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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1249: Wie ein zukünftiger palästinensischer Staat aussehen könnte


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Zwischen Mauern und Sweatshops
Wie ein zukünftiger palästinensischer Staat aussehen könnte.
Ein Bericht aus dem Westjordanland

Von Julia Bartal


Wer sich in den palästinensischen Gebieten aufhält und die Rhetorik der westlichen Medien liest, kann nicht anders als staunen.


Die Liste der Verwunderlichkeiten ist lang. Zum Beispiel die "Machtübernahme der Hamas" in Gaza. In der Westbank, wie auch in Gaza, sprechen die Menschen von der Machtübernahme der Palästinensischen Autorität (PA), die Abu Mazens und seines korrumpierten Machtapparats. Überall steht sie, die "Sicherheit", an allen Ecken der palästinensischen Städte: neu ausgerüstete Polizisten und Sicherheitsleute in militärischem Outfit, das dem der israelischen Besatzungssoldaten erschreckend ähnlich sieht.

Die grausigen Nachrichten häufen sich: Von Hunderten Verhafteten, Gefolterten und gar manch Ermordeten durch die Westbank-PA ist die Rede, hauptsächlich unter der Kontrolle der inzwischen zum innerpalästinesischen Liebling des Westens gewordenen Fatah - aber auch von Verhafteten, Gefolterten und gar Ermordeten durch die Hamas- Führung in Gaza. Die Vorwürfe der Korruption, Konfiszierung von Hilfelieferungen und Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Journalisten hat nicht nur eine der beiden Parteien gepachtet.

Die Entmenschlichung der Bevölkerung funktioniert. Bilder von gewalttätigen Islamisten, erwachsenen Männern mit Bärten oder Masken zieren die Nachrichtenwelt - und das, obwohl der Grossteil der Bevölkerung Kinder sind, über 50 Prozent. Ein weiteres Viertel sind Frauen. Ganz abgesehen davon, daß nicht alle Männer gewaltbereiten Gruppierungen angehören.

Innerpalästinensische Gewalt in Gaza kommt leichter in die Medien als die in der Westbank oder die der israelischen Besatzung. Doch auch wenn die Schreckensbilder von Hinrichtungen in Gaza wahr sind, so trägt diese Wahrheit nicht nur den Namen Hamas. In dem 10 mal 40 km kleinen Landstrich, der im Chaos versunken ist, lange bevor Hamas gewählt wurde, herrschen und kämpfen inzwischen Clans und Gangs. Die Bombardierung aller staatlicher Einrichtungen und Institutionen hat diese Situation nur noch verschärft.

Als die Bombardierung Gazas begann, strömten die Menschen in der Westbank auf die Strassen. Massenproteste wurden erwartet und begannen. Doch ihnen stellte sich zu allererst nicht die israelische Armee entgegen, sondern palästinensische Sicherheitskräfte. In der derzeitigen politischen Lage, in der die Wut der Bevölkerung über die andauernde Besatzung sich nun ausgeweitet hat zu einer Wut auch auf ihre Führung, die seit Oslo ihre Rechte ausverkauft - nur daran interessiert, ihre eigene Machtposition auszubauen - fürchten diese Führer jeden Anlass für einen neuen Aufstand.

Ein Aufstand gegen die Besatzung wäre und ist ein gleichzeitiger Aufstand gegen die Palästinensische Autorität von Abbas; eine dritte Intifada riskiert, die ehemals aus dem tunesischen Exil Zurückgekehrten zu entmachten. Diese werden inzwischen von grossen Teilen der Bevölkerung mit als Besatzer gesehen. Nicht sie waren es, die den zivilen Widerstand der ersten Intifada anführten, den starken Widerstand, den sozialen. Sie waren diejenigen, die mit Oslo, mit den angeblich "großzügigen Angeboten für die Palästinenser" kamen, und mit ihnen kam der massive weitere Ausbau von Besatzung, Siedlungen, Repression und Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft.

Doch der Westen bezieht klar Position. War es vor nicht einmal sieben Jahren die von Arafat geführte PA, die es zu bombardieren und auszuräuchern galt, so ist es nun die Hamas. Und wie jedesmal zahlen nicht sie, sondern zahlt die palästinensische Bevölkerung den Preis dafür. Komplett umzingelt von der israelischen Besatzung, unter dem Schirm der herrschenden palästinensischen Autoritäten werden ihr Leben, ihre Gesellschaft, ihr Widerstand und ihre Rechte zermalmt.

Dem Vorwurf Europas und der USA, der Iran finanziere und beliefere die Hamas, steht die Tatsache gegenüber, dass eben die USA und Europa der anderen Seite des innerpalästinensischen Konflikts enorme Geldsummen und Waffenlieferungen zukommen lassen, ganz abgesehen von der immensen Unterstützung für die israelische Besatzung.

Allein der Stadt Nablus sponserten die USA 50 Millionen für den Aufbau ihres Sicherheitsapparats. Heute joggen die palästinensischen Soldaten wie Marines im Pulk durch die Stadt, um sicherzustellen, dass auch der letzte Geist des basiszivilen Widerstands und Ungehorsams der ersten Intifada erlischt. Und obwohl von den Straßen verbannt, regt er sich doch. Die Dörfer um die Stadt herum schließen sich zusammen, oft organisiert von Frauen bilden sich wieder Popular Comitees (Volkskomitees), die sich gegen den Landraub durch den Mauerbau wehren - mit israelischen und internationalen AktivistInnen zur Unterstützung und zum Schutz. Sie geben nicht auf, ihre Felder zu bearbeiten, auf denen sie tagtäglich Angriffen von gewalttätigen Siedlern und Soldaten ausgesetzt sind. Die Bevölkerung, die immer ärmer wird, eine immer kaputtere Gesellschaft - zwischen staubigen Trümmern, Müllbergen und Entrechtung gefangen - wehrt sich, immerhin noch ein wenig. Und dafür werden sie bestraft; es gibt keine Institution und keinen starken Partner, an den sie sich wenden könnten.

Ganz gleich, was geschieht:

ob der einundzwanzigjährige Ala an seinem Computer sitzend, neben seinem schlafenden Bruder von eindringenden israelischen Soldaten, nicht verhaftet, nein, mit mehreren Schüssen in Kopf und Körper hingerichtet wird, seine Familie danach aus dem Haus gezerrt und das Haus mit drei Sprengsätzen zerstört wird, wie im Dorf Qabatiya am 7.2.2009 geschehen;
ob es täglich einmarschierende Besatzungsoldaten in den Dörfern sind, die den gewaltfreien Widerstand nicht aufgeben wollen, deren Kinder in Knäste verschleppt, alle Bewohner wahllos mit Tränengas, gummiumantelten Stahlgeschossen und scharfer Munition beschossen werden oder
ob es PA-Sicherheitskräfte in der Westbank oder Hamasleute in Gaza sind, die jegliche Mitglieder oppositioneller Parteien, Gruppierungen oder Meinungen in ihre Kerker verschleppen:

Dies sind die Gerichte, die für die palästinensische Bevölkerung existieren, zwischen Mauern, Checkpoints und Apartheidsstrassen, die sie nicht nutzen dürfen.
Gerichte, die Soldaten, Siedler oder Folterknechte richten, gibt es nicht. In diesem allumfassenden Apartheidregime ist palästinensisches Leben billig.

Obama ist im Amt, die Welt spricht und erwartet neue alte Lösungsansätze. Die Roadmap und Annapolis sollen wieder auf den Weg gebracht werden. Schon jetzt ist klar, dass keine dieser Initiativen die Mauer, den Siedlungsbau und den Landraub rückgängig machen werden.

Wie ein zukünftiger, lebensfähiger, palästinensischer Staat aussehen könnte - bestehend aus Städten in Bantustans - wird klar, wenn man die schon existierenden Freihandelsabkommen zwischen Israel, Ägypten und Jordanien betrachtet. Schon jetzt sind die Grenzregionen gefüllt mit riesigen Fabriken der Textilindustrie. Sweatshops "ernähren" viele der ärmsten Bewohner dieser Gegend, viele von ihnen sind palästinensische Flüchtlinge.

Auch in den von Israel geraubten Teilen der Westbank floriert das Geschäft einer immer weiter ausgebauten Industrialisierung mit Billiglohnarbeitern ohne Rechte. Die Produkte werden zu einem grossen Teil schon jetzt unter dem Assoziationsabkommen Europas mit Israel auf unserem Markt verkauft.

Ganz offen wird von diesen Ausbeutungsfabriken als zukünftiges "großzügiges Angebot" für einen lebensfähigen Staat gesprochen. Die Palästinenser werden ihn bekommen - ohne eigene Grenze. Eingeschlossen in ihre Städte können sie sich ihren Lohn dann erarbeiten und die Steuern für ihren Freiluftknast bezahlen.

Es sind diese internationalen Abkommen, gegen die wir uns als Menschen wehren müssen. Die internationalen sozialen Bewegungen schlagen schon lange eine Boykott- und Sanktionskampagne als Druckmittel gegen Israel vor; in vielen Ländern wird sie "nach Gaza" verstärkt umgesetzt. Sie wendet sich gegen einen israelischen Staat, der Menschen unter Bomben, weißem Phosphor und Streumunition begräbt - Menschen, die eingeschlossen hinter Mauern und Zäunen keine Möglichkeit haben, sich zu schützen oder zu fliehen.

Es ist inakzeptabel angesichts dieser Menschenrechtsverletzungen und der umfassenden Missachtung internationalen Rechts, ein EU-Assoziationsabkommen mit Israel aufrechtzuerhalten und somit grünes Licht für weitere Verbrechen zu geben. Lösungsansätze wie die diversen internationalen "Friedensbemühungen", die die Rechte der Bevölkerung beschneiden und ihre Versklavung weiter vorantreiben, sind indiskutabel.

Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung kann und darf nicht gebunden sein an eine der Parteien, Gruppierungen, Nationen oder Landstriche.

Während im Schatten von Berichten über Hamas und Gaza die Gewalt auch gegen die Bevölkerung der Westbank von Woche zu Woche eskaliert, muss sich die Solidarität zwischen diesen Linien bewegen, sie gehört den Bauern, Frauen, Kindern, Journalisten, Ärzteteams und Menschen in dieser Bevölkerung.


(Die Autorin hält sich derzeit in der Westbank auf.)

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Text in einer leicht überarbeiteten Originalfassung der Autorin.

Aktualisiert am 5. April 2010


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 24. Jg., März 2009, Seite 16
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2009