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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1387: Haiti - Wiederaufbau des Bildungssystems


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Der Wiederaufbau des Bildungssystems muss der erste Schritt sein
Katja Maurer über die Möglichkeiten einer nachhaltigen Hilfe in Haiti


Haiti ist so schnell aus den deutschen Schlagzeilen verschwunden, wie das Erdbeben sie in dieselben hinein katapultiert hat. Nach den Bildern des Grauens bleiben vorwiegend Fragezeichen, ob und wie das Armenhaus der Weit wieder auf eigene Beine kommen kann. Die Hilfsorganisation Medico international ist Teil des Bündnisses "Entwicklung hilft", das in Deutschland einen großen Teil der Katastrophenhilfe für Haiti organisiert hat.

Das Bündnis hat Mitte März in Berlin über Grundsätze und Maßnahmen einen nachhaltigen Wiederaufbau des Landes diskutiert. Es hat sich dabei auf übergeordnete Ziele - bedarfsorientierte Hilfe, Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen, Bildung als vorrangiges Ziel der Armutsbekämpfung sowie Förderung der Geschlechtergerechtigkeit geeinigt.

Katja Maurer war im Februar für Medico international in Haiti. Die SoZ sprach mit ihr über die Lage dort und welche Hilfe geleistet werden muss.




SOZ: Du bist eben aus Haiti zurückgekehrt. Wie ist die Situation dort jetzt?

KATJA MAURER: Die Menschen versuchen, sich in der Katastrophe einzurichten. Sie leben als Obdachlose in Zeltstädten und werden von den Hilfsorganisationen versorgt. Zumindest gibt es Wasser, Strom und etwas zu essen. Das Problem ist, dass jetzt die Regenzeit beginnt. Es ist unmöglich, die Menschen noch länger in den Zelten zu lassen. Nun überlegt man, provisorische Wellblechhütten zu bauen, später soll es dann "richtige" Häuser geben. Aber die große Frage, die sich alle stellen, ist: Werden die Haitianer noch jemals etwas anderes bekommen als Wellblechhütten?

SOZ: Haiti Ist bei uns schlagartig aus den Schlagzeilen verschwunden, als die Amerikaner dort angekommen sind. Was spielen die da für eine Rolle?

KATJA MAURER: Das Bild, das sich uns dargestellt hat, war, dass sie sich im Straßenbild sehr zurückhalten. Es gibt Kritik, dass sie ausschließlich die Viertel der Reichen schützen und dorthin auch ihre Hilfsmaßnahmen dirigieren; die Armenviertel betreten sie nicht. Aber es ist nicht so, dass US-Soldaten jetzt das Kommando über Port-au-Prince übernommen hätten und GIs durch die Straßen patrouillierten, um die Bevölkerung in Schach zu halten. Sie hatten wohl die Funktion, eine Massenflucht nach Florida zu verhindern.

SOZ: Gibt es denn Selbsthilfestrukturen?

KATJA MAURER: Ja, aber nur lokal und nicht untereinander vernetzt. Die Armut ist sehr groß und es gibt keine Infrastruktur, auf der man aufbauen könnte. Deshalb fielen in Haiti völlig unnötig viele Menschen dem Erdbeben zum Opfer, das Erdbeben in Chile hat wesentlich weniger Opfer gefordert. Das zeigt, wie menschengemacht die Katastrophe in Haiti ist. Jahrelang wurde einfach alles privatisiert.

SOZ: Medico international setzt sich seit langem kritisch mit dem Betrieb der Katastrophenhilfe auseinander. In einigen Texten ist sogar die Rede von einem humanitär-industriellen Komplex. Hast du davon in Haiti etwas gemerkt?

KATJA MAURER: Das wird noch kommen. Zunächst sind noch die Hilfsorganisationen da. Aber wenn es jetzt ans Bauen der Provisorien geht, werden die Bauunternehmen aus der Dominikanischen Republik (die sind in brasilianischer Hand) und aus anderen Ländern kommen und sich die Aufträge an Land ziehen.

Wichtig wäre in diesem Zusammenhang eine Wiederaufbauperspektive. Noch gibt es die nicht. Die Hilfsorganisationen können ihre Zelte noch nicht abbrechen und müssen sich auf eine monatelange Präsenz und Versorgung vor Ort einrichten; das kostet enorm viel Geld und lässt trotzdem die Frage offen, wie das Land wieder auf eigene Beine kommen kann.

In Haiti selbst gibt es niemanden, der ihre Aufgabe derzeit übernehmen könnte. Das ist eine dramatische Situation, denn eigentlich sollte diese Art von Hilfe überflüssig werden. Man muss also darum kämpfen, dass aus dieser Katastrophe heraus soziale Strukturen geschaffen werden, die Haiti weniger verwundbar machen. Denn Naturkatastrophen wird es auf jeden Fall geben, Erdbeben, Hurricanes, das liegt an der geografische Position Haitis.

SOZ: Welche Anhaltspunkte gibt es dafür?

KATJA MAURER: Meine Forderung lautet Dezentralisierung. Ein Beispiel: Die Universitäten wurden zerstört, viele Studenten und Professoren sind ums Leben gekommen - unvorstellbares Leid. Es ist also ganz behutsame Aufbauarbeit vonnöten. Dezentralisierung würde hier nun bedeuten, dass man versucht, nicht nur in der Hauptstadt Universitäten aufzubauen, sondern auch in den Provinzstädten. Auf diese Weise können Leute, die dorthin geflüchtet sind, dort auch bleiben und studieren, anstatt wieder in die Slums von Port-au-Prince zurückzukehren.

Das Problem ist, dass Haiti bisher durch ökonomischen Boykott und durch Auflagen des IWF zum Ausverkauf seiner Infrastruktur gezwungen wurde. Die muss jetzt wieder aufgebaut werden. Beispielsweise ist Bildung nur zu 20% in öffentlicher Hand, 80% wird von teilweise sehr schlechten privaten Institutionen betrieben, 70% sind Analphabeten. Im ganzen Land muss also ein gutes, zugängliches Bildungssystem aufgebaut werden. Ein funktionierendes Bildungssystem wäre der erste Schritt, die Verwundbarkeit Haitis für solche Naturkatastrophen zu senken. Das muss die internationale Gemeinschaft jetzt gemeinsam mit den vorhandenen örtlichen Strukturen vorantreiben, denn wir stehen gegenüber Haiti in einer ganz großen Schuld.

SOZ: Welche Arbeit leistet Medico in Haiti?

KATJA MAURER: Medico ist vorher nicht in Haiti gewesen. Für uns ist das eine völlig neue Situation, in einem Land zu sein, in dem wir vorher gar nicht waren. Normalerweise machen wir Nothilfe mit Partnern, mit denen wir schon lange zusammenarbeiten. Wir haben nun begonnen, lokale Strukturen zu unterstützen. Wir machen Nothilfe mit dominikanischen Partnern, die mit lokalen Kräften unterwegs waren und haitianische Migranten mit ins Boot geholt haben. Also Leute, die die Sprache beherrschen und die Kultur kennen. Das ist sinnvoller, als wenn wir von hier aus Leute losschicken würden. Die dominikanischen Partner sind sofort ins Epizentrum gefahren und haben medizinische Nothilfe geleistet, sie werden das jetzt bis Jahresende fortsetzen, weil die Haitianer sich in so einer schwierigen Situation befinden.

Wir haben auch nach weiteren Organisationen gesucht, die wir unterstützen können - so werden wir kubanische Ärzte, die faktisch das Gesundheitssystem in Haiti stellen, unterstützen, denn die Kubaner stellen zwar Personal, sie haben aber kein Geld. Die Kubaner arbeiten eng mit dem haitianischen Gesundheitsministerium zusammen, sie versuchen aus Prinzip, lokale Strukturen zu unterstützen. Dem entgegen steht das massive Problem, dass selbst die haitianischen Ärzte, die in Kuba ausgebildet worden sind, zum Teil nach Nordamerika abgewandert sind. Es ist sehr schwer, lokale Strukturen zu schaffen, wenn der Abwanderungsdruck aufgrund der Armut so groß ist.

Noch sind wir aber in der Nothilfephase, und wir werden sehen, ob wir exemplarisch Wiederansiedlungsprojekte von Erdbebenopfern schaffen können, die erdbebensicher sind, mehr Platz und auch Möglichkeiten zur Selbstversorgung bieten. Aber das sind Projekte, wo wir einfach noch abwarten müssen, ob das wirklich machbar ist.

SOZ: Ihr seid Teil des Bündnisses "Entwicklung hilft". Wie arbeiten denn die Großorganisationen des Bündnisses in Haiti?

KATJA MAURER: Die Partner in diesem Bündnis sind Brot für die Welt, Misereor und die Welthungerhilfe - die sind schon sehr lange vor Ort und haben auch lokale Strukturen, die zum Teil sehr stark sind. Die Welthungerhilfe versucht seit vielen Jahren, landwirtschaftliche Projekte zu realisieren, um diese elende Landflucht zu stoppen. Das ist von zentraler Bedeutung, denn wenn Port-au-Prince als Slumstadt mit 3 Millionen Einwohnern wieder aufersteht, dann kann man mit der nächsten Katastrophe rechnen.

Eine entscheidende Frage ist also, inwieweit es gelingt, auf dem Land Strukturen zu schaffen, die die Laute davor bewahren, in die Stadt zurückzukehren, wo die gesamte soziale Struktur zerstört ist. Die Kollegen machen eine hervorragende Arbeit, auch jetzt in den Camps, wir versuchen da zusammenzuarbeiten.

SOZ: Entwicklungsminister Dirk Niebel hat angekündigt, dass man Entwicklungshilfe eigentlich nicht braucht und die Verpflichtung, 0,7% des Bruttoinlandsprodukts in die Entwicklungshilfe zu stecken, nicht so wichtig ist. In welchem Verhältnis steht das zu den Riesenspendenkampagnen auf der einen, und der Tatsache, dass sich die Hilfsbereitschaft der deutschen Regierung sehr in Grenzen gehalten hat, auf der anderen Seite?

KATJA MAURER: Wenn es einen Beweis dafür gibt, dass man wirklich einen Paradigmenwechsel in der Entwicklungshilfe vollziehen muss, weg von den neoliberalen Konzepten, die alles auf den freien Markt setzen, hin zu einer sinnvollen Förderung staatlicher und öffentlicher Strukturen, dann ist das die Katastrophe von Haiti. Da hat es 250.000 bis 300.000 Tote gegeben, das hätte nicht passieren dürfen. Da sind Menschen gestorben, weil das so ein verdammt armes Land ist, mit 80% der Bevölkerung in extremer Armut.

Die Menschen haben einfach nichts, nichts, womit sie sinnvoll bauen könnten. Wie Dominosteine bricht dort alles zusammen, das ist unvorstellbar. Daran ist zum Teil diese jahrzehntelang praktizierte neoliberale Politik schuld, die Haiti aufgedrückt wurde.

Es ist deshalb wirklich zynisch, wenn Niebel jetzt noch einen darauf setzt, im Katastrophenfall würden ja Gelder zur Verfügung gestellt: Das ist das, was jetzt in Haiti passiert. Vorher gab es nicht viel, und jetzt kommen wir da rein, das kostet ein wahnsinniges Geld, und wieviel dann bei den Leuten bleiben wird, das werden wir in fünf Jahren mal ausrechnen. Eine solche Erklärung angesichts solcher Leichenberge ist unfassbar.

SOZ: Müsste man hierzulande nicht auch eine politische Front in Bezug auf die Frage von Sinn und Zweck der Entwicklungshilfe aufmachen?

KATJA MAURER: Die Entwicklungshilfe ist nicht zu ersetzen, weil wir nicht nur handeln können, nachdem Katastrophen passiert sind. Dann kommen die Spenden, und das ist auch gut so. Aber die Entwicklungshilfe, sowohl der NGOs als auch der Regierungen, muss vor der Katastrophe ansetzen. Diese Haitianer haben genauso das Recht, auf dieser Erde zu leben, wie wir. Und das kann man nur erwirken, wenn das Land langfristig sozial neu aufgebaut wird und diese Menschen aus der extremen Armut herauskommen.

Dafür werden wir keine Spenden bekommen, denn das ist nicht durch private Spenden zu erreichen. Das geht nur mit staatlichen Mitteln, auf nationaler und internationaler Ebene. Deshalb ist es angesichts dieser Katastrophe in Haiti echt zynisch zu sagen, wir brauchen das nicht.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 25. Jg., April 2010, Seite 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2010