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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1792: 3 Jahre Arabische Revolution - Die demokratischen Freiheiten


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1 - Januar 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

3 Jahre Arabische Revolution
Die demokratischen Freiheiten
Die Apparate von Polizei und Militär sind noch intakt

Von Bernard Schmid



Redaktionelle Einführung der SoZ-Redaktion
 
Die Angst ist Weg

Am 17. Dezember 2013 jährte sich zum drittenmal die Selbstverbrennung des jungen Arbeitslosen Mohammed Bouazizi in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid. Sie war der Funke, der eine zunächst örtliche, dann überregionale Revolte auslöste. Am 14. Januar 2011 musste Präsident Ben Ali, nach 23 Jahren an der Macht, zurücktreten. Am 25. und am 28. Januar 2011 begannen die ersten Demonstrationen in Ägypten, kurz darauf folgte Jemen, am 14. Februar der Golfstaat Bahrain. Am 20. Februar fanden erste Demonstrationen in Marokko statt, am 15. und am 18. März 2011 in Syrien.
Drei Jahre nach dem Ausbruch des sog. "Arabischen Frühlings" stellt sich die Situation widersprüchlich dar. Auf der Arabischen Halbinsel überwiegt nach wie vor die Repression - vielleicht mit Ausnahme von Oman, wo Streikbewegungen zu Lohnerhöhungen und zur Einstellung von mehreren zehntausend Arbeitslosen führten. In Bahrain wurde die Revolte ab März 2011 mit Hilfe des großen Nachbarn Saudi-Arabien brutal niedergeworfen. Seitdem flackern dort jedoch immer wieder Proteste auf. In Syrien mündeten die Versuche, die Ein-Partei-Herrschaft Bashar al-Assads abzuschütteln, in einen blutigen Bürgerkrieg, dessen Ende nicht absehbar ist.
In mehreren Ländern Nordafrikas kam es jedoch zu politischen Umbrüchen: In Tunesien und Ägypten wurden die Staatspräsidenten aus dem Amt gedrängt, ihre Staatsparteien verboten und aufgelöst; erstmals fanden wirklich pluralistische Wahlen statt. In Marokko wurde zwar nicht die herrschende Monarchie gestürzt, doch die Machthaber wurden mit der neuen Verfassung vom 1. Juli 2011 zu einer gewissen politischen Öffnung genötigt. In Libyen wurde der seit 1969 ununterbrochen herrschende Staats- und "Revolutions"chef Muammar al-Gaddafi am 20. Oktober 2011 von Rebellen aufgegriffen und gelyncht. Seine Herrschaft war in weiten Landesteilen spätestens Ende August desselben Jahres zusammengebrochen.
In den folgenden vier Artikeln richtet Bernard Schmid seinen Blick vor allem auf jene Länder, in denen die Umbrüche bisher tatsächlich zu gewissen Veränderungen in der politischen Machtstruktur führten: Ägypten, Libyen, Tunesien und Marokko.
Soz-Redaktion

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Haben die bisherigen politischen Ergebnisse des "Arabischen Frühlings", drei Jahre nach seinem Beginn, die Freiheitsrechte der Menschen in den betreffenden Ländern befördert oder eher eingeschränkt? Diese Frage ist nicht ganz so leicht zu beantworten, wie es manchen Beobachtern auf den ersten Blick erscheint.


Lassen wir tatsächlich die Thesen der großen Vereinfacher einmal beiseite. Wie oft haben wir nicht abgedroschene Phrasen gehört wie die, auf den "arabischen Frühling" sei "ein islamistischer Winter" gefolgt, vorgetragen in unzähligen Varianten? Eine seriöse gesellschaftliche Analyse sollte sich vom Niveau solcher und ähnlicher Klosprüche besser abheben.

Eine der wichtigsten Errungenschaften der Ereignisse seit dem Winter 2010/11, die in Teilen Nordafrikas politische Veränderungen gebracht haben, ist zweifellos der Rückgang der Angst: Angst vor willkürlichen Verhaftungen, spurlosem "Verschwinden", vor Folterverhören - und vor allem vor dem bleiernen Schweigen rund um solche Ereignisse. Diese Angst, mit der mehrere Generationen aufgewachsen waren, gibt es in der alten Form nicht mehr. Vor allem in Teilen der Jugend ist die Erinnerung daran wie weggeblasen: Diskutiert man mit jüngeren Leuten in Tunesien, kommt es vor, dass alle durcheinander reden und niemand eine Redeleitung oder -liste akzeptieren möchte, weil man so lange eine unhinterfragbare "Autorität" hatte hinnehmen müssen.


Der Polizeiapparat ist noch intakt

Das bedeutet nun nicht, dass es in Staat und Gesellschaft keinen Autoritarismus mehr gebe. Der Polizeiapparat in Tunesien und Ägypten etwa wurde keineswegs von den alten Elementen gesäubert, die in Korruption, Amtsmissbrauch und Misshandlungen verwickelt waren. Er wurde lediglich einige Monate lang in die Defensive gedrängt, und seine Beamten zeigten sich vorübergehend kaum noch auf öffentlichen Plätzen.

Doch diese Zeit ist längst vorüber. Ab August 2011 fiel schon wieder der erste Tote am Rande einer Demonstration (offiziell fiel er von einem Balkon), und erste Folterfälle wurden publik. Die von der islamistischen Partei En-Nahdha geführte Regierung beschloss nicht, Folterpolizisten und in Machtmissbrauch verwickelte Beamte zu entlassen, sondern stellte einfach zusätzlich mehrere tausend junge Polizisten ein, die den politischen Ideen der neuen Machthaber näher zu stehen schienen. Bis Ende 2O12 sollen 6500 Polizisten neu eingestellt worden sein. Allerdings beschloss die Regierung auch, Beamte vorzugsweise in ihren Herkunftsregionen einzusetzen, während das alte Regime unter Ben Ali das Gegenteil praktiziert hatte, um jeden Ansatz einer Solidarisierung mit der Bevölkerung im Keim zu ersticken. Dies könnte, manchmal und unter Umständen, repressive Exzesse hemmen.

Die Probleme mit einer autoritären, an ihre Allmacht oder jedenfalls ihre eigene Straflosigkeit glaubenden Polizei wurden seitdem eher verschoben als beseitigt. Anders als früher finden unzählige, größere und auch kleinere Demonstrationen weitgehend unbehelligt statt. Allerdings werden seit zwei Jahren aus Tunis und mehr noch aus der tunesischen "Provinz" wiederholt Fälle vermeldet, wonach Polizisten sich etwa aus eigener Machtvollkommenheit als Sitten- und "Tugendwächter" aufspielen. Beispielsweise, um junge Paare zu kontrollieren oder bei jungen Frauen, die aus ihrer Sicht zu "aufreizend" gekleidet sind, die Personalien festzustellen oder sie auf die Wache mitzunehmen.


Vorrang für Sicherheit...

Auf einem anderen Blatt steht die relative Passivität, welche die Polizei - jedenfalls in den Augen vieler Bürger - gegenüber Machtdemonstrationen der Salafisten und anderer "radikaler Islamisten" auf Straßen und öffentlichen Plätzen an den Tag legt. Deren Anhänger gehen oft rabiat z. B. gegen Orte vor, an denen Alkoholverkauf stattfindet.

Das bedeutet nicht immer, dass die Polizisten deren "Komplizen" seien. Allerdings trifft es zu, dass Teile der Regierungspartei En-Nahdha aus politisch-ideologischen Gründen ein gewisses Verhältnis der Nähe zu diesen außerinstitutionellen islamistischen Strömungen pflegen, oder jedenfalls kein zu hartes Vorgehen gegen ihre Aktivisten wünschen. Hinzu kommt, dass die Salafisten mitunter auch bereit sind, erhebliche Risiken für ihre eigene körperliche Integrität in Kauf zu nehmen. Da in ihren Demonstrationen neben ideologisch gefestigten Kadern oft auch zornige junge Arbeitslose und Marginalisierte mitlaufen, fürchtet die Einsatzleitung bei harten Auseinandersetzungen mitunter Solidarisierungseffekte. Die Mischung aus diesen unterschiedlichen Motiven hat dafür gesorgt, dass bei einem Teil der Gesellschaft der Eindruck entstanden ist, an die Stelle einer zwar belastenden, aber eben auch Sicherheit garantierenden Atmosphäre unter dem alten Regime sei eine generelle "Unsicherheit" getreten.

Seitdem sich im Landesinneren Tunesiens, vor allem an dem Djebel Chaambi genannten Bergmassiv unweit der algerischen Grenze, terroristische Aktivitäten von Jihadisten häufen, ist es wiederholt auch zu Unruhen innerhalb des Polizeiapparats gekommen. Im Oktober 2013 etwa vertrieben Polizisten den damaligen Premierminister Ali Laarayredh, den Staatspräsidenten Moncef Marzouki und den Parlamentspräsidenten Mustafa Ben Jaafar - jeweils Vertreter der drei regierenden Koalitionsparteien En-Nahdha, CPR und Ettakatol - aus einer Trauerfeier für zwei gefallene Kollegen. Die Szene spielte sich am 18. Oktober in Guebellat, rund 70 Kilometer von Tunis entfernt, ab. Die beiden Beamten der Gendarmerie waren von Jihadisten getötet worden, die staatlichen Sicherheitskräfte hatten zu dem Zeitpunkt am Djebel Chaambi bereits 15 Tote zu beklagen.


...oder für demokratische Rechte?

Teile der Opposition, vor allem die stärkste Oppositionspartei Nidaa Tounès - "Appell Tunesiens", die einige liberale Sektoren der Bourgeoisie umfasst, im Namen einer "Hauptsache gegen die Islamisten" ausgerichteten Allianz aber auch Funktionäre und Nutznießer des alten Regimes in ihre Reihen aufgenommen hat - nutzen solche Vorkommnisse, um eine regelrechte Hysterie der Unsicherheit und des Terrors zu schüren. Ihnen zufolge ist der Staat in seinem Kern bedroht, deshalb müssten die derzeit Regierenden wegen Inkompetenz oder wegen Komplizenschaft mit den Terroristen geschasst werden.

Wesentliche Teile der Opposition verteidigen jedoch die Bürgerrechte, etwa auch gegen Prozesse, unter den aktuellen Machtinhabern, die sich gegen die Meinungsfreiheit richten. Dies ist vor allem dort der Fall, wo es um behauptete Verstöße gegen Sitte und Moral geht: Der Rapmusiker "Weld El 15" wurde am 5. Dezember 2013 wegen Polizistenbeleidigung in einem Lied zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt; der Blogger Jabeur Mejri wurde 2012 wegen "Verunglimpfung des Islam" für siebeneinhalb Jahre (!) in Haft gesteckt, und Staatspräsident Moncef Marzouki weigerte sich, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen.

In der liberalen und linken Opposition gibt es eine Solidarität mit jenen, die von solcherlei Repression betroffen sind. Aber daneben gibt es auch einen bedeutenden Teil der parlamentarischen Opposition, der die Regierung wegen angeblich flagranten Mangels an "Law and Order" attackiert. Wenn am nächsten Sonntag in Tunesien Wahlen stattfänden, wäre Nidaa Tounès wohl der Hauptgewinner.


Macht des Militärs ungebrochen

Anders liegt der Fall in Ägypten, wo die Militärs, die das Land seit Juli/August 2013 de facto regieren, ihren Griff nicht lockern wollen. Am 1. Dezember 2013 wurde hier der Entwurf für eine neue Verfassung verabschiedet, den die Bevölkerung nun in einem Referendum billigen soll. Nach den bis Redaktionsschluss vorliegenden Informationen soll dieses am 14. und 15. Januar 2014 stattfinden.

Den Entwurf für den (wahrscheinlichen) künftigen Verfassungstext hatte eine fünfzigköpfige Kommission ausgearbeitet, die nach dem Machtwechsel im Juli 2013 eingesetzt worden war, um die von der Regierung der Muslimbrüder im Dezember 2012 durchgesetzte Verfassung zu ersetzen. Auch diese war von einer Volksabstimmung abgesegnet worden, deren Ergebnisse blieben jedoch umstritten.

Der neue Verfassungstext ermöglicht es, auch künftig wieder Zivilpersonen unter bestimmten Umständen vor Militärgerichten aburteilen zu lassen. Diese Praxis hatte unter dem Hohen Rat der Streitkräfte (SCAF) - also der Militärregierung, die nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 bis zur Präsidentschaftswahl vom Juni 2012 die Amtsgeschäfte führte - ausufernde Dimensionen angenommen. In der Zeit wurden insgesamt rund 13000 Zivilisten von Militärtribunalen verurteilt: wegen ungenehmigter Demonstrationen, unliebsamer Artikel im Internet und ähnlicher Delikte.


Die Rechte der Frauen

Die Verfassung, die die Muslimbrüder im Dezember 2012 durchsetzten, trug ebenfalls autoritäre Züge und war noch aus anderen Gründen kritikwürdig. In ihr hatten die Islamisten etwa eine alte Verfassungsbestimmung aufgehoben, die den "Menschenhandel" verbot, weil er in der Praxis gegen arrangierte Eheschlüsse Anwendung finden konnte; die Bestimmung stammte noch aus dem Verfassungstext von 1971. Doch die Islamisten machten sich für ein Heiratsalter von 9 Jahren stark, also dafür, dass Mädchen ab diesem Alter von ihren Familien verheiratet werden können.

Der jetzt vorgelegte, neue Verfassungstext übernimmt ebenfalls eine Passage aus der Verfassung von 1971, die das islamische Recht zur "Hauptquelle der Gesetzgebung" erklärt. Er enthält dazu den Begriff der Scharia, die die "wichtigste Inspirationsquelle" des Gesetzgebers zu bilden habe. Der Begriff ist freilich interpretierbar: Vielen Auffassungen zufolge bezieht er sich ausschließlich auf zivilrechtliche Regelungen (Personenstands- und Familiengesetzgebung), während andere darunter auch strafrechtliche Regelungen - einschließlich Züchtigungsregeln - verstehen, wie sie in Saudi-Arabien und im Iran praktiziert werden. Auf zivil- und familienrechtlicher Ebene ist die Bezugnahme auf das islamische Recht seit langem herrschende Praxis, bereits die Verfassung von 1971 enthielt einen ähnlichen Passus zur Scharia.

In Tunesien hingegen hat die islamistische Regierungspartei En-Nahdha in dieser Frage einen Rückzieher gemacht. Auch in ihren Reihen waren Stimmen laut geworden, die sich für einen Bezug auf die Scharia in der künftigen Verfassung aussprachen, doch die Partei erklärte am 25. März 2012, sie werde auf das Ansinnen verzichten. Dem vorausgegangen waren im selben Monat massive Frauendemonstrationen. Weil aber der endgültige Entwurf für die künftige Verfassung noch immer nicht vorliegt, muss abgewartet werden, welche Passagen es En-Nahdha gelingt, eventuell noch in der Verfassung zu verankern.

Doch auch hier ist zumindest die Angst, sich für eigene Rechte einzusetzen, nicht mehr wie früher vorhanden. So gibt es auch Mobilisierungen für Frauenrechte. In Ägypten ist im Jahr 2013 etwa eine Bewegung gegen sexuelle Gewalt in der Öffentlichkeit herangewachsen, die in dem Land extrem ausgeprägt ist. Die Bewegung für Frauenrechte und erst recht die kleine, aber rührige Bewegung für die Rechte der Homosexuellen sind jedoch nach wie vor minoritär.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1, 29. Jg., Januar 2014, S. 13-14
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2014