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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1523: Der GAU von Tschernobyl


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Vor 25 Jahren:
Der GAU von Tschernobyl

Von Thadeus Pato


Als vor einem Vierteljahrhundert der Super-GAU in Tschernobyl geschah, da hatten in Deutschland die Regierung, die mit ihr verbundenen Energieversorgungsunternehmen (EVU) und alle anderen Nuklearmächte sofort wohlfeile Erklärungen parat und logen. Daran hat sich nichts geändert.


Lügen gestern...

Erst einmal wurde beteuert, die "sowjetische Technik" sei an allem schuld, mit "westlicher" Technik könne sowas nicht passieren. Unterschlagen wurde, dass es sich um einen klassischen Fall von menschlichem Versagen handelte, die Technik also unwichtig war.

Da man aber ahnte, dass das nicht ganz reichen würde, um die besorgte Öffentlichkeit über die Zeitbomben im eigenen Land zu beruhigen, musste man den GAU kleinreden. Der wissenschaftliche Direktor bei den "Aufräum"arbeiten in Tschernobyl, Wladimir Tschernosenko, schilderte 1992, bereits schwer strahlenkrank, in einem Interview, wie systematisch damals die Verseuchung und das gigantische Ausmass der bis heute nachwirkenden Katastrophe verniedlicht und "heruntergerechnet" wurden: Erst machten Techniker und Wissenschaftler, die eng mit dem Militär verbunden waren - Tschernosenko bezeichnete sie als Atom-Mafia - der damaligen Gorbatschow-Regierung falsche Angaben: So wurde beispielsweise die verseuchte Fläche um den Faktor 100 heruntergerechnet. Gorbatschow wusste das, gab die falschen Daten aber an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) weiter. Die beteiligte sich dann ihrerseits wider besseres Wissen an der Irreführung der Öffentlichkeit.

Die Wahrheit brachten nicht diejenigen ans Licht, die damals wie heute beteuern, die Nukleartechnologie sei sicher, sondern die Anti-AKW-Bewegung und Menschen wie Tschernosenko, die sich nach Tschernobyl eines Besseren besannen und zu Kritikern der Nuklearenergie wurden.

Die Irreführung über die Zahl der Opfer hält bis heute an: Offiziell registriert waren bis 2005 lediglich 50 Todesfälle infolge des Super-GAU. Die WHO schätzte damals schon bis zu 4000 Fälle. Wladimir Tschernosenko wies hingegen darauf hin, in den ersten Jahren seien zur Sicherung des Trümmerhaufens insgesamt fast eine Million sogenannter Liquidatoren (Beschäftigte bei den Aufräumarbeiten) unter extrem hohen Strahlenbelastungen eingesetzt worden, die zum größten Teil nicht erfasst wurden. Sie bekamen zum Schluss eine Ehrenmedaille und verschwanden. Tschernosenko ging mit guten Gründen davon aus, dass sie alle früher oder später an den Folgen der Verstrahlung erkranken bzw. sterben werden oder bereits gestorben sind.

...und heute

In Fukushima war es zum Leidwesen der Verharmloser westliche Technik, die versagte. Auf das Argument "veralteter Siedewasserreaktor" wollte man auch nicht zurückgreifen - solche stehen in Deutschland ja auch noch. Nun müssen Erdbeben und Tsunami herhalten um zu belegen, dass ein solches Unglück anderswo nicht passieren könne.

Aber kleinreden, das kann man nach 25 Jahren immer noch: Immer, wenn die Werte der Radioaktivität steigen, wird verlautbart, selbstverständlich bestehe keine Gefahr für die Gesundheit.

Der russische Atomexperte Iouli Andrejev sagte laut Nachrichtenagentur Reuters, das Feuer im Abklingbecken für die Brennstäbe in Reaktor 4 sei unter anderem deshalb ausgebrochen, weil die Becken komplett vollgepackt worden seien. Wenn man das macht, erhöht sich die Feuergefahr, wenn der Wasserspiegel sinkt. Andrejev, seinerzeit ebenfalls in Tschernobyl dabei und später Berater der österreichischen Regierung, verlor auch einige Worte über die Internationalen Atomenergiebehörde. Die sei "von der Industrie abhängig" und gar nicht an der Wahrheit interessiert. Man darf gespannt sein, welche Werte und Abläufe dieses Mal mit einem gewissen Zeitabstand ans Licht kommen.

Zusammenfassend lässt sich das Handeln der Verantwortlichen in Japan wie anderswo mit einem Zitat aus dem Spiegel charakterisieren: "Fukushima - das ist eine tragische Mischung aus beschämender Inkompetenz und bewusster Irreführung."


Zwei Zäsuren

Tschernobyl brachte letztendlich das Aus für Reaktorneubauten in der Bundesrepublik. Keine der folgenden Atomregierungen, von Kohl/Genscher über Schröder/Fischer bis hin zu Merkel/Westerwelle konnte es sich leisten, Neubauten auch nur ins Auge zu fassen. Seit dieser Zeit gibt es eine stabile absolute gesellschaftliche Mehrheit gegen die Nutzung der Atomkraft. Doch mit vereinten Kräften schafften es PolitikerInnen und Betreiber, die weiterhin stattfindenden Störfälle zu verschweigen oder zu verharmlosen, der Bevölkerung Angst vor einer "Gefährdung des Industriestandortes Deutschland" zu machen und den großen Stromkonzernen die exorbitanten Extraprofite aus den längst abgeschriebenen Meilern so lange wie möglich zu sichern. Auch das sogenannte Ausstiegsgesetz der SPD/Grüne-Regierung war nichts anderes als ein Profitsicherungsgesetz. Spätestens die jetzt groß angekündigte sofortige Stillegung von sieben Kraftwerken zeigt, was bereits vorher problemlos möglich gewesen wäre.

Doch die alten Lügen haben sich abgenutzt. Fukushima hat die alte und einzig richtige Forderung nach Tschernobyl wiederbelebt: Abschalten! Alle! Sofort!


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2011