seit der Neuzeit in Produktions- wie Reproduktionsverhältnissen in den Städten seinen vielfältigen Ausdruck gefunden hat, kommt in den Auseinandersetzungen um die Gentrifizierung zumeist nur als abstrakte quantitative Größe vor: "Alles wird teurer", das Leben wird kommerzialisiert beziehungsweise die Stadt wird ökonomisiert. Diese Kritik bleibt insofern abstrakt und bloß quantitativ, weil sie eine viertelspezifische - also scheinbar nur hier wirkende - Erhöhung der Lebenshaltungskosten unterstellt, die an steigenden Mietpreisen und einem mit "Luxus" assoziierten Konsumangebot (etwa Boutiquen, Cafés mit extravaganten Sortimenten) festgemacht wird; dadurch, so die These, werden die bisher ansässigen Bewohner "verdrängt", das heißt gezwungen wegzuziehen. Faktisch zielt diese Kritik nicht auf das Kapital, sondern auf ein bestimmtes Publikum, das mit der Kommerzialisierung identifiziert wird.


Fassadenkritik

Es ist dies zudem ein Publikum, das in seiner Haltung und Mode vom eigenen kulturlinken pseudohedonistischen Lebensstil gar nicht so weit entfernt scheint, gleichzeitig aber diesen Lebensstil (waren)ästhetisch überformt und damit "verrät". Eine weitere Teilnahme an diesem Lifestyle ist - wie es die Poplinke bereits vorlebte - einem permanenten Legitimationszwang unterworfen, der jetzt aber nicht mehr an als "politisch" verstandene kulturelle Einverständnisse gebunden ist, sondern an spektakuläre Inszenierungen der Simulation eines gelungenen, (ökonomisch) erfolgreichen und somit auch kulturell wertvollen Lebens, das man führt oder vielmehr führen möchte.

Diese Kritik oberflächlich und buchstäblich an den Fassaden hängen: Gentrifizierung als soziales Verhältnis wird weder in der ökonomischen noch demografischen Struktur der Stadt analysiert; eine gesellschaftskritische Klassenanalyse fehlt ebenso wie eine Kritik der politischen Ökonomie der Stadt. Stattdessen konzentriert sich die gegenwärtige Gentrifizierungskritik auf die Verteidigung eines linkskulturellen, alternativen Status Quo, das heißt auf die Verteidigung vermeintlicher urbaner Freiräume. Sie sind Gegenstand der Auseinandersetzungen, weil man in ihnen selber wohnt oder einen repräsentativen Teil der Lebenszeit verbringt; es sind mithin genau deshalb Freiräume, weil man hier präsent ist und einen bestimmten "alternativen" Lifestyle etabliert hat. Kraft der Illusion, dass man sich mit seinem eigenen Lebensstil stets außerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik glaubte, ergo dass das durch den eigenen Lebensstil definierte Viertel von einer nicht aggressiv-kapitalistischen Ökonomie gekennzeichnet sei (sondern durch fairen Tausch, Plattenläden mit den Soundtracks der Freiräume, günstige Second Hand-Läden, gemütliche Flohmärkte etc.), hat sich die paradoxe Ideologie verdichtet, dass einerseits die Gentrifizierung nur das eigene Viertel betrifft und nachgerade als persönlicher Angriff auf die "eigenen Freiräume" deklariert wird, dass andererseits sich erst mit der Gentrifizierung eine Ökonomisierung des Stadtteils vollzieht, die in anderen, nicht von der Gentrifizierung betroffenen Stadtteilen schon längst abgeschlossen scheint.


Aufwertung

"Mit Gentrification wird die bauliche Aufwertung eines Quartiers mit nachfolgenden sozialen Veränderungen bezeichnet, die in der Verdrängung einer statusniedrigen sozialen Schicht durch eine höhere resultieren. Zu beobachten waren solche Prozesse in Deutschland zum ersten Mal in den späten siebziger Jahren, als Studenten und Künstler ('Pioniere') sich in leerstehenden Wohnungen und Gewerbegebäuden in Quartieren aus der Zeit der Industrialisierung einrichteten, durch ihre baulichen, kulturellen und ökonomischen Aktivitäten das Milieu und das Image der verfallenden Nachbarschaft veränderten und so einen neuen Investitionszyklus auslösten, an dessen Ende dann das Quartier überwiegend in den Händen von überdurchschnittlich gut verdienenden, jungen Haushalten lag - überwiegend Haushalte von Alleinstehenden, in hochwertigen Dienstleistungstätigkeiten beschäftigt. In den USA wurden sie als young urban professionals charakterisiert, und die Abkürzung Yuppies ist auch in Deutschland zum gängigen Begriff in der Beschreibung dieses ungeplanten Wandels von innerstädtischen Altbaugebieten geworden." (Hartmut Häußermann, Dieter Läpple, Walter Siebel, Stadtpolitik, Ffm. 2008, S. 242f.)

Der aus der US-amerikanischen New Urban Sociology der achtziger Jahre kommende Begriff "Gentrification" ist kritisch gemeint und bedeutet zunächst, der üblichen stadtsoziologischen Definition nach, die "Aufwertung innerstädtischer oder Innenstadt naher Viertel". Damit sind die drei wesentlichen Aspekte der Gentrification angedeutet: Erstens: Gentrification findet in Großstädten, Metropolen, urbanen Ballungszonen statt, nicht in Dörfern oder ländlichen Regionen; zweitens: Gentrification betrifft Viertel in der Nähe der Zentren, nicht Randgebiete, Trabantenstädte etc.; drittens: Gentrification ist eine ökonomische Aufwertung, die in einer sichtbaren und erlebbaren Erhöhung der Lebensqualität in einem Viertel ihren Ausdruck findet - und das setzt voraus, dass es überhaupt signifikant etwas aufzuwerten gibt (in Hamburg dürften Innenstadt nahe Viertel wie Pöseldorf, Eppendorf oder Rotherbaum kaum gentrifiziert werden), dass es aber auch einen Bedarf an Aufwertung gibt, der eine lebensstilistische Identifikation mit dem eigenen Alltag, der über die Parameter "Wohnen" und "Arbeiten" hinausgeht, voraussetzt (die städtischen Bau- und Planungsmaßnahmen in Hamburger Vierteln wie Hammerbrock, Hamm, Dulsberg, Stellingen etc. werden eben nicht als Gentrification registriert).

Aufwertung ist auch in diesem Kontext nicht anders denn als ökonomischer Begriff zu verstehen, mit dem allerdings angezeigt ist, inwieweit eine abstrakte kapitalistische Verwertungslogik sich im Alltagsleben konkretisiert, nämlich in Hinblick auf die Herausbildung städtischen Lebens in den letzten zwei Jahrhunderten. Menschen verorten sich sozial nicht mehr in ihrer Klasse, sondern in einem an die urbane Umgebung gekoppelten Lebensstil. Diese Identifikation vollzieht sich durch permanente Repräsentation des Lebensstils, wodurch sich letztendlich überhaupt erst ein bestimmter Charakter eines Viertels ergibt. Dafür brauchen die Menschen vor allem Zeit, in der sie sich nicht mit vorgegebenen Angeboten der Reproduktion ihrer Arbeitskraft beschäftigen (Einkaufen, Kino, Fernsehen, Sport etc.), sondern ihre leibliche Anwesenheit in ihrer Wohnumgebung zur (Selbst-) Beschäftigung machen - gewissermaßen anfangen, sich selbst in ihrer urbanen Existenz zu konsumieren. Sich selbst in dieser Weise auszustellen und seinen Lebensstil repräsentieren zu wollen, muss jedoch auch als Bedürfnis erzeugt werden.


Konsumistisches Selbstverständnis

Erst mit der vollständigen Durchsetzung der kapitalistischen Warenproduktion in allen Lebensbereichen, die sich seit den fünfziger Jahren in der Formierung einer Popkultur vollzog, in der der Konsum und ein konsumistisches Selbstverhältnis zum Lebensmittelpunkt der Menschen ideologisiert werden, wird auch das Wohnen - sei's in den Städten, sei's in den Neubausiedlungen oder nostalgischen Dörfern - neu in seiner gesellschaftlichen Bedeutung konfiguriert: Immobilien, Häuser, Eigenheime werden zu Orten, an denen der Mensch nicht nur Zeit verbringt, sondern die dort verbrachte Lebenszeit wird zum Ausdruck der Persönlichkeit. Dieser Prozess ging mit einer Veränderung der Wohnorte selbst einher und aus der Rückkopplung zwischen dem privaten Wohnraum und seiner Lage verallgemeinerte und individualisierte sich zugleich eine Ideologie der Lebensweise, bei der die Gestaltung des architektonischen Raumes mit Lebensqualität verbunden wurde. Vorbilder gab es dafür nicht nur etwa in den handwerklich-vorkapitalistischen Lebensweisen (eine Linie, die sich von der mittelalterlichen Stadt über Fourier, Morris u.a. bis Le Corbusier nachzeichnen lässt) oder in der lebensreformerischen und sozialistisch inspirierten Gartenstadtbewegung um Neunzehnhundert, sondern auch - und das ist ein Bild, das bis heute propagiert wird - in den inszenierten Wohnformen des prosperierenden Adels, der mit den allgemeinen positiven Vorstellungen vom Großbürgertum konvergiert: Das Häuschen im Grünen, eine barocke Möblierung der guten Stube, überhaupt die Idee des Wohnzimmers (statt Diele), die Ausstaffierung der Wohnung mit Tinnef und Kitsch, schließlich eine bizarre Idee von "Design" gehören dazu. Bis in die siebziger Jahre äußerte sich dies, finanziert durch Bausparverträge und mit staatlichen Subventionen unterstützt, in einer Stadtflucht, in deren Zuge riesige Areale, ganze Dörfer und Kleinstädte baulich erschlossen wurden.

Mit dem Ende des "goldenen Zeitalters" der Wohlstandsgesellschaft sind die Städte selbst ungeheuren Transformationen unterworfen: Die rücksichtslose Kommodifizierung des Wohnens heißt nun nicht mehr, einfach aus der Vermietung eines Schutz- und Ruheraums Profit zu schlagen, sondern den Wohnraum als Ware sich über die "urbane Lebensqualität" gleichsam selbst rechtfertigen zu lassen: das heißt nicht nur, bereitwillig in einem als "chic" geltenden Stadtteil überproportional mehr Miete zu zahlen, sondern auch die endgültige Bestätigung des Fetischcharakters dieser Ware, nämlich dass Wohnraum, Strom, Wasser etc. natürlich, d.h. selbstverständlich bezahlt werden müssen.


Transformation der Städte

Auch diese Transformation der Städte wird nach wie vor von einer Idee des Wohnens begleitet, die sich an der wie auch immer idealisierten Vorstellung der Lebensweise des Adels orientiert. Deshalb verwundert es nicht, dass bei einigen dieser städtischen Veränderungen in den achtziger Jahren nun von "Gentrification" gesprochen wird: der Begriff leitet sich vom englischen 'Gentry' her, womit ehedem der niedere Adel vom höheren Adel ('Peers', 'Nobility') unterschieden wurde; die Gentry waren indes den einfachen Bürgern sozial und rechtlich übergeordnet. Einer der Protofälle der Gentrifizierung war in den achtziger Jahren in Manhattan (New York), insbesondere in Soho zu beobachten: In den von Zerfall und Armut betroffenen und von "sozial Schwachen" bewohnten Viertel zog nun ein neuer "niederer Adel", nämlich jugendliche und jung-erwachsene deklassierte Bürger und Kleinbürger, die ihre Lebensweise zwar vom Establishment abgrenzten, aber dennoch aufwerteten, indem sie ihre Lebensweise als bewussten Lebensstil erhöhten; sie - Studenten, Künstler, erfolglose Kleinunternehmer, gut ausgebildete Teilzeit-Jobber, die ersten professionellen Computer-Nerds etc. - eroberten Stadteile wie Soho als Bühne, für die Häuser, Straßen und alle anderen Bewohner nur eine - letzthin austauschbare - Kulisse darstellten: so konnten sie gerade in diesen Problemgebieten ein innerhalb der allgemeinen etablierten Maßstäbe nicht sonderlich erfolgreiches, kohärentes Lebensmodell als homogene, schließlich an diesem Ort auch hegemoniale Subkultur inszenieren; dies war schnell ökonomisch attraktiv, weil diese Subkultur einen riesigen neuen Arbeits- und Absatzmarkt bot, über den sich dieser "neue niedere Adel" scheinbar autark und alternativ, schließlich finanziell erfolgreich versorgen konnte: Was Anfang der achtziger Jahre in den USA als Yuppisierung (Yuppie = young urban professionals) begann, endete mit dem Zerplatzen der New Economy-Blase um 2000.

Was sich in diesem Zeitraum in den Metropolen an Gentrification vollzog, war zwar räumlich auf einzelne Stadtteile beschränkt, fand aber seine Parallele in einer neuen Form des konsumistischen Individualismus, mit der sich ein Sozialcharakter des "autonomen Konformisten" konstituierte, der sich vorrangig über verschiedene Selbst-Ästhetisierungsstrategien definiert. Zu diesen Strategien gehört nach wie vor die "bewusste" Entscheidung für einen Wohnort, der mit einem Lebensstil beziehungsweise mit Lebensqualität identifiziert wird. Diese Identifikation ist allerdings heute keine produktive und kreative mehr (wonach ein bestimmtes Image eines Viertels erst im Alltag hergestellt wird), sondern funktioniert reproduktiv und rezeptiv als reiner Schematismus (wonach ein erwartetes, vorgegebenes Image eines Viertels adaptiert beziehungsweise konsumiert wird).

Für die gegenwärtig in den Städten zu beobachtenden Transformationsprozesse, vor allem dort, wo auch heute wieder von Gentrifizierung gesprochen wird, hat dies aberwitzig erscheinende Konsequenzen: Gerade in den Stadtteilen Schanzenviertel, St. Pauli, Altona, Karolinenviertel und auch Wilhelmsburg sind es Gentrifizierungsgegner, die eine erste Gentrifizierungswelle vor zehn oder fünfzehn Jahren selbst in Gang gesetzt haben. Insgesamt wird deutlich, dass die Idee kultureller Aufwertung mit ihrem eigentlichen ökonomischen Zweck nicht kompatibel ist und eine Gentrifizierungskritik, die nur den eigenen Freiraum, Lifestyle oder einen sonstigen subkulturellen Status Quo verteidigt, ins Leere läuft. Aufwertung im Sinne der Gentrifizierung braucht Akteure, braucht Menschen, die sich für diese Formen der "kulturellen" Aufwertung interessieren, insofern es ihnen wichtig ist, Wohnen mit bestimmen Werten und Qualitäten zu verbinden, also die Lebensqualität selbst einem Wertmaßstab zu unterwerfen, der sich in der Inszenierung des (eigenen) urbanen Lifestyles widerspiegelt. Das Viertel, um das es dabei geht, reduziert sich auf eine überschaubare Bühne mit Darstellern, Publikum und einer diffusen Menge von Statisten und Komparsen (in der Regel sind das die "ursprünglichen" Bewohner, auf die sich berufen wird und "für die man das alles macht", die aber selbst keine aktive Rolle in diesem Schauspiel abbekommen). Die Bühne, auf der unterschiedliche Bekenntnisse zur Viertelidentität aufgeführt werden, wird zeitlich und räumlich immer weiter eingeengt.


Beispiel Hamburg

In den achtziger Jahren waren die meisten Hamburger Viertel von einer - wenn auch zum Teil absurden - links-alternativen Alltagskultur geprägt: Barmbek, Harburg, Eimsbüttel, Winterhude, selbst Horn, Hamm, Rahlstedt, Billstedt etc. hatten ihre Szenen, dazugehörige Kneipen und es gab regelmäßig links-alternative Stadtteilfeste oder andere Veranstaltungen. Die Auseinandersetzung mit dem Stadtraum war noch nicht identitär auf den (eigenen) Lebensstil bezogen, sondern vielmehr die Verlängerung einer allgemeinen gesellschaftskritischen Politik, die einerseits noch stark bestimmt war von den klassischen Themen der Arbeiterbewegung (auch wenn es die Arbeiterbewegung selbst nicht mehr gab) und gewerkschaftlichen Kampagnen (35-Stunden-Woche, § 116 [der so genannte Streikparagraf], "Mach' meinen Kumpel nicht an!" etc.); andererseits von den Neuen Sozialen Bewegungen und ihren Themen (Feminismus, Häuserkampf, Ökologie etc.).

Das Schanzenviertel, um einen Blick zurück zu werfen, war von einer heterogenen links-alternativen (Sub-) Kultur geprägt, zu der "urige" Studentenkneipen ('Frank & Frei', 'Golem' etc.) ebenso gehörten wie "kommerzielle" Szenetreffs (das so genannte Bermuda-Dreieck, bestehend aus dem 'Pickenpack', 'Stairways' und 'Zartbitter') und "unkommerzielle" Szenetreffs ('Kir', 'Café Tuc Tuc', 'Subotnik', 'Marktstube' etc.). Damals gab es in der Schanze und St. Pauli noch soviel Leerstand, dass immer wieder Besetzungen stattfanden; die Hafenstraße ist zwar nicht das einzige Überbleibsel dieser Zeit, gleichwohl lässt sich aber gerade an den Auseinandersetzungen um diese Häuser nachvollziehen, wie sukzessive das Thema "Stadt" zum eigenständigen linkspolitischen Gegenstand wurde und langsam, in den neunziger Jahren, in die links-hedonistische Selbstbeschäftigung abrutschte.


Flair und Atmosphäre

Damit etablierte sich in den achtziger Jahren ein neuer Typus sozialer urbaner Bewegung, in der sich Leute formierten, denen es um "kulturelle Identität" mit "ihrem Viertel" ging. Für sie stand nicht mehr wie für die klassischen sozialen urbanen Bewegungen der Kampf um eine bessere Versorgung (Schulen, Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte etc.) auf der Agenda, aber auch nicht die - basis- und sozialdemokratische, an den Staat gerichtete - Forderung nach mehr Mitbestimmung in Stadtentwicklungsangelegenheiten, sondern eine Kulturalisierung des Lebensalltags und Alltagslebens.

Schon Ende der achtziger Jahre ist in diesem Zusammenhang von einer "Dethematisierung des Sozialen" die Rede. Vor allem wurde die Stadt nicht mehr als Manifestation von sozialen Klassenstrukturen thematisiert; Armut war nicht mehr Indikator für Lebensbedingungen in einem Viertel, sondern verwandelte sich in eine ästhetische Erscheinung von "Flair" oder "Atmosphäre". Ohne sich auf einen sozialen Klassenkampf beziehungsweise die politische Verteidigung von Klasseninteressen einzulassen, gelang es so einem sozial instabilen Teil der Mittelklasse (Studenten, Künstler, Kulturarbeiter) die kollektive Erfahrung von Deprivilegierung in ein individuelles Erlebnis der Privilegierung umzulenken. Damit wurden im Verlauf der neunziger Jahre aus den sozial-politischen "Bewegungen" (denen es um Armut, Arbeitslosigkeit, Mieterinteressen etc. ging) letztendlich die heute aktiven individuell-kulturellen "Bewegungen" (denen es um Lebensstandard, gutes oder exotisches Essen, Multikulturalismus im Sinne von "Lebendigkeit" und "Vielfalt" sowie hohe Mobilität & Flexibilität geht). Begleitet wird dies von einem Prozess der sozialen Segregation (Entmischung), dessen Konsequenzen sich in den vergangenen zehn Jahren abzeichnen: Deutlich treten wieder soziale Unterschiede hervor, deren Demarkationslinien nunmehr mitten durch die Viertel verlaufen. Endgültig scheint die fordistische Standardisierung der Lebensweisen aufgebrochen; nicht mehr geht es um die "Verteilung des kollektiven Konsums", sondern um die Realisierung individualistischer Interessen. Als Kollektiv formiert sich diese "Bewegung" nur noch als 'angry middleclass', die sich neuerdings als "Präkariat" stilisiert. Ihr politisches Programm ist ein konfuses, plakatives Gemenge aus Meinungen, Populismus und Propaganda, wobei sowohl alte Themen wie "Mietpreise" und "Yuppisierung" vertreten sind, als auch neue Themen wie "Schutz", "Sicherheit", oder reaktionäre Abbiegungen in die Drogen- und Asylpolitik.

In verschiedenen Stufen sowohl arrivierter als auch marginalisierter Viertel-Bewohner stellt sich mittlerweile das Leben in der Schanze als disparates demografisches Gemenge dar: drastisch ausgedrückt leben hier Modernisierungsverlierer und Postmodernisierungsgewinner zusammen, und dies nur unter der Regie einer Art Burgfrieden, mit dem diverse Widerstände, Anomalien, Unruhen und Delinquenzen verdeckt werden. Anders gesagt: Gentrification vollzieht sich gegenwärtig als ein Mehrfrontengefecht, wobei die Hauptkampflinien, die immer noch dem schematischen Muster "'Wir' versus 'die anderen'" organisiert sind, mehrfach mitten durch das Viertel verlaufen; gleichwohl können diese Konflikte durch die Gentrifizierung selbst strategisch als Elemente einer "Erlebniswelt" abgefedert werden, von der die "linke Szene" (oder was sich als solche geriert) mittlerweile ein integraler Bestandteil ist. Die groteske Wendung besteht darin, dass schließlich die Gentrifizierung selbst als "weicher Standortfaktor" erscheint...


Krise der Stadt

"Die größte revolutionäre Idee über den Urbanismus ist selbst weder urbanistisch noch technologisch oder ästhetisch. Es ist die Entscheidung, den Raum nach den Bedürfnissen der Macht der Arbeiterräte, der anti-staatlichen Diktatur des Proletariats, des vollstreckbaren Dialogs vollständig wiederaufzubauen. Und die Macht der Räte, die nur wirklich sein kann, wenn sie die Totalität der bestehenden Bedingungen verändert, wird sich, wenn sie anerkannt werden will und sich selbst in ihrer Welt wieder anerkennen will, keine geringere Aufgabe stellen können", schreibt Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels, Abs. 179).

In der Krise der Städte manifestiert sich die Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Ihren konkreten Ausdruck findet die Krise in den Wirklichkeiten der urbanen Lebensweise; und dies nicht einfach nur in einer Veränderung der kulturellen Ansprüche der Stadtbewohner an "ihre" Stadt, "ihr" Viertel, "ihre" Siedlung, "ihre" Straße oder schließlich "ihr" Haus und "ihre Wohnung", sondern überhaupt in einer Kulturalisierung der subjektiven Selbstverortung (die gleichwohl in die Selbstautorisierung und Authentifizierung der eigenen Viertel-Identität unmittelbar zurückschlägt).

Im Zuge dieser Dynamik zwischen urbanisiertem Individualismus und individualisiertem Urbanismus wird "das Soziale" zum Teil in "das Kulturelle" übersetzt, zum Teil auch vom "Kulturellen" überlagert. Trotz der sich eklatant und brutal vermehrenden sozialen Miseren in den letzten Jahrzehnten (Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Zusammenbruch des Sozialsystems, i.e. Renten- und Krankenversicherung, rapide steigende Lebenshaltungskosten, Verschuldung und Privatinsolvenzen, Obdachlosigkeit etc.), scheint sich das Augenmerk in Bezug auf die Sicherung der eigenen Situation selbst in den so genannten Problemvierteln immer mehr auf periphere und temporäre "kulturelle" Angebote zu beziehen. Das ist Ideologie, die allerdings gerade durch die Selbstinszenierungen einer so genannten Kulturlinken gewissermaßen "vorgelebt" wird: Unter der Parole, dass das Private das Politische ist, wurde im Verlauf der neunziger Jahre das Politische privatisiert. Heute meint selbst in den Resten einer 'politischen Linken' "Politik" nicht mehr eine Gesamtheit gesellschaftlicher Aktivitäten; statt dessen wird "Politik" von gesellschaftlichen Themenfeldern abgetrennt und rückt in den Nahbereich des Lebensumfeldes und privater Interessen, oder wird gänzlich aus dem eigenen Handlungsbereich ausgelagert.

Gerade in der Zeit, in der soziale Probleme im urbanen Raum massiv und für alle sichtbar in Erscheinung treten, konzentriert man sich in der Beschäftigung mit dem urbanen Raum als (eigenes) Lebensumfeld vorrangig, wenn nicht ausschließlich mit isolierten kulturellen Phänomenen. Auffällig zudem, in welchem Maße die heute sich Engagierenden ohne Beziehungen zueinander operieren und Auseinandersetzungen auch auf einzelne Stadtteile oder sogar Straßenzüge isoliert bleiben. Selbst die Kritik der Gentrifizierung orientiert sich nicht mehr am ganzen Viertel oder gar an einer Kontextualisierung der betreffenden Vierteln mit anderen Vierteln oder der Gesamtstadt, sondern konzentriert sich auf einige wenige, repräsentative, eher symbolisch als für die urbane Struktur bedeutsame Gebäude und Bauvorhaben.

So war im Schanzenviertel das Wasserturm-Hotel (Schanzenpark) das einzige Bauprojekt, an dem sich Widerstand entzündete; nahezu alle übrigen Baumaßnahmen, Sanierungen wie Neubau, konnten ohne jedweden faktischen Protest durchgeführt werden, das betrifft sowohl den riesigen Messe-Komplex als auch die Neubauten im Schulterblatt, die mit ihren Fassenden mittlerweile den architektonischen Charakter der Straße vollkommen verändert haben. Themen wie Umweltschutz, Infrastruktur-Angebote (Kindergärten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten etc.), Mieten scheinen sich in den Partikularismus einer individualisierten Interessenverteidigung verschoben zu haben; an ihnen entzünden sich nur noch punktuelle (zeitliche wie räumliche) Defensivkonflikte. Was darüber hinaus im städtischen Bereich noch an explizit oder implizit urbanen Bewegungen übrig geblieben ist, oder vielleicht auch deklariert, sich als Bewegung neu zu formieren (man denke an den Euromayday und die dem einhergehende Präkarisierungsdebatte) unterliegt einem Zustand der Starre, wenn nicht Paralyse.


Radikalität als Ritual

Entscheidend für die Gentrification genannten Prozesse ist nicht nur eine "Aufwertung" des betreffenden Viertels durch neue Bewohnergruppen, die bereit sind höhere Mieten zu zahlen und die ihre Identifikation mit dem Viertel mit neuen Codes permanent demonstrieren, die eben durch solche - sei's auch unbewussten Strategien "einkommensschwache" Bewohner verdrängen; entscheidend ist auch der politisch-ökonomische Eingriff in das Viertelleben, nämlich die Übernahme von staatlichen und marktwirtschaftlichen Funktionen und Posten. Es werden Läden und Kneipen eröffnet, Waren verkauft, und zum Teil die Verfolgung und sogar Bestrafung von Regelverstößen in Eigenregie in die Hand genommen (Diebstahl unter Freunden, inakzeptables Verhalten bei Partys, sexuelle Übergriffe etc.). "Linke" verhalten sich hierbei in Bezug auf die Gentrification nicht anders als Yuppies. Das Ganze erinnert an die amerikanische Siedlerbewegung, an mafiotische Dorfstrukturen, an autarke Zonen, wie es sie in einigen der brasilianischen Favelas oder in Christiania in Kopenhagen gibt; tatsächlich tendierten das Schanzenviertel oder das Karoviertel im Zuge der Gentrifizierungsprozesse in den neunziger Jahren zur politisch-ökonomischen Abschottung und - scheinbaren - Selbstversorgung sowie -verwaltung. (In St. Pauli war das deshalb anders, weil es erst Ende der Neunziger langsam gelang, in der von der Sex- und Unterhaltungsbranche dominierten Ökonomie Fuß zu fassen - man wohnte hier und hatte seine zwei, drei Kneipen, die man sich aber mit einem Publikum teilte, das in diesem Viertel sich nur vergnügen, nicht wohnen wollte.)

Die als legitim verteidigte Präsenz im Viertel, mit der sich die Gentrifizierer der endachtziger und neunziger Jahre mit den "alteingesessenen" Bewohnern gemein machen wollten ("Das ist unser Viertel"), erforderte einen Pragmatismus, der einerseits eine soziale, politische und ökonomische Sicherung der eigenen Position bedeutete (Hafenstraße, Rote Flora...), der andererseits aber zulasten der politischen Radikalität ging: Eine grundsätzliche antikapitalistische Praxis war mit der kulturellen, sich mit dem Viertel ständig identifizierenden Praxis nicht auf Dauer vereinbar. Von der politischen Radikalität bleiben Rituale und Mythen übrig.

Zur selben Zeit - im Zuge der Etablierung des Postfordismus - zog sich der Staat immer weiter aus der Stadtpolitik zurück; zu den Forderungen eines autonomen Viertellebens passend, war tatsächlich in den neunziger Jahren die Polizei im Alltag kaum noch präsent. Dafür kehrte sie aber mit der zweiten Gentrifizierungswelle umso hemmungsloser zurück und prägt durch Patrouillen das Straßenbild wie nie zuvor.

Überhaupt finden sich in der jetzigen Gentrifizierung im Vergleich zu den neunziger Jahren drastische Unterschiede. Die mit dem bestimmten, "angesagten" Vierteln verbundene Idee des urbanen Lebensstils ist mittlerweile vollständig kulturalisiert; die ehedem noch erkennbare Klassenstruktur ist im Zuge dessen gänzlich nivelliert worden. Auch hierbei fällt noch einmal ins Gewicht, dass es zum Beispiel keine kollektive Praxis in Bezug auf Mieterinteressen gibt. War die Gentrifizierung in den neunziger Jahren noch offensiv an der Idee neuer und alternativer Lebensformen orientiert (Hausgemeinschaft, WG, Singledasein als bewusste Entscheidung gegen die Familie etc.), so ist das Wohnen, wie die gesellschaftliche Ideologie es auch allenthalben propagiert, wieder auf den potenziellen Kleinfamilienhaushalt ausgerichtet.

Die WG als alternative Lebensform wird zur reinen Zweckform, ist nicht der Antizipationsversuch einer gesellschaftlichen Utopie, sondern Übergangslösung. Zugleich wird die Architektur der WGs als großzügig geschnittene Altbauwohnung mit Holzfußboden, weitläufigem Flur, hohen Decken, Stuck und geräumiger Küche zur Privatutopie; man muss als Student mit der konkreten Wohnsituation in der WG im Schanzenviertel nicht zufrieden sein, um doch die Räume, in denen man lebt, zum Teil der kulturellen Identität zu machen und sogar zum Schlüssel eines Lebensstils, der sich identifikatorisch eben auf den Satz "Ich wohne in meinem Viertel" zusammenziehen lässt. WG- oder Single-Haushalte existieren nicht mehr als eigenständige Form (der Junggeselle, der Yuppie etc.), sondern als Übergang, als Derivat einer noch zu gründenden Familie. Ebenso werden Einzelpersonen, die mit (ihren) Kindern zusammenleben, als alleinerziehende Mütter oder Väter geführt. In jedem Fall heißt das Ziel nicht Kommune, sondern Familie, und sei es wenigstens eine Patchwork-Familie.

Auch die Gentrifizierung der achtziger und neunziger Jahre war schon von der postfordistischen Stadt bestimmt: Während für die fordistische Stadt noch eine klare Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit signifikant war, überlagern sich in der postfordistischen Stadt diese Bereiche - gerade in den von der Gentrifizierung betroffenen Stadtteilen, wie es sich anschaulich an der Situation des Schanzenviertels während der Hochzeit der New Economy nachvollziehen lässt. Mit der gegenwärtigen Stufe der Gentrifizierung bricht diese (ideale) Einheit von Wohnen, Arbeiten und Freizeit wieder auseinander; mehr noch: Freizeit tritt in den Vordergrund, Wohnen und Arbeiten werden scheinbar zu Funktionen eines vollkommen auf Unterhaltung ausgerichteten Lebens. Dadurch wird die Gentrifizierung aber nicht nur ausschließlich von den neuen Bewohnergruppen vorangetrieben, sondern vor allem von spaßorientierten Besuchergruppen, die durch ihr regelmäßiges Auftreten im Stadtteil aber ebenso wie die Bewohner eine kulturelle Identität mit "ihrem Viertel" behaupten können. Auch dadurch kommt es zu Vertreibungen, allerdings nicht aus sozialen oder ökonomischen Gründen, sondern aus kulturellen.


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Wir gehen davon aus, dass der Begriff Gentrification nur Ausgangspunkt einer kritischen Theorie sein kann, die sich auf den Zusammenhang von Kapitalismus und urbanen Veränderungen richtet, und die zugleich notwendige Grundlage einer erst noch zu situierenden radikalen Praxis ist. "Stadt" ist keineswegs eine vorgegebene Raumordnung, in der sich das Profitmotiv realisiert, sondern eine Matrix, die durch die Logik kapitalistischer Wertvergesellschaftung überhaupt erzeugt wird.

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Adorno wohnt trotzdem

Der Mensch im Kapitalismus ist nicht bei sich zu Hause. Er ist den gesellschaftlichen Verhältnissen, die er doch selbst macht, ausgeliefert. Was inhaltlich nicht nur das Motiv Marxens war, sondern auch bei Adorno im Mittelpunkt stand, wollte Letzterer auch sprachlich zum Ausdruck bringen. Da das Ich nicht bei sich zu Hause ist, sollte auch das Reflexivpronomen sich möglichst weit vom zugehörigen Subjekt entfernt stehen. Eine Sprachmacke - aber eine mit Sinn.

Überhaupt spielte das Wohnen bei Adorno eine besondere Rolle. So lässt sich in gewisser Weise sagen, dass er Zeit seines Lebens - und nicht nur während der Zeit in den Vereinigten Staaten - im Exil lebte. Denn es sich einfach häuslich einzurichten im Kapitalismus, das kam für ihn nicht in Frage. Stets umgetrieben von dem Gefühl, der Faschismus könne zurückkehren, hatten er und seine Frau Gretel die Wohnung in Frankfurt niemals wirklich eingerichtet.

In den Minima Moralia formulierte er das grundsätzliche Problem kritischer Intelligenz, am Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit nicht zu vergehen, am Beispiel des Wohnens. Egal welche Wohnform, egal welchen Typus von Architektur die Einzelnen auch wählen mögen: überall sei es im Grunde unmöglich, schadlos zu wohnen.

Wer in seinen eigenen vier Wänden wohne, der mache sich schuldig, solange anderen das Wohnen versagt bliebe. Doch ohne Wohnung steige nur die Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedingungen. Und wer wollte schon an der "lieblosen Nichtachtung der Dinge" teilhaben, die doch dem Kapitalismus immer schon innewohnt? Wobei auch das, kaum ausgesprochen, schon zur Ideologie wird für jene, "welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen."

In genau diesem Sinne gibt es "kein richtiges Leben im falschen". Nicht, dass wir nun eine Ausrede hätten, nichts zu tun. Wir müssen nur um die Beschränktheit unseres Handelns wissen und es stets aufs Neue auf seine praktischen Folgen für unser Leben und das Streben nach Emanzipation befragen.

J.B.

Raute

KOLUMNE Dead Men Working

Wohnung(slos)-Arbeit(slos)

von Maria Wölflingseder

Ein aufgeregtes "Wo wohnen?" war einer der ersten Zweiwortsätze, die meine Zwillingsneffen sprechen konnten. Sie fragten nach der Behausung eines großen Vogels, den sie gerade bestaunten. Wo und wie wohnen, ist in der Menschheitsgeschichte eine unausweichliche Frage. Den Menschen ist die Form des Wohnens nicht angeboren. Weder die architektonischen noch die sozialen Komponenten sind naturgegeben.

Wohnen bedeutet Schutz und Geborgenheit vor Kälte, Hitze und anderen Witterungseinflüssen. Das Haus, die Wohnung sind im Lauf der Geschichte zur so genannten Privatsphäre geworden - im Gegensatz zur Sphäre der Öffentlichkeit. Vor Letzterer kann man sich in seine "eigenen vier Wände" zurückziehen. Diese bieten somit auch Schutz vor den verschiedenen Sinneseindrücken "draußen": vor dem Verkehr, vor Hektik und Geschäftigkeit, vor Menschenansammlungen aller Art. Also Schutz vor Lärm, ungesundem künstlichen Licht, Abgasen oder kommerzieller Werbung optischer und akustischer Art. Das Schutzbedürfnis meiner Neffen, die zu früh das Licht der Welt erblickten - sie wogen nur 1200 Gramm und 1400 Gramm - ist wahrscheinlich ein besonderes.

Es stellt sich aber nicht nur die Frage "Wo und wie wohnen?", sondern auch "Wo und wie arbeiten?" In unseren Breiten ist der Arbeitsplatz (sic!) für die meisten außerhalb der eigenen vier Wände: in einem Gebäude, im Freien oder unterwegs. Selten kann man sich aussuchen, wie und wo man arbeitet - auch nicht, wenn das aus technischen und organisatorischen Gründen leicht möglich wäre. Der Ort des Arbeitens ist seit der Nachkriegszeit immer mehr nach "draußen" verlagert worden, mitunter weit entfernt vom Wohnort. Handwerk, Kleingewerbe und Landwirtschaft, wo noch räumlich nahe beieinander gewohnt und gearbeitet wurde, haben stark abgenommen. Daher der gängige Satz, mit dem nach der Dauer jemandes Arbeitslosigkeit gefragt wird: "Wie lange bist Du schon zu Hause?" Und als Arbeitslosigkeit noch kein Massenphänomen war, getraute sich mancher nicht, den Jobverlust seiner Familien mitzuteilen. Er wahrte den Schein von Arbeit, indem er die Wohnung morgens wie üblich verließ.

Mit dem Zwang, sich aufgrund fehlender Lohnarbeit "selbständig" zu machen, Stichwort "Ich-AGs", wurde Arbeit mitunter wieder in die Wohnung verlagert, weil sich viele kein Büro leisten können oder keines brauchen - ein Laptop als "Arbeitsplatz" reicht ja heutzutage oftmals.

Die schon seit über einem Jahr leidenschaftlich diskutierte Frage, ob es nicht höchst an der Zeit wäre, dass die angeblich viel zu privilegierten Lehrerinnen und Lehrer wie alle anderen Lohnabhängigen auch 40 Stunden in der Schule anwesend zu sein hätten, zeigt, wie sehr es bei der "Arbeit" nicht bloß um die möglichst effiziente, Zeit und (menschliche) Energie schonende, angenehm gestaltete Verrichtung bestimmter Tätigkeiten geht, sondern fast immer auch um sinnleeren Zwang. Arbeit bedeutet nicht zuletzt, irgendwo anwesend zu sein. Was und wie rationell dort etwas gearbeitet wird, steht oft auf einem anderen Blatt. Wo kämen wir denn da hin, wenn eine Berufsgruppe mit nicht gerade nervenschonender Tätigkeit wie die Lehrerschaft nachmittags Zeit mit ihren eigenen Kindern verbringen und abends in Ruhe Hefte korrigieren darf? Solch ein Privileg ist vielen ein Dorn im Auge.

Ein weiterer Zwang ist jener zum täglichen stundenlangen Pendeln zum Arbeitsplatz mit verheerenden Auswirkungen - von Umweltverschmutzung bis zu Stress und Unfalltod; denn selbst bei schlechtesten Witterungsverhältnissen muss via Autofahrt Leib und Leben riskiert werden.

Besonders widersinnig mutet auch folgender Umstand an: Die Wohnkosten sind heute so hoch, dass meist einer der (Ehe-)Partner nur dafür arbeitet. Benutzt kann die Behausung jedoch nur in der kargen Freizeit werden und dient so vor allem als teures Lager von Hab und Gut und als Schlafplatz. Wer hingegen keinen Job hat, kann sich Wohnen oft kaum mehr leisten.

Erstrebenswert ist es weder, "auf der Straße zu stehen" (also obdachlos zu sein) noch "zu Hause zu sein" (also arbeitslos zu sein)! Busy - ein Wort mit vielfältiger Bedeutung - ist das Ideal: belebt, besetzt, fleißig, geschäftig, ausgelastet, arbeitsreich, eifrig, belegt, verkehrsreich, rege, tätig, emsig, betriebsam, geschäftsträchtig, rührig, ziemlich hektisch, aufdringlich, zudringlich. Das charakterisiert das Arbeits- bzw. Lebensethos trefflich. Zur Ruhe kommen ist höchstens aus Kostengründen angesagt, damit das Humankapital nicht krank wird und ausfällt. Das vollwertige Subjekt hat zeitlich und örtlich möglichst flexibel und immer in Bewegung zu sein. Job- und wohnungslose Nicht-Subjekte haben sich möglichst unauffällig zu verhalten. Sie sollen weder das Stadtbild verunzieren noch gar auf kritische Gedanken kommen. Sofern sie noch ein Zuhause haben, sollen sie dort brav Bewerbungen schreiben oder als Jobersatz Kurse besuchen.

Nicht nur Arbeitslose können sich oft keine Wohnung mehr leisten, sondern auch Arbeitende. Bis vor 30 Jahren waren es eher Faktoren wie Scheidung, psychische Probleme und Alkoholismus, die Menschen obdachlos werden ließen. Seit damals ist die Zahl der Delogierten nicht nur extrem angestiegen, sondern auch die Gründe dafür haben sich geändert. Die Kosten fürs Wohnen sind (vor allem in Wien) nebst den generellen Lebenshaltungskosten rasant gestiegen, während das Einkommen stagniert. Working poor ohne Wohnung werden in der Soziologie nicht Obdachlose, sondern Wohnungslose genannt, um sie von den "klassischen Sandlern" zu unterscheiden. Folgende Zahlen verdeutlichen die Entwicklung: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Wien stieg seit 2000 von 46.000 auf 100.000. Zwei Drittel davon sind Menschen mit Job oder solche mit sehr geringem Arbeitslosengeld.

Walter S., ein (Bühnen-)Maler aus Hamburg, der mit über 90 Jahren noch fröhlich durch die Welt reiste, frühmorgens schon eine Runde im Mittelmeer schwamm und abends noch immer mit nacktem Oberkörper und kurzer Hose durchs Dorf spazierte, war einer der heitersten und freudestrahlendsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Daraufhin angesprochen, antwortete er, der in seinem Leben viel mitgemacht hatte, lakonisch: "Ich bin schon glücklich, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Wenn mir nichts weh tut, wenn ich etwas zu essen und ein sauberes Bett habe." - Unfassbar, dass diese fundamentalen Lebensbedingungen heute selbst in den reichsten Ländern der Erde immer mehr Menschen (wieder) strittig gemacht werden. Noch unfassbarer: Es wird hingenommen.

Raute

Von Mieterrevolten zum freien Markt

Stadtentwicklung und Mietrecht in Wien. Ein Abriss

von Günter Schneider

Am 7.11.1911 versammeln sich etwa 2000 Demonstrant/inn/en vor dem Haus Herthergasse 26 in Meidling, um gegen ungerechtfertigte Kündigungen zu protestieren. "Die Menge warf Steine gegen das Haus, und einige Fensterscheiben wurden durch Steinwürfe zertrümmert", schreibt die Arbeiterzeitung. Die Sicherheitswache löst die Versammlung gewaltsam auf. Aber auch an den nächsten zwei Tagen kommen jeweils an die 1200 Personen, um ihren Unmut über die Willkür der Hausherren kundzutun. Solche Mieterrevolten und auch Mieterstreiks waren um 1910 in Wien und Budapest, den Hauptstädten der österreichisch-ungarischen Monarchie, an der Tagesordnung. Das damals für Mietwohnungen gültige Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) sicherte den Hausherren Vertragsfreiheit zu. So konnten innerhalb kurzer Zeit Kündigungen und Mietzinserhöhungen ohne Begründung ausgesprochen werden.


Mieterschutz und Rotes Wien

Im Jänner 1917 erließ das österreichische Gesamtministerium die erste Mieterschutzverordnung, sozusagen eine Vorläuferin des Mietengesetzes. Grund dafür war die Angst, dass in den schlechter werdenden Zeiten des 1. Weltkriegs die Mieterproteste noch stärker werden. Es sollte damit im Hinterland Ruhe geschaffen werden. Weitere Verordnungen folgten im Jänner und Oktober 1918. Alle enthielten neben dem Verbot einer nicht gerechtfertigten Erhöhung des Mietzinses Bestimmungen, die das freie Kündigungsrecht des Vermieters auf wichtige Gründe einschränkten. Erst im Jahr 1922 wurden diese Verordnungen vom Mietengesetz abgelöst, das von da an über die Zeit der Ersten Republik, des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus hinaus bis 1981 gültig war.

Das Mietengesetz regelte den Markt mehr oder weniger restriktiv. Auf der anderen Seite stellte die öffentliche Hand billigen Wohnraum durch den sozialen Wohnbau zur Verfügung (Gemeindebau im Roten Wien). Für das private Kapital war es dadurch alles in allem wenig lukrativ, in den Wohnungsbau zu investieren. Trotz der Aufhebung der Mietzinsobergrenzen (Friedenskronenzins) durch die ÖVP-Alleinregierung ab Jänner 1968 kam es zu keinem drastischen Anstieg der Wohnungspreise in Österreich. Erst Mitte der 80er Jahre wurde der Immobiliensektor für die Anleger interessant - ausgelöst durch weitere Lockerungen in der Mietengesetzgebung, vor allem durch das Mietrechtsgesetz (MRG) von 1982 und die Freigabe der Kategorie A aus den damals gültigen Mietzinsobergrenzen ab 1986.

Die strengen Regelungen des Mietengesetzes waren auch maßgeblich daran beteiligt, dass die Wiener Stadtstruktur bis Anfang der 1980er Jahre mehr oder weniger stabil geblieben ist. Sie bremsten Polarisierungs- und Entflechtungstendenzen der Bevölkerung und städtischen Funktionen und verhinderten die Bildung regelrechter Slums. Diese positive Wirkung erkannte der leider viel zu früh verstorbene Stadtplaner Willi Kainrath 1982 in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (82/4) ausdrücklich und sah sie im Angesicht des neu in Kraft getretenen Mietrechtsgesetzes zu Recht als gefährdet an.


Der Abriss...

In den letzten 25 Jahren blieb denn auch mit der Liberalisierung des Mietrechts im Wohnungssektor kein Stein auf dem anderen, sowohl den Wohnungsmarkt als auch die Stadtentwicklung betreffend. Die Mietpreise haben sich vervielfacht, der Wohnungsaufwand beträgt heute oft mehr als die Hälfte des Familieneinkommens. Die Stadt hat sich durch soziale Entflechtung und Bildung von Ausländergettos gravierend verändert.

Die Mietengesetzgebung, die gerade in Wien durch seinen großen Althausbestand von etwa noch 35.000 Gründerzeithäusern - "Neu"bauten ab 1945 sind von den meisten Bestimmungen ausgenommen - von größter Bedeutung ist, fußt auf drei tragenden Säulen: dem Kündigungsschutz, den Mietzinsregelungen und der Erhaltungspflicht der Häuser durch die Hauseigentümer. Dazu kommt noch ein Rechtsinstrumentarium, das den Mieter/innen auch die Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Rechte gibt.

Nur im Zusammenwirken aller dieser Punkte ist Mieterschutz gewährleistet, soweit dieses überhaupt durch Gesetze bzw. Gerichte möglich ist. Gibt es keinen Kündigungsschutz, sind Mietzinsbegrenzungen sinnlos, denn die Mieter/innen sind bei einem etwaigen Gang zum Gericht der Gefahr der Kündigung ausgesetzt. Gibt es keine Mietzinsbegrenzungen, ist der Kündigungsschutz unnötig, da sich die Wohnungssuchenden die Wohnungen nicht leisten können. Gibt es schließlich keine Erhaltungspflicht, sind beide anderen Bestimmungen überflüssig, denn die Häuser brechen über den Köpfen der Mieter/innen zusammen, was ja in der Realität auch tatsächlich manchmal passiert. Und wird das Rechtsinstrumentarium unbrauchbar, nützt das ganze Mietrecht nichts, denn es ist nicht durchsetzbar.

Erster großer Einschnitt im Prozess der Liberalisierung und marktgerechten Zurichtung des Mietrechts war 1986 die Herausnahme der Kategorie-A-Wohnungen aus der Mietzinsbegrenzung. Der darauffolgenden Entwicklung, dass binnen weniger Jahre fast nur mehr teure A-Wohnungen am Markt zu finden waren, sollte mit der Einführung des Richtwert-Mietzinses ab 1994 begegnet werden. Dieser Zins, ein Mittelding zwischen Kategorie- und Marktmiete, bewirkte, dass bis heute das Mietenniveau in Wien auf Werte bis 12,44 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete (Hauptmietzins + Betriebskosten + Steuer) gestiegen ist. Sogar bei den durch die Stadt Wien geförderten Sanierungen sind oft Mietpreise über 10 Euro pro Quadratmeter üblich. Der Gemeindewohnungsbau wurde bereits vor Jahren eingestellt. Auch das Steuerungsinstrument der weit niedrigeren Mieten für die Gemeindewohnungen wurde von der Stadtverwaltung dadurch aus der Hand gegeben, dass jene bei Wiedervermietung an den privaten Sektor angeglichen wurden.

Die Kündigungsbestimmungen wurden zwar nicht aufgehoben oder reduziert, sind aber nur für Mieter/innen mit einem unbefristeten Mietvertrag wirksam. Mit dem ab März 1994 in Kraft getretenen 3. Wohnrechtsänderungsgesetz wurde jedoch der befristete Mietvertrag eingeführt. Mit einer Mindestdauer von drei Jahren kann ein Mietvertrag mittlerweile beliebig oft verlängert werden. Damit werden die Mieter/innen natürlich genötigt, sich unauffällig zu verhalten. Streben sie z.B. eine gerichtliche Überprüfung des Mietzinses an, ist eine Verlängerung des Mietvertrages praktisch ausgeschlossen. Einer Studie nach wurden im Jahr 2002 nahezu 40 Prozent aller neuen Mietverträge befristet abgeschlossen. Viele, vor allem Zuwanderer/innen, sind daher gezwungen, Nomaden gleich, alle paar Jahre umzuziehen. Erst in den letzten Jahren hat sich diese Situation durch den Zugang von Ausländer/innen zu Gemeindewohnungen etwas entspannt.

Auch Verfahren wegen notwendiger Erhaltungsarbeiten (etwa Reparatur von Fenstern) sind bei befristeten Mietverträgen sinnlos. Die Vermieterseite kann durch den gesetzlich vorgesehenen Instanzenzug das Verfahren in den meisten Fällen hinauszögern, bis der Vertrag ausläuft. Die Langsamkeit der Gerichte tut ihr Übriges.

Und schließlich wurde es den Mieter/innen in den letzten Jahren erschwert, ihre Rechte gerichtlich durchzusetzen. Im Jahr 2005 wurde nämlich das Gesetz derart geändert, dass die Mieter/innen im Fall, dass das Verfahren verloren wird, einen Kostenersatz für Vertretungskosten an die Vermieterseite zu zahlen haben. Da sich Vermieter mehrheitlich von Anwälten vertreten lassen, ist somit für antragstellende Mieter/innen ein großes Kostenrisiko gegeben, das natürlich viele davon abhält, zu Gericht zu gehen. Auch mit erhöhten Gebühren und sonstigen Gesetzesänderungen wird der Zugang zum Recht erschwert bzw. beschränkt. Die Anzahl der Mietenprozesse ist daher deutlich gesunken.

Dazu kommt noch, dass sich Mietervertreter/innen, Schlichtungsstellen, Gerichte etc. mittlerweile mit einem Gesetz herumzuschlagen haben, das immer weniger in der Lage ist, die Materie der Vermietung von Wohnraum zu regeln. Klare Bestimmungen werden vom Gesetzgeber zunehmend vermieden, Entscheidungen, die eigentlich die Politik treffen sollte, etwa die Festsetzung der Höhe des Mietzinses, werden den Gerichten bzw. "unabhängigen" Sachverständigen, die ausschließlich aus dem Bereich der Immobilienwirtschaft kommen, überlassen.


­...und die Folgen

Alles im allem hat sich die Wiener Stadtstruktur durch diese Entwicklungen zum Nachteil für die Bewohner/innen geändert. Die ab Mitte der 70er Jahre vor allem aus Jugoslawien und der Türkei zugewanderten Arbeiter/innen hatten lange Jahre keinen Zugang zu den Gemeindebauten. Sie haben sich daher nicht über das Stadtgebiet verteilt, was ihre Integration hätte fördern können, sondern haben sich großteils in den Gründerzeitvierteln außerhalb des Gürtels angesiedelt. Dort waren genügend schlecht ausgestattete Wohnungen vorhanden, die - meist nach Bezahlung einer saftigen Ablöse - um eine halbwegs erschwingliche Miete zu haben waren bzw. auch nicht gesetzeskonform Eingewanderten als Unterschlupf gegen oft enormen Aufpreis zur Verfügung standen. Hauptsächlich betroffen hievon waren und sind noch (Inner)Favoriten, Rudolfsheim/Fünfhaus, Ottakring und die Brigittenau, wo Spekulanten ihre Mieter/innen auspressen und zugleich kaum in die Häuser investieren.

Auch die Infrastruktur leidet in diesen Grätzln. Wettkaffees, Imbissshops und Billigläden herrschen im Straßenbild vor. Geschäfte, Wirtshäuser und Gewerbebetriebe sperren immer häufiger zu, sind zum Teil fast verschwunden. Auf der anderen Seite entsteht durch den Bauboom an den Stadträndern ein Einkaufszentrum und Bürobau nach dem anderen. Die Entflechtung städtischer Funktionen ist weit vorangeschritten, wodurch auch der Verkehr stark angestiegen ist. Maßnahmen zur Beseitigung dieser Entwicklung werden kaum ergriffen. Wenigstens zum Teil wird diese allerdings durch Neugründungen von Geschäften und Handwerksbetrieben durch die Zuwanderer und deren Nachkommen gemildert.

Vielleicht kommt aber auch anderes wieder in Gang. Junge Leute fangen mit Hausbesetzungen an, um darauf hinzuweisen, dass der Wohnungsmarkt für sie und eine andere Art zu leben als in der Welt von Geld und Arbeit vorgesehen keinen Raum bietet. Zuletzt wurde z.B. eine alte Schule, die als Amtshaus in einer Fernsehsatire bekannt wurde, besetzt. Diese Aktion wurde freilich genauso wie die Mieterrevolten vor 100 Jahren von der Polizei zunächst einmal gewaltsam beendet.

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2000 Zeichen abwärts

Die Betriebskostenverrechner

Das Körberlgeld, das sich manche Hausverwaltungen durch extensives Verrechnen der Betriebskosten von den Mietern holen, ist obligat geworden, zumindest in Österreich. Besonders beliebt ist das Einrechnen von Posten, die durch das Mietrecht nicht gedeckt sind. Viele Mieter nehmen diverse Vorschreibungen einfach hin und zahlen brav. Entweder wollen sie es gar nicht wissen oder sie trauen sich nicht aufzumucken. "Zu wenig Betroffene finden zu den Schlichtungsstellen der Stadt Wien, schlicht weil sie ihre Möglichkeiten nicht kennen oder aus unbegründeter Angst vor ihrer Hausverwaltung", behauptet der grüne Stadtrat David Ellensohn. Die Angst, die Ellensohn für unbegründet hält, ist jedoch durchaus begründet. Hausverwaltungen sind nicht gerade zimperlich, wenn es darum geht, sich durchzusetzen. Und die berechtigte Furcht wird durch die elende Feigheit noch potenziert. Darauf kann man bauen.

Bauen kann man auch auf eine Gesetzeslage, die nicht einmal Sanktionen, geschweige denn Strafen für notorisches Verrechnen vorsieht. Was auch heißt: Jene, die korrekt abrechnen, erleiden einen Konkurrenznachteil gegenüber jenen, die sich hochrechnen. Dumm, wer sich nicht verrechnet.

Absurd auch, dass die "irrtümlich" zu viel eingehobenen Beträge nur an jene zurückgezahlt werden müssen, die sich einem Antrag an die Schlichtungsstelle angeschlossen haben bzw. nach einem entsprechenden Bescheid das Geld auch schriftlich retour fordern. Beispiel: Hat sich eine Hausverwaltung um 2.000 Euro zu ihren Gunsten verrechnet, so ergibt das bei zwei klagenden Mietern von 20 Hausparteien gerade mal eine Rückzahlung von 200 Euro, 1.800 Euro dürfen sich die Verrechner, obwohl im Unrecht, behalten. Stellen wir uns bloß vor, dieser Hausbesitzer verfügt über mehr als 50 Häuser. Da können dann satte Zusätze bis zu 100.000 Euro pro Jahr auf wundersame Weise lukriert werden. Während einzelne Mieter sich zu Recht fragen, ob der Aufwand der Anfechtung lohnt, lohnt sich das Verrechnen für die Vermieter auf jeden Fall. Das bisserl Rückzahlung ...

F.S.

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Umsonstökonomischer Ansatz

Eine Dokumentation

Wir wollen nicht auf das gute Leben irgendwann in der Zukunft warten, sondern hier und jetzt einen Raum für eine kritische Praxis schaffen. Ein Raum für ein solidarisches Miteinander mit dem Ziel, den uns umgebenden und verinnerlichten Zwängen zu entkommen. Darum ein Haus zum Wohnen und Leben, zum Älter-Werden und Aufwachsen, zum Ent-Lernen und widerspenstig sein.

Innerhalb des Hauses wird es auf der Bandbreite von Offener Raum bis Rückzugsraum verschiedene Ebenen der Umsetzung geben. Fester Bestandteil soll ein Kollektivbereich mit Werkstätten, KostnixLaden, Cafe und Projekträumen sein. Der Kollektivbereich ist der Bereich, in dem auch Menschen, die nicht im Haus wohnen, konkrete Projekte umsetzen können. Dieser Bereich steht allen Menschen offen, die sich mit den Grundsätzen des Hauses identifizieren können. Der Wohnbereich ist auch der Rückzugsraum für jene, die ihren Lebensmittelpunkt in das Haus verlegen wollen. Wahrscheinlich wird es je nach Bedürfnissen verschiedene Wohngruppen mit gemeinsamen Wohnzimmern, mehreren Küchen usw. geben. Wichtig ist uns, dass das Haus auch ein Ort wird, an dem sich Kinder wohlfühlen können.

Wir wollen einen Ort, wo wir an den Formen unseres Beisammenseins und dem Auf brechen fremdbestimmter Strukturen arbeiten können - einen Ort, wo das, wofür wir kämpfen, erlebbar gemacht werden kann. Unsere Sexismen, Rassismen, Homophobie, Antisemitismen usw. sind ein Teil von uns, wir können sie nicht einfach an der Türe ablegen. Eine sich als emanzipatorisch verstehende Praxis muss darum vor allem im Umgang miteinander ansetzen. Daher soll im HausProjekt auf die praktische und theoretische Auseinandersetzung über Normierung von Raum, sowie den damit verbundenen allzu oft rassistischen, männlichen und heteronormativen Verhaltenweisen besonders Wert gelegt werden.

Solche Räume gibt es viel zu selten - Grund genug, sich neue Freiräume zu erkämpfen. Der Ansatz der Aneignung erlaubt uns, durch ein mietfreies Leben uns ein stückweit von den Verwertungszwängen zu befreien. Wir setzen auf direkte Aktion und hoffen, dass die selbstbestimmte Deckung der Grundbedürfnisse auch dem Leerstand eine lebendige Zukunft beschert. Denn die Experimentierfreudigkeit der Stadt ist höchstens im Bereich der Privatisierung zu erkennen und nicht, wenn es um selbstbestimmte Wohnformen und Lebensentwürfe abseits der gepredigten Normen geht. Uns ist es wichtig, ein selbstverwaltetes Projekt zu sein und nicht von irgendwelchen Subventionen abhängig zu sein. Gleichzeitig kommt dem umsonstökonomischen Ansatz ein großer Stellenwert in der Wahrung der Unabhängigkeit und dem Erproben von Neuem zu. (...)

Leider verlieren sich immer wieder Gruppen, die mit hohen Ansprüchen an sich selbst und die Veränderung der Gesellschaft begonnen haben, in der langsamen Kommerzialisierung und Ökonomisierung ihrer Projekte. Der Wunsch, endlich für den ganzen Aufwand auch Geld zu bekommen, oder die Verlockung durch ein viel Geld einspielendes Projekt, mit dem sich andere Möglichkeiten auftun, zerstört längerfristig die Möglichkeit, aus dem Projekt heraus radikale Veränderung entstehen zu lassen. Wir sind uns bewusst, dass Umsonstökonomie als globaler Ansatz nicht hier und heute umgesetzt werden kann, da wir nicht einfach auf hören können Kapitalismus zu machen. Bei aller Beschränktheit, die die Anwendung umsonstökonomischer Ansätze aufweist (woher mit der Knete?), stellt die Ablehnung von Verwertungslogiken innerhalb eines Projektes einen wichtigen Schutz dar, um die Richtung der Veränderung nicht aus dem Auge zu verlieren. Im Spannungsverhältnis aufgezwungener kapitalistischer Reproduktion und gleichzeitiger größtmöglicher Ablehnung von Tausch- und Vermarktungslogiken innerhalb des Projektes, erhoffen wir uns einen Anreiz für den weiteren Abbau von kapitalistischen Logiken im Zwischenmenschlichen, im Projekt sowie darüber hinaus. Konkret heißt diese Erkenntnis, dass es in und um das HAUS und die beteiligten Projekte keine kommerzielle Verwertung und keine Lohnarbeit in irgendeiner Form geben kann. Das heißt

• Der Verzicht auf jede Form von Lohnarbeit innerhalb des Hauses.
• Freie Preispolitik, d.h. es wird nie Eintritt verlangt und Getränke, Essen und Infrastruktur sind immer nach eigenem Ermessen zu bezahlen.
• Es gibt kein Copyright auf hier produzierte Dinge. Alles darf beliebig weiterverwendet, aber nicht verkommerzialisiert werden.
• Frei produzierte Dinge dürfen nicht verkommerzialisiert und nur gegen freie Preise weitergegeben werden.
• Fixkosten werden solidarisch und kollektiv aufgebracht, keine festgelegten Beiträge.

Mit diesem Ansatz ist es möglich, umsonstökonomische Ideen und Praktiken auch nach Außen zu tragen, statt sich über kommerzielle Projekte (selbstverwaltete Betriebe) die Verwertungslogik schrittweise ins Projekt zu holen. Dies bedeutet, dass viele Menschen im Projekt weiterhin von externer Lohnarbeit abhängig sein werden, aber gleichzeitig bietet dies auch den Anreiz, immer mehr Bedürfnisse umsonstökonomisch abzudecken und somit die Zeit die für externe Lohnarbeit aufgewendet werden muss zu verkürzen. Es ist die Aufgabe der verschiedenen Kollektive und Wohngruppen, sich einen eigenen solidarischen Umgang für die aufzubringende Kohle zu überlegen. Nicht alle werden am Arbeitsmarkt für die gleiche investierte Zeit gleich bezahlt. Es ist wichtig, soziale Herkunft (Klasse, Bildungsstand, Gender, ...) mitzudenken und einen Ausgleich zu schaffen. Deshalb setzen wir keinen fixen Kostenanteil pro Person fest. Das Gesamtprojekt bzw. die einzelnen Kollektive/Wohngruppen sind gemeinsam dafür verantwortlich diese zu decken. Ein anderer Aspekt ist, dass über die externe Lohnarbeit eine Verbindung zu den gesellschaftlichen Zwängen und dem Alltagsleben der meisten Menschen bestehen bleibt, und die Gefahr einer abgekapselten Wohlfühlblase ohne Realitätsbezug nicht so leicht gegeben ist.


Aus: 1x1 für ein Hausprojekt in Wien, Frühsommer 2009

Mehr Infos zum Hausprojekt: http://hausprojekt.noblogs.org/
Kontakt: hausprojekt@riseup.net

Raute

Sonderbare Sonderware

Zur politischen Ökonomie des Wohnens

von Franz Schandl

Wohnungen müssen nicht bloß da sein, sie müssen auch jemanden gehören, also Eigentum sein: Ware auf dem und für den Immobilienmarkt.


Wohnungen, wie könnte es im Kapitalismus anders sein, haben einen Preis, wobei dieser Marktpreis hierzulande einigen restriktiven gesetzlichen Beschränkungen und Auflagen unterworfen ist. Darüber hinaus sind die modernen Haushalte zwangsweise an den Markt angeschlossen, man denke an die Versorgung von Gas, Strom, Wasser oder die Entsorgung von Müll und Abwasser. Die Wohnung ist eine Markteinheit, unabhängig davon, ob ihre Bewohner einer solchen zugehörig sein wollen oder nicht.


Preis statt Menschenrecht

Wohnen ist zwar ein Grundbedürfnis, aber es ist kein Grundrecht. Wer nicht zahlen kann, fliegt raus oder steht ohne Wohnung da. Obdachlosigkeit ist eine schwere Strafe, sie führt aufgrund der rest- wie rastlosen Auslieferung an die Unwirtlichkeiten des öffentlichen Sektors und der zivilen Gesellschaft zu individueller Desorganisation.

Wohnen im Kapitalismus ist somit keine Selbstverständlichkeit, es verwirklicht sich nur über ein bürgerliches Rechtsverhältnis, einen Miet- oder Kaufvertrag. Jedes Wohnrecht ist der Zahlungspflicht untergeordnet. Das gilt übrigens auch für andere Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Kleiden. Sie sind den ideellen Menschenrechten (Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit) nicht gleich gestellt, werden von den bürgerlichen Gesellschaften nicht garantiert, sondern haben sich über den Markt zu realisieren. Wohnungsinhaber müssen Wohnungseigentümer oder Wohnungsmieter sein, so die Regel, oder von den beiden Letzteren als Bewohner geduldet werden, so die Ausnahmen.

Der Preis der Häuser und Wohnungen rührt aus dem Wert zweier unterschiedlicher Revenuen, einmal aus dem Kapital (die erbaute Wohneinheit) und einmal aus der Grundrente (das Land, auf dem es steht). "Der Verkauf einer Ware besteht bekanntlich darin, dass der Besitzer ihren Gebrauchswert weggibt und ihren Tauschwert einsteckt. Die Gebrauchswerte der Waren unterscheiden sich unter anderem auch darin, dass ihre Konsumtion verschiedene Zeiträume erfordert. Ein Laib Brot wird in einem Tage verzehrt, ein Paar Hosen in einem Jahr verschlissen, ein Haus meinetwegen in hundert Jahren. Bei Waren von langer Verschleißdauer tritt also die Möglichkeit ein, den Gebrauchswert stückweise, jedes Mal auf bestimmte Zeit, zu verkaufen, d.h. ihn zu vermieten. Der stückweise Verkauf realisiert also den Tauschwert nur nach und nach; für diesen Verzicht auf sofortige Rückzahlung des vorgeschossenen Kapitals und des darauf erworbenen Profits wird der Verkäufer entschädigt durch einen Preisaufschlag, eine Verzinsung, deren Höhe durch die Gesetze der politischen Ökonomie, durchaus nicht willkürlich, bestimmt wird. Am Ende der hundert Jahre ist das Haus aufgebraucht, verschlissen, unbewohnbar geworden. Wenn wir dann von dem gezahlten Gesamtmietbetrag abziehen: 1. die Grundrente nebst der etwaigen Steigerung, die sie während der Zeit erfahren, und 2. die ausgelegten laufenden Reparaturkosten, so werden wir finden, dass der Rest im Durchschnitt sich zusammensetzt: 1. aus dem ursprünglichen Baukapital des Hauses, 2. aus dem Profit darauf, und 3. aus der Verzinsung des nach und nach fällig gewordenen Kapitals und Profit." (Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage (1872), MEW 18:270)


Ökonomie der Mieten

Im Kauf wird das Vertragsverhältnis durch einen Akt eingelöst. Der Abschluss setzt diesem Vertragsverhältnis ein Ende, die Ware Wohnung oder Haus wird übergeben. Was der Käufer mit der Ware tut, geht den Verkäufer gar nichts mehr an. Bei der Miete hingegen setzt der Abschluss das Vertragsverhältnis erst in Gang. Mieter und Vermieter binden sich aneinander, gerade weil die Ware nicht den Eigentümer wechselt, sondern bloß Nutzungsrechte auf Zeit den Besitzer wechseln. Der Mieter ist daher dem Vermieter jedes Monat den Zins schuldig. Bei der Miete wird eine Zeit in einem Raum verkauft, ohne dass der Raum verkauft wird. Was der Mieter mit dem Raum in dieser Zeit macht, ist aber nicht ganz seiner Autonomie überlassen. Vermietung ist Verkauf ohne Entledigung, Besitzer und Nutzer fallen auseinander.

Der Mieter zahlt den Vermieter, ist also Käufer einer Ware, ohne zu deren Eigentümer zu werden. Der Vermieter erhält Geld, weil er Teile seiner Verfügung per Vollmacht auf Zeit begrenzt entäußert. Der Arbeiter hingegen verkauft eine Ware. Seine Ware, die Arbeitskraft wird am Arbeitsmarkt nachgefragt und angekauft. Ökonomisch betrachtet sind so der Mietgegenstand und die Arbeitskraft das zu Veräußernde, während die Wohnung und die Arbeit das Anzueignende sind. Der Mietgegenstand ist im Wesentlichen tote Arbeit, die Arbeitskraft hingegen produziert lebendige Arbeit.

Zur Konkretion: Bei der Lohnarbeit wird Zeit für die Anwendung der Arbeitskraft verkauft, ohne dass der Lohnarbeiter verkauft wird. Was der Käufer in dieser Zeit mit der Arbeitskraft macht, bleibt auch ihm überlassen. Im Gegensatz zur Vermietung ist das aber kein Zeitkauf eines fertigen Produktes, sondern der Zeitkauf einer abzuschöpfenden Potenz.

Dass Lohnarbeiter zu Kapitalisten sich anders verhalten als Mieter zu Hausherrn, wusste schon Friedrich Engels: "Der Arbeiter, ob seine Arbeit vom Kapitalisten unter, über oder zu ihrem Wert bezahlt wird, wird immer um einen Teil seines Arbeitsprodukts geprellt; der Mieter nur dann, wenn er die Wohnung über ihren Wert bezahlen muss. Es ist also eine totale Verdrehung des Verhältnisses zwischen Mieter und Vermieter, es mit dem zwischen Arbeiter und Kapitalisten gleichstellen zu wollen. Im Gegenteil, wir haben es mit einem ganz gewöhnlichen Warengeschäft zwischen zwei Bürgern zu tun, und dies Geschäft wickelt sich ab nach den ökonomischen Gesetzen, die den Warenverkauf überhaupt regeln, und speziell den Verkauf der Ware: Grundbesitz." (MEW 18:216)

Das Wohnrecht trägt diesen komplexen Verhältnissen auf unterschiedliche Weise Rechnung. Einerseits sind Mieter gegenüber öffentlichen Ämtern und Institutionen weitgehend rechtlos, da sie über keinen Eigentumstitel verfügen, somit also einen inferioren Rechtsstatus genießen. Auch heute gilt noch, was Wilhelm Kainrath einstens festgehalten hat: "So war es schon bisher. Im gesamten Baurecht sind nur die Grund- und Hauseigentümer Gesprächspartner der Behörde." Und er zitiert gleich anschließend eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. November 1911, die da lautet: "Weder durch die Beziehung zur Verhandlung noch durch die Zustellung des Bescheides können dem Mieter Parteirechte entstehen." (Neues FORVM, Heft 219, März 1972, S. 23.) So wie 1911 1972, so wie 1972 2009.

Andererseits müssen wir auch festhalten, dass auf der formal-rechtlichen Ebene Mieter in einigen Punkten besser gestellt sind als Vermieter, z.B. kann der Mieter kündigen ohne Gründe anzuführen, aber nicht gekündigt werden ohne Grund. Ohne diesen Sonderstatus wären die Mieter auch völlig der Willkür der Hausherren ausgeliefert. Ihre Abhängigkeit wäre absolut. Die Markstellung des Erwerbers einer Unterkunft ist in gewisser Hinsicht durchaus vergleichbar mit jener des Verkäufers der Ware Arbeitskraft, auch wenn der eine etwas loswerden will und der andere etwas erwerben möchte. Beider Stellung ist eine Minderstellung, weil die Ware, um die es jeweils geht, eine ist, auf die sie unbedingt angewiesen sind. Dass Mieterschutz notwendig ist, sagt freilich auch alles über die Erbärmlichkeit dieser Marktbeziehung aus, vor allem weil sie Mieter zu infantilen Subjekten erklären muss.


Markt und Staat

Das vorrangige Ziel der Immobilienbranche besteht nicht in der Schaffung von Wohnraum, sondern in der Erzielung und Erhöhung der Renditen. Daher ist es ökonomisch ratsam wie reizvoll, Leute mit niedrigen Mieten aus den Häusern zu drängen, um sie durch Hausparteien zu ersetzen, die oft das Doppelte bis Dreifache berappen und auch noch brav sieben Monatsmieten im Voraus (vier Monatsmieten Kaution, drei Monatsmieten Provision) abliefern. Gerade die Gentrifizierung bestimmter Stadtteile lässt eine aggressive Absiedelungspolitik der Hauseigentümer keimen. "Assanierung bedeutet Vertreibung der ärmsten und kaufschwächsten Bewohner aus dem City-Gebiet", schrieb Kainrath schon vor mehr als 35 Jahren." (Ebenda, S. 24)

Wolfgang Louzek, der Präsident der institutionellen Immobilien-Investoren bringt die Sicht der Branche im Standard vom 22. September 2009 auf den Punkt: "Die Mieter zahlen zu wenig, insbesondere bei Altverträgen und Richtwertmieten". "Die Lösung wäre, diese ganzen Preisregelungen über Bord zu werfen. Die Mieten muss der Markt regulieren, alles andere führt zu nichts." Was den Mann wohl besonders ärgert ist, dass gesetzliche Bestimmungen den Profit hemmen, was sie ja zweifellos tun. Daher fordern Vermieter auch stets die Lockerung oder gar Abschaffung des Mieterschutzes.

"Der Markt regelt sich selbst", posaunt der Mann allen Ernstes. Aber so wirklich gegen den Staat ist er natürlich nicht, im Gegenteil verlangt er im gleichen Interview, dass die öffentliche Hand via Mietzuschuss sicherstellt, dass sich Wohnungsbedürftige die Wohnungen leisten können. Forsch fordert er damit nichts anderes, als dass die Gewinne der Vermieter durch die Allgemeinheit bezahlt werden. Denn nicht die Mieter werden durch Mietbeihilfen gefördert - diese sind nur ein Durchlaufposten -, sondern die Vermieter. Indirekt gibt Louzek damit zu verstehen, dass der Markt das Wohnbedürfnis überhaupt nicht regeln kann. Unser Marktfanatiker ist gar nicht gegen den Staat, er möchte lediglich, dass die Protektion sich anders positioniert.


Sonderfall Wohnen

Nicht bloß die Miete ist ein Sonderfall, sondern Wohnen als Ware überhaupt. Warum?

Erstens: Wohnraum ist nicht nur eine Ware, sondern auch eine Immobilie, d.h. sie ist fest an einen Ort gebunden. Somit auch ihr Erwerber, d.h. er legt sich mit Kauf oder Miete örtlich fest. Der Käufer holt die Ware nicht zu sich, sondern sich zur Ware. Daraus ergeben sich eine Unmenge von Konsequenzen. Man denke an die vergleichsweise hohen Kosten, die bei Kauf und Anmietung anfallen (Kaufpreis, Kaution, Provision, Vergebührung, Umzugskosten, Ausfallskosten), ebenso die dafür aufgewandten Zeiten und Energien der Übersiedelungen.

Zweitens: Wohnung ist eine langfristige Entscheidung, weil ihr Konsum ein langfristiger ist. Nicht nur der Ort ist gebunden, auch die Zeit. Die Wahl für diese oder jene Wohnung ist eine andere als für diesen oder jenen Wein, dieses oder jenes Waschmittel. Kauf und Anmietung sind somit unabhängig vom Preis eine jeweils eminente Disposition, die weit über die unmittelbare Lebenslage hinauswirkt. Wir treffen damit Verfügungen für Zeiträume, die wir gar nicht kennen. Fehlentscheidungen fallen bei Wohnungen größer ins Gewicht.

Drittens: Das Wohnbedürfnis ist allgemeiner und quasi unbedingter Natur, man kann sich kaum aussuchen, ob man wohnen will oder nicht. Man muss. Dieser Mangel ist existenziell. Diese Not kann also nicht einfach durch andere Bedürfnisse substituiert werden. Gemeinhin werden Wohnungen nicht gesucht, weil man sie will, sondern weil man sie braucht. Die Wohnung ist ein unbedingter Gebrauchswert, der das Kriterium der Unverzichtbarkeit erfüllt. Der Gebrauchswert hat etwas von einer Vorbestimmung, die jede Selbstbestimmung am Markt übersteigt.


Einseitige Konfrontationen

In ihrer Studie "Soziologie des Wohnens" schreiben Hartmut Häußermann und Walter Siebel, "dass geringe Marktf ähigkeit einhergeht mit geringer Kenntnis der eigenen Rechte beziehungsweise größerer Scheu, sie in Anspruch zu nehmen. Zum anderen werden Wohnprozesse dargestellt als Prozesse der Gewöhnung: an zuviel Lärm, steigende Kosten, schlechte Ausstattung und Überbelegung. Diese Gewöhnungseffekte sind ein weiterer Grund für die geringe Konfliktträchtigkeit (...)" (S. 292)

Die Hausinhabungen spekulieren zu Recht darauf, dass die Mieter auf Konflikte verzichten, weil diese ihnen einerseits zu mühsam sind, zu viel Zeit und Geld kosten und es sich andererseits oft bloß um geringe Beträge handelt, die sich kumuliert aber für die Vermieter durchaus hochrechnen. Deren Stärke liegt in den atomisierten und ruhiggestellten Mietern. Diese sind nicht nur schlecht organisiert, sie sind meist gar nicht organisiert. Interessenvertretungen erscheinen ihnen als zusätzliche Verursacherinnen von Kosten. So leben Mieter nebeneinander, haben wenig Ahnung voneinander und wollen diese als bürgerliche Subjekte auch gar nicht haben. Die gute und gepflegte Nachbarschaft ist in diesen Zeiten ziemlich sistiert, sowohl aufgrund des ökonomisch dimensionierten Zeitdrucks als auch wegen der mentalen Zurichtung.

Was kümmern mich die anderen? Viele gehen als "souveräne Bürger" davon aus, dass sie es sich selbst richten können. Die Empörung ist oft groß, doch sie überwindet Passivität und Fatalismus kaum. Die Aufregung bleibt meist in ihr selbst stecken und verpufft ohne Wirkung. Aber auch wenn mündige Bürger auftreten, aufgetakelt mit einem freien Willen und einem Faible für Gerechtigkeit, gleicht dies nicht selten einem Kampf gegen Windmühlen. Dass Mieter gegen Vermieter vorgehen, kommt seltener vor als umgekehrt.

Ein Ungleichgewicht besteht auch darin, dass die Eigentümer und ihre Vertreter an solche Konfrontationen gewöhnt sind. Sie sind an Erfahrungen reich und überlegen, verfügen über bezahlte Angestellte und betreiben die Auseinandersetzung mehr oder weniger professionell. Ihre Geschäftstätigkeiten werden außerdem von den Mietern finanziert. Diese zahlen nicht nur für sich, sondern auch gegen sich. Selbst im Falle einer Niederlage sind die Hausbesitzer und Verwaltungen nicht unmittelbar oder gar persönlich betroffen, sondern lediglich als Geschäftsträger involviert. Emotional hängen sie nicht an einer bestimmten Wohnung. Verlieren Mieter ihre Wohnung, verlieren sie nicht irgendetwas, sie verlieren ihren bisherigen Lebensmittelpunkt.


Ebenenwechsel

Was tun? - Die Analyse der eigenen wie fremden Stärken und Schwächen ist Voraussetzung, um Konfrontationen erfolgreich führen und bestehen zu können. Eine solide Informationssammlung ist unabdingbar: Anzulegen sind Notizen, Vermerke, Tagebücher, Fotos, Dokumentationen aller Art. Kontraproduktiv ist das Versteifen auf irgendeine Art von Gerechtigkeit. Juristische Mittel sind die stumpfesten Waffen. Gerichtliche Auseinandersetzungen kosten Zeit und Nerven, dauern sehr lange, und ihr Ausgang ist oft ungewiss und zufällig. Man solle seine Rechte kennen, man sollte sie aber nicht überschätzen.

Am allerwichtigsten ist der Ebenenwechsel. Dies meint erstens von der Defensive in die Offensive überzugehen, Reagieren durch Agieren zu ersetzen. Zweitens sollte eins selbst die Kampffelder bestimmen, soweit dies möglich ist. Die Gegenseite muss auf ein Terrain gezwungen werden, das nicht ihres ist und wo ihr die ganze Routine wenig nützt. Das erfordert eine planmäßige Vorgangsweise und einen strategischen Mix der Instrumentarien und Methoden. Vor allem das Internet und andere neue Medien bieten da zusätzliche Chancen. Gezielte Subversion und berechnende Multiplizierung der Kontakte sollen eine den Fall zuträgliche spezifische Öffentlichkeit schaffen.

Indes, nur wer Zeit, Möglichkeit, Energie, Courage, Wissen hat, weiters über genügend Kompetenz, Infrastruktur und Netzwerke verfügt, kann das tun. Und man muss das nicht bloß können, man muss es sich auch leisten können. Insofern war unsere Auseinandersetzung mit der Niederösterreichischen Versicherung, unserem Hausbesitzer in der Margaretenstraße recht lehrreich, siehe:
http://www.streifzuege.org/2008/darfman-kinder-in-einen-vogelkaefig-sperren

Es geht aber nicht darum, den Kohlhaas zu spielen. Der individuelle Kraftakt kann nicht den kollektiven Zusammenschluss der Betroffenen ersetzen, er zeigt aber in Ansätzen an, was möglich sein könnte, käme es zu koordiniertem Auftreten. Alleine wenn Erfahrungen und Informationen weitergegeben werden könnten, wäre das ein großer Fortschritt. Macht funktioniert ja nur, wenn Ohnmacht sie zulässt und somit ermächtigt.

Roger Behrens stellt in seinem Beitrag fest, dass es "keine kollektive Praxis in Bezug auf Mieterinteressen gibt" (S. 18). Das ist richtig, aber ist es unbedingt zwingend? Wäre es nicht geradezu notwendig, sich auch hier die Frage der Organisierung zu stellen? Ist die Mieterinitiative so abwegig? Könnte man sie nicht einbauen in die Frage nach dem guten Leben? Vermag das Wohnen mehr als individueller Rückzug zu sein, könnte es unter Umständen auch zum gemeinschaftlichen Aufbruch, ja Aufstand beitragen? Welche Wohntypen wären dafür zusätzlich zu inaugurieren?

Die richtigen Fragen müssen, wie so oft, erst gestellt werden. Perspektivisch haben die Schranken zwischen jenen, die noch brav zahlen und jenen, die nicht mehr zahlen können oder wollen, überwunden zu werden. Wie erobern sich welche den Freiraum? Wie bleiben Leute in ihren Wohnungen, ohne dass sie zahlen müssen? Wie gelingt es, Wohnen als auch andere Bedürfnisse aus dem Warenverhältnis zu befreien? - Nicht nur Häuser gilt es zu besetzen, auch das Leben selbst muss besetzt werden.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Büro 2.0: Vom Wohnen in der Legebatterie

Dieser Beitrag entsteht nur zwei Meter von meinem Bett entfernt, ich trage sogar noch das Nachthemd. Schön, wenn man das prickelnd findet - der Kollateralnutzen einer Misere. Wer will denn schon seine Haut auf dem Arbeitsmarkt dafür verkaufen, um ebendas in einem größeren Raum zu erledigen? Außerdem muss sich noch vor der Büromiete zumindest jene für die Wohnung ausgehen. Fakt ist, dass die Schreibarbeit in einer Festanstellung nicht glücklich macht. Fakt ist, dass die Schreibarbeit ohne Festanstellung nicht reich macht.

Also haut man sich einen Arbeitsbereich in der ohnehin nicht eben quadratmeterstarken eigenen Bleibe heraus. Psychohygieniker wiegen an dieser Stelle wegen des Ineinsfallens aller wichtigen Lebenseinrichtungen - Arbeit, Liebe, Schlaf und Steuererklärung - besorgt ihre Häupter. Und zu was? Zu Unrecht! Wer weniger arbeitet, kann länger im Bett liegen. Leistung lohnt sich doch ohnehin nur noch punktuell. Wer auf Abruf im Bett auf der Lauer liegt, jederzeit telefonisch erreichbar und bereit zum Sprung auf den Bürosessel, kann für seinen Auftraggeber das Optimum aus der eigenen Arbeitskraft herausholen. Wer die Anfahrtswege zur Arbeitsstelle auf das In-die-Hausschuhe-Fahren reduziert, agiert nicht nur CO2-neutral, sondern fixkostenideal. Die raumzeitliche Entgrenzung von Arbeit und Privatleben hilft beim Honorar-Dumping und sichert weitere Aufträge - kein anderer Freelancer ist sonst so blöd: meine Unique Selling Prosti... pardon: Proposition.

Der Überdruss an den - ohnehin nicht eigenen - vier Wänden ist im Vergleich zu Schulden oder den Mühen der Organisation einer Generalrevolution das geringere Übel. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss mein Büro saugen.

D.M.

Raute

Ausharren im Nirgendwo

Flüchtlinge in Deutschland

von Birgit v. Criegern

Flüchtlinge in Deutschland "wohnen" unter miserablen Bedingungen zu großem Teil in Wohnheimen und Lagern abseits der Gesellschaft. Ob mensch den Berichten der "Flüchtlingsinitiative Berlin-Brandenburg" zuhört, die Homepage von "The Voice Refugee Forum" liest oder die Lagebeschreibung (und: Lagerbeschreibung) des Flüchtlingsrates Bayern nach der "Lagerinventour 2009" studiert, meistens begegnen Feststellungen wie: "im Wald gelegen, mehrere Kilometer vom Dorf X.", "am Stadtrand, im Industriegebiet", "bis zum Bahnhof drei Kilometer Fußweg" usw. usw. Die Handhabung, Flüchtlinge an den Peripherien, in der Einöde unterzubringen, ist inoffizielle politische Regel und gesellschaftlich umstandslos akzeptiert. Ohne dass es geschrieben stünde, gilt: Flüchtlinge haben in dieser Gesellschaft kein Recht auf soziale Teilhabe. Und sie haben auch kein Recht auf Wohnen - darauf, sich als Menschen zu fühlen, selbstbestimmt zu sein und unter anderen Menschen zu wohnen.

Der Flüchtling Felix Otto aus Kamerun, der im April 2009 ins Gefängnis gehen musste, nur weil er gegen das Gesetz der Residenzpflicht verstieß - ein in der EU einmaliges deutsches Gesetz, das die Bewegungsfreiheit der MigrantInnen im Inland stark einschränkt - schrieb einen kurzen Brief aus der JVA in Suhl, Thüringen, an seine UnterstützerInnen von der Karawane für das Recht der Flüchtlinge: "Hallo (...) Ich bin seit neun Jahren in Deutschland. Es ist eine große Zeit in meinem Leben: ohne Zukunft, immer in einem Isolantewohnheim 30 km entfernt von jeder Stadt, kein Supermarkt, keine Apotheke. (...)"

Während sich manche deutsche GegenwartsdichterInnen um originelle Erfindungen abmühen, formulierte Otto hier aus dem Gefängnis heraus eine frappierende Bezeichnung, treffend und bissig zugleich. Sie verweist auf das Peinlichste, Schäbigste, was unsere Gesellschaft zu bieten hat - die Flüchtlingsunterkünfte. Er selbst bezog sich dabei auf "sein" Wohnheim in Rodarabrunn, im thüringischen Landkreis Schleiz, abseits der Gesellschaft. Zwei Kilometer entfernt liegt die bayrische Grenze. Die nächste größere Ortschaft, Kronach, die sich für Einkäufe und z.B. Telecafé-Besuche anbot, ist jenseits dieser Grenze. Weil er diese mehrmals ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde übertreten hatte, wurde er zu acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. So schreibt es die "Residenzpflicht" vor. Die Asylantenwohnheime sind "Isolantewohnheime": ein treffendes Urteil für dieses Institut, trotz behaupteter freiheitlich-demokratischer Grundordnung, deren PolitikerInnen so gerne die "humanitären Mängel" anderswo anprangern. Felix Otto wurde im August aus dem Gef ängnis heraus nach Kamerun abgeschoben - der politisch Oppositionelle hoffte vergeblich auf Hilfe und Asyl in Deutschland. Doch für die Öffentlichkeit war er da schon kein Unbekannter mehr wie so viele andere: "The Voice Refugee Forum" hatte gegen seine Abschiebung protestiert und den Fall in die Medien gebracht.

In den meisten Bundesländern gilt zwar, dass Flüchtlinge nach der "Erstaufnahme" in Heimen und Lagern eine eigene private Wohnung bekommen können - doch nicht immer zwingend. Die große Mehrzahl der abgelehnten AsylbewerberInnen mit "Duldungs"status (mehr als hunderttausend insgesamt in der BRD) wird zeitweise oder dauerhaft in eine "Gemeinschaftsunterkunft" verwiesen - mit der Begründung, sie müssten ausreisen, ihre Passangelegenheiten in Ordnung bringen. Ein Druckmittel also. Da haben dann Flüchtlinge an den Peripherien auszuharren, zumeist in Containerbauten oder alten Kasernen, während sie versuchen, die deutsche Regierung von ihren Fluchtgründen zu überzeugen - politische Verfolgung, Not und Krieg in ihrem Herkunftsland. Hier soll es nur um ein Beispiel von vielen gehen.


Möhlau zum Beispiel

Das Lager Möhlau in Sachsen-Anhalt ist eines unter vielen. Eine frühere Sowjet-Plattenbaukaserne im Wald gelegen, abseits der Städte und ungefähr acht Kilometer entfernt von einem Bahnanschluss. Sie ist nach der Wiedervereinigung nicht saniert oder abgerissen worden, wird seit mehr als zehn Jahren als Flüchtlingsheim genutzt. Hier "wohnen" derzeit hundertachtzig Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche. Sie kommen aus Benin, China, Kosovo, Sierra Leone, Syrien und anderen Ländern.

Ich habe das Lager besucht, zu dem es Info-Material von der Organisation "No-Lager-Halle" (ludwigstrasse37.de/nolager) und der Initiative "Togo Action Plus" (togoactionplus.wordpress.com) gibt.

Die Bausubstanz ist sehr heruntergekommen. Die düsteren Treppenaufgänge führen zu den Unterkünften auf mehreren Etagen. Die Türen aus billigem Holz sind teilweise kaputt, löcherig oder hängen schief in den Angeln. Auf engstem Raum sind mehrere Flüchtlinge, oft große Familien untergebracht.

Die Möbel sind oft notdürftig zusammengeflickt, durchgesessen, schäbig. Mehrere Wohnungen teilen sich eine Gemeinschaftsküche, die aus einem kahlen Raum mit mehreren Herden besteht.

Sieht mensch aus dem Fenster, geht der Blick auf ein Waldstück einerseits und auf eine versiegelte Betonfläche und mehrere alte mit Brettern provisorisch vernagelten Baracken andererseits. "Nachts hört man die Wildschweine", sagt einer der Bewohner. Ein anderer, der hier schon seit mehr als zehn Jahren lebt, sagt: "Dieser Ort ist so gut wie alles, was ich von Deutschland kenne." Er spricht vor allem Französisch, konnte sich Deutsch nur teilweise im Lauf der Jahre selbst aneignen, der Besuch von Deutschkursen in der Stadt wurde ihm nicht erlaubt.

Bei gutem Wetter stellen die Männer auf dem Hof, vor den Baracken, einen klapprigen Tisch auf und spielen Karten, mehr Zerstreuung ist nicht drin. Die Frauen hängen hier draußen die Wäsche auf. Die Kinder laufen zwischen den Baracken herum. Es herrscht eine merkwürdige Zeit- und Ortlosigkeit. Die weite Entfernung zu den bewohnten Gegenden, zu den größeren Ortschaften (20 Kilometer nach Dessau, 30 nach der Lutherstadt Wittenberg, der Landkreishauptstadt), schafft von selbst eine Abschottung. Auch der selten fahrende Bus kann keine Verbindung für die Flüchtlinge herstellen - von ihrem kargen "Taschengeld" können sie keine Busfahrten bestreiten. Es herrscht eine Art Ausnahmezustand in einem gesellschaftlichen Nirgendwo, welcher von Administration und Politik wissentlich herbeigeführt ist. Ein Nirgendwo mitten in der hochentwickelten deutschen Informationsgesellschaft. Struktureller Rassismus, sagt die Flüchtlingsinitiative "Togo Action Plus".

Salomon Wantchoucou wohnt seit 2008 in Möhlau. Er ist politischer Flüchtling aus Benin, ein Oppositioneller. Die Kugel, die seine Gegner auf ihn abgefeuert hatten, konnte er erst hierzulande in Zerbst herausoperieren lassen. Als Beweisstück für ein Asylrecht hat sie für die Behörde nicht ausgereicht - Wantchoucou muss weiter darum kämpfen, als politisch Verfolgter hier bleiben zu dürfen. Er dokumentierte die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge hier im Lager, gründete die "Flüchtlingsinitiative Möhlau", organisierte eine Kundgebung im Juli mit. Und er schrieb mit den Flüchtlingen im April 2009 einen offenen Brief an die Ausländerbehörde in Wittenberg, in dem sie private Wohnungen in der Stadt forderten.

Dieser war im Frühjahr von den Behörden abschlägig beschieden worden. Doch nachdem ein Flüchtling von Möhlau unter ungeklärten Umständen an Brandverletzungen gestorben war, interessierten sich die Medien für die Möhlauer Lebensverhältnisse. Zugleich bereiteten die MigrantInnen eine Demonstration in Wittenberg vor. Am 30. Juli forderte die "Flüchtlingsinitiative Möhlau" sowie "No-Lager-Halle" und "Togo Action Plus" öffentlich eine dezentrale Unterbringung für die Betroffenen in Wohnungen. Jetzt, im Herbst, werden die Behörden wohl darüber entscheiden, ob Möhlau bleibt. Und von den anderen Lagern ist nicht einmal die Rede.


*


"Wittenberg is very very far from here"

Aus einem Gespräch, das "Togo Action Plus" im Mai 2009 über Möhlau mit Herrn Wantchoucou führte.

(Danke an die Initiative für die Überlassung von Bandaufzeichnungen.)


W.: The word of integration is a politicial word they use to blasphemy some certain things but internally some Landkreises have not even been trying to integrate the refugeees that have been living here for many years. Like for Möhlau, as long as I have been here, I have never seen people from government coming to the refugees (...), giving them information about the system and the state, so this people have been aparted out of the system by racial intend. (...)

You refugees have been saying that Möhlau must be closed. What are the most important reasons to this?

W.: Now, this Heim: The building is not what we are talking about, but the position of the Heim is not good for refugees because of lack of transportation system, lack of a place that is near to buy something. Everybody living here, all the Germans living in the small city Möhlau, have car. So we refugees don't have car and we cannot support to be travelling from here to Dessau, to Gräfenhanichen, to buy goods that can be more than twenty kilo, thirty kilo at the same time. (...) how can this person go, itself, and go to a place very far, seven kilometres, twenty kilometres, and this even in winter, and all over the year (...)

Children are traumatised because of lack of seeing some people to which they will play together, to see some different kind of things. Then, if you want to create a Heim, create a Heim in Wittenberg! (...) And there's a lot of empty houses everywhere, but the system wants that we must live in this isolated area. This is why we also told to the company who make this Heim, that they must close it (...), because they are making money with it, while innocent refugees get traumatised, some are trying to kill themselves, living in this situation for many, many years.

Are you getting pocket-money, and then, how do you evaluate the Gutschein?

W.: We are getting pocket-money of 20 Euro, so (...) we are using Gutschein of 130 Euro (pro Kopf und Monat, Anm. B.v.C.). So imagine a man living with this, a 130 Euro Gutschein in which it is obligatory that he will not buy this, he will not buy that. So, in African culture for example, we not always eat much sugar, or not eat things that are made with much sugar, and we cannot find things that are adapted to our situation, but that could cause diseases or diabetics and so on. Even, if we go to Gräfenhainichen and back for buying things, for one time, 10 Euro is gone from the pocket money. And also we cannot think of buying dresses, because dresses is not allowed from the Gutschein. You will not buy shoes, you will not buy a lot of things. Now how would you live? This is a criminal act. So we are telling the foreigner office of Wittenberg to stop this nonsense. (...)

How about the problem of Krankenschein, how does this work, what happens if a person is getting ill, while this place is far out?

W.: Now Wittenberg is very, very far from here, about 30 kilometres. It is where the Sozialamt is (...) They don't have the already prepared Krankenschein. So if you are sick, you have to call Wittenberg, where they have to prepare this, and this can take many days. (...) Imagine that somebody can be chronically ill, and has to go to the house doctor, but he has no transport system, so now if someone is sick, he'll have no energy, and before he takes the bicycle and goes to the house doctor, he could in the streets collaps or even die. (...) So who causes these consequences, that is Wittenberg Sozialsystem. (...) So we say, the people of this system should accept human dignity and think about a better system for integrating foreigners, refugeees, about a better way of life.

Raute

Hinterwirklichkeiten

Gedanken zum literarischen (Wohn-)Raum von Rainer Maria Rilke bis Botho Strauß und David Foster Wallace

von Nicoletta Wojtera

I. Präliminarien

Die Möbel haben längliche Formen, matt liegen sie da. Sie wirken, als träumten sie; man könnte meinen, sie besäßen ein nachtwandlerisches Leben, wie das Reich der Pflanzen und Mineralien. Die Stoffe sprechen eine stumme Sprache, wie Blumen, wie Himmel, wie untergehende Sonnen (...).

Das paradiesische Zimmer (...), all dieser Zauber ist mit dem rohen Schlag des Gespenstes verschwunden.

O Schrecken! Ich erinnere mich! Ich erinnere mich! Ja! Dieses elende Loch, dieser Ort ewigen Überdrusses - es ist ja meine Behausung. Da sind die dummen Möbel, staubig und angeschlagen; da der Kamin ohne Flamme und ohne Glut (...).

O ja! Die Zeit ist wieder erschienen; die Zeit herrscht jetzt unumschränkt (...).

Ich versichere euch, dass die Sekunden nun stark und feierlich staccato erklingen, und jede sagt, während sie von der Wanduhr springt: 'Ich bin das Leben, das unerträgliche, das unversöhnliche Leben!'"

(Charles Baudelaire, Das doppelte Zimmer)


Mit Baudelaire, mit den "Blumen des Bösen" und den Prosagedichten des "Pariser Spleen", beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts die Moderne als umfassender Paradigmenwechsel, als das "Staccato" in der Seinsdefinition menschlicher (Ko-)Existenz. Wie sich dieses Staccato der Moderne auch fortsetzen mag - eine Frage, die uns im Verlauf dieser literarischen Wohnerkundung beschäftigen wird -, hier bricht es sich zunächst in der Dissonanz zwischen erfahrener Lebenswirklichkeit und gesuchter Selbstverortung Bahn. Die Diffusion der Existenz innerhalb der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse von Industrialisierung, Urbanisierung und Dynamisierung wird zum bestimmenden Parameter, und sie determiniert den Reflexionsmodus nicht nur der Literatur.

Baudelaire wählt das "Doppelte Zimmer", das Sein im Wohnen als Maß der Entropie der modernen Existenz, und Edgar Allan Poe stellt etwa zeitgleich in seiner "Philosophie der Einrichtung" fest:

"(...) Textilien mit gewaltigen, wuchernden und ausgreifenden Zeichnungen, von Streifen durchsetzt und in allen Farbtönen erstrahlend, zwischen denen kein Untergrund sichtbar ist -, so sind sie nur die üblen Erfindungen einer Sorte von Opportunisten und Geldschefflern - von Kindern des Baal und Verehrern des Mammon - von Utilitaristen, die, um am Denken zu sparen und die Phantasie einträglich zu machen, grausamerweise zuerst das Kaleidoskop erfanden und dann Aktiengesellschaften gründeten, um es durch Dampfkraft zu bewegen (...)."

(Edgar Allan Poe, Die Philosophie der Einrichtung)


Damit wird bereits jetzt, in der anbrechenden zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem Prosagedicht Baudelaires und dem Essay Edgar Allan Poes virulent, was Panajotis Kondylis im "Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" knapp 150 Jahre später auf den erkenntnistheoretischen Punkt einer verpassten Komplementärfunktion zwischen Kultur und Natur bringt: "Die Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese durch Angriffe, die von verschiedenen, ja geradezu entgegengesetzten Seiten kamen, verwandelte alles, was vorher nur als organisiertes Ganzes gedacht werden konnte (...) in Teile oder Fragmente, die nicht mehr in notwendigen Beziehungen zueinander standen." Es geht um nichts weniger als "die Auflösung der bürgerlichen Normhierarchie". (Kondylis, 2007)

Und genau in diesem Moment, im Moment der Ablösung einer bürgerlich existenziellen Harmoniestruktur, setzt mit Baudelaire eine Literatur ein, die das Wohnen und damit die Bedingungen lebenswirklicher Räumlichkeit in der Frage nach der Selbstverortung des Menschen instrumentalisiert - in welcher Form, zu welchem Ende? Wir werden sehen.

Parallel zu Kondylis überführt Bruno Latour eben diese verpasste Komplementärfunktion in die "Hybriden", in die "Quasi-Objekte" einer zweifelhaften Moderne, die vielleicht "nie modern gewesen" ist? Mit Baudelaire und Poe kündigt sich ein Spannungsbogen an, dessen kontingenter Spannungsgehalt von einem paradoxalen Welterfahren gespeist wird, das in Form einer "Ästhetik des Hässlichen" die Möglichkeiten der Negation kumuliert und diese als Produktivkraft für die Literatur einsetzt. Eine Literatur, die mit Friedrich Nietzsche die Illusion der Wahrheit einer Ordnung, einer "Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen" produktiv demontiert, "denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt gibt es keine Kausalität (...), sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten." (Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne)

Baudelaire nennt die Sphären Nietzsches beim Namen: das "doppelte Zimmer", durchzogen von der Parallelität des Überdrusses und des paradiesischen Zaubers, der "moderne" Subjekt-Objekt-Dualismus, literarisch im umgebenden Wohnraum verortet.


II. Gedanken

Gedanken zum Grimm'schen Wörterbuch

Das Grimm'sche Wörterbuch weist unserer literarischen Wohnerkundung den Weg: Die Etymologie von Wohnen gründet auf "sich behagen, zufrieden sein" und "sich an einer Stelle wohl befinden". Welchen Weg nimmt dieses Wohlbefinden in der (Post-)Moderne?

Gedanken zu Heideggers "Wohnen des Menschen"

Heidegger diskutiert unter der Überschrift "dichterisch wohnet der Mensch" nicht nur Hölderlins Frage nach dem unbekannten oder offenbaren Gott; vielmehr formuliert sein Vortrag aus dem Jahr 1951 die zunehmend virulenter werdende Frage nach dem Ende der "bürgerlichen Denk- und Lebensform" und damit die Frage nach dem "Ende der großen Erzählungen". Wenn Hölderlin in der Dichotomie von Natur und Mensch die dichterische Synthese eines Lebens im Tod, denn - "Tod ist auch ein Leben" (Hölderlin, In lieblicher Bläue), entwickelt, sieht Rainer Maria Rilke in ebendieser Dichterexistenz bereits den unüberwindlichen Widerspruch des Menschen zwischen Wohnen und Leben. Und in ebendiesem Kraftfeld ruft Malte Laurids Brigge: "O was für ein glückliches Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter lauter ruhigen, sesshaften Dingen (...). Zu sitzen (...) und ein Dichter zu sein. Und zu denken, dass ich auch so ein Dichter geworden wäre, wenn ich irgendwo hätte wohnen dürfen, irgendwo auf der Welt, in einem von den vielen verschlossenen Landhäusern, um die sich niemand bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht (...). Aber es ist anders gekommen (...). Meine alten Möbel faulen in der Scheune."

Rilke betont das Wohnen im Gegensatz zum "Leben", und er nimmt damit eine Unterscheidung vorweg, die Judith Hermanns Erzählung "Hunter-Tompson-Musik" als Lebenswirklichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts beschreiben wird.

Für Heidegger ist das "Verhältnis von Mensch und Raum (...) nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen", dessen Komplexität sich in der Literatur manifestiert. Mit Blick auf Hölderlin stellt Heidegger fest: "Das Dichten erbaut das Wesen des Wohnens. Dichten und Wohnen schließen sich nicht nur nicht aus. Dichten und Wohnen gehören vielmehr, wechselweise einander fordernd, zusammen. (...) Das Dichten ist das Grundvermögen des menschlichen Wohnens."

Gedanken zur modernen Literarizität von Wohnen

Destruktion, Provokation, Hohn und Widerspruch - der Impetus der Moderne ist die Dekonstruktion überlieferter Formen, das Brechen mit herkömmlichen Darstellungsverfahren. Dennoch sind wir möglicherweise "nie modern gewesen", denn die systemische und für die menschliche Existenz produktiv gemachte Korrelation von Natur, Technik und Mensch wird innerhalb der herrschenden lebensweltlichen Wirklichkeit(en) nicht erreicht. Aber vielleicht lässt sich gerade diese Diskordanz in der Interferenz von Literatur, Literarizität und Wohnen aufzeigen.

Das Wohnen als Existenzparameter wird in der Literatur der Moderne zum Hybrid, zum "Quasi-Objekt" zwischen dem essenziellen Erfordernis des "Sich-Behagens" und einer dem Menschen äußerlichen existenziellen Mobilität, die zu seiner "Unbehaustheit" (Holthusen, 1951) führt und in der kumulativen Ruhelosigkeit der Existenz bei Botho Strauß und Judith Hermann qua Selbstaufhebung endet.

Nicht lange nach Heideggers "Wohnen des Menschen" diagnostiziert Lyotard die "Verschiebung im Raum" als qualitative Modifikation der Existenz. Der Nietzscheanische Dualismus von Subjekt und Objekt potenziert sich in der "universellen Mobilmachung" (Lyotard, 1989), und die Grimm'sche Definition des "sich an einer Stelle wohl befinden" wird zu einem flüchtigen Anwesend-Sein.

Wohnen berührt die Existenz, das Sein und ein "Sichzusichverhalten als Daseinsstruktur" (Biella, 1998). Ausdrucksform und Medium dieses Sichzusichverhaltens kann die Literatur sein, ihre (Un-)Tiefen und Grenzwerte als mögliche Poetologie der menschlichen soziokulturellen Existenz. Denn am Ende unserer Betrachtungen steht eine schlichte Antwort auf die Frage "Weshalb Sie hier leben? - Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen." (Judith Hermann, Hunter-Tompson-Musik).

Entlang dieser Skizzen und Gedanken liegt ein literarischer Spannungsbogen, den wir verfolgen können und der uns zeigen mag, ob die Literatur und die Metaphorik des Wohnens für das Projekt der (Post-)Moderne eine eigene ästhetische Projektionsfläche bildet.


III. Rilke, Hofmannsthal, Kafka, Perec, Strauß, Hermann...

Was passiert zwischen Rainer Maria Rilkes "Malte Laurids Brigge" und Judith Hermanns "Hunter-Tompson-Musik"? Was liegt auf diesem knapp ein Jahrhundert umfassenden Spannungsbogen, dass sich die beiden literarischen Entwürfe am Ende im "Asyl" treffen? Zwei gleichsam "Moderne" exemplifizieren die Frage des Daseins im "Raum" entlang einer Wohnstatt: "Es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyl de nuit." - "Es ist ein Asyl, ein Armenhaus für alte Leute, eine letzte verrottete Station vor dem Ende, ein Geisterhaus." - "Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer."

Hans Egon Holthusen lässt den Beginn der Moderne und die Existenz des "unbehausten Menschen" mit Blick auf Rilke einsetzen: "1910 also. Es war das Jahr, in dem die 'Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge' erschienen, das Pariser Tagebuch eines jungen Menschen, der von sich sagte, dass 'dieses so ins Bodenlose gehängte Leben eigentlich unmöglich sei'".

Das "Pariser Tagebuch" ist das Tagebuch eines Unbehausten im Wortsinn; Rilkes Malte Laurids Brigge sucht nach der Wohnstatt, nach der räumlichen "Ver-Ortung" (s)einer Existenz. Diese Suche ist eine Suche in der Interferenz der Subjekt-Objekt-Relation, für die Nietzsche das ästhetische Verhalten als die einzig denkbare Lebenswirklichkeit definiert hatte. Und in der brachialen Erkenntnis des Subjektes zwischen der Dichotomie der Dinge setzt Rilke ein mit der unrevidierbaren Form von Leben - mit dem Tod -, indem er feststellt: "So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. (...) Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest." Dieser Unmittelbarkeit des Todes korrespondiert eine spezifische Ambivalenz, denn - "Die Hauptsache war, dass man lebte. Das war die Hauptsache."

Die Polarität der Sphären, ihre Überlagerung in der Feststellung eines gelebten Todes wird lanciert von einer äußeren Dynamik, die die innere Lebenswelt unmittelbar erfasst und in der Wohnsituation kumuliert, wenn Malte im Tagebuch festhält: "Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin."

Das Pariser Tagebuch lässt die Amplituden der Moderne ausschlagen, und die Perspektive der eigenen Wohnsituation bestimmt ihre Frequenz in der Frage Maltes "Was für ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die?"

Zuhause sein, bei sich sein, sich behagen - wir erinnern uns an die Definition des Grimm'schen Wörterbuches. Rilke differenziert die semantische Zuordnung: Die Kohärenz von Wohnen und Leben wird perspektivisch variiert und erweitert, indem der Wohn-Raum der Bücher, die Nationalbibliothek in Paris, als Lebens-Raum apostrophiert wird, bei dem man "eine besondere Karte haben (muss), um in diesen Saal eintreten zu können. (...) und dann bin ich zwischen diesen Büchern, bin euch weggenommen, als ob ich gestorben wäre, und sitze und lese einen Dichter."

Rilke kontrastiert den von Kondylis bezeichneten "Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" in der Kohäsion des Wohnens und der offengelegten Fassade der modernen Existenz. Er formuliert den einsetzenden Niedergang äußerer Harmoniestrukturen in Parallele zu einer unaufhaltsamen Dynamik der Existenz: "Denn das ist das Schreckliche (...): es ist zu Hause in mir."

Auf dieser Projektionsfläche schließlich geschieht im zweiten Teil der "Aufzeichnungen" mit dem Beginn der "Zeit, wo alles aus den Häusern fortkommt", die Umwertung. Die Häuser "können nichts mehr behalten. Die Gefahr ist sicherer geworden als die Sicherheit." Und diese Sicherheit der Gefahr manifestiert sich in der flüchtigen Wohnsituation eines Hotels, wie sie uns in Judith Hermanns "Hunter-Tompson-Musik" etwa einhundert Jahre später wieder begegnen wird - "Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, dass ich im Hotel Phönix wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte."

In Parallele zu Rilke und doch singulär in seiner Radikalität reagiert Hugo von Hofmannsthal auf die Diskordanz der Moderne und auf die Frage nach dem Bei-sich-Sein des Menschen. Im "Märchen der 672. Nacht" erfahren wir erneut die physische Korrespondenz des Todes zu dem ihn umgebenden Wohnraum: "Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod." Die Modi des Todes. Sie wirken als zentrales Movens in der dissonanten Lebenserfahrung der Moderne. Und doch wandeln sie im Verlauf des Spannungsbogens ihre Aussagewerte; die "Unbehaustheit", die bei Rilke und Hofmannsthal in den katastrophisch erfahrenen Zustand des Todes mündet, wandelt ihre dichterische Existenz und wird zum integrativen Element.

Auf diesem Weg liegt ein anderer "Moderner", der die Radikalität auf dem Spannungsbogen konzentriert - Franz Kafka übersteigert die physische Ebene ins Paradoxale und manifestiert damit den Verlust des "Sich-Behagens" in einem Wohnen, in dem das Moment des Bei-sich-Seins keine Geltung mehr hat. Ab jetzt wird das Wohnen selbst, die individuelle Wohnsituation zur Bedrohung. Das von Rilke befürchtete Eindringen in die "Stube" geschieht, der Einzelne ist ohne Macht und Behagen in seinem Lebens-Raum: Joseph K. wird zum ortlosen Objekt auch und gerade in seiner Wohnung. Der von Sartre explizierte "Blick des Anderen" in der Begrenzung von Zimmer(Lebens-)Wänden kündigt sich an. Noch einmal Hans Egon Holthusen:

"Bei Kafka hingegen funktioniert die Wirklichkeit grundsätzlich nicht, die Sinnfiguren schließen sich nicht, jedenfalls nicht auf vernünftige Weise: alles bleibt offen. Der Stil des Dichters ist durchaus 'realistisch', er ist konkret, sachlich, schlicht und genau (...). Und trotzdem tritt überall der Hintersinn und Unsinn des Daseins im unsicher gewordenen Gefüge der Wirklichkeit zutage, das Hinterwirkliche bricht in Form des Absurden, Ironischen und Paradoxen in den Bereich des Greifbaren und Sichtbaren ein."

"Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen" - Franz Kafka entwickelt in der Erzählung "Der Bau" aus den Jahren 1923/24 bereits zu Beginn die Umkehrung der Werte Rilkes und Hofmannsthals in eine paradoxe Übersteigerung, indem er die Ambivalenz der physisch-mentalen Existenz zwischen äußerer (Bau-)Realität und innerer Lebenswirklichkeit der "Hinterwirklichkeit" Holthusens kontrastiert: "Von außen ist eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends hin, schon nach ein paar Schritten stößt man auf natürliches festes Gestein. (...) Freilich manche List ist so fein, dass sie sich selbst umbringt, das weiß ich besser als irgendwer sonst (...). Doch verkennt mich, wer glaubt, dass ich feige bin und etwa nur aus Feigheit meinen Bau anlege." Es geht um den Kampf der Kreatur mit dem Bau und damit um den Brennpunkt der Selbstverortung in der Haltlosigkeit der modernen Existenzsituation, in der der Einzelne qua Reflexion auf die ihn umgebenden Angstparameter seinen Wohnraum schafft und dort dennoch nicht "in seinem Haus ist" - denn: "Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran. (...) Hier gilt auch nicht, dass man in seinem Haus ist, vielmehr ist man in ihrem Haus."

Kafka kontrastiert unmittelbar. Es gibt keine vermittelnden Elemente zwischen den Sphären; es gibt keine Brücken zwischen Subjekt und Objekt, sondern mit Nietzsche lediglich ein "ästhetisches Verhalten". Kafka manifestiert dieses ästhetische Verhalten in der subtilen Korrelation der Wandelbarkeit und Negativmobilität des Wohnraumes in der Literatur: "Arme Wanderer ohne Haus."

Die Erzählung wird um die Akausalität der beiden Sphären zentriert; das "Sich-Behagen" der "bürgerlichen Denkund Lebensform" korrespondiert einer inneren Dauermobilität, die sich in der paradoxalen Umkehr als äußerer Zwang preisgibt. Die Kreatur wird sui generis zu einer getriebenen Existenz und die Nietzscheanische Demontage bereitet den Weg für Lyotards "universelle Mobilmachung", wenn Kafka formuliert: "Wie? Dein Haus ist geschützt, in sich abgeschlossen. Du lebst in Frieden, warm, gut genährt, Herr, alleiniger Herr über eine Vielzahl von Gängen und Plätzen, und alles dieses willst du hoffentlich nicht opfern (...). Aber dann hebe ich doch vorsichtig die Falltüre und bin draußen, lasse sie vorsichtig sinken und jage, so schnell ich kann, weg von dem verräterischen Ort."

Odradek schließlich, Kafkas "Hybrid" in "Die Sorge des Hausvaters", domestiziert diese Jagd in dem "ästhetischen Verhalten" zwischen Subjekt und Objekt:

"Es (Odradek, Anm. Verf.) sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen (...).

Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sterns kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sterns auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. (...).

'Und wo wohnst du?' 'Unbestimmter Wohnsitz', sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann."

Das Kafkaeske, die mehrdimensionale Hintergründigkeit soziokultureller (Ko-)Existenz und das paradoxal Politische der harmonischen Denkfigur führen (nicht nur) die Literatur und die Literarizität in den postmodernen Diskurs.

Mit Franz Kafka beginnen wir den Blick nach innen zu richten, ohne das Außen der expliziten demontierenden Analyse zu unterwerfen, wie es Rilke und Hofmannsthal schreibend erkunden, um im Schreibakt, in der ästhetischen Konsequenz die Möglichkeit einer Antwort auf den generativen Wechsel der Seins-Dimension zu finden. Der Spannungsbogen dehnt sich, um in einer veränderten Perspektive der Polarität Nietzsches einen integrativen Impuls zu geben.

Der Wandel ist in und an der Literatur (ab-)lesbar - Baudelaires "Ich bin das Leben, das unerträgliche, das unversöhnliche Leben!" überführt George Perec in "Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung".

Zentral in Perecs "Gebrauchsanweisung" ist das Element des Puzzles. Das Puzzle integriert. Im Moment der Hybridisierung der sozialen Existenz übernimmt die Idee der konstruktiven Demontage die Argumentationslinie zwischen Moderne und Postmoderne. Perecs Puzzle synthetisiert die Elemente der Existenz. Es geht darum, die Dynamik des menschlichen Seins zwischen Erscheinen und Verschwinden, das Flüchtige und das in allem manifeste Nichts Sartres in der Parallelität der äußeren Realität eines Pariser Mietshauses auszuspielen. Perec spielt mit dem Puzzle in einer subtilen Mehrdimensionalität; der Roman setzt Leben zusammen aus Zimmern, Wohnungen, Einrichtungen, Küchen-, Bad- und Wohnzimmermöbeln, aus Einzelnen und Paaren und der versuchten Selbstverortung in einem Haus mit 99 Zimmern.

Die spürbare Getriebenheit des Einzelnen im undurchdringbaren Labyrinth der modernen Existenz bei Rilke und Hofmannsthal wird zum frei flottierenden Lebensspiel, das Ich wird zu einem Puzzle in der Ambivalenz der Frage danach, wer puzzelt und wer definiert das Puzzle? Denn - "Die Kunst des Puzzles beginnt (...), wenn der, der sie fertigt, sich alle Fragen zu stellen sucht, die der Spieler lösen muss, wenn er, statt den Zufall die Spuren verwischen zu lassen, an seine Stelle die List, die Falle, die Illusion zu setzen gedenkt: (...)" Und dennoch ist es "allem Anschein zum Trotz (...) kein solitäres Spiel: jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; jeder Baustein, den er immer wieder zur Hand nimmt, den er betrachtet, den er liebkost, jede Kombination, die er versucht und immer wieder versucht, jedes Tasten, jede Intuition, jede Hoffnung, jede Entmutigung, sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden."

Perec fragmentiert und er fügt zusammen: 99 Zimmer, einzeln und auf sich zentriert in der übergeordneten Einheit eines Wohnhauses, gespeist durch zwei Protagonisten - den Puzzlespieler und den Puzzlehersteller in der Synthese des Hauses und doch singulär in der Vereinzelung des Seins.

Die Vereinzelung im Raum - damit hat die (Post-)Moderne ihren literarischen "Hybriden" gefunden. Heideggers "Bauen Wohnen Denken" und Botho Strauß' "Wohnen Dämmern Lügen" bedingen sich, Gerhard Kurz hat zu Recht darauf hingewiesen. In der Interferenz von Baudelaires "Staccato" und Heideggers "Rede von Mensch und Raum" ist es Botho Strauß, der den entscheidenden Schritt zur Hybridisierung des Wohnens in der Literatur geht.

Wo Heidegger feststellt: "Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen", setzt Botho Strauß ein mit der Frage: "Wann merkt ein Mann, dass er auf einem stillgelegten Bahnhof sitzt und vergeblich auf seinen Zug wartet? Denn es ist schwer, vielleicht unmöglich, in einem Wartesaal einzukehren, um seine erschöpften Beine auszuruhen, und gegen den Raumsinn zu empfinden, dass hier kein Warten mehr belohnt wird."

Der Roman "Wohnen Dämmern Lügen" demontiert weit mehr als Perecs "Das Leben" die gesellschaftliche (Ko-)Existenz des Einzelnen in der Frage nach der Konstante einer Sinn stiftenden Einheit. Wo Perec das Haus, und darin 99 Zimmer, als Rahmen des "modernen" Spiels, des Puzzles mit dem Ziel des großen Ganzen definiert, überblendet Botho Strauß diesen Halt gewährenden Parameter in der programmatischen Ausrichtung auf das systematisierte Chaos.

Die Kapitelstruktur von Strauß' Roman ist rein visuell: Die Satzanfänge der Kapitel im Buchraum sind typografisch differenziert; 37 Kapitel nehmen die Diskordanz der Moderne in der Raumstruktur des Lebens auf: Es sind Einzelne und Paare, Ehepaare und Kinder, die einen Teil des Lebens-Raumes im Roman einnehmen und ihn doch nicht füllen. Da ist "Er", der einfach nicht auszog aus einer längst überlebten WG-Idee, dessen Freund längst als Freund nicht mehr bezeichnet werden kann und der "für zwei Stunden am Nachmittag zwischen vier und sechs (...) den Stuhl in den Flur (rückt), dicht neben die Wohnungstür. Treppensteigen hören!" Und da ist Julias Mutter, die zurückschaut, denn "Jemand ist auf dem Weg zurückgeblieben. Jemand lässt auf sich warten." In einem anderen Moment stellt sie fest, "man laokoonisiert langsam, ganz allmählich geht das Geschlinge in den Zustand, in die Reglosigkeit über. Zeit raus, Raum rein. (...) Raum! ... Raum! Wie ein Erstickender um Atem, so rang sie um Raum ... als die Zeit versiegte in ihren Adern (...)"

Das Ringen um (Lebens-)Raum und die parallel sich vollziehende Dissoziation des modernen Menschen in der Suche nach Individualität konzentriert Strauß in dem Theaterstück "Die Zeit und das Zimmer" jeweils in einem einzigen Raum. Das "Staccato der Zeit", wir erinnern uns an Baudelaire, manifestiert sich in der räumlichen Lebenssituation. Der Autor verlegt die Differenzierung des Lebens als Solitär im Raum in das Medium eines Theaterstückes und eröffnet damit die physische Mehrdimensionalität von Heideggers "wesentlich gedachte(m) Wohnen" in der Literatur. Das Zimmer als Lebens-Raum hat sich längst seiner bewahrenden und schützenden Funktion begeben, und in der Konsequenz dieses Paradigmenwechsels liegt das andere Ende des Spannungsbogens, der mit Rilke begonnen hatte. Die Modi der "Unbehaustheit", die Kafka bereits in die Paradoxale der sich selbst bedrohenden Wohnsituation überführt hatte, wird mit Strauß zu einem Reflexionsparameter des Lebens. Zeit und (Wohn-)Raum heben sich innerhalb eines Zimmers - und bezeichnenderweise innerhalb eines Theaterraumes - auf, die perspektivische Mehrdimensionalität moderner Existenz findet hierin mit Latour ihren produktiven "Hybriden".

Einer, der diese Mehrdimensionalität der Flüchtigkeit zur unmittelbaren Konsequenz des physischen Verschwindens steigert, heißt in Judith Hermanns Erzählung "Sommerhaus, später" bezeichnenderweise "Stein"; und "Stein fand das Haus im Winter": "Stein hatte nie eine eigene Wohnung besessen, er zog mit diesen Tüten durch die Stadt und schlief mal hier, mal da, und wenn er nichts fand, schlief er in seinem Taxi. Er war nicht das, was man sich unter einem Obdachlosen vorstellt. (...) er hatte eben keine eigene Wohnung, vielleicht wollte er keine."

Das zentrale Movens des Wohnens, das Sich-Behagen, hat die Umwertung aller Werte der Moderne vollzogen, die Parameter der "Unbehaustheit", Dynamisierung und Flüchtigkeit bestimmen die Perspektive des Einzelnen auf seine Verortung in Zeit und Raum. Stein lebt expressis verbis in (s)einem Mobilitätsfaktor - einem Taxi - denn, er will keine Wohnung. Die Negation macht die Drohung der Moderne substanzlos: keine (sic) "Elektrische(n) Bahnen rasen läutend durch meine Stube", denn ihnen wurde "die Stube" entzogen.

Die Affirmation der Negation - in der Erzählung "Hunter-Tompson-Musik" schließlich wird sie offenbar in Hunters Antwort auf die Frage: "Ich will nur wissen, weshalb Sie hier leben, weshalb denn, können Sie mir das sagen? - Weil ich fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen, die Tür hinter mir zuziehen, gehen."


IV. Nachliterarische Skizze.

In der Frage nach dem (Wohn-)Raum in der literarischen Moderne entstehen Wege:

"In lieblicher Bläue blühet
mit dem metallenen Dache der Kirchthurm.
Den umschwebet
Geschrei der Schwalben, den umgiebt die rührendste Bläue.
Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech,
im Winde aber oben stille krähet die Fahne.
Wenn einer unter der Glocke dann herabgeht, jene Treppen,
ein stilles Leben ist es, weil,
wenn abgesondert so sehr die Gestalt ist,
die Bildsamkeit herauskommt dann des Menschen.(...)
Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben."

(Hölderlin, In lieblicher Bläue)

Bei Rilke und Hofmannsthal ist der Tod im Wohnen ex negativo und in der unmittelbaren Korrelation eines polaren Dualismus von Leben und Tod präsent. Das ändert sich. Die Moderne nimmt Form an, die Parameter verdichten sich und verwischen ihre Demarkationslinien. Im diskursiven Blick zwischen Moderne und Postmoderne interpoliert die Moderne den Tod dem Sein. Die Existenz erschafft sich qua literarischem Möglichkeits-Raum einen lebensweltlichen Wohn-Raum: den kreativen Spannungsbogen zwischen "Wohnen Dämmern (und) Lügen".


V. Post Scriptum

Das Entstehen des Beitrags wurde lanciert von einer speziellen Lektüreerfahrung: "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace, als "Infinite Jest" bereits 1996 in den USA erschienen. Ein Buch, das über den (be-)schreibenden Weg der Frage nach dem "Sich-zu-sich-Verhalten" die Brücke schlägt zu dem Wohnen des Menschen im 21. Jahrhundert. Der Autor steigert die Feststellung des "Ich bin hier drin" zum "Ich bin da gefangen drin" und wechselt den Modus zu - "Wenn da eigentlich gar keiner drin ist"?! Dann? Dann wird der euklidische Standpunkt der Geraden als kürzeste Verbindung zwischen den Dingen aufgegeben. Und damit ist der als postmodern apostrophierte David Foster Wallace bei dem Modernen, bei Rainer Maria Rilke, angekommen, für den der Halt des euklidischen Standpunktes bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts keiner mehr sein konnte. Die literarische Idee des Wohnens innerhalb des Selbst macht die Negation der euklidischen Geraden produktiv.


Literatur

Baudelaire, Charles: Pariser Spleen. Kleine Gedichte in Prosa. Stuttgart 2008.

Ders.: OEuvres complètes. Paris 1975.

Biella, Burkhard: Eine Spur ins Wohnen legen. Düsseldorf, Bonn 1998.

Foster Wallace, David: Unendlicher Spaß. Köln 2009.

Heidegger, Martin: Gesamtausgabe. I. Abtlg., Bd. 7 u. 13. Vorträge und Aufsätze. Frankfurt/M. 2000.

Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Frankfurt/M. 1998.

Hofmannsthal, Hugo v.: Gesammelte Werke. Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt/M. 1979.

Holthusen, Hans Egon: Der unbehauste Mensch. München 1951.

Kafka, Franz: Der Bau. In: Beschreibung eines Kampfes. Frankfurt/M. 1976.

Ders.: Die Sorge des Hausvaters. In: Gesammelte Werke. Bd. 5. Frankfurt/ M. 1950.

Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Berlin 2007.

Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Berlin 1995.

Lyotard, Jean-Fraçois: Das Inhumane. Wien 1989.

Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: KSA I, München 1988.

Perec, Georges: Das Leben. Gebrauchsanweisung. Frankfurt/M. 2002.

Poe, Edgar Allan: Werke IV. Hrsg. von Kuno Schuhmann. Olten 1973.

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Frankfurt/M., Leipzig 1996.

Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts. Reinbek 1991.

Strauß, Botho: Besucher. München, Wien 1988.

Ders.: Wohnen Dämmern Lügen. München, Wien 1994.

Raute

Home Stories

My Home is my Aura

Mein Leben spielt sich nicht im weit verbreiteten Stakkatostil, dem täglichen Gehetze zwischen Drinnen und Draußen, ab. Meinereins, zur forschenden und schreibenden Zunft gehörend, bevorzugt so wie Künstler generell als Platz der Inspiration meist die eigenen vier Wände. Intensive Phasen des Lesens, Studierens, Schreibens oder Organisierens wechseln sich bei mir schon seit langem mit Phasen des "Wegseins" ab: des Freunde und Sippschaft Besuchens, des Unterwegsseins, der intensiven Eindrücke und Erlebnisse, der Magie des Augenblicks.

Mein kreativer Prozess braucht jedoch ungestörte Zeit und ungestörten Raum. Wie sagte Oskar Werner: "Kunst kann man nicht machen, Kunst muss man wachsen, gedeihen und blühen lassen." Meine Ideen und Einfälle entstehen im Wildwuchs. Sie halten sich an keine Büroordnung. Sie schaffen eher Unordnung - in meiner Wohnung. Ganz so wie auf dem Foto der Grande Dame der österreichischen Literatur Friederike Mayröcker in ihrer "Wiener Verzettelungswirtschaft", auf dem sie zwischen Papierbergen zu verschwinden droht, sieht es in meiner noch nicht aus, aber die Tendenz dazu ist immer wieder bemerkbar. (Wir sammeln nicht, es sammelt sich an.)

Der Raum zwischen meinen "vier Wänden" ist quasi meine erweiterte Aura. Hier liegt mein Innerstes wie ein offenes Buch herum: Notizen auf Papier, am PC, Briefe, Mails, Bücher mit unzähligen Randbemerkungen, Zeitungsartikel und vieles mehr. Und wie für meinen nahen Seelenverwandten, den Schriftsteller Bernhard Hüttenegger, ist auch für mich eine "der (räumlichen) Voraussetzungen für die Schreibarbeit: eine Art von Höhlengefühl".

Zwischen meinen "vier Wänden" ist also der Platz des Sinnierens, des In-den-Sinn-Kommens. Wenn ich am Schreibtisch gerade nicht weiter weiß, fällt es mir meist in der Küche oder am Klo ein. Besonders ertragreich sind die Gedanken und Ideen nach dem Aufwachen - da braucht es die nötige Ruhe, damit sie sich nicht gleich wieder verflüchtigen.

Drinnen und Draußen sind zwei wesentliche Aspekte meines Lebens. Sie betreffen auch Begegnungen. Diese bestehen ja nicht nur aus dem "face to face", sondern auch aus der Zeit zwischen den Treffen. Es bedarf immer wieder Zeiten des Zu-sich-Kommens. Wer nicht zu sich kommt, kann auch nicht zum Anderen kommen. In meiner Wohnung bin also nicht nur ich zu Hause, sondern auch die Vorfreude und das "Nachbeben". "Um sich nahe zu kommen, darf man nicht stets in der Nähe sein. Lust ist aufgehobener Verlust", schreibt Franz Schandl treffend in "Sei so" - Kleine Fundstücke wider die große Affirmation (Wespennest, Herbst 2007). Dementsprechend spiegelt sich die Phasenhaftigkeit meines Daseins auch in meinem Bett: Der zweite Schlafplatz ist entweder mit Papieren aller Art, vor allem mit zu Kunst gewordener Sinnlichkeit, sprich: mit Büchern belegt oder aber, wenn die Textwerkstatt geschlossen hat, mit der "Sinnlichkeit in Person".

Es gibt nur einen Schwachpunkt dieser Wohn- und Lebensform, dieses "Schaffens-Raums" - wenn nämlich dieser Raum nicht denk-, fühl- und handlungsautonom gestaltet werden kann, weil er von außen mit immensem Druck und existentieller Ungewissheit besetzt wird. Wenn diese sich so breit machen, bis dass der Raum zum Ab-Schaffen aufgebläht wird, dann ist nicht nur jegliche Kreativität beim Teufel, sondern es hört sich alles auf.

Maria Wölflingseder


Minimal Housing - Meine kleine Strohhütte

Das Wohnen in den Städten heutzutage kommt mir vor wie eine Art Massentierhaltung und ist eigentlich das Gegenteil meiner Vorstellung von Wohnkultur. Die lehnt sich eher an die der Naturvölker an.

Solange ich zurückdenken kann, liebte ich es, auf meinen Streifzügen durch Wald und Wiese die Tier- und Pflanzenwelt zu erkunden. Ziemlich spannend fand ich es, aus den vorgefundenen Materialien kleine Behausungen zu basteln. Später einmal wollte ich in einem Baumhaus oder kleinen Hüttchen inmitten der Wildnis leben. Nun ja, die Jahre verflogen, doch diese Idee ließ mich nicht mehr los. Im vergangenen Jahr schließlich habe ich mir den Traum vom naturverbundenen Leben annähernd erfüllt. Das kam so:

Vor einiger Zeit besuchte ich einen Permakulturkurs, wo ich zum ersten Mal von selbsttragenden Strohballenhäusern hörte. Da mir das Konzept gefiel und ich der Überzeugung bin, dass die Behausung zur natürlichen Umgebung und zum dazugehörigen Klima passen sollte - etwa in der Wahl der Baumaterialien oder der Gebäudeform - entschied ich mich ein Strohhäuschen zu bauen. Das schien funktionell, gut isoliert und billig zu sein und außerdem einfach selbst zu bauen. Stroh ist ja bei uns reichlich vorhanden und wird absurderweise häufig einfach vernichtet. Den Lehm stellte der Dachs zur Verfügung. Der wohnt bei uns im Garten und produziert bei seiner eigenen Bautätigkeit große Mengen an Aushub.

So bauten wir vergangenen Winter im hintersten Winkel des Gartens, unter drei alten Kiefern, ein rundes, etwa 18 m² großes Häuschen aus Stroh. Auf einem Achteck aus alten Dachbalken und Brettern als Unterkonstruktion schlichteten wir dann Strohballen wie Ziegel zu einer runden Wand. Fenster und Tür haben wir mit kurzen Holzzinken in den Ballen verankert. Auf die selbsttragende Strohwand kamen dann das Obergeschoss und die Dachkonstruktion drauf, die auch mit Stroh gedämmt ist. Hier, im Schutze der Dachkuppel aus duftendem Holz schlafe ich. Wenn ich im Sommer die große Dachklappe öffne, dann lieg ich direkt unterm Sternenhimmel.

Auf beiden Seiten der Strohwand trugen wir abschließend Lehmputz auf. Der besteht eigentlich nur aus Lehm, Sand und ein bisschen Stroh. Dieser Wandauf bau reguliert die Luftfeuchtigkeit und dämmt hervorragend. Und so blieb es im Sommer auch an heißen Tagen drinnen angenehm kühl und im Winter lange warm. Jetzt, wo es wieder winterlich wird, lässt mich die urige, aber gemütliche Holzofenatmosphäre die bittere Kälte draußen vergessen.

An meiner Wohnautonomie bastle ich noch weiter: Gerade haben wir einen kleinen Waschtisch gezimmert und das Kompostklo soll jetzt auch dringend fertig werden.

Das Leben ist einfach und aufs Wesentlichste beschränkt, was mir gut tut und meinen unsteten Geist beruhigt. Es ist gemütlich und beschaulich. Ich sitz oft stundenlang auf meiner kleinen Couch vor dem Fenster und lasse den Blick in die Ferne schweifen. Dann und wann queren Wildschweine, Rehe oder unser Dachs die Wiese.

Möge der Stress der Zivilisation nie bis zu meiner kleinen Hütte vordringen!

Sara Kleyhons


Living Room

Nun denn, wir leben zu sechst in einem Margaretener Altbau: Theresa, zwei ihrer Kinder, unsere zwei Kinder, ich - und wenn mein Sohn auch noch da ist, sind wir sieben. Ich, der nie eine Kleinfamilie wollte, bin im familiären Großclan gelandet. Wir wohnen hier aber ganz komfortabel. Zwar hat kein Kind ein eigenes Zimmer, aber mit 135 m² ist die Wohnung doch halbwegs geräumig. Nie müssen sich alle am gleichen Flecken drängen. Die Böden sind aus Holz, die Wände sind hoch, zwei funktionstüchtige Kachelöfen gibt es auch noch. Im dritten Stock gelegen (exklusive Mezzanin), ist die Wohnung recht hell und vom Lärm her erträglich. Leisten können wir sie uns nur, weil sie im Herbst 1996 als Kategorie B (ohne Gasetagenheizung, mittlerweile von uns nachträglich eingebaut) angemietet wurde. Wir hoffen, dass das so bleibt. Da die Gegend um den Margaretenplatz inzwischen von der Innenstadt erobert worden ist, leben wir in einem sich gentrifizierenden Grätzel. Immer mehr Yuppis parken ihre großen Schlitten vor neuen Lokalen.

Man kann es sich ausmalen: Haushalt, Erziehung und Reproduktion veranschlagen weit mehr Zeit, als wir wollen. So kommt der Alltag auch schnell durcheinander: wenn eins krank wird, die Waschmaschine ausfällt, Konflikte sich zuspitzen oder unvorhergesehene Lohntätigkeiten über die Freiberufler hereinbrechen. Da verfällt die Wohnung. Wenn sich gar niemand mehr zuständig fühlt, kann es richtig schiach werden. Nicht sturmfrei ist die Bude dann, sondern putzfrei. So schaut es in der Wohnung nie so aus, wie es ausschauen sollte, weil es einfach ausschaut. Das Schandmal ist das sogenannte Wohnzimmer, das mehr einer Abstell- und Rumpelkammer gleicht. Ich selbst ersticke stets in Papier, das auf meinen drei Schreibtischen, am Boden, am Fensterbrett, im Bett oder auch an Stellen herumliegt, wo es niemand, auch der Verursacher nicht, vermuten würde.

Fad wird es da nie, aber das ist nicht unbedingt ein Vorteil. Denn mir ist ganz gerne langweilig. Die lange Weile verdeutlicht eine Zeit, die gemächlich laufen kann, die nicht von Fristen und Terminen zerhackt ist, und in der ich denken, sinnieren, lieben, lesen, spielen, Musik hören, Guglhupf backen oder einfach nur meseln kann. Ruhig ist es hier lediglich an späten Vormittagen und an frühen Nachmittagen, da sind wochentags die meisten außer Haus.

Ausziehen möchte ich hier nicht, aber der Zug aufs Land, der wird in den letzten Jahren wieder stärker. In irgendeiner Zukunft sehe ich mich im Waldviertel sitzen, in einer warmen Stube, wo ich nach dem frühen Auslauf (per pedes oder auf Schiern) ganz ohne Zeitdruck meine Sachen mache oder auch nicht. Größere publizistische Projekte musste ich in den letzten Jahren immer wieder schieben, nicht weil ich sie nicht leisten kann, sondern weil ich sie mir nicht leisten kann. Aber die Kinder werden größer (unsere Jüngste ist 12), und dann werden wir weiter sehen.

Franz Schandl


Wundervoll entwohnt

In einem Seitental der Schlafgemeinde Weidling hab ich meine ersten Schritte unternommen, sah einige meiner lieben sieben Geschwister das Licht der Welt erblicken, lag oft im hohen Gras und bestaunte dortselbst den Himmel über mir. Der weckte in mir die Sehnsucht, die weitere Umgebung zu erkunden, da ich zu Recht mehr als den Obstgarten und die Schafweide unter dem mächtigen Gewölk vermutete. Damals kletterte ich bedenkenlos über Zäune und Mauern und fühlte, indem ich sie überwand, ein unbeschreiblich beglückendes Gefühl wieder errungener Freiheit.

Auch im Hause ging's damals recht munter her. Das hat sich über die Jahre kaum geändert, obwohl vom ursprünglichen Besatz lediglich mein älterer Bruder und ich verblieben: Selten vergeht ein gastloser Tag.

Erstbesucher sind häufig ratlos: Kein Zaun, kein Tor, keine Klingel. Ist's eine Baustelle, eine WG, eine Lokalität gar? Die kundigen Freunde sind aber mit den Usancen hier vertraut; wissen, dass je nach Witterung, allgemeiner Verfassung und je nach Erfordernis miteinander gekocht, genossen, diskutiert, musiziert, Auto repariert, getanzt, gefeiert, gehausbaut wird; wissen, der Schlüssel ist zwischen den Ziegeln neben der Türe hinterlegt und die Espressomaschine im Sommer stets betriebsbereit; wissen, dass dem Ruhesuchenden am Oberdeck ein paar Liegen Erquickung versprechen.

Das mit dem Schlüssel ist aber rein formal: Unmittelbar neben dem Eingang gewährt eine noch fensterlose Maueröffnung großzügig Einlass. Im Obergeschoß finden sich weitere Einstiegsmöglichkeiten. Durch das noch unverglaste Dazwischen von Wand und Decke etwa, mittels Sessel oder Hochspagat. Hiervon machte vor einigen Monaten auch unser getreuer Rauchfangkehrer Gebrauch und bestätigte seine Visite mit der lakonischen Zettelbotschaft: "Rauchfänge wurden gekehrt!"

In der besinnlicheren Jahreszeit konzentriert sich das Innenleben um den Kachelofen im Wohnzimmer - neben dem Stövchen in meinem Zimmer zurzeit der einzige Wärmespender. Letztes Jahr frühstückten wir inmitten des verschneiten Mobiliars am Oberdeck. Ein wenig bizarr, aber traumhaft schön. Der Vorteil der "natürlichen" Wohnraumtemperierung liegt sicher auch darin, dass es draußen selten mehr als 10°C weniger hat, als es einem drinnen vorkommt, sodass der Schritt über die Schwelle ohne den üblichen Kälteschock ausfällt. Zudem erspart man sich die unterschiedlichsten Saisonkrankheiten. Und den Kühlschrank. Der bleibt dann ausgeschaltet, weil der Kompressor so selten taktet, dass es im Gefrierfach taut. Eisblumen gibt's nur hin und wieder. Die belebende Guten-Morgen-Dusche gibt's täglich, warmes Wasser nur in der Küche.

Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf..., halt ein, Sokrates, irgendwann werden die Bauarbeiten beendigt, das Oberdeck verplankt, der Balkon verglast sein, wird die Wärmepumpe Heizungs- und Brauchwasser erwärmen. Ob sich dann an der - auch physischen - Durchlässigkeit etwas ändern wird? Ich glaube nicht. Immer klarer wird mir, dass mein verlängertes Wohnzimmer doch eigentlich ein planetares ist - wundervoll!

Severin Heilmann


Ich habe nie gewohnt

Ich habe nie gewohnt, immer haben wir gewohnt. Ich war schon 26, als ich das erste Mal ein Zimmer für mich hatte. Dass dessen Tür offen steht, ist auch heute nach weiteren 36 Jahren noch keine Seltenheit. (Immer an derselben Adresse übrigens, wenn auch die Wohnung beträchtlich geschrumpft ist.) Dabei ist es gar nicht so, dass ich mir mit anderen Leuten leicht tue. Aber ohne tue ich mir viel schwerer.

Natürlich kenne ich das Bedürfnis, dass die Wohnung dem Rückzug vom Stress von Frust, Leistung und Konkurrenz dienen soll. Auch von der Illusion, dass hier das Nest von Glück und Selbstentfaltung sein könnte, wenn's rundherum auch recht unwirtlich ist, bin ich nicht unberührt geblieben. Hat aber natürlich nie wirklich funktioniert.

Schon deshalb hat mich seit den frühen Siebzigern der Gedanke nie völlig losgelassen, dass Wohnen, das Zusammenwohnen natürlich, zur Suche nach einer Alternative zur herrschenden Lebensart gehört. Zu einem Leben von Arbeit und Freigang, Frust draußen und Freude daheim, das sich inzwischen zum Dauergrinsen eines "Ich verwerte mich, wo immer ich bin" verdichtet. Dass drinnen der Hausfriede und draußen "das feindliche Leben" herrscht oder das Leben halt überall nur eine Gelegenheit zum Business ist - dieser Glaube ist auf Dauer nur mit Alk, Kokain und Prozac zu nähren. Kein Wunder, dass das Single-Wohnen und einsame Leben rasant zugenommen hat. Es ist ja wirklich nicht leicht, mit diesem Leben am Buckel noch so jemanden um sich auszuhalten. Aber ist es nicht mehr denn je so, dass es ein gutes Leben für die Menschheit nur noch geben wird, wenn es nicht so verdammt schwer bleibt, sich bei anderen Menschen "zu Haus" zu fühlen?

Mit der Kommune ist es nichts geworden - nicht nur, weil wir so blöd waren, aber ganz ohne dem freilich auch nicht. Und interessanter ist der eigne Anteil auf jeden Fall. Es bringt was, das im Bewusstsein zu halten, was ich mir wünsche und nicht kann, ohne gleich zu verdrängen, dass es mir gut täte, wenn ich's lernte und leben könnte, anstatt es mit allem möglichen Zeugs kompensieren zu müssen. Dann kam die politische Wohngemeinschaft; ist bald an der Politik gescheitert. Die war schließlich auch nicht grad das Gelbe vom Ei. Das übrigens war wesentlich leichter zu begreifen als das Scheitern der Kommune. Die Politik verschmerze ich mit Freuden, die Kommune bleibt ein Weg, der gangbar zu machen ist.

Mit Vater, Mutter, Kindern war es irgendwie am besten aushaltbar an unserer Adresse. (Haben wir schließlich am ehesten und irgendwie gelernt.) Aber was draus zu machen ist auch nur, weil die Türen nie ganz zugingen. Wir waren immer auch eine Art Versammlungsort für Gegner diverser Zumutungen unserer glorreichen Lebens- und Wirtschaftsweise. Dass wir in "fremden" Wohnungen jährlich die eine oder andere Woche leben und umgekehrt, ist lange Übung, und Gäste kommen zu uns aus aller Herren Länder (seit wir bei "Servas" sind).

Ja, dank meiner Liebsten kennen wir sogar etliche Nachbarn unter den so achtzig Parteien in unserem Block beträchtlich näher als vom Vorbeigehen im Hausgang. Seit ein paar Jahren lädt sie einfach alle Leute im Juni zu einem Hoffest. Das hat Folgen für den Umgang. Vielleicht ist es schwer zu glauben, aber es gibt da Haarrisse im unwirtlichen Gebirge der Sachlichkeit und des "Jeder ist sich selbst der Nächste". Es kommt schon ein bisschen darauf an, dass wer da ist, der's probiert.

Lorenz Glatz

Raute

You can't get something for nothing

von Lothar Galow-Bergemann

Diese amerikanische Spruchweisheit bringt zwar nicht die Ansprüche an ein befreites Leben jenseits der Zwänge der Warenwirtschaft, dafür aber diese selbst umso besser auf den Punkt. Dass sich Warenwert stur gegen Warenwert austauscht und sich im Laufe dieses Geschäfts trotzdem zunehmend in Luft auflöst, begründet letztendlich das ganze Dilemma des Kapitalismus. Der scheitert nämlich regelmäßig an seiner eigenen Voraussetzung und ist - besonders in seiner finanzblasendominierten Gegenwart - gezwungen, immer wieder something (sprich Geld) aus nothing zu machen. Heraus kommt dabei ebenso regelmäßig, dass er auf noch wackligeren Beinen steht als zuvor.

Texte, die sich diesem unauflösbaren Widerspruch und seinen Konsequenzen widmen, werden zu Recht oft als extrem theoretisch und trocken empfunden. Wer sich nach konkretem Anschauungsmaterial sehnt und noch dazu Spaß beim Lesen haben will, dem sei der hier besprochene Band wärmstens empfohlen. Nicht dass Stefan Franks Text über die Hintergründe der Wirtschaftskrise, dem er den treffenden Namen "Die Weltvernichtungsmaschine" gab, die theoretische Auseinandersetzung mit Warenproduktion und Krise ersetzen würde. Aber er bietet einen Zugang zur vertieften Auseinandersetzung mit den Wurzeln der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Autor beweist, dass man sich mit Geschichte und Verlauf der Krise befassen kann, ohne auch nur einmal über "Heuschrecken" und "gierige Spekulanten" als den vermeintlichen Verursachern des Übels herziehen zu müssen, wie es unter manchen sich besonders antikapitalistisch vorkommenden "Krisenanalytikern" leider gang und gäbe ist.

Frank gibt einen Überblick über Crashs und Booms der letzten hundert Jahre, zeichnet eine kurze Geschichte des Geldes, das spätestens seit der Aufhebung der Golddeckung im Jahre 1971 zur reinen Glaubenssache geworden ist, und führt in die Tricks und Instrumente der neuesten Finanzalchemie ein. Wer immer wieder Bahnhof versteht, wenn von Credit Default Swaps, relative value trading und Balance-Sheet-CDOs die Rede ist, darf reichlich Nachhilfeunterricht erwarten.

Ob es wirklich einen "Skyscraper-Index" gibt, der besagt, dass jeder Hochhausboom ein untrügliches Zeichen für das herannahende Platzen der Finanzblase sei, mag dahingestellt bleiben - ein origineller Gedanke ist es auf jeden Fall. Dazu kommt eine erfrischende Sprache, die man in vergleichbaren Arbeiten leider nur allzu oft vermisst. Was eigentlich falsch sei an Panik, fragt der Autor beispielsweise, schließlich lebten Elefanten, die panische Angst vor Menschen haben, nachweislich länger als ihre furchtlosen Artgenossen. Und sein Vorschlag, zur Rettung des Bankensystems Benefizkonzerte zu veranstalten, kann sich in punkto Erfolgsaussichten durchaus mit den diversen Antikrisenkonzepten messen, die in Politik und Medien mit Bierernst gehandelt werden.

"Der Produktionsprozess", sagt Karl Marx über den Charakter der warenproduzierenden Gesellschaft, "erscheint nur als unvermeidliches Mittelglied, als notwendiges Übel zum Behuf des Geldmachens. Alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise werden daher periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen." (MEW 24,62) Frank zitiert Marx nicht. Aber wie zur Illustration dessen schildert er die Verrücktheit eines Systems, in dem Millionen Phantasten von der wundersamen Geldvermehrung mittels finanzmarktakrobatischer Verrenkungen träumen, während an ihrer Spitze ein Notenbankpräsident hantiert, der bekennt, mehr seiner Magengrube als seinem Kopf zu vertrauen. Eines Systems, dessen oberste Verwalter nach dem Terroranschlag vom 11. September den Leuten allen Ernstes empfehlen mussten, "shoppen zu gehen", damit es nicht zusammenbricht und dessen "Fachleute" sich regelmäßig mit ihren Prognosen blamieren. So wie Bundeskanzlerin Merkel, die noch Anfang 2008 verkündete: "Es gibt keine Anzeichen für eine Rezession in Deutschland. Das muss man ganz deutlich sagen."

Wenn Banken und Unternehmen ihre Verluste von einem auf den anderen Tag als fünfmal höher "neu bewerten", dann kann das nur heißen, dass sie entweder die vier Grundrechenarten nicht beherrschen oder schlicht und ergreifend keinen blassen Schimmer mehr davon haben, was eigentlich im eigenen Laden los ist. "Hoffen wir, dass wir alle reich und im Ruhestand sind, wenn dieses Kartenhaus zusammenbricht", zitiert Frank einen Rating-Analysten. Ein Prinzip Hoffnung, von dem sich die Menschheit besser heute als morgen verabschieden sollte.

Dem Leser werden viele Namen aus der internationalen Finanzwelt begegnen und man kann dem Autor nicht unterstellen, dass er Sympathiewerbung für sie betreibt. Das ist auch völlig okay, denn selbstverständlich ist niemand gezwungen, Manager zu werden und die barbarischen Gesetze der Kapitalakkumulation auf dem Rücken von Mensch und Natur zu exekutieren. Darin genau liegt die persönliche Verantwortung, die den Betreffenden auch vorzuhalten ist. Aber wer nun mal Manager ist, ist sehr wohl gezwungen, diese Gesetze durchzupeitschen, andernfalls er nämlich die längste Zeit Manager gewesen wäre. Und dieser Sachverhalt verweist auf die Systemursache der Krise, die leider von sehr vielen übersehen wird. Was wiederum zu allerlei Verschwörungsphantasien animiert.

Manchmal hat man beim Lesen den Eindruck, dass die systemischen Ursachen auch bei Frank etwas zu kurz kommen. Aber gegen Ende spricht er klar und unmissverständlich davon. Auch wendet er sich gegen die grassierende Illusion vom Staat als dem guten Retter in der Not und gegen den Keynesianismus, dem er rundweg den "Glauben an Zauberei" bescheinigt: Wenn eine staatliche Intervention überhaupt noch einmal erfolgreich sein könne, dann "nur durch eine noch größere Spekulations- und Schuldenblase, die zu einer noch gewaltigeren Krise in der Zukunft führen würde und zum Preis einer Geldentwertung und eines drohenden Staatsbankrotts". Es hätte dem Buch nicht geschadet, wenn dieser Schlussteil etwas ausführlicher ausgefallen wäre. Trotzdem eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die die Krise besser verstehen wollen.

Stefan Frank,
Die Weltvernichtungsmaschine -
Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise

CONTE Verlag 2009
199 Seiten, ca. 20 Euro

Raute

2000 Zeichen abwärts

Die Spezialisten des Überlebens

Dem Kapital ist es egal, wenn Wüsten entstehen, die Polkappen schmelzen, die Ressourcen zu Ende gehen, den Menschen die Lebensgrundlagen entzogen werden. Der Kapitalismus stößt an seine Grenzen, eine Krise jagt die andere, jede schlimmer als die zuvor. Zeit für eine radikale Wende. Wann, wenn nicht jetzt!

Die Litanei ist endlos und die Schlachtlämmer geraten in Bewegung, wollen bewegen und alles neu gestalten. Auf dass nur nichts geschieht und alles so bleibt, wie es immer war.

Zur falschen Zeit am falschen Ort aus all den falschen Gründen. Die störenden Symptome beseitigen, um weiter dem Spektakel des Überlebens zu frönen.

Dem Spektakel, dem schlechten Traum der gefesselten Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt; als solches nicht länger nur Wächter dieses Schlafes, sondern Beschützer und Verbündeter. Garant des Fortbestehens des sedierten Vor-sich-hin-Dämmerns, aus dem niemand mehr erwachen will. Ein Traum, der sogar von Zeit zu Zeit die Illusion erweckt, wach zu sein. Besonders in Krisenzeiten, erfordern diese doch spektakuläre Veränderungen zur Aufrechterhaltung des Schlafes. So ist das Spektakel als konkrete Verkehrung des Lebens die autonome Bewegung des Leblosen. Und "it's time for a change" als die perfekte Waffe des Spektakels, welches es zu nichts anderem bringen will als zu sich selbst.

All ihr Spezialisten des Überlebens, es gilt nicht aufgrund der Not, der Gefährdung des vertrauten Schlafes, zu kämpfen, sondern für unsere Begierden, für die Umkehrung des Verkehrten. Wir wollen nicht den Mangel an Leben prolongieren, sondern die Welt verändern und das Leben neu erfinden. Dies ist von einer gewissen hedonistischen Berechnung nicht zu trennen. Irgendwann ist der Augenblick da, in dem die Leidenschaft und das Bewusstsein, dass eine andere Welt möglich ist, wieder zu wachsen beginnen. Nicht aufgrund der Not der Unterdrückten, sondern aufgrund unseres unwiderstehlichen Verlangens nach Leben.

Bis dahin schlafwandelt weiter zu euren bewegenden Veränderungen, damit das Überleben weitergeht wie bisher!

Ihr könnt mich mal!

R.T.

Raute

Bildung hat keinen Wert(*)

Über den Verlust von Bildung, sobald dieser Wert zugeschrieben wird

von Erich Ribolits

Spätestens nachdem am "Gipfel von Lissabon" im Jahre 2000 durch die Europäischen Bildungsminister deklariert worden war, die Europäische Union zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" machen zu wollen, ist der Begriff "Wissensgesellschaft" zum fixen Bestandteil von Festreden, Forschungsprogrammen und bildungspolitischen Absichtserklärungen geworden. Der Begriff, dessen Wurzeln bis in die 1960er Jahren zurückreichen, dient dabei als Kürzel, um einen seit mehreren Jahrzehnten konstatierten, grundsätzlichen Wandel der gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung von Wissen zu argumentieren - einen Wandel, dem verschiedentlich eine gleichermaßen tiefgreifende Wirkung wie dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zugesprochen wird (vgl. Miegel 2001: 203). Das Kürzel "Wissensgesellschaft" wird dabei in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: einerseits als Metapher, um aktuell stattfindende gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu charakterisieren, andererseits aber auch, um diese zu legitimieren und zu beschleunigen. Zum einen wird mit dem Begriff die in den letzten Jahrzehnten vor sich gegangene Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) angesprochen, die tiefgreifende Veränderungen der kognitiven Tätigkeiten von Menschen sowie eine anwachsende Nachfrage nach wissens- und kommunikationsbasierten Dienstleistungen nach sich gezogen haben. Zum anderen dient der Begriff aber auch als Warnung und Appell: Er soll die Behauptung untermauern, dass die verwertbaren Kompetenzen der arbeitsfähigen Bevölkerung von Regionen und Staaten zunehmend die wichtigste Ressource der lokalen wirtschaftlichen Entwicklung darstellen und es somit erforderlich sei, ein konsequent an den Verwertungsvorgaben ausgerichtetes Lernen potenzieller Arbeitskräfte in allen Lebensbereichen und -altern zu forcieren.

Beim angesprochenen Hochloben von Wissen zur entscheidenden Größe im allgemeinen Konkurrenzkampf wird nur selten reflektiert, dass die Bezugnahme auf die Größe "Wissen" für die aktuelle Entwicklung tatsächlich wesentlich zu kurz greift und das Spezifische der derzeit stattfindenden Veränderung auch keineswegs schlüssig erklärt. Bei dem unter dem Titel Wissensgesellschaft firmierenden Paradigmenwechsel geht es nämlich durchaus nicht nur um einen bloßen Bedeutungsgewinn des Qualifikationsniveaus der Erwerbsbevölkerung in dem Sinn, dass möglichst viele Menschen im (Aus-)Bildungssystem möglichst hohe formale Abschlüsse erwerben, um das dabei erworbene Wissen in den wirtschaftlichen Verwertungsprozess einbringen zu können. Es stellt ja auch keine echte Neuigkeit dar, dass das Know how, auf das in einer Gesellschaft zugegriffen werden kann, einen engen Bezug zu Produktivität und Produktivitätssteigerung hat. Wissen war unzweifelhaft auch schon bisher wesentlicher Einflussfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung. Dass dem so ist, lässt sich nicht zuletzt an der dramatischen Krise zeigen, von der das kapitalistische Gesellschaftssystem aktuell heimgesucht wird. Die Ursache der abnehmenden Fähigkeit des postindustriellen Kapitalismus, menschliche Arbeitskraft zu vernutzen, ist ja nirgendwo anders zu suchen, als in den in den letzten Jahrzehnten auf Grundlage wissenschaftlicher Fortschritte geschaffenen "neuen" Technologien und deren Rationalisierungspotential. Dass Waren heute immer rationeller - in immer kürzerer Zeit, durch immer weniger Arbeitskräfte - hergestellt werden können, deshalb aber immer mehr Menschen "freigesetzt" werden und sich im aktuellen gesellschaftlichen System den Konsum der massenhaft und immer rationeller herstellbaren Waren nicht mehr leisten können, hängt letztendlich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie deren massenhafter Verbreitung und Umsetzung zusammen. Nicht ein Mangel an Wissen, sondern die durch das Konkurrenzdiktat der marktgesteuerten Ökonomie gepushten Fortschritte im wissenschaftlich-technischen Wissen lassen das politisch-ökonomische System Kapitalismus zunehmend an seine Grenzen stoßen!

Ohne spezifische Formen des Generierens und Weitergebens von Wissen ist wohl noch keine Gesellschaftsformation ausgekommen. Seit Menschen Gemeinschaften bilden, organisierten sie dabei auch Wissen, wobei sich dessen Qualität im Laufe der Geschichte selbstverständlich durchaus verändert hat. Seit der "Freisetzung der Konkurrenz" im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie stellt die Verfügung über Wissen und das systematische Weiterentwickeln verwertungsrelevanten Wissens zum Zweck der Profitmaximierung einen ganz wesentlichen Faktor der gesellschaftlichen Dynamik dar. Die diesbezügliche Verwertung von Wissen war somit von allem Anfang an ein bestimmendes Element der Industriegesellschaft gewesen; es mag deshalb erstaunen, dass erst jetzt, in einer weit fortgeschrittenen Phase des Kapitalismus, der Begriff Wissensgesellschaft geboren wurde und zu derartiger Bedeutung gelangte. Tatsächlich ist die Ursache dafür aber auch nicht bloß in einer aktuell vor sich gehenden Intensivierung der Kapitalisierung von Wissen zu suchen, sondern darin, dass diese - in ihrer traditionellen Form - gegenwärtig an Grenzen stößt und es im Zusammenhang damit erforderlich wird, völlig neue Dimensionen von Wissen der Verwertung zugänglich zu machen. Konkret geht es darum, dass der Fokus der Verwertung bisher primär auf formalisiertem Wissen gelegen ist, dieses aber heute zunehmend von seinen menschlichen Trägern losgelöst in Form von Software verfügbar ist. Die Folge ist, dass die systematische Aneignung von Wissen in organisierten Lernprozessen und seine instrumentelle Verwendung zunehmend an Bedeutung verliert, es im Gegenzug aber notwendig wird, dass Menschen lernen, mit Wissen in einer völlig veränderten Form umzugehen.

Wissen wird ja auf zwei gänzlich unterschiedlichen Wegen erworben bzw. stehen Individuen dem von ihnen erworbenen Wissen in weitgehend unterschiedlicher Form gegenüber: Zum einen handelt es sich - siehe André Gorz (2001:5) - um formelles Wissen, worunter alle jene Kenntnisse und Fähigkeiten zu verstehen sind, deren Aneignung vorsätzlich und methodisch erfolgt und die über den Weg bloßer Erfahrung und Interaktion nicht oder nur unzureichend erworben werden können. Die Inhalte des formellen Wissens sowie die zu seiner Aneignung erforderlichen Lernprozesse werden im Wesentlichen durch die jeweiligen Ausprägungsformen des öffentlich organisierten Unterrichtswesens bestimmt. Zum anderen tritt Wissen als informelles Wissen in Erscheinung. Darunter lassen sich alle Kenntnisse und Fähigkeiten subsumieren, die spontan durch Erfahrungen und den Umgang mit anderen erworben werden, ohne dass sie je ausdrücklich thematisiert oder vorsätzlich gelernt werden. Typische Aspekte dieser Wissensdimension sind beispielsweise die Sprache inklusive der sich in unterschiedlichen Kulturen und sozialen Gruppen durch Gesten, Mimik und ähnliches artikulierenden Metasprache oder die adäquate Handhabung alltäglicher Gebrauchsgegenstände sowie das Umgehen mit üblichen Problemstellungen. Informelles Wissen artikuliert sich großteils in Form von Gewohnheiten und Fertigkeiten, die dem Einzelnen weitgehend selbstverständlich erscheinen und seine problemlose Integration in die jeweilige soziale Umwelt bewirken. Dieses präkognitive informelle Wissen stellt die soziale Basis für die sinnliche, psychische und intellektuelle Entfaltung einer Person dar und kann diese begünstigen oder hemmen.


Formelles Wissen - das Schmiermittel des Industriekapitalismus

Beim Erwerb formellen Wissens ist auff ällig, dass, seitdem der Schulbesuch hierzulande im 18. Jahrhundert für alle heranwachsenden Gesellschaftsmitglieder verpflichtend geworden ist, Lernvorgänge in Schulen und Ausbildungen fast ausschließlich unter strukturellen Bedingungen arrangiert wurden, die ein "instrumentelles Umgehen" mit systematisch erworbenem Wissen implizieren. Es handelt sich dabei um eine Form der Wissensaufnahme, bei der Individuen gewissermaßen wie "intelligente Maschinen" fungieren - Medien der Speicherung und instrumentell-logischen Verknüpfung von Informationen, gekoppelt mit mechanischen Verarbeitungseinheiten. Das Wissen bleibt ihnen dabei äußerlich, es nimmt keinen Einfluss auf ihre Persönlichkeit, sondern bleibt für sie gewissermaßen etwas Fremdes, das nur als Mittel zu anderen Zwecken - Arbeitsproduktivität, Einkommen, Prestige, Zugangsberechtigung ... - dient. Lernprozesse dienen dem Ziel des Antizipierens der sich aus dem gesellschaftlichen Status quo ergebenden Anforderungen. Die Individuen sind dabei bloß "bewusstlose Träger" des Wissens und werden von diesem nicht wirklich "betroffen"; entsprechend taub sind sie auch gegenüber den sich aus dem Gewussten ergebenden "Forderungen" hinsichtlich der Ausrichtung ihres Lebens. (Das macht es z.B. möglich, über die ökologische Problematik beruflich verwendeter Materialien oder die sozialen Konsequenzen beruflichen Handelns bzw. der privaten Lebensführung Bescheid zu wissen und sich dennoch ohne inneres Dilemma in der allgemein üblichen "ökologischen und sozialen Gleichgültigkeit" zu verhalten.) Körperlichsinnliche Wahrnehmungen, körperlich bedingte Gefühle, Affekte, Bedürfnisse, Erwartungen, Ängste, Sehnsüchte usw. werden nicht in Relation zu den Wissensinhalten gestellt. Ohne deren Einbeziehung ist es aber nicht möglich, sinnvolle Urteile zu fällen, Fakten zu interpretieren, Entscheidungen zu treffen und aus Erfahrungen zu lernen. Und ohne ihr Mitwirken bleibt von menschlicher Intelligenz lediglich die Fähigkeit zu rechnen, zu kombinieren, zu analysieren, Informationen zu speichern, kurz die Maschinen-Intelligenz (vgl. Gorz 2004: 89).

Wissen in der skizzierten, auf Rationalität verkürzten Form dient der Verwertbarkeit und korreliert nicht mit Intellektualität. Sinnfragen werden ausgeklammert und "die aus politischer Sicht wesentlichen Fragen, die sich eine Gesellschaft stellen muss: Welche Kenntnisse brauchen oder wünschen wir? Was ist wissenswert?" (Gorz 2004: 89) werden ignoriert. Die dem Wissen innewohnende Potenz, Menschen zu befähigen, sich über ihre bloße Kreatürlichkeit zu erheben und Autonomie zu gewinnen, hat dabei keine Bedeutung. Im Sinne der von Erich Fromm entwickelten Dichotomie von "Haben und Sein" (Fromm 1979) zielt ein an formellem Wissen ausgerichtetes Lernen nicht auf eine Erweiterung des Bewusstseins und verändertes "Sein", sondern darauf, Lernende zu "Besitzern" von Wissen zu machen - gelungene Lernprozesse beweisen sich darin, dass die ihnen Unterworfenen nachher mehr Wissen "haben" als vorher. Lernende werden dabei als zwar hochkomplexe und entsprechend schwierig zu steuernde, nichtsdestotrotz aber programmierbare Maschinen behandelt. Mit unterschiedlichsten methodischen Arrangements wird versucht, ihr Aufnahme- und Behaltevermögen zu optimieren und sie möglichst gut mit Wissen zu "füllen". Das Ziel besteht darin, sie für Arbeitsprozesse verwertbar zu machen und dem gesellschaftlichen Status quo anzupassen (vgl. insbesondere Freire 1973). Methodisch geschickt werden ihnen Informationen sowie Methoden zu deren instrumentellen Verarbeitung "übermittelt", wodurch sie befähigt werden sollen, eine mehr oder weniger hohe Position im Rahmen des gegebenen ökonomisch-gesellschaftlichen Systems einzunehmen, nicht jedoch dazu, dieses hinsichtlich seiner Prämissen und Folgen zu hinterfragen. Das strukturell eingeschriebene Ziel derartigen Lernens heißt Brauchbarkeit und Nutzen - ganz sicher nicht Selbstbestimmung oder (Eigen-)Sinn. Es geht nicht darum, durch den Erwerb von Wissen den Tatsachen der Welt gegenüber mündiger zu werden. Völlig konträr zu dem ursprünglich von Francis Bacon formulierten Ausspruch lautet die sich in derart ausgerichteten Unterrichtsystemen tatsächlich verwirklichende Parole: "Ohnmacht durch Wissen"!

Für das reibungslose Funktionieren der Industriegesellschaft war es erforderlich, zumindest dem Großteil der Bevölkerung eine derart entfremdete Haltung gegenüber Wissen "anzuerziehen". Lernen als "Akt der Unterwerfung" unter die als unhinterfragbar wahrgenommenen sogenannten "Erfordernisse" von Gesellschaft und Arbeitswelt bildete eine ganz wesentliche sozialisatorische Grundlage der Massenloyalität gegenüber dem ökonomisch-politischen System. Indem das Bewusstsein der Menschen dahingehend geprägt wurde, sich bloß als Speichermedium und Maschine zur bewusstlosrationalen Verarbeitung von Wissen zu begreifen, diesem also nur in instrumenteller Form gegenüberzustehen, "lernten" sie auch, sich als "bewusstlose Funktionsträger" im ökonomisch-gesellschaftlichen System wahrzunehmen. Auf diese Art konnte zum einen der im modernen Industriekapitalismus rasch anwachsende Bedarf nach Arbeitskräften befriedigt werden, die in der Lage waren, Arbeitsprozesse im Sinne des aktuellen Wissensstandes fachlich qualifiziert durchzuführen. Zum anderen war es damit möglich, immer mehr Menschen zu immer höheren formalen Bildungsabschlüssen zu führen sowie die "Quellen des Wissens" weitgehend zu demokratisieren, ohne dass das nunmehr auf breiter Basis verfügbare Wissen eine subversive, systemsprengende Kraft entfaltete.


Der digitale Kapitalismus erfordert eine neue Form der Zurichtung der Menschen

Wie schon erwähnt, nimmt die Bedeutung des Menschen als Träger formellen Wissens ab. Die IKT machen es möglich, die für Produktion und Verwaltung erforderlichen, bisher an das "Trägermedium Mensch" gebundenen Kenntnisse und Fertigkeiten manueller und kognitiver Art in anwachsendem Maß vom Menschen getrennt in Form von Software zu speichern und als Maschinen-Wissen abzurufen. Daraus leiten sich zwei Effekte ab: Zum einen nimmt der Bedarf an menschlichen Arbeitskräften insgesamt ab und zum anderen sehen sich die weiterhin gebrauchten Arbeitskräfte mit nachhaltig veränderten Qualifikationsanforderungen konfrontiert. Ursache dafür ist, dass die IKT den Menschen nämlich keineswegs generell ersetzen können. Tätigkeiten, die durch die "neuen" Technologien nicht substituiert werden können und deshalb weiterhin von Menschen ausgeübt werden müssen, sind solche, die Kreativität erfordern und/oder einen starken Beziehungsaspekt beinhalten - alles in allem Tätigkeiten, bei denen sich Professionalität nicht durch das Umsetzen eingelernter Verhaltensweisen beweist, sondern darin, dass aus einer verinnerlichten Haltung heraus gehandelt wird. Für alle formalisierbaren - normbezogenen - Arbeitsaufgaben können in letzter Konsequenz IKT eingesetzt werden, d.h. für alle, die sich in Form eines mathematischen Ablaufschemas abbilden lassen. Somit müssen mit deren fortschreitender Implementierung von menschlichen Arbeitskräften zunehmend nur mehr fallbezogene Aufgaben durchgeführt werden. Darunter sind Aufgaben zu verstehen, die nicht formalisierbar sind, weil sie von Fall zu Fall ein spezifisches Vorgehen erfordern und nicht im Sinne antrainierter Routine, sondern nur auf Grundlage von besonderen sozialen und emotionalen Kompetenzen bzw. Kreativität, Intuition oder Empathie der sie Verrichtenden bewältigt werden können. Derartige Aufgaben können nicht ausgeführt werden, indem bloß getan wird, was im Rahmen einer Ausbildung erlernt wurde - hier gilt es aus einer verinnerlichten Einstellung heraus, gewissermaßen autonom zu handeln. (Anzumerken ist hier, dass auch bisher schon z.B. in Lehr-, Sozial-, Therapie- und Pflegeberufen in hohem Maße fallbezogene Arbeiten durchzuführen waren. Typischerweise werden diese Menschen auf ein besonders hohes Berufsethos verpflichtet - es wird von ihnen erwartet, dass sie die Motivation für ihren Beruf nicht primär aus der - meist sowieso eher niedrigen - Bezahlung schöpfen, sondern aus dem Wunsch, "etwas Gutes" tun zu wollen.)

Jene Tätigkeiten, die trotz der in den letzten Jahrzehnten geschaffenen technologischen Möglichkeiten auch weiterhin von Menschen durchgeführt werden müssen, enthalten einen wachsenden Anteil eines spezifischen Vermögens, das zwar sehr häufig als "Wissen" apostrophiert wird, die im Alltagsbewusstsein bestehende Dimension dieses Begriffs tatsächlich aber weit überschreitet. "Es geht nicht mehr nur um 'know what', also um die Anwendung kodifizierten Faktenwissens durch die Arbeitskräfte, sondern um darüber hinausgehende Qualifikationselemente", sogenannte "tacit skills" (unterschwellige Fähigkeiten), verschiedentlich - eher unscharf - auch als Know how bezeichnet. Darunter lassen sich "alle Formen des impliziten und informellen bzw. des Erfahrungswissens der Arbeitskräfte wie auch ihre Fähigkeit zur Kommunikation und Kooperation im Produktionsprozess" (Atzmüller 2004: 598) subsumieren. "Gefragt sind Erfahrungswissen, Urteilsvermögen, Koordinierungs-, Selbstorganisierungs- und Verständigungsfähigkeit, also Formen lebendigen Wissens, die (...) zur Alltagskultur gehören. Die Art und Weise, wie Erwerbstätige dieses Wissen einbringen, kann weder vorbestimmt noch anbefohlen werden. Sie verlangt ein Sich-selbst-Einbringen, in der Managersprache 'Motivation' genannt" (Gorz 2004: 9). Die Fähigkeiten, die Arbeitnehmer für die Bewältigung der technologisch nicht substituierbaren Tätigkeiten brauchen, gehen über formal erlernbare wissenschaftlich-technische Kenntnisse und Qualifikationen im klassischen Sinn weit hinaus und übersteigen das in Schulen und Ausbildungsgängen traditionell erlernte formelle (Fach-)Wissen bei weitem. Derartige Aufgaben erfordern in hohem Maß Wissensformen, die nicht formalisierbar und deshalb systematisch auch nur sehr eingeschränkt lehrbar sind. Es handelt es sich dabei um "informelles Wissen" (André Gorz), das seinem Träger nicht bloß "oberflächlich anhaftet" sondern ihn als Individuum "betrifft" und nachhaltig verändert.

Wie fallbezogene Aufgaben zu erfüllen sind, lässt sich - ihrer Nicht-Formalisierbarkeit entsprechend - nicht an normierbaren Maßstäben der Arbeitserbringung messen, entzieht sich damit in letzter Konsequenz auch einer wirksamen Überwachung durch Kontrollorgane. Wie in derartigen Bereichen menschlichen Handelns vorzugehen ist, kann nicht anbefohlen oder kontrolliert werden, genau deshalb aber in traditioneller Form auch nicht gelehrt werden. Dass Schulen und Ausbildungsstätten sich in nahezu allen "entwickelten Ländern" seit Jahren in einer Dauerkrise befinden und tiefgreifenden Veränderungsprozessen unterworfen sind, die Rolle und Funktion der Lehrenden in öffentlichen Bildungseinrichtungen von den verschiedensten Seiten kritisiert wird, sowie permanent neue Lernkulturen und die lebenslange Bereitschaft zum Weiterlernen eingefordert werden, hat im Kern genau mit diesem Wandel des Anforderungsprofils in der Arbeitswelt zu tun. Nicht zufällig fokussiert die Kritik am "traditionellen" schulischen Lernen sehr stark die dabei übliche Rolle des Lehrers/der Lehrerin als zentraler Vermittlungsfigur von Lehrstoff und Hersteller/in von Lerndisziplin sowie den Umstand, dass in der Schule alle Schüler/innen im Gleichtakt dieselben Inhalte zu lernen und bei Prüfungen zu reproduzieren hätten. Das Argument, dass sich Lehrer/innen von ihrer traditionellen inhaltszentrierten Rolle verabschieden und zu Prozessmanager/innen selbstbestimmter Lernprozesse ihrer Schüler/innen - zu Lerncoaches, wie es verschiedentlich heißt - werden sollen, baut letztendlich - meist allerdings wohl eher unreflektiert - auf der Erkenntnis auf, dass sich die skizzierten neuen Anforderungen der Arbeitswelt tatsächlich systematisch nicht "vermitteln" lassen. Deshalb muss sich die Schule von einem Ort der planmäßigen Vermittlung brauchbar machenden Wissens zu einem wandeln, wo es in erster Linie um die Sozialisierung von Heranwachsenden zum "unternehmerischen Selbst" geht. Und dieses "fabriziert man nicht mit den Strategien des Überwachens und Strafens, sondern indem man ihre Selbststeuerungspotenziale aktiviert" (Bröckling 2007: 61).

Wenn das Sich-selbst-Einbringen als die Bereitschaft, unaufgefordert und unbeaufsichtigt im Sinne des unternehmerischen Verwertungsprozesses aktiv zu werden, zur wichtigsten Arbeitstugend avanciert, reicht es nämlich nicht mehr aus, als "brave/r Arbeitnehmer/in" - den unternehmerischen Vorgaben entsprechend - antrainiertes Wissen und Können "zur Verfügung zu stellen". Dazu sind Arbeitskräfte erforderlich, die gelernt haben, die Dimensionen der Verwertungslogik aus eigenem Antrieb auf sich anzuwenden und die nicht von der "antiquierten" Vorstellung eines grundsätzlichen Interessenswiderspruchs von Arbeit und Kapital angekränkelt sind; Menschen also, die gelernt haben, sich selbst (bloß noch) als Humankapital wahrzunehmen und freiwillig, ohne permanente Kontrolle, im Sinne der Verwertungsvorgaben aktiv zu werden. Dafür ist eine Einstellung notwendig, die mit dem Bewusstsein, (bloß) "Arbeit-Nehmer/in" zu sein, der/die seine/ihre mehr oder weniger qualifizierte Arbeitskraft einem "Arbeit-Geber" über eine beschränkte Zeit zur Verfügung stellt und dafür eine vorab definierte Entlohnung und ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit erwarten darf, nicht kompatibel. Vor allem bedarf es dazu Menschen, die nicht in der Vorstellung verhaftet sind, sich der Verwertung als Arbeitskraft nur aus der Not eines sonst nicht gesicherten adäquaten Überlebens zu unterwerfen, das "gute Leben" aber außerhalb der Verwertungssphäre ansiedeln. Nur wer zwischen Leben und Verwertung nicht mehr (zu) unterscheiden (ver)mag, ist bereit, sich auf seine Selbstvermarktung voll und ganz einzulassen und diese auch noch selbständig voranzutreiben. Damit ist nicht bloß gemeint, fremdbestimmter Arbeit positive Aspekte abzugewinnen und daraus - zumindest in Teilbereichen - Befriedigung zu schöpfen. Es geht um viel mehr, nämlich um die Herausbildung einer Persönlichkeit, die sich über ihre Verwertbarkeit definiert; um Menschen, die sich selbst nur mehr im Spiegel des Marktwerts wahrzunehmen imstande sind und dementsprechend nicht eine grundsätzlich gegebene menschliche Würde für sich reklamieren, sondern sich - in Abhängigkeit von ihrem beruflich-materiellen Erfolg - bloß noch als mehr oder weniger "wert-voll" empfinden können (und wollen).


Das neue Lernen untergräbt die Möglichkeit von Bildung noch mehr als das alte

Galt bisher die deklarierte Bereitschaft, jede Arbeit annehmen zu wollen, als Höhepunkt der Unterwerfungsgeste unter das System der Arbeitskraftverwertung, beweist eine derartige Aussage heute bloß, die Lektion noch immer nicht ausreichend begriffen zu haben. Nun geht es darum, auf die Vermarktung seiner selbst als Arbeitskraft "proaktiv" zuzugehen und diese, sowie die Bedingungen, unter denen diese stattfindet, voll und ganz zu antizipieren. Unter diesen Umständen wird die Befähigung und das Wecken der Bereitschaft zur Selbstvermarktung selbstverständlich zum primären Ziel der Beeinflussung der Subjekte durch organisierte Lernprozesse. Schon Heranwachsende müssen das Bewusstsein ausbilden, Human-Kapital (und sonst gar nichts) zu sein und für dessen Reproduktion, Modernisierung, Erweiterung und Verwertung als "Geschäftsführer ihres eigenen Lebens" die Verantwortung zu tragen. Sie müssen die Konkurrenzlogik verinnerlichen und lernen, sich ohne Zwang so zu verhalten, wie es die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens, das sie selbst sind, erforderlich macht. Ganz in diesem Sinn fokussieren "fortschrittliche" Schulprogramme neuerdings in abnehmendem Maß kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, stattdessen aber zunehmend die Vermittlung sogenannter "Handlungskompetenzen". Zwar wird nur selten der Versuch gemacht, den dabei verwendeten Begriff "Kompetenz" einer bildungstheoretisch legitimierten und stringent nachvollziehbaren Bestimmung zuzuführen (dazu ausführlich Müller-Ruckwitt 2008), bei kritischer Durchsicht der entsprechenden Appelle ist allerdings schnell klar, dass damit ganz wesentlich die Fähigkeit und Bereitschaft zur Adaption an die Prämissen der Selbstvermarktung angesprochen wird. Im Gegensatz zum Qualifikationsbegriff, der eng mit den konkreten Anforderungen bestimmter Berufe und Tätigkeiten verknüpft war und erst in Form der "Schlüsselqualifikationen" eine berufsübergreifende Erweiterung erfahren hatte, ist der Kompetenzbegriff eher "subjektzentriert" und "zeichnet sich vor allem durch das Merkmal 'selbst organisiert' aus" (Höhne 2006: 300). Er fokussiert allgemeine Dispositionen von Menschen, die zu einer - im Sinne der historisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten - adäquaten Bewältigung der lebensweltlichen Anforderungen erforderlich sind. In entsprechenden bildungspolitischen Absichtserklärungen wird immer wieder explizit auf Selbstlern- und Selbstorganisationsfähigkeit sowie Selbständigkeit und Selbstverantwortung Bezug genommen. Besonders die Fähigkeit zur Selbstorganisation wird dabei immer wieder als elementar für das Bestehen in den neuen Arbeits- und Produktionsverhältnissen hervorgehoben.

Lernen wandelt sich, wie Anna Tuschling in einem Text zum Lebenslangen Lernen zusammenfasst, zunehmend zu einer "Technik der Selbstführung mit dem Telos eines umfassenden Wandlungs- und Anpassungsvermögens". Da Informationen mit Hilfe der Technik heute ohnehin jederzeit abrufbar sind, rückt das Was - der Wissensinhalt - zugunsten der Prozesshaftigkeit und des Wie des Wissenserwerbs immer mehr in den Hintergrund. "Was zählt ist die Kompetenz, sich in der entgrenzten "Wissensgesellschaft" zurechtzufinden, das heißt Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden, Pfade durch den Informationsdschungel schlagen und sich fortwährend auf Neues einstellen zu können. Übersetzt in die Sprache der Computer: Auf das Betriebssystem und die Software, nicht auf das Content-Management kommt es an. Der Lehrende wird zum Katalysator (scheinbar Anm. E.R.) autonomer Lernprozesse, Unterrichten zum Beraten, Vermitteln und Mentoring" (Tuschling 2004: 155, 158). Auch der Lernbegriff selbst erfährt mit der Umdeutung von Lernen zu einem Prozess der Selbstmodellierung im Sinne der Prämissen des Selbstunternehmertums eine massive Ausweitung. "Er bezieht sich auf organisiertes wie nichtorganisiertes, institutionelles wie nichtinstitutionelles, formelles wie informelles Lernen; er richtet sich ohne Ausnahme an alle und jeden; er stellt nicht nur den Anspruch an Einzelne, ein Leben lang zu lernen, sondern propagiert die "lernende Gesellschaft". (...) An die Stelle ehemaliger Curricula [tritt] ein fragmentiertes Lernangebot: modularisierte, atomisierte Einzelkomponenten, die je nach Bedarf aneinander angeschlossen oder ausgetauscht werden sollen. Ihren Zusammenhang stiftet keine kritische Bildungstheorie, sondern der jeweils erwünschte pragmatische Effekt" (Pongratz 2006: 167). Seine Legitimation bezieht das informelle, selbstgesteuerte und selbstorganisierte Lernen nicht aus der allen traditionellen Bildungstheorien immanenten Vorstellung eines durch die reflektierte Auseinandersetzung mit den Tatsachen der Welt zunehmend zu seiner Reife gelangenden Menschen, sondern aus der Vorstellung, dass sich die Zielsetzung menschlicher Existenz darin erschöpft, unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen möglichst erfolgreich "über die Runden" zu kommen, indem man sein Dasein als Unternehmen betrachtet, dessen Kurswert durch eine mittels Lernen erreichte geschickte Positionierung am Marktplatz des Lebens positiv oder negativ beeinflusst werden kann.

"Die Entfremdung und Ausbeutung des Menschen findet im 21. Jahrhundert nicht mehr über autoritäre politische Strukturen oder politische Ideologien statt, sondern über eine neue pädagogische Ideologie, die da heißt: lebenslanges und selbstorganisiertes Lernen" (Hufer/Klemm 2002: 101). Ziel des "neuen Lernens" ist das Heranbilden des "flexiblen Menschen" (Sennett 2006), den seine nachgiebige, formbare Identität nicht bloß dazu befähigt, sich ganzheitlich den wechselnden Anforderungen der informations- und kommunikationstechnologisch dominierten Arbeitswelt zu unterwerfen, sondern der die ihm zugemuteten Bedingungen der Verwertung gar nicht erst als Entfremdung wahrnimmt. In diesem Sinn geht es im sogenannten Bildungswesen nicht um die intellektuelle Auseinandersetzung mit den (neuen) Anforderungen im System der Arbeitskraftverwertung, sondern um das Herausbilden der Bereitschaft, mit diesem in einer "bejahenden Form" umzugehen, es geht um das Erwerben gesellschaftsadäquater "Überlebensstrategien", um "Cleverness", nicht um Widerstand, der den gesellschaftlichen Zumutungen entgegengesetzt werden könnte. Selbstverständlich war es - wie schon ausgeführt - auch in Zeiten des Industriekapitalismus nicht das Ziel des Schul- und Ausbildungswesens, widerständige Potentiale zu wecken, allerdings wandelt sich mit dem Bedeutungsverlust des Menschen als Träger formellen Wissens die Funktion organisierter Lernbemühungen noch einmal grundlegend. Das als Bildungswesen bezeichnete System der organisierten Anpassung von Menschen an die "Anforderungen der Gesellschaft" hat nun nicht mehr in erster Linie die Aufgabe der Weitergabe brauchbar machenden Wissens, eines Wissens, das - im Widerspruch zur Form seiner üblichen Vermittlung - immerhin die Grundlage mündig machender Bildung abgeben kann. Wenn mit Arbeitskräften, die sich ihrer Verwertung bloß unterwerfen, zunehmend "kein Geschäft mehr zu machen" ist, sondern solche erforderlich werden, die ihr Verwertungspotential aus eigenem Antrieb aktivieren, dann wird es zur primären Aufgabe des Schulsystems, eine derartige Haltung bei den Besuchern hervorzubringen.

Es ist nicht so sehr die Tatsache der "Zurichtung für die Verwertung", die somit die großartige Neuigkeit hinter dem gegenwärtig an allen Ecken und Enden stattfindenden Umbau des Bildungswesens darstellt - diese war auch bisher schon die oberste Prämisse des Bildungswesens. Bildung als die Befähigung von Menschen, potenziell dagegen, eigensinnig und herrschaftskritisch zu sein sowie gegebene Tatsachen, unabhängig von ökonomischen Nützlichkeitserwägungen, hinterfragen zu können, stellte im System gesellschaftlich organisierter Beschulung auch bisher bestenfalls den ideologischen Überbau dar. Allerdings war das Bildungswesen bisher notgedrungen Hauptlieferant der Ressource Wissen, die, entgegen der hinter ihrer Vermittlung stehenden Absicht, zur Grundlage von (echter) Autonomie, kritischer Distanz und Mündigkeit werden konnte. Die Notwendigkeit der systematischen Wissensvermittlung verunmöglichte ein wirklich konsequentes Hintanhalten von Bildung und schuf die Möglichkeit, dass - zumindest fallweise und in Teilaspekten - "Bildung trotz Schule" (Fischer 1978: 178) stattfinden konnte. Der derzeit stattfindende Totalumbau des Bildungswesens, der sich in Maßnahmen der Veränderung der Lernorganisation, wie z.B. der Modularisierung oder dem sogenannten selbstverantwortlichen und selbstorganisierten Lernen, und in der zunehmenden Ausrichtung an ökonomisch determinierten Qualitätsvorgaben und zu erreichenden Standards inklusive der veränderten Verhaltenssteuerung der im Bildungswesen Tätigen widerspiegelt, untergräbt allerdings genau diese klammheimlich gegebene Möglichkeit der Verwirklichung von Bildung. Die durch Schulen, Ausbildungsstätten und Universitäten auch bisher schon zu erfüllende Funktion von Sozialisationsagenturen zur Herstellung von Warensubjekten erreicht durch die angesprochenen Maßnahmen des inneren und äußeren Strukturumbaus von Bildungsinstitutionen eine neue und deutlich nachhaltigere Dimension.

Der mit dem Übergang vom Industrie- zum Informationskapitalismus einhergehende Totalumbau der Strukturen von Schulen, Universitäten und Erwachsenenbildungseinrichtungen zielt darauf ab, die Brauchbarkeit von Menschen auch unter den informationskapitalistisch veränderten Bedingungen der Verwertung aufrechtzuerhalten. Bildung ist aber nicht das Vermögen, sich einem System anzudienen und darin problemlos zu funktionieren; mit Bildung ist - im völligen Gegensatz dazu - die Selbstbefreiung des Menschen aus dem Kokon der Macht gemeint. Bildungsbemühungen, die diesen Namen zu Recht tragen, zielen somit auf die Entfaltung seiner widerständig-emanzipatorischen Potentiale. Das alles überstrahlende "Richtscheit des Werts" ist mit einer derartigen Ausrichtung von Bildung allerdings niemals zur Deckung zu bringen. Die Befähigung zu Kritik, Widerstand und eigensinnigem Handeln umfasst alle an Menschen herangetragene Zumutungen der Ausrichtung des Lebens und macht selbstverständlich auch vor der Verwertungsprämisse nicht Halt. Logischerweise steht der gebildete Mensch zuallererst seiner eigenen Verwertung kritisch gegenüber. Im Sinne der skizzierten, im Informationskapitalismus zunehmend gegebenen Notwendigkeit der Identifizierung mit der Verwertungslogik, korreliert Bildung somit letztendlich mit einer Verringerung des (Markt-)Werts. Der gängigen Nomenklatur entsprechend muss Bildung - als die Ermächtigung des Menschen zum eigensinnigen Leben - somit als wert-los bezeichnet werden; Bildung hat keinen Wert!


(*) Auszug aus dem Buch von Erich Ribolits:
Bildung ohne Wert - Wider die Humankapitalisierung des Menschen,
Löcker-Verlag, Wien 2009, 200 Seiten, ca. 20 Euro.


Literatur

Atzmüller, Roland (2004): Qualifikationsanforderungen und Berufsbildung im Postfordismus. In: Bildung und Ausbildung. Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Jg. 34, Heft 137.

Bünger, Carsten/ Mayer, Ralf/ Messerschmidt, Astrid/ Zitzelsberger, Olga (Hg.) (2009): Bildung in der Kontrollgesellschaft. Analyse und Kritik pädagogischer Vereinnahmung. Paderborn.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.

Fischer, Wolfgang (1978): Schule als parapädagogische Organisation. Kastellaun.

Freire, Paulo (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbeck b. Hamburg.

Fromm, Erich (1979): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München.

Gorz, André (2001): Welches Wissen? Welche Gesellschaft? Textbeitrag zum Kongress "Gut zu Wissen", Heinrich-Böll-Stiftung, 5/2001.
http://www.wissensgesellschaft.org/themen/orientierung/welchegesellschaft.html (Mai 2009)

Gorz, André (2004): Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie. Zürich.

Höhne, Thomas (2006): Wissensgesellschaft. In: Dzierzbicka/Schirlbauer: Pädagogisches Glossar der Gegenwart, S. 297-305. Wien.

Hufer, Klaus-Peter/Klemm, Ulrich (2002): Wissen ohne Bildung? Auf dem Weg in die Lerngesellschaft des 21. Jahrhundert. AG SPAK Bücher - M 150 - Kleine Reihe, Neu-Ulm.

Miegel, Meinhard (2001): Von der Arbeitskraft zum Wissen. Merkmale einer gesellschaftlichen Revolution. In: Merkur, 55/3.

Müller-Ruckwitt (2008): "Kompetenz" - Bildungstheoretische Untersuchungen zu einem aktuellen Begriff. Würzburg.

Pongratz, Ludwig A. (2006): Lebenslanges Lernen. In: Dzierzbicka/Schirlbauer: Pädagogisches Glossar der Gegenwart, S. 162-171. Wien.

Sennet, Richard (2006): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin.

Tuschling, Anna (2004): Lebenslanges Lernen. In: Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart, S.152-158. Frankfurt a.M.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Schreckstellungen zu Scheuringer und seinen Kontrahenten

Gewissheit hat ein Ablaufdatum, Anlaufdatum nicht minder. Gewissheit hat eine Bandbreite der Belastung und der Zustimmung, hat etwas von einem Pass oder ist ein Schlüssel, der Zugänge und Übergänge erlaubt. Gewissheit wird erzeugt, grenzt ein und aus. Wenn Gewissheiten aneinander geraten, ist dann Feuer am Dach oder Wasser im Keller?

Gewissheit hat Machart, je nachdem, woraus sie besteht, wofür sie gebraucht wird. Von der Gewissheit bis zur Ungewissheit gibt es eine Skala, zu der Vermutung, Ahnung, Zweifel gehören. Mathematisch erscheint sie als Wahrscheinlichkeit. Sogar da, in den Gefilden formaler Eineindeutigkeit gibt es gegensätzliche Ansichten und Vorgangsweisen betreffend den Gegensatz zwischen Übergang (Analogie) und Stufe (Diskretion). Der Zwang, sich für eine oder eine gegensätzliche Lösung zu entscheiden, ist ein eigenes Problem: Wer oder was erzeugt diesen Zwang, wie äußert er sich, wie wirkt er auf die gegnerischen Entscheidungen und deren Umstände und Bedingungen.

Einige Volksweisheiten geben dazu Hinweise: "Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte", ist eine solche. In der auslösenden Kontroverse (vgl. Streifzüge Nr. 43-46) über die Bedeutung des Rausches wird deutlich, was alles dabei zu Tage kommt und unter den Teppich gekehrt oder dort vermutet wird. Nicht selten sind solche Differenzen stellvertretend für nicht Zugegebenes oder nicht Eruierbares. Genauso oft sind sie immanent, sind nicht eindeutig lösbar oder sind aneinander räumlich, zeitlich, öffentlich oder privat gebunden. Oft genug liegt die Entscheidungsmöglichkeit auf einer anderen Ebene, in einem anderen Bereich usf. Das Trennende und das Gemeinsame von Streit in unterschiedlichster Form, Bedeutung und Wirkung stellt sich als Hintereinander heraus. "Unkenntnis schützt vor Strafe nicht", gilt ja genauso umstritten wie die Differenzen über Schuld und Sühne. Zu allen Fällen sind daher die unterscheidenden und einigenden Faktoren möglichst präzise zu definieren. Da ist dann mehr zu gewinnen als der Streit.

P.P.

Raute

Immaterial World

Gesellschaft

von Stefan Meretz

Der Gesellschaftsbegriff wird nach Auskunft der Online-Enzyklopädie Wikipedia von Soziologinnen und Soziologen nicht mehr verwendet. Für eine kritische Theorie ist er unverzichtbar. Wie könnte eine sinnvolle Annäherung aussehen?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich eine Gesellschaft aus Menschen zusammensetzt. Diese Menschen nehmen unterschiedliche Rollen wahr, füllen bestimmte Funktionen aus und stehen zueinander in bestimmten Beziehungen, die schließlich als Ganzes die Gesellschaft ergeben. - Eine solche Beschreibung ist nicht falsch, obgleich total unterbelichtet, unabhängig davon, wie genau man die Rollen, Funktionen und Beziehungen auch beschreibt.

Schauen wir genauer hin, zeigt sich, dass die einzelnen Menschen der Gesellschaft als "Nicht-Gesellschaft" gegenüber stehen. Hier wird klar, dass die Gesellschaft nicht nur einfach die Summe der Individuen ist, sondern eine von den einzelnen Individuen unabhängige, eigene Funktionslogik besitzt. Zwar gilt noch immer, dass es ohne Individuen keine Gesellschaft gäbe, aber es ist nicht so, dass die Gesellschaft weniger oder mehr Gesellschaft wäre, wenn es weniger oder mehr Individuen gäbe. - Diese Sicht kommt der Wahrheit schon etwas näher, indem sie den System-Charakter von Gesellschaft versteht. Gleichzeitig hypostasiert sie ein spezifisches Verhältnis von Gesellschaft und Individuum als Entgegensetzung. Die Entgegensetzung ist im Kapitalismus tatsächlich Ausdruck der System-Reproduktion als etwas Abgetrenntes, dem Einzelnen als Fremdes Gegenüberstehendes.

Weiter gedacht - jetzt bleiben wir beim Kapitalismus - erkennen wir neben der Entgegensetzung gleichzeitig auch Übergreifendes. Das Fremde ist in Wahrheit das Eigene, das uns als etwas Fremdes entgegentritt, obwohl wir es erschaffen. Der Kapitalismus verabsolutiert in seiner wertvermittelten Reproduktionslogik tatsächlich das Moment der Getrenntheit in einer Weise, dass die Marxsche Kennzeichnung des Kapitals als "automatisches Subjekt" treffend ist. Doch der Automatismus ist gleichwohl nur ein Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs, zu dem ebenso die menschliche Tätigkeit gehört. In der Form der Arbeit ist sie dem Automatismus der Wertvermittlung untergeordnet, in der Form der individuellen Selbstentfaltung steht sie ihm entgegen. Das Individuum geht nicht in der Subalternität auf.

Es gilt hier also, nicht in ein abstraktes, vereinfachendes Denken zurückzufallen und die Wert-Selbstverwertung als von uns real getrennte Systemlogik zu verabsolutieren, sondern zu erkennen, dass wir sie machen. Das, was uns entgegentritt, sind wir selbst, auch wenn es uns fremd ist. Dies erkannt ruft nach einer Perspektive, in der uns das Entgegentretende nicht das von uns abgetrennte Fremde ist, sondern das uns Vertraute, wir selbst.

Gesellschaft ist nichts für sich Seiendes, sondern so wie die Menschen Moment des übergreifenden Gesellschaft-Mensch-Zusammenhangs. Es gilt stets, den Zusammenhang zu begreifen. Wer die Gesellschaft denken will, muss gleichzeitig den Menschen denken: Ohne einen Begriff des gesellschaftlichen Menschen keinen Begriff der menschlichen Gesellschaft - und umgekehrt. Genau genommen handeln beide Begriffe vom Gleichen, nur aus unterschiedlichen Perspektiven. Schneidet man ein Moment ab, wird jede Analyse schief. Das ist nicht nur ein Problem der bürgerlichen, sondern auch der kritischen Theorie.

Der Kapitalismus ist keineswegs eine allgemeine, sondern nur eine historisch-spezifische Form des Gesellschaft-Mensch-Zusammenhangs. Es ist zwar richtig, dass erst der Kapitalismus den Vermittlungszusammenhang im planetaren Maßstab hergestellt hat, es wäre aber falsch daraus zu schließen, dass es vor dem Kapitalismus keinen allgemeinen Vermittlungszusammenhang gegeben hätte. Vor dem Kapitalismus waren es personale Abhängigkeits- und religiöse Fetischverhältnisse, über die die gesellschaftliche Vermittlung organisiert wurde. Die personalen Herrschaftsstrukturen waren gesellschaftlich allgemein, auch wenn sie regional völlig verschieden sein konnten. Eine Form der abstrakten Allgemeinheit, Gleichheit und Gleich-Gültigkeit war erst unter der unpersonalen Herrschaft der Wertvermittlung möglich.

Aus diesen Überlegungen lassen sich Schlüsse für eine Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus ziehen. Auf der Grundlage der bestehenden Vermittlungsformen ist Emanzipation nicht zu haben. Gleichzeitig kann sie nur dort beginnen. Mit diesem Widerspruch muss jeder (anti-)politische Ansatz umgehen. Voraussetzung ist, sich klar zu machen, was gesellschaftliche Vermittlung eigentlich bedeutet.

Wir stellen unsere Lebensbedingungen gesellschaftlich her, und fast jeder individuelle Mensch hat daran in unterschiedlichem Ausmaß teil. Gesellschaftliches Herstellen und Teilhaben ist dabei so umfassend wie nur möglich zu verstehen, um nicht nur an die lohnarbeitsförmigen Tätigkeiten zu denken - es geht um alle Tätigkeiten, die in einer Gesellschaft gebraucht werden. Die Vermittlungsweise entscheidet darüber, was gebraucht werden darf.

Im Kapitalismus ist die dominante, alle anderen Formen übergreifende Vermittlungsweise die der Wertvermittlung. Neben dieser existieren jedoch unübersehbar viele weitere Arten der Vermittlung, ohne die die dominante Form nicht existieren könnte. Während die Wertvermittlung etwa entscheidet, dass eine Tätigkeit "nicht gebraucht" wird, weil sie auf keinen zahlungsfähigen Bedarf stößt, wird sie dennoch erledigt, weil sie tatsächlich doch gebraucht wird. Die - durch Zahlung nicht vermittelbaren, tatsächlich aber oft sogar dringend gebrauchten Tätigkeiten werden von der dominanten Vermittlungsform abgespalten und in den personal-regulierten Bereich verschoben: Familie, Ehrenamt, Nachbarschaften etc.

Aus Sicht der wertvermittelten Produktion erscheint der abgespaltene Bereich nur als Reproduktion, obgleich dort genauso Lebensbedingungen hergestellt werden. Eine emanzipatorische Alternative muss folglich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie hebt die Spaltung von Produktion und Reproduktion auf und stellt die gesellschaftliche Vermittlung auf die Grundlage der individuellen Entfaltung der Menschen. Gesellschaft und Individuum erscheinen nicht mehr als Gegensatz, wenn "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Manifest der Kommunistischen Partei, 1848).

Raute

What we do matters

Zu Friederike Habermann: Der homo oeconomicus und das andere

von Lorenz Glatz

"What we do matters", ist der Schlusssatz des Buches. Derlei Sentenzen sagen oft einiges über Stimmung, Haltung und Perspektive, mit der die AutorInnen schreiben. Z.B. das "Dixi et salvavi animam meam" am Ende von Marxens Kritik des Gothaer Programms, aus dem sein schon resignativer Frust über den Gang der deutschen Arbeiterbewegung spricht. Oder in den letzten Jahren der Satz "Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist" am Ende des Kurz'schen "Schwarzbuch Kapitalismus" angesichts seiner Verzweiflung über das Nicht-Erscheinen einer mit "theoretischer Innovation" gerüsteten "Massenbewegung" für einen "regelrechten Aufstand".


Emanzipatorischer Impetus

Habermanns Klausel ist da weniger bewölkt. Sie sieht sich dem Geschehen nicht gegenüberstehen, sondern mittendrin, wo das, was eins selber tut, wie auch jenes, das wir unterlassen, den Gang unserer Geschichte macht. Es ist ein roter Faden in ihrem Text: Immer wieder tritt sie mit ihrem Anliegen vor den Vorhang der akademischen Bühne, auf der das Buch ihre Dissertation darstellt. Das vorherrschende Unerträgliche muss geändert, die Gesellschaft den Menschen angemessen(er) gemacht werden. Nur dazu muss untersucht werden, was ist, muss der Berg an Literatur abgetragen und den Gedanken der SchreiberInnen nachgegangen werden. Läge ihrer ungemein nüchternen Schreibweise nicht jede Melodramatik fern, könnte sie mit John Holloways ("Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen") poetischen Worten beginnen: "Im Anfang ist der Schrei", das Gespür, "dass etwas mit der existierenden Welt radikal falsch ist". Und: "Wir schreien, ... weil wir davon träumen, uns zu befreien."

Es hat wirklich etwas von einem Tagtraum im guten Sinne Montaignes, wenn sich Habermann daran macht, eine Theorie der menschlichen Handlungsfähigkeit in den Strukturen der Unterdrückung zu entwickeln. Eine Theorie, die sich bei den teilweise recht inkompatiblen Herangehensweisen von Leuten wie Gramsci, Althusser, Foucault, Derrida, Hall, Laclau, Mouffe, Butler und vieler anderer aus deren disparaten Umkreisen bedient, um sie dahin abzufragen, was sie begrifflich für das Verstehen und das Abschaffen von Unterdrückung hergeben. Und wie sehr es dabei um Letzteres, um das Ändern, Sich-Emanzipieren geht, macht schon ihre Bemerkung klar, dass, wenn es eine kompakte Theorie (noch) nicht gibt, ein kritischer Eklektizismus durchaus angebracht sei.


"Subjektzentrierte Hegemonietheorie"

Diesen sperrigen Titel gibt Habermann dem Theoriestrang, den sie flechten will. Grob gesagt will sie die Stärke der (post)marxistischen Tradition in der Analyse der gesellschaftlichen Strukturen (den Struktur-Begriff bringt sie mit dem Marx'schen der Form zusammen) mit dem Fokus des "Poststrukturalismus" und der Diskurstheorie(n) auf Subjekt, Identität und das darin befangene Individuum verbinden und deren Zusammenhang herausarbeiten. Geschichte lässt sich als determinierter Ablauf struktureller, herrschaftsförmiger ökonomischer Gesetzmäßigkeiten noch als Folge voluntaristischer Entscheidungen autonomer Subjekte befriedigend deuten. Strukturen und Subjekte mit ihren Identitäten sind ineinander verwoben und das eine ohne das andere nicht denkbar. Die gesellschaftlichen Formen der Herrschaft wirken auf die sozialen Prozesse und Kämpfe der Menschen. Umgekehrt aber existieren diese Strukturen nur als ein Ergebnis dieser Prozesse, als Ergebnis von Kämpfen um die Hegemonie, das sich als fragmentierter, widersprüchlicher Alltagsverstand in den Menschen sedimentiert und Handlungsmotiv wird. Das Leiden der "realen" Menschen am Leben in den Strukturen der Herrschaft sowie die unvorhersehbaren Entwicklungen, die sich daraus ergeben, dass das "Reale" von den Diskursen nie erschöpfend fassbar ist, verhindern jedoch die identische Wiederholung von konformen strukturerhaltenden Handlungen. So verschieben sich immer wieder Strukturen und Identitäten, ändert sich der gesellschaftliche Alltagsverstand und entstehen neue Handlungsmöglichkeiten. Gesellschaftliche Veränderungen werden nicht erst als regelmäßige Lawine, sondern schon als unvorhersehbarer Schneeball wahrnehmbar - und sind teilnehmend zu beeinflussen.

Habermanns Analysen enden daher nie im Gegenüber zu einer Revolution oder deren Ausläufern "soziale Widerstands-" und "Massenbewegung". Sie reicht nicht die Theorie der gesellschaftlichen Zwangsformen gewissermaßen als Waffe zum voluntaristischen Gebrauch "hinüber", sondern versteht die Analysanten ausdrücklich als Menschen, die selbst in den sozialen Formen, Subjektivierungsprozessen und eigenen Identitäten und Interessen befangen und im Denken, Fühlen und Handeln in die Strukturen der Herrschaft verwoben sind und in ihrem Horizont beengt werden.

Ein Gedanke, der es wert wäre, auch in seinen Konsequenzen für den theoretischen Betrieb weitergedacht zu werden. Immerhin legt er Skepsis den eigenen Erkenntnissen gegenüber genauso nahe wie einen Zusammenhang zwischen theoretischen Fortschritten und den praktischen Bemühungen der Denkerinnen und Schreiber, aus der von der Lebensweise aufgeherrschten Konkurrenz, Indolenz und Konformität ein Stückchen herauszufinden (der Exkurs Habermanns zum Feminismus des stockbürgerlichen John Stuart Mill mag da durchaus eine Ermutigung sein). Damit wird auch die übliche lebenswirkliche Trennung von Theorie und Praxis und der alte Streit um die Farbenlehre, ob jene grau, grün oder golden sind, ein wenig in Frage gestellt. Dass Habermann diese Erkenntnis recht leicht fällt, hat wohl mit ihrem eigenen Leben zu tun, in dem die beiden klassischen Bereiche eng verquickt zu sein scheinen.


Herrschaft ist eine Hydra

Die im Buch diskutierten Formen sozialer Unterdrückung sind Kapitalismus, Sexismus und Rassismus. Habermann lehnt die in der marxistischen Tradition verbreitete Zurückführung jeder sozialen Herrschaftsmechanik auf das Kapitalverhältnis ab, das jene zumindest überformt und sich einverleibt habe und dessen Sturz jede andere Form von Unterdrückung erledigen werde. In zwei Durchgängen durch die Geschichte der kapitalistischen Wirtschaftstheorie und die "Hegemoniale(n) Entwicklungen der Identitätskonstruktionen" stellt sie im Umfang eines mittleren Taschenbuchs dar, wie die diskutierten Formen sich verschlingen, gegenseitig fördern oder behindern, also "artikuliert" (Laclau-Mouffe) existieren und sinnvoll nur in ihrer gemeinsamen Wirksamkeit betrachtet werden können.

Genauso artikuliert sollten sie das Angriffsziel gesellschaftlicher Emanzipation sein, wird man - vermutlich ganz im Sinne der Autorin - hinzufügen können. Selektiv gegen Herrschaft vorzugehen lässt die Hydra unversehrt. Ihre abgeschlagenen Köpfe wachsen - in neuer Form vielleicht - nach. Habermann illustriert diesbezüglich anschaulich und ausführlich, wie im Ergebnis der bürgerlichen "Freiheit und Gleichheit" der weißen Männer in Frankreich und Amerika die Lage der Frauen und "Farbigen" bedeutend schlimmer war als zuvor. Inzwischen, so ist hier anzumerken, entpuppen sich auch die neuen bürgerlichen Herren "bloß" als hochprivilegierte Büttel eines ungemein destruktiven Systemzwangs. Doch auch wenn dieser an den inneren Widersprüchen und am Widerstand der Menschen gegen die wachsenden Zumutungen sowie die sozialen und ökologischen Katastrophen zerbräche, wäre das allein noch keineswegs die Garantie einer besseren Welt.

Ein Dilemma, das Habermann selbst benennt, sei noch angedeutet: Die von ihr analysierten Herrschaftsverhältnisse sind keineswegs die Einzigen. Sie selbst erwähnt u.a. "ageism", die Diskriminierung der "unnützen" Alten, die - wie vieles, das früher unter den doppelbödigen Begriff Fürsorge fiel - meist nicht einmal wahrgenommen wird. Alle diese Formen gehen ein in das vielfältig "artikulierte" Institut der Herrschaft. Sie alle in eine Analyse einzubeziehen, ist einerseits unmöglich, andererseits aber können Auslassungen nicht ohne Auswirkung auf Erkenntnis und Emanzipation bleiben.


Der homo oeconomicus und die Emanzipation

In der europäischen Aufklärung beginnt sich der weiße, heterosexuelle Mann theoretisch und praktisch als Bourgeois und Citoyen zu konstituieren, indem andere Menschen als nicht-weiß, nicht-heterosexuell, nicht-männlich "erfunden", identifiziert und ausgeschlossen werden. Mit der sich ausbreitenden kapitalistischen Logik entsteht im rationalen, nach Kosten und Nutzen kalkulierenden homo oeconomicus über Jahrhunderte ein neues hegemoniales Leitbild artikulierter Herrschaftsformen, wie Habermann ausführlich und überzeugend darlegt. Ursprünglich das Modell eines bürgerlichen Mannes, insofern er wirtschaftlich tätig war, ist er heute zum Inbegriff und Leitbild des Menschen überhaupt geworden.

Dieses europäisch-männliche Ideal ist mittlerweile allerdings durch die Kämpfe um Emanzipation auch für die weiblichen, "farbigen", schwulen etc. Identitäten offen, die durch den Ausschluss aus der hegemonischen Identität des "white heterosexual able-bodied man" (wham) quasi erst erzeugt wurden. Da diese Entwicklung aber im Horizont von Herrschaft bleibt, entstehen daraus Paradoxien. Einerseits z.B. neuerlich aggressive Diskurse und Politiken eines biologisch-natürlichen Ausschlusses, andererseits Ansprüche, Eigenschaften zu verkörpern, die von einem Individuum selbst dann kaum einzulösen sind, wenn es den Startvorteil, ein "wham" zu sein, mitbringt. Wobei noch hinzuzufügen wäre, dass diese Quasi-Virtualisierung und -Demokratisierung des Anforderungsprofils mit sich nunmehr seit Jahrzehnten verschärfenden Ansprüchen der Arbeit und Konkurrenz auf bald allen irgendwie ökonomisierbaren Gebieten des Lebens einhergehen. Denen können immer mehr Menschen in den "reichen Ländern" nur noch mit Psychopharmaka beikommen, während die am desperatesten entschlossenen homines oeconomici der pauperisierten Mehrheit der Menschheit mit zunehmender, rassistischer Polizei- und Militärgewalt von dieser "paradiesischen" Existenzweise ferngehalten werden.

Im ungemein dichten Schlussteil kommt Habermann in den "Perspektiven für eine emanzipatorische Politik" zur Frage, was Unterdrückte hindern sollte, im Kampf gegen Hegemonie selbst "als Gruppe hegemonial werden zu wollen", zugespitzt: faschistisch zu agieren statt emanzipatorisch, Sozialismus für die Nation drinnen und scharfer Schuss nach draußen. Sie beantwortet die Frage nicht, sondern wirbt mit einer potentiellen Anthropologie für eine mögliche menschliche Praxis. Als das autonome, selbstidentische Subjekt der europäischen Moderne bleiben wir von den Anderen getrennt, gegeneinander gesetzt, unterdrückt und Unterdrücker. Zu freundlichen Beziehungen zu Mensch und Welt können wir gelangen, wenn wir "bedingungslose und nicht auf Austausch gerichtete Verantwortung gegenüber dem Anderen" akzeptieren, nicht nur den Subjekten, auch den Objekten gegenüber.

Der Großteil der Menschheit ist jedoch in den Kampf um und gegen den hegemonialen Konsens gar nicht eingebunden, sondern aus allen diesen Diskursen und Sprechweisen ausgeschlossen, schlicht "subaltern", im Bereich der Hegemonie nicht gehört und nicht verständlich. Befreiung brauche den Brückenschlag dorthin, die Lern-Bereitschaft der kritischen, selbst beherrschten Teilhaber an der metropolitanen Hegemonie, "Privilegien zu verlernen", um in einen herrschaftsfreien Dialog zu kommen, "neuartige Gedanken zwischen uns entstehen" zu lassen, die weder uns noch den Anderen gehören. Eine emanzipatorische Art von Theorie eben, ohne genialen Autor und sein Copyright, auf dem Weg zur praktischen Befreiung. Bloß: Man braucht dazu nicht erst unbedingt den Nabel der Welt zu verlassen, die Unsichtbaren, Unhörbaren, Marginalisierten gibt es auch hier. Auch ohne diese gibt es keine Emanzipation, bloß eine "andere Welt" der Checker, die wissen, wo die Loser - "zu ihrem eignen Besten" natürlich - langzugehen haben.

Ganz zu Recht weist Habermann schließlich auch auf die Bedeutung autonomer Räume, virtueller wie physisch-geographischer, hin. "Jede Subversion eines hegemonialen Raums hängt von den Ressourcen marginalisierter Räume ab, und die Verteidigung der Möglichkeiten, die durch Subversion eröffnet werden, hängt ihrerseits von der Konstruktion und Stärkung alternativer Räume ab." Freilich bleiben wir gespalten, weil die Herrschaft und ihre Leitbilder auch in uns sind. Und weil jeder Widerstand auch die alten Methoden braucht. Aber widersprüchlich bleibt es auch, wenn wir uns dem Status quo ergeben. Foucault hat m.E. zu Recht in der Herrschaft das institutionelle Einfrieren und Monopolisieren der Macht gesehen, die unter den Menschen stets im Fluss die eine über den anderen und umgekehrt und durcheinander hat. Emanzipation ist so besehen ein Tauwetter. Analog steht es wohl mit den Identitäten und dem Bestreben sie zu "queeren", ihre Starrheit aufzubrechen im Spiel alternativer Plätze und Gelegenheiten, in den Möglichkeiten des Alltags, die wir doch auch den Bemühungen früherer Menschen um Freiheit verdanken. Wir wissen nicht, wie viel wir ausrichten werden. Aber alles, was wir tun, wirkt auch auf die andern, die noch nach uns da sind. Ich kenne etliche davon, die ich liebe. Das überschreitet die Grenzen der Textsorte, aber das tut Habermanns Buch mit den seinen auch.


Friederike Habermann:
Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation,
Nomos Verlag, Baden-Baden 2008, 320 Seiten, ca. 44 Euro.

Raute

Rückkopplungen

Thriller!

von Roger Behrens

Kann sich daran noch jemand erinnern? - Am 25. Juni 2009 ist in Los Angeles der Musiker Michael Jackson gestorben.

Der Tag danach. Natürlich war der Tod Thema in den Medien - beziehungsweise nicht der Tod, sondern das Spektakel des Todes; es ist dies, gerade im Fall von Jackson, ein spekulatives Spektakel vom Sterben. Und wie jedes Spektakel lebt auch dieses von Bildern. Die Bilder verweisen auf das, was in der unheimlichen Welt der flüchtigen Sensationen als positive Tatsachen gehandelt werden kann; Bilder geben der Panik eine Sicherheit, eine Ordnung zurück; aber zugleich erzeugen diese Bilder diese Panik überhaupt erst. Panik ist die Einstellung, mit der die Bilder betrachtet werden. Immer wieder wird das Programm unterbrochen, gibt es die Nachricht vom Tod Michael Jacksons als Sondermeldung; immer wieder wird die Sequenz vom Krankenwagen gezeigt, der mit Blaulicht davonrast. Mit jeder Wiederholung der Bildsequenz wird die Nachricht vom Tod authentischer.

Die Popkulturindustrie, als deren König Michael Jackson galt, setzt für die Fälle eines so genannten Kategorie-A-Toten ihre eigenen Mechanismen in Gang; es sind ökonomische Mechanismen, die freilich der krudesten Verwertungslogik des Kapitals unterliegen. Das betrifft vor allem den Devotionalienhandel, das temporär auf blühende Geschäft mit Fan-Artikeln und Souvenirs, die dem allgemeinen Warenfetischismus noch einmal einen religiösen, wenngleich auch höchst albernen Aspekt verleihen: Wer hier unmittelbar nach dem Tod die Preise verfolgte, wurde von allerhand Absurditäten überrascht. "Moonwalk. Mein Leben", ein Buch, bei dem Michael Jackson als Autor fungiert, erschienen 1994, war nicht unter 110,00 Euro zu haben; die englische Originalausgabe gab es für rund 250 Pfund. Weitere, als Biografien betitelte, Taschenbücher, gebraucht, keineswegs immer gut erhalten, ehedem publiziert in den üblichen Trivial-Verlagen, wurden für mitunter weit über fünfzig Euro angeboten. Zu Höchstpreisen gehandelt wurde schließlich der "Official Michael Jackson Calendar 2009" (893,20 Euro) und Victor M. Gutierrez' Dokumentation "Michael Jackson Was My Lover" (neu: 452 Euro; gebraucht: 379 Euro). - Und schon kurze Zeit später gab es all dies wieder hinterhergeschmissen, zu Kleinpreisen im Centbereich. Bemerkenswert zudem, dass solche Dinge, die in der Popgesellschaft den ökonomisch berechtigten Status von Sammlerobjekten haben, nämlich Schallplatten, insbesondere Erstpressungen und sonstige Raritäten, in ihrer Preisentwicklung vom Tod Jacksons völlig unbeeinflusst blieben.

Und das ist gerade bei dem King of Pop eine kleine Besonderheit, denn immerhin hat er seinen Titel nicht nur aus künstlerischen Gründen erhalten, sondern vor allem aus ökonomischen: Mit zirka 750 Millionen verkauften Tonträgern ist - und bleibt wohl auch - Michael Jackson der kommerziell erfolgreichste Künstler der Musikgeschichte; sein Album "Thriller" von 1982 ist dabei das bis heute weltweit meistverkaufte Album (schätzungsweise 60 Millionen Mal).

Auch wenn Michael Jackson mit knapp 51 Jahren nicht sonderlich alt geworden ist, hat er eigentlich die Umkehrung des von Seneca überlieferten Satzes "vita brevis ars longa - Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang" bewiesen: Jackson hatte schon mit den neunziger Jahren sein musikalisches Schaffen, das Originalität beanspruchen kann, überlebt; mit anderen Worten: Seine Kunst war kurz, seine große Musik war aufgeladen mit einem Zeitkern der Wahrheit, den er nicht zu Lebzeiten zu aktualisieren vermochte. Michael Jackson hat sich selbst überlebt. Darüber hinaus ist es Michael Jackson, dem nun die Unsterblichkeit zuteil wird; seine Musik wird im Schatten der Ewigkeit des Popstars verschwinden. Paradox kann ihm dieser Status nur zuteil werden - und das ist dem perfiden Wesen des Popstars geschuldet, das auch schon James Dean, Marilyn Monroe, Elvis Presley oder Kurt Cobain unsterblich gemacht hat -, weil er eigentlich schon immer tot war, nie gelebt hat, zumindest nicht in der Realperson, die den Künstler repräsentierte. Dies ist die Figur des Zombies, eine Gestalt, in die sich Michael Jackson Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger verwandelt.

Seinen ersten Auftritt als Zombie hat Michael Jackson 1978 in dem Film "The Wiz". In der ins moderne New York versetzten Adaption von L. Frank Baums "Zauberer von Oz" spielt Jackson die Vogelscheuche, die in dieser Fassung nicht aus Stroh besteht, sondern aus Abfall. Doch wie in der Originalgeschichte hat sie kein Gehirn ("no brains at all"): das heißt, sie kann zwar erstaunlicherweise sprechen und offenbar durchaus auch denken, verfügt aber über keinen Verstand, vor allem keine Erinnerung und kein Gefühl - ein Zombie, wenn auch ein freundlicher.

1982 kommt "Thriller", dazu 1983 das Musikvideo von John Landis, das mit über 13 Minuten einen eigenständigen Film darstellt. Hier tritt Jackson gleich mehrfach in der Zombierolle auf, bis zum Schlussbild: ein Schwellenwesen - scheintot, der Halbwelt der Unterhaltung entkommen. Das Motiv reicht in die Antike zurück, etwa bei Orpheus. Jacques Offenbach hat als Erster das Motiv in seiner das Genre definierenden Opera buffa "Orpheus in der Unterwelt" mit Mitteln der Massenkultur in die Massenkultur selbst übersetzt. Doch anders als Orpheus steigt der Zombie nicht in die Unterwelt herab, sondern bricht aus ihr - aus dem Reich der Toten - heraus.

Das Antlitz eines Zombies ist gewissermaßen die Charaktermaske, die man bis zum Tod von Jackson auch als sein scheinbar reales Gesicht zu sehen bekommt: Bis zur Kenntlichkeit entstellt präsentiert sich Michael Jackson als Star, der bereit ist, gleich dem Zombie, aus nie zu stillendem Lebenshunger sich selbst aufzufressen. Bis am Ende nur das Bild bleibt, das in seiner medialen Kurzlebigkeit vom immer schon scheintoten Popstar Jackson nie eingeholt werden konnte - und auch nie eingeholt werden wird.

Raute

Auslauf

Starke Fragen

von Andreas Exner

Es tut sich was. Studierende besetzen Unis. Gewerkschaften erklären sich solidarisch. Pensionisten finden‹s auch gut. Eine Debatte ist entbrannt. Mehr Geld für die Unis ist ihr kleinster Nenner. Freie Bildung ohne Zugangsbeschränkungen ist beinahe Konsens. Einige wollen Ausbeutung abschaffen, andere ein Grundeinkommen durchsetzen. Was tut sich da?

Komisch eigentlich: Die Studierenden als Studierende sind recht besehen machtlos. Anders als ein Streik in einer Fabrik tut die Besetzung des Audimax niemandem weh. Warum entfalten sie dennoch Wirkung? Unmittelbar treibt sie die Wut über miese Studienbedingungen. Der Bologna-Prozess empört sie, sie sind frustriert von Gängelung. Doch dies ist nur die eine Seite. Der Kontext ist die andere: das Gefühl der Perspektivlosigkeit, ja der Bedrohlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung.

Die breite Öffentlichkeit nimmt diese Koppelung von unmittelbarem Motiv und mittelbarem Rahmen nur unterschwellig wahr. Kommentare in den Massenmedien zeigen sich in dieser Hinsicht zum Großteil ignorant. Unter den Studierenden ist die Problemsicht gespalten. Während einige klar im Auge haben, dass der Zustand der Universität Teil gesellschaftlicher Zwangsstrukturen ist, frönen viele andere der Illusion, man könne das Anliegen als eines "der Universität" irgendwie isolieren. Sie klagen nur die eigene Konkurrenzfähigkeit ein. Man führt Beschwerde über fehlende Mittel, weil man sich fit für den Arbeitsmarkt machen will, das heißt: für das Kapital und seinen Staat.

Schon immer war es eine Illusion, durch den vermeintlichen Nachweis der eigenen verwertungskonformen "Nützlichkeit" wesentliche Verbesserungen zu erreichen. Das kann nur scheitern. Oder mündet darin, die Selektion in Verwertbare und Wertlose zu verhärten. Eine kapitalismuskritische Position gegen Lohnarbeit, Markt und Staat einzunehmen ist für die Studierendenbewegung, anders als für Lohnkämpfe, geradezu lebenswichtig.

Denn sie bezieht ihre Attraktivität und ihre symbolische Macht gerade daraus, dass sie ein zwar diffuses, jedoch verbreitetes Unbehagen am Kapitalismus artikuliert. Ihr oft zaghafter, zeitweise jedoch durchaus bestimmter Versuch, die herrschenden Normen von gesellschaftlicher Entwicklung grundsätzlich zu hinterfragen, ermutigt viele, die am neoliberalen Paradigma zu zweifeln begonnen haben.

Wo der universitäre Unmut Menschen in anderen gesellschaftlichen Sphären ansteckt, die von der kapitalistischen Entwicklung nachhaltig verunsichert sind, dort kann Bewegung in die vielfachen Risse der Herrschaft des Sachzwangs kommen. Solche Resonanzböden für die Bewegung an den Universitäten gibt es in einem gewissen Maß. Man kann den Kontext der Proteste erweitern und bereichern, indem man diese Böden in Schwingung bringt.

Soziale Kämpfe kommen auf dem Terrain des Gegners nicht voran. Dort müssen sie scheitern. "Finanzierbarkeit", "Wettbewerbsfähigkeit", die Selektion der "Leistungswilligen" bilden das Terrain des Gegners. Wer sich darauf einlässt, hat verloren.

Die Potenz der Bewegung liegt darin, das Terrain der Debatten zu verändern: Schuften für Profit oder ein gutes Leben leben? Auf Finanzierung hoffen oder das, was stofflich-konkret machbar ist, auch machen? Sich für den Konkurrenzkampf zurichten oder in Solidarität kooperieren?

Der kapitalistische Kanon von Profit, Finanzierbarkeit und Konkurrenz ist Nonsens. Eine "Solidarische Universität", die Schluss damit macht, ist nötig. Die Fragen stellen wir.

www.streifzuege.org

Raute

AutorInnen

aramis, 1950. Flucht aufs Land. Lebt im Abseits selbstgeschaffener Inseln rund um historische Gebäude, welche er revitalisiert. Seit längerem auf Schloss Lind (www.schlosslind.at).

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen. Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de.

Andreas Exner, 1973, Streifzüge-Redakteur.

Lothar Galow-Bergemann, 1953. Lebt in Stuttgart. Krankenpflegehelfer. Seit 68 in linken Zusammenhängen. Gewerkschafter und Personalrat. Freiwillig teilzeitarbeitslos.

Lorenz Glatz, 1948, Streifzüge-Redakteur.

Severin Heilmann, 1976, Streifzüge-Redakteur.

Sara Kleyhons, 1982, wohnt in Weidling bei Wien. Studium der Sozialwissenschaften. Im Umweltschutz und Sozialbereich tätig. Rebellische Tendenzen, Hang zum Leben in wilder Natur.

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie. Untertags freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, abends Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz (http://minkasia.blogspot.com).

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus.

Peter Pichl, 1934. Wiener, mit Bildender Kunst, vor allem Malerei beschäftigt. Praktiker, Lehrer und Theoretiker. Seit 1975 politisch engagiert.

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Professor für Politik und Philosophie an der FHS-Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp in Westfalen (www.peter-pott.de, www.kommune-kleekamp.de).

Erich Ribolits, 1947. Techniker, Berufsschullehrer, dann Bildungswissenschafter, Professor an der Uni Wien. Zuletzt: Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen, Wien 2009.

Franz Schandl, 1960, Streifzüge-Redakteur.

Günter Schneider, 1956. Wiener. Anti-AKW-Bewegung, Alternative Liste. Seit 20 Jahren Mietervertreter bei der Mieter-Interessens-Gemeinschaft Österreichs.

Ricky Trang, Streifzüge-Redakteur.

Birgit von Criegern, 1976. Studium der Germanistik, Islamwissenschaft und Kunstgeschichte. Im Sozialwesen tätig. Freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Berlin.

Nicoletta Wojtera, 1971. Lebt in Köln. Studium der Germanistik, Literaturwissenschaft und Geschichte. Bei der Zeitschrift für Nachwuchswissenschaftler engagiert. Bildungsberaterin.

Maria Wölflingseder, 1958, Streifzüge-Redakteurin.

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Quelle:
Streifzüge Nr. 47, Dezember 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2009