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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2186: Die Einsamkeit des Musterschülers


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 · November 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die Einsamkeit des Musterschülers
Deutschland nach der Bundestagswahl

von Ingo Schmidt


Hochmut kommt vor dem Fall. Das musste am Wahlabend auch Angela Merkel erfahren. "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" war zu sperrig für einen überzeugenden Wahlslogan und voll vorbei an der Lebenswirklichkeit und Selbstwahrnehmung wachsender Bevölkerungsschichten.


Immer mehr Menschen leben nicht gut oder nicht gerne in Merkel-Deutschland, weil sie Angst haben, es werde ihnen bald schlecht ergehen. Deswegen lassen sie sich nur noch ungern von Merkel regieren. Trotzdem geht auch nach der Bundestagswahl nichts ohne Merkel. Die Aura einer Kanzlerin, die aus jeder Krise gestärkt hervorgeht und deswegen das Vertrauen eines zunehmend verunsicherten Wahlvolks genießt, ist freilich dahin.


Das Ende des neudeutschen Sonderwegs

Von nun an ist Merkel die Kanzlerin arithmetischer Notwendigkeit, weil sich ohne ihre CDU keine Regierungsmehrheit finden lässt. Die künftigen Koalitionspartner, ob FDP und Grüne oder vielleicht doch die SPD, sind zu schwach, einer neuen Regierung ihren Stempel aufzudrücken, aber stark genug, die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin, so sie diese wahrnehmen wollte, auf genau die Moderatorenrolle zu beschränken, die Merkel vor Jahren zur gefeierten Krisenmanagerin, zuletzt aber zu einer von den Verhältnissen Getriebenen gemacht hat.

Die politischen Bedingungen, die den bislang regierenden Christ- und Sozialdemokraten gerade eine krachende Wahlschlappe beschert haben, werden fortbestehen. Die kommende Regierungstruppe ist noch nicht zusammengestellt, steht aber schon unter dem Verdacht des Scheiterns.

Im Angesicht der Niederlage hat die SPD eine Erneuerung der bundesrepublikanischen Demokratie angekündigt. Ob ihr dies gelingt, sei dahin gestellt. In der vergangenen Legislaturperiode hätte sie aus der Großen Koalition aussteigen und Linken und Grünen die Zusammenarbeit anbieten können. Im Wahlkampf hätte sie sich von der Erblast Gerhard Schröders befreien und eine sozialdemokratische Alternative zu Merkel präsentieren können. Nichts davon ist geschehen.

Gleichzeitig ist es auch der LINKEN, die den sozialdemokratischen Markenkern seit Schröders neoliberalem Schwenk treuhänderisch bewahrt, nicht gelungen, sich glaubhaft als die Alternative darzustellen, nach der sich so viele Wähler sehnen.

Da der Weg in eine linke Zukunft versperrt war bzw. als allzu ungewiss wahrgenommen wurde, blieb nur noch die Alternative für Deutschland (AfD). Diese ändert nichts an der unbehaglichen Gegenwart. Aber die Schönfärberei der hässlichen deutschen Vergangenheit von ihrem jüdisch-christlichen Ursprungsmythos bis zu den Anerkennung heischenden Leistungen der kaiserlichen Reichswehr und Naziwehrmacht verspricht eine psychologische Sicherheit, die auf dem Weg zu realen Veränderungen nicht zu haben ist. Die Anziehungskraft einer mythologisierten Vergangenheit wird umso stärker, je mehr sich der neudeutsche Sonderweg als Sackgasse erweist.


Aufschwung des Nationalismus

Auf diesen Weg war Deutschland unmittelbar nach der Weltwirtschaftskrise im Herbst 2008 eingebogen. Schon im darauffolgenden Frühjahr, als die Wirtschaft andernorts kaum den Tiefpunkt des Abschwungs erreicht hatte und die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schossen, begann in Deutschland ein Aufschwung, der die deutschen Exportüberschüsse von einer Rekordmarke zur nächsten trieb. Endlich konnte die Ernte eingefahren werden, die der Umbau der Wirtschaft im Zuge von deutscher Einheit und EU-Osterweiterung vorbereitet hatte.

Dieser Umbau hat fein abgestufte Produktionsnetzwerke geschaffen, in denen arbeitsintensive Produktionsabschnitte in Osteuropa angesiedelt, aber auch an Zulieferer und Zeitarbeitsfirmen innerhalb Deutschlands übertragen wurden. Dadurch wurden in Osteuropa ganze Regionen zu Armutszonen, in Deutschland wurden tarifvertraglich gesicherte Kernbelegschaften von größer werdenden Randbelegschaften umgeben.

Dieser Umbau hat bestehende Lohnunterschiede massiv verschärft und um Hierarchien nach unten abnehmender sozialer Absicherung, dafür zunehmender Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse ergänzt. Diese Spaltungen haben die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse insgesamt geschwächt, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie aber erheblich gesteigert. Dies ist die Grundlage steigender Exportüberschüsse.

Der damit verbundenen Export von Arbeitsplätzen hat aber nicht nur im Ausland, sondern auch manchen Regionen Deutschlands zu Depression und Abwanderung geführt. Im Ausland ist die deutsche Regierung schon lange unbeliebt, weil sie ein auf Kosten anderer funktionierendes Wirtschaftsmodell als überall einzuführendes Vorbild verkauft. Als Merkel daheim noch Mutti war, galt sie im Ausland schon vielfach als Repräsentantin neuer deutscher Arroganz.

Mittlerweile kann aber auch der Export von Arbeitslosigkeit in andere Länder den sozialen Zusammenhalt in Deutschland nicht mehr garantieren. Die Verunsicherung, die in vielen von der deutschen Exportmaschine überrollten Ländern schon vor Jahren zum Aufschwung einer neuen Rechten beigetragen hat, sucht nun auch Deutschland heim. Die Stärkung einer nationalistischen Rechten innerhalb einzelner Länder verstärkt zugleich die zentrifugalen Kräfte zwischen den Ländern. Die Internationale des Kapitals und der ihr bislang treu ergebenen Regierungen wird brüchiger.


Deutsch-französische Entente blockiert

Im Zuge der Eurokrise schien der Neoliberalismus angelsächsischer Prägung mit seinen hemmungslos aufgeblasenen Finanzblasen durch eine deutsche Spielart abgelöst zu werden. Ohne Rücksicht auf ökonomische Zahlungsfähigkeit und soziale Folgen wurden der SYRIZA-Regierung von Berlin, unter tätiger Mithilfe Brüssels, das Prinzip ausgeglichener Haushalte aufgezwungen. Dies geschah ohne die leisesten Selbstzweifel, dass die Schulden Griechenlands etwas mit den Waren- und Kapitalexporten aus Deutschland zu tun haben könnten. Dass Merkel auf Demonstrationen in Griechenland daraufhin mit Hitlerbärtchen dargestellt wurde, war vielleicht etwas überzogen, aber verständlich: Hatte sie doch mit den Waffen der Finanz eine dauerhafte Unterwerfung erzwungen, die Hitlers Wehrmacht nicht erreichen konnte.

Erleichtert wurde die Unterwerfung Athens durch Hollandes Kuschelkurs gegenüber Merkel und Schäuble. Hollande war im Sommer 2012 mit einer überwältigenden Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. Diesem Erfolg lag sicher auch die Erwartung zugrunde, dass der deutsche Drang zum Kaputtsparen anderer Länder sich nicht nur gegen die von einer akuten Krise betroffenen Südeuropäer, sondern auch gegen Frankreich richten werde.

Sozialdemokratischer Gegenwind aus Paris hätte sicher mehr Eindruck im Kanzleramt und im Finanzministerium gemacht als Proteststürme in Athen. Aber Hollande schwenkte auf den Merkel-Schäuble-Kurs ein. Die Weigerung, als der Sozialdemokrat zu regieren, als der er gewählt war, bereitete dem diesjährigen Präsidentschaftswahlkampf den Boden, der in erster Linie zwischen der Rechtsextremen Le Pen und dem wirtschaftsliberalen Macron ausgetragen wurde.

Das Paradox: Macron will Frankreich nach Schröderschem Vorbild umbauen und ist bei der Wählerschaft bereits unbeliebter als der gerade aus dem Amt geflogene Hollande. Bei Merkel kann er mit neoliberalen Gegenreformen sicher punkten. Seine Forderungen nach einer EU-Wirtschaftsregierung, ein in Frankreich immer mal wieder ventiliertes Projekt zur Eindämmung deutscher Vorherrschaft, war in Merkels CDU schon vor der Wahl ein Tabuthema. Angesichts der Neuerfindung der FDP als wirtschaftsnationalistischer Partei und des Aufstiegs des rassentheoretisch unterfütterten Nationalismus der AfD wird mit der neuen Bundesregierung erst recht nicht über Kompetenzübertragung von den Mitgliedstaaten an die EU zu reden sein.


Unbehagen allerorten

Unbehagen löste die aus dem Management der Eurokrise hervorgehende Dominanz Deutschlands in der EU auch in Großbritannien aus. Nicht, dass die regierenden Konservativen Anstoß an der Erdrosselung der Linksregierung in Athen genommen hätten. Dass Berlin dabei aber an Gewicht gegenüber Paris und, weit schlimmer, London gewann, wurde weit über die Downing Street hinaus mit Skepsis betrachtet. Das Brexit-Referendum, zu dessen Ausgang diese Skepsis das Ihre beitrug, führte schließlich dazu, das May und Merkel, gleicher politischer Familienzugehörigkeit zum Trotz, einer in Brüssel auszuhandelnden Auflösung ihrer EU-Bande entgegensehen müssen.

Jenseits des Atlantiks werden die Querelen innerhalb der EU mit einer gewissen Befriedigung wahrgenommen. Bedeuten sie doch, dass die mit dem Kampf gegen den Niedergang der USA kämpfende US-Regierung sich nicht auch noch um einen etwaigen Aufstieg Europas zur globalen Führungsmacht sorgen muss. Dafür sind die deutschen Exportüberschüsse als eine der Ursachen des Niedergangs der amerikanischen Industrie umso stärker in den Fokus gerückt. Obama hatte einige, allerdings recht behutsame, Anläufe unternommen, die Deutschen von ihrer Exportfixierung abzubringen. Von Trump wird man diesbezüglich wenig Substanzielles, dafür aber umso Lauteres zu erwarten haben.

Ärgern sich die Amerikaner über die Absatzerfolge der deutschen Industrie, so sorgen sich die Osteuropäer um ihre Position in den von deutschen Konzernzentralen kontrollierten Produktionsnetzwerken. Ohnehin zutiefst enttäuscht, dass ihnen das Abschütteln des "kommunistischen" Jochs nichts als die Rolle billiger Zulieferer eingebracht hat, sehen sie auch noch diese Rolle bedroht, seit Berlin die Ukraine, zeitweilig auch die Türkei, als Quelle noch billigerer Arbeitskraft ins Auge gefasst hat.

Das Fass zum Überlaufen brachte allerdings Merkels Flüchtlingspolitik, die einerseits offene Türen versprach, andererseits aber den armen Verwandten in Osteuropa Flüchtlingskontingente zuteilen wollte, was die Konkurrenz um die niedrigst bezahlten Jobs weiter angeheizt hätte.

Ungeliebt im Inland und von früheren Freunden mit Argwohn betrachtet, verstehen Merkel und ihre Getreuen die Welt nicht mehr. Haben sie nicht alles richtig gemacht? Sich angesichts der Erfahrungen mit Nazi- und SED-Diktatur einem neuen politischen und wirtschaftlichen Liberalismus verschrieben? Leider haben sie im Bemühen, sich als liberale Musterschüler nach dem Ende der Geschichte zu profilieren, eine Lektion aus dem Untergang des alten Liberalismus vergessen: Das Festhalten am Prinzip ausgeglichener Haushalte gepaart mit dem Versuch, Arbeitslosigkeit in andere Länder zu exportieren, hat in den 1930er Jahren zum Zerfall der Weltwirtschaft und des politischen Liberalismus geführt.

Es liegt an der Linken, verbreiteten Unmut in eine soziale Kraft zu transformieren, die eine Alternative gegen Merkels Realitätsverweigerung, Schulzens Angst vor der sozialdemokratischen Courage und dem Gauland-Weidelschen Trieb zur Wiederholung der hässlichsten Abschnitte der deutschen Geschichte durchsetzen kann.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 32. Jg., November 2017, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2017

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