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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1525: Ägypten - Die Muslimbrüder und die soziale Frage


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Ägypten
Die Muslimbrüder und die soziale Frage


Der sunnitische Islamismus hat ein tiefes Unbehagen gegenüber der sozialen Frage - dies hat soziale wie theologische Wurzeln. Der Fall der ägyptischen Muslimbruderschaft zeigt dies gut: Die beispiellose Wirtschaftskrise hat die soziale Frage erneut auf die Tagesordnung gestellt, doch hat dies die Mobilisierungsfähigkeit der Muslimbrüder nicht gestärkt.


Das Unbehagen speist sich aus vielfältigeQuellen: einer gewissen (Mittelschichts-)Sicht auf die Gesellschaft, einer theologischen Wahrnehmung der (korporatistischen) sozialen Wirklichkeit, einem zurückhaltenden Auftreten gegenüber der politischen Macht (denn protestieren heißt auch sich offenbaren), und auch aus geostrategischen Zerrbildern: Sie verleiten die Muslimbrüder dazu, den möglicherweise Unruhe stiftenden sozialen Protest zu verdächtigen, das Spiel der Amerikaner zu spielen und konstruktives Chaos zu verbreiten, um Reformen in der Region einzuleiten.

Vor allem tritt die soziale Frage, weil sie die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten, d. h. eine gespaltene Gesellschaft thematisiert, offen in Gegensatz zum Ideal einer solidarischen Gemeinschaft der Gläubigen, in der alle Klassen vereint die Identität und die Forderung nach einem islamischen Staat verteidigen. Eine soziale Mobilisierung würde die Bruderschaft aus dem Traum von der großen Einheit aufrütteln und sie zwingen, auf widersprüchliche Forderungen zu reagieren und sich zu einer gespaltenen und konfliktgeladenen sozialen Wirklichkeit zu verhalten.

Zwischen dem Traum von der Einheit und der Verteidigung der Beherrschten gibt es einen grundsätzlichen Widerspruch. Deshalb schwanken die Muslimbrüder. Ihre Führung flüchtet sich, wenn sie kann, in eine abwartende Haltung. Und wenn dies nicht möglich ist, spalten sich die Muslimbrüder in eine "soziale" Linie und eine liberalere, sogar neoliberale Linie, wobei sich die einen auf den sozialen Protest stützen und die anderen sich ihm widersetzen. Das zeigt aber auch, dass das ideologische Universum der Muslimbrüder gegenüber "Klassen"standpunkten und "Klassen"interessen nicht hermetisch abgeschlossen ist.


Verbürgerlichung

Nach dem Ende des Nasserismus hat die Führung der Bruderschaft, obgleich wenig beschlagen in Fragen der Ökonomie, nach und nach eine liberale und sogar neoliberale Sichtweise herausgebildet:

Zunächst haben die Muslimbrüder das Ende des nasseristischen Staates und die Politik seiner Nachfolger Sadat und Mubarak in Sachen wirtschaftliche Öffnung, Liberalisierung der Märkte und Strukturanpassungspläne unterstützt. Selbst dort, wo sie auf der sozialen Verantwortung des Kapitals und seiner Pflicht zur Wohltätigkeit bestanden und starke Vorbehalte gegenüber den Privatisierungsprogrammen äußerten, geschah dies mehr aus nationalistischen Erwägungen - die Muslimbrüder fürchteten eine Kontrolle der ägyptischen Industrie durch ausländisches Kapital - und aus moralischen Gründen (wegen der damit verbundenen Korruption), als aus sozialen Erwägungen.

Als Mitte der 90er Jahre in Ägypten Bauernrevolten ausbrachen, unterstützte die Bruderschaft 1997 eine reaktionäre Landreform, die von Nasser verstaatlichtes Land an die alten Eigentümer zurückgab. Sie stützten sich dabei auf das in der Religion verankerte Recht auf Privateigentum - trotz der Verarmung von Teilen der Landbevölkerung, und erklärten, dank der Rezepte des IWF sei man "zum Gesetz Gottes zurückgekehrt".

Die Lösungen des IWF sind den Muslimbrüdern auch nicht fremd, insbesondere nicht die Forderung nach einer radikalen Verschlankung der Staatsapparate. Abdel-Hamid al-Ghazali, der Wirtschaftsberater der Muslimbrüder, behauptete, "die Beschäftigung des öffentlichen Dienstes [müsse] umstrukturiert werden um sich zu entwickeln. Die Verwaltung kann mit einem Drittel ihrer Angestellten auskommen und die übrigen zwei Drittel einsparen. Auf diese Weise kann man öffentliche Ausgaben sparen und mehr Arbeitskräfte dem privaten Sektor zuführen." Bei der Verfassungsdebatte von 2006 haben die Muslimbrüder die Abschaffung der Passage unterstützt, die sich auf den sozialistischen Charakter des Staates bezieht. Hingegen hatten sie keine Einwände gegen die Änderungen, die eine Hinwendung zur kapitalistischen Marktwirtschaft bedeuteten.

Trotz der Verarmung der Gesellschaft (fast 20% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze) und der Verschlechterung der Lage der eh schon benachteiligten Klassen, und obwohl es nach seinen eigenen Worten "nur noch eine verarmte Klasse gibt, die die Mehrheit der Bevölkerung darstellt, und eine Elite, die mit dem Staat verbunden ist", schaut Vizegeneralsekretär Mohamed Habib lieber auf die oberen Gesellschaftsschichten und will in erster Linie "die Mittelschicht wieder auf ihren Platz stellen". Ein alter Bruder erinnert daran, dass diese Positionierung zum "Bruch zwischen der Bruderschaft und den armen Klassen" geführt hat; er klagt darüber, dass unter den Forderungen der Brüder nur selten solche vorkommen, die die soziale Frage betreffen.

Um diese rechte Positionierung zu verstehen, muss man zunächst die Vorstellung von den Muslimbrüdern als den anerkannten Sprechern der in dreißig Jahren Liberalismus Zukurzgekommenen aufgeben. Nicht nur gehören sie nicht zu den Plebejern - obwohl sie durch ihre karitativen Netzwerke einen gewissen Zugriff auf arme Leute haben, sind sie nur wenig in den Armen- und Arbeitervierteln verankert -, sie stehen sogar an der Spitze einer Schicht von Geschäftsleuten, die weitgehend vom Wirtschaftsliberalismus profitiert hat und einen starken Einfluss auf ihre ökonomischen Vorstellungen ausübt.

Die Beziehung der Muslimbrüder zum Unternehmertum war von Anfang an positiv. Der Gründer der Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna, rief zur Schaffung eines islamistischen Wirtschaftsnetzwerks auf, als Bestandteil des Kampfes für einen unabhängigen nationalen Kapitalismus, aber auch um die Arbeiterklasse zurückzudrängen, die von Gewerkschaften mobilisiert wurde und den Vorstellungen der Muslimbrüder feindlich gegenüberstand. In den 40er Jahren entstanden Unternehmen der Muslimbrüder (z. B. in den Bereichen Druck und Medien, Steinbrüche und Bergwerke). In der Zeit des Exils, verursacht durch die Unterdrückung durch das Nasser-Regime, etablierte sich in den aufstrebenden Golfstaaten eine veritable Klasse von Geschäftsleuten, vor allem in den Bereichen Bauwesen und Import/Export.

Mit dem Ende des Nasserismus und mit der doppelten Öffnung Anwar al- Sadats zu den Muslimbrüdern und zur Marktwirtschaft kehrte das Kapital der Bruderschaft nach Ägypten zurück und investierte massiv in den Immobilienbau, in Gesundheit, Verkehr und Bildung. Da die Bruderschaft selber verboten blieb, wurde ihr Kapital von Mitgliedern der Organisation aufgebaut, die aber gegenüber der Bruderschaft große Unabhängigkeit besaßen. Ein Netzwerk von Muslimbrüdern konnte somit in Bereichen Fuß fassen, die ein sich verschlankender Staat sich selbst überließ: Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau, Verkehr, und profitierte von der nun folgenden ökonomischen Liberalisierung.

Dies begünstigte allerdings auch eine gewisse Trennung zwischen den politischen Überzeugungen der Muslimbrüder und den Wirtschaftsinteressen ihrer Geschäftsvertreter - eine Autonomisierung, die in manchen Bereichen zur Loslösung des unternehmerischen Kapitals der Bruderschaft gegenüber ihrem Anliegen als Organisation ging. Dies war der Fall bei Bauunternehmen, die stark im Bau von Touristendörfern auf der Sinaihalbinsel engagiert und damit an einer Industrie beteiligt sind, der die islamistische Ideologie reserviert, wenn nicht ablehnend gegenüber steht.


Entpolitisierung

Die politische Vision der Muslimbrüder von der alles umfassenden Kraft des Islam und der Einheit aller Muslime ist ein Traum, aus dem sich eine korporatistische Auffassung der Gesellschaft ergibt. Sie passt nicht zur Vorstellung von gesellschaftlichen Konflikten und noch weniger von Klassenkampf. Der Brief des Obersten Führers der Bruderschaft an seine Anhänger zum 1. Mai 2009 zeugt davon. Er beschwört darin den Wert der Arbeit im Islam, wie wichtig es für die Arbeiter ist, ihre Arbeit gut zu erledigen, und die Pflicht der Unternehmer zur Gerechtigkeit. Die dramatische Beschäftigungssituation, die Entlassungen, die Verschärfung der Arbeitskämpfe kommen darin nicht vor.

So bleibt von Anbeginn an die soziale Frage eine für die Muslimbrüder randständige Beschäftigung. Nur selten werden ihr Bücher gewidmet, wie "Die soziale Gerechtigkeit im Islam" von Sayyed Qutb oder "Der Sozialismus des Islam" vom Anführer der syrischen Muslimbrüder, Mustafa al-Sibaï - dieses Buch wurde von einem hohen Würdenträger der Muslimbrüder sofort zurückgewiesen. In der Schulungsliteratur für Aktivisten spielen diese Werke nur eine marginale Rolle.

Außerhalb von Ägypten hat sich der sunnitische Islamismus wohl zum Teil Vorstellungen der Linken angeeignet, aber dies gilt mehr für ehemals linke Weggefährten und für Menschen außerhalb des Mainstreams der Muslimbrüder: Khalil Akkawi im libanesischen Tripoli; die "progressiven Islamisten" in Tunesien; Tariq Ramadan im Westen.

In Bezug auf soziale Fragen wie die Armut überwiegt auch weniger die Leugnung, als die Entpolitisierung, die soziale Frage wird in Begriffen der Moral, nicht der sozialen Rechte aufgeworfen. Die Armut soll durch soziale Solidarität eingedämmt werden, also durch die Großzügigkeit der Reichen, die ihren religiösen Pflichten nachkommen. Sie darf nicht politisch bekämpft werden, gar mit der Forderung nach Umverteilung der Reichtümer verknüpft.

Gerechtigkeit wird geübt durch moralische Ermahnung der Reichen, die, sind sie erst einmal zum Mitleid gerührt, sich gegenüber den Armen notwendigerweise freigebig zeigen werden. Freigebigkeit ist weniger eine Garantie für das Seelenheil, denn eine Alternative zur Intervention des Staates.

Das ist das Programm der Wasat-Partei, die derzeit am besten das Denken des politischen Flügels der Muslimbruderschaft verkörpert. Diese Partei beruft sich mit ihrem neoliberalen Programm auf den Islam: Der Schlüssel für den Ausweg aus der Krise ist ein neues Gleichgewicht zwischen dem Staat und der "Gemeinschaft" - und damit ist nicht die Gemeinschaft der Gläubigen, sondern die Zivilgesellschaft gemeint; die von einem Übermaß an Bürokratie erstickt wird.


Dies ist der erste Teil eines längeren Artikels. Der Rest folgt in der nächsten Ausgabe.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 17
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2011