SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 · Juli/August 2018 Friede den Hütten - Krieg den Palästen!
Stuttgart 21 wackelt...
Thilo Sarrazin bestätigt, dass die Bahn gelogen hat
von Paul Michel
Im Vorfeld der Anhörung zu Stuttgart 21 im Verkehrsausschuss des Bundestags Anfang Juni bekamen die Gegner von Stuttgart 21 unerwartete Unterstützung.
Thilo Sarrazin, in den Jahren 2000 und 2001 Netzvorstand bei der
Deutschen Bahn und von der AfD als "Experte" ausgewählt, plauderte
plötzlich aus dem Nähkästchen. Sarrazin erklärte, damals, 2000/2001,
sei im Bahnvorstand allen klar gewesen, dass die Kosten wesentlich
höher ausfallen würden als offiziell angegeben. Die Kostenschätzung
von 2,5 Milliarden Euro im Sommer 2001 habe er schon damals für
unrealistisch gehalten und "mindestens eine Verdoppelung" wie bei
anderen DB-Projekten erwartet. Laut Sarrazin warnte ein Gutachten
bereits im März 2001, dass die Risikozuschläge äußerst knapp bemessen
seien. Bei seinem Antritt bei der Bahn sei das Projekt "praktisch
eingefroren" gewesen, weil es "als besonders unrentabel galt".
Schließlich habe die baden-württembergische Landesregierung die
Zustimmung der Bahn zu Stuttgart 21 erkauft, indem sie beim Abschluss
des Nahverkehrsvertrags der Bahn etwa eine Milliarde Euro mehr zahlte,
als eigentlich angemessen war.
Damit bestätigt erstmals jemand aus dem "inner circle", dass das von den S21-Gegnern geprägte Wort "Lügenpack" absolut angemessen war und ist. Der frühere S21-Kritiker und jetzige S21-Kümmerer, Verkehrsminister Winfried Hermann von den Grünen, hält die Aussage von Sarrazin für glaubwürdig und erklärte in einem plötzlichen Anfall von Vernunft: "Stuttgart 21 ist die größte Fehlentscheidung in der Eisenbahngeschichte." An seiner Unterstützung für S21 hält Hermann aber fest.
Die Argumentation der "PROler", der Anhänger und Betreiber von
Stuttgart 21, schnurrt immer mehr zusammen, wie ein kaputter
Luftballon:
- Die Bahn behauptet längst nicht mehr, dass der Tiefbahnhof
leistungsfähiger ist als der Kopfbahnhof. S21 verringert die Leistung
um 36 Prozent!
- Bahnchef Lutz gibt jetzt offiziell zu, dass S21 2,228 Mrd. Euro
Verlust macht und damit deutlich unrentabel ist.
- Stuttgart 21 hat wegen des Anhydrits ein quellendes Problem. Kommt
Anhydrit mit Wasser in Berührung, quillt er auf. 20 Kilometer Tunnel
verlaufen durch Anhydrit. Selbst das von der Bahn selbst in Auftrag
gegebene Gutachten der KPMG sagt, es gebe für Tunnel im Anhydrit
generell "keine bautechnische Lösung".
- Das Gefälle der Gleise im Bahnsteigbereich ist mit 15,143 ‰
sechsmal größer als zulässig und hochgradig unfallträchtig.
- Über den Brandschutz sagt Hans-Joachim Keim, ein international
renommierter Brandschutzexperte: "Es ist eine Katastrophe mit Ansage.
Im Unglücksfall haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder
zerquetscht werden? Oder verbrennen?"
- Ein neues Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass in Stuttgart, der
Stadt mit der höchsten Wahrscheinlichkeit von Starkregen in der BRD,
aufgrund der baulichen Struktur des Tiefbahnhofs die Gefahr einer
Überflutung dort extrem hoch ist.
In Ermangelung anderer Argumente ziehen sich die Betreiber von Stuttgart 21 jetzt auf die angeblich hohen Ausstiegskosten von 7 Mrd. Euro bei einem Abbruch des Projekts zurück. Aber auch hier lügt und betrügt die Bahn. Sie rechnet einfach die Abbruchkosten für die Schnellstrecke Stuttgart-Ulm mit ein, deren Abbruch gar nicht zur Disposition steht. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 rechnet dagegen, dass bisher rund 3 Mrd. Euro verbaut worden seien und erwartet zusätzlich Vertragsabbruchskosten von etwa 400 Mio. Euro.
Ingenieure aus dem Widerstand gegen Stuttgart 21 haben das Alternativkonzept "Umstieg 21" erstellt, bei dem etwa die bestehende Baugrube als Omnibusbahnhof sowie Parkplatz genutzt würde. Die Kosten für das Alternativkonzept "Umstieg 21" veranschlagen die Ingenieure auf 1,6 Mrd. Euro. Damit käme der Ausstieg aus Stuttgart 21 beim jetzigen Stand immer noch 5 Milliarden billiger als die geplante Fertigstellung von Stuttgart 21. Von den bürgerlichen Medien wurde das Konzept "Umstieg 21" bisher weitgehend ignoriert. Auch das scheint sich allmählich zu ändern.
Ginge es nach Argumenten, wären die Tage von Stuttgart 21 längst gezählt. Aber Stuttgart 21 hat für die herrschende Klasse einen hohen Symbolwert. Laut Angela Merkel ist Stuttgart 21 der Maßstab für die "Zukunftsfähigkeit Deutschlands". Deshalb werden Bundesregierung, Bahnvorstand und Landesregierung nur dann bereit sein, vom Murksprojekt abzurücken, wenn das Wiederaufleben der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 den politischen Preis, den sie dafür zu zahlen haben, unkalkulierbar macht.
Genau daran, gilt es zu arbeiten.
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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 33. Jg., Juli/August 2018, S. 11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2018
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