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ROTFUCHS/217: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 265 - Februar 2020


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

23. Jahrgang, Nr. 265 - Februar 2020



Aus dem Inhalt

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Staatsterrorismus bedroht alle

Zum Zeitpunkt, da ich diesen Artikel schreibe - Dienstag, 7. Januar 2020 abends - steht noch nicht fest, was sich aus der Ermordung des iranischen Generals Kassem Soleimani und seiner Begleiter durch eine US-Drohne am 3. Januar in Bagdad ergeben wird. Oder doch: Der amtierende US-Präsident hat es erneut geschafft, die Kriegsgefahr sprunghaft zu erhöhen. Weltweit fürchten die Menschen und auch viele Regierungen, daß es zum nächsten großen Töten kommt.

Sollte das geschehen, ist festzuhalten: Der Anlaß, nicht der Grund, wurde am 3. Januar geschaffen. Letzterer liegt nicht in Einzelaktionen, nicht in der geistigen Verfassung dieses oder jenes Politikers, nicht einmal in Operationen unter falscher Flagge oder - wie schon wieder in der Bürgerpresse zu lesen ist - im angeblichen "Schlafwandel" der EU-Staaten. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo lieferte 1914 den von Berlin und Wien erwünschten Anlaß für den Weltkrieg, der "Überfall" auf den Sender Gleiwitz den für den Zweiten, der sogenannte Zwischenfall in der Tonkin-Bucht 1964 den für den Völkermord der USA in Vietnam. Anlässe bleiben aber, geschichtlich gesehen, Zufälle. Gesetzmäßig sind sie nicht. Sie dienen im Imperialismus als Vorwände, die vom Kriegsgrund ablenken: vom Imperialismus, von dessen Streben nach Weltherrschaft, Neuaufteilung von Kolonien, der Sicherung von Ressourcen. Sie werden benötigt, also fabriziert.

Es sind jedoch die materiellen Interessen vor allem der in den USA herrschenden Monopole und die der US-Verbündeten, die zum Krieg treiben. Konkret: Die USA haben über Jahrzehnte im Mittleren und Nahen Osten in gigantischem Umfang Militär konzentriert und ihre dortigen Verbündeten hochgerüstet. Auch mit deutschen Waffenexporten. Die USA haben in der Region wahrscheinlich weit über 100.000 GIs unter Waffen stehen, verfügen über rund ein Dutzend Flug- und Marinebasen und lassen mehrere US-Flugzeugträger kreuzen. Das alles bedeutet: Frieden ist nicht erwünscht. Nur Unterwerfung zählt, ein imperialistischer Frieden. Wer sich aber weigert, ein Diktat zu unterschreiben, wird vernichtet - auf deutsche und EU-Kriegshilfe ist dabei Verlaß. Die Morddrohne vom 3. Januar wurde vermutlich von Ramstein aus gesteuert. Es handelt sich um Staatsterrorismus. Der Irak wird seit fast 30 Jahren zerstört, Afghanistan seit bald 20, Syrien seit bald zehn.

Dort stoppte Rußland das Grauen dieses hemmungslosen Kriegskolonialismus, der Pest des 21. Jahrhunderts. Er heizt seine Feldzüge mit rassistischer Hetze und mit Haß auf die von ihm Vertriebenen an. Das Ziel: Um fast jeden Preis sollen neue Abhängigkeiten und Vorposten geschaffen werden. Auch die Angriffe auf den Iran seit der Kündigung des Atomabkommens im Mai 2018 zielen in Wahrheit auf Rußland und China. Es geht um deren Einkreisung und Bedrohung.

Ein Zeichen imperialistischer Stärke ist das nicht, denn es bedeutet: Die wirtschaftlichen und politischen Machtmittel reichen nicht, die militärischen sollen es richten. Diese Politik führt fast zwangsläufig zu der Situation, in der sich die Welt in den ersten Januartagen dieses Jahres befindet.

Der 3. Januar 2020 steht in der Reihe jener Daten, die mit den Namen Sarajevo, Gleiwitz und Tonkin verbunden sind - unabhängig davon, ob aus der Krise ein Krieg wird. Bereits der Mord an Soleimani wurde mit monströsen Lügen begleitet. In Washington hieß es, der iranische General sei eine "unmittelbare Gefahr" für das Leben von US-Soldaten gewesen. Er reiste aber nach Bagdad als Vermittler zwischen Iran und Saudi-Arabien, "im Dienste des Friedens", wie selbst die "Süddeutsche Zeitung" am 7. Januar schrieb. Frieden aber ist für Imperialisten das größte Verbrechen.

Die Ereignisse zeigen, was die Niederlage des Sozialismus von 1990 und 1991 bedeutet: eine neue Periode imperialistischer Kriege und höchster Kriegsgefahr. Tun wir alles, um jeden zu erreichen, der mithelfen will, die Maschinerie, die am 3. Januar wieder angeworfen wurde, zu stoppen und endlich zu zerstören!

Arnold Schölzel

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1938 von Polen angeboten: ein Denkmal für Hitler

Wahrheit contra Geschichtslügen!

Am 24. Dezember 2019 traf sich der russische Präsident Wladimir Putin turnusgemäß in Moskau mit dem Kollegium des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation. Wir dokumentieren seine Abschlußansprache leicht gekürzt:

Zum Schluß möchte ich einige Worte zu Fragen sagen, die nicht direkt mit dem verbunden sind, worüber wir heute sprachen, andererseits aber doch in gewisser Weise einen Bezug dazu haben.

Ich beginne mit Geschichte. Unlängst haben Sie wahrscheinlich bemerkt, daß ich mich mit meinen Kollegen, den leitenden Persönlichkeiten der GUS-Staaten, getroffen habe, d. h. jener Staaten, die vor nicht langer Zeit zu unserer gemeinsamen Heimat gehörten, unserem gemeinsamen Staat, der Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg widerstand und im Großen Vaterländischen Krieg siegte.

Ich sprach dort darüber, daß in einigen Ländern, bei unseren Nachbarn in Europa und sogar jenseits des Ozeans, oft versucht wird, die Geschichte zu verdrehen, daß man sich irgendwelche unglaublichen Szenarien ausdenkt, wie sich die Situation in der Welt und in Europa vor Beginn des Zweiten Weltkrieges entwickelte. Und wie eine logische Schlußfolgerung aus diesem Prozeß nahmen die Kollegen in Europa, das Europaparlament, eine Resolution an, die faktisch Hitler-Deutschland und die Sowjetunion auf eine Stufe stellt, indem sie unterstellte, daß auch die Sowjetunion für den Beginn des Zweiten Weltkrieges verantwortlich ist. Das ist natürlich völliger Unsinn!

Ich hatte darum gebeten, mir einige Materialien aus Archiven zukommen zu lassen, und scheute den zeitlichen Aufwand nicht, mir diese anzuschauen. Ich habe eine unvollständige Liste dieser Dokumente für die Kollegen, die heute hier sind, und die Führungspersönlichkeiten der GUS-Länder zusammengestellt. Ich sagte damals bereits, daß uns keine Zeit blieb, um angemessen darüber zu sprechen, und auch heute ist hierzu nicht der Ort. Später werde ich dazu einen Artikel schreiben.

Die UdSSR war das letzte Land in Europa, das einen Nichtangriffspakt mit Deutschland unterzeichnete. Das letzte! Alle anderen führenden europäischen Länder taten das vor der UdSSR. Ja, der Molotow-Ribbentrop-Pakt wurde unterzeichnet, und es gab auch einen geheimen sogenannten Vertrag über die Aufteilung der Einflußsphären. Und womit befaßten sich die europäischen Staaten bis dahin? Genau damit. Sie alle haben dasselbe getan. Beginnend 1938, als Hitler seine Ansprüche auf einen Teil der Tschechoslowakei erhob, kehrten Großbritannien und Frankreich ihrem Verbündeten den Rücken, obwohl Frankreich einen Beistandsvertrag mit der Tschechoslowakei hatte. Das gab Hitler die Möglichkeit, einen Teil des Landes zu besetzen.

Aber was taten die anderen Länder, z. B. Polen? Faktisch verabredeten sie sich mit Hitler. Das ist aus den Archivdokumenten ersichtlich. Eine weitere Frage wäre, ob es dabei geheime Zusätze gab oder nicht - aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, wie sie gehandelt haben, und sie handelten exakt gemäß der Verabredung. Wie sie verhandelten, das besagen die Dokumente. Auf der sogenannten Münchner Konferenz vertrat Hitler direkt die Interessen Polens und zum Teil Ungarns. Er vertrat direkt ihre Interessen und sagte danach noch den Polen: Sie wissen, es war schwer, Ihre Interessen zu verteidigen. Wir haben all das in Dokumenten - Gott sei Dank besitzen wir genügend, die wir als Trophäen aus europäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten haben.

Was mich, offen gesagt, getroffen hat, das war die Art und Weise, in der Hitler und offizielle Vertreter des damaligen Polens die sogenannte europäische Frage diskutierten. Hitler teilte dem Außenminister und später dem Botschafter Polens in Deutschland mit, daß er die Idee habe, die Juden nach Afrika zu schicken, in die Kolonien. Stellen Sie sich vor, im Jahr 1938, die Juden aus Europa nach Afrika zu schicken. Zum Aussterben. Zur Vernichtung. Und was antwortete ihm der Botschafter Polens, was schrieb er danach auf seinem dienstlichen Briefpapier an den Außenminister Polens, Herrn Beck: "Als ich das hörte", schrieb er, "antwortete ich ihm" - antwortete er dem Führer, Hitler - "wenn er das tut, werden wir für ihn in Warschau ein großartiges Denkmal errichten." Ein Lump, ein antisemitisches Schwein - anders läßt sich das nicht sagen. Er solidarisierte sich völlig mit Hitlers antijüdischen, antisemitischen Haltungen und versprach darüber hinaus, ihm für die Verfolgung des jüdischen Volkes in Warschau ein Denkmal zu errichten. Und schreibt dies seinem Vorgesetzten, dem Außenminister, offensichtlich in der Hoffnung auf Anerkennung.

Sonst hätte er das einfach nicht geschrieben. Ich werde jetzt nicht tiefer in die Details gehen, aber ich möchte auf jeden Fall noch einmal unterstreichen: Wir verfügen über genug Material, um niemandem zu gestatten, das Andenken unserer Väter, unserer Großväter, all jener, die ihr Leben auf den Altar des Sieges über den Nazismus legten, zu beschmutzen. Ich möchte nur bemerken, daß es gerade diese Leute, die damals Gespräche mit Hitler führten, sind, daß es gerade diese Art von Leuten ist, die heute die Denkmäler der Befreiungssoldaten beseitigen, der Soldaten der Roten Armee, welche die Länder Europas und die europäischen Völker vom Nazismus befreiten. Das sind ihre Nachfolger. In diesem Sinn hat sich leider wenig geändert. Und wir alle müssen das im Blick haben, auch im Hinblick auf den Aufbau unserer Streitkräfte.

In dieser Hinsicht möchte ich noch etwas sagen, was nach meiner Auffassung außerordentlich wichtig ist. Beachten Sie: Weder die Sowjetunion noch Rußland - wir strebten nie danach, Bedrohungen für andere Länder zu schaffen. Wir holten stets auf und nach. Die USA schufen die Atombombe, und die Sowjetunion holte nur auf. Trägermittel, Träger der Atomwaffen hatten wir ebenfalls nicht, es gab keine strategische Luftwaffe. Die Sowjetunion holte auf. Die ersten Interkontinentalraketen wurden de facto nicht bei uns gebaut, die Sowjetunion holte auf.

Am heutigen Tag haben wir eine einzigartige Situation in unserer neuen und neusten Geschichte: Wir haben die anderen hinter uns gelassen. In keinem anderen Land gibt es überhaupt Hyperschallwaffen, um so mehr gilt das für Hyperschallwaffen mit kontinentaler Reichweite. Wir verfügen in der Truppe bereits über den luftgestützten Hyperschallkomplex "Kinshal" (Dolch), und dort stehen auch schon die Laserkampfsysteme "Pereswet".

Der Minister hat uns vorhin in seiner Rede mitgeteilt, daß wir begonnen haben, das erste Regiment der Strategischen Raketenstreitkräfte mit dem neusten Hyperschallkomplex interkontinentaler Reichweite "Avantgard" auszurüsten. Die Arbeiten an anderen Systemen verlaufen nach unserem Plan: die ballistische Interkontinentalrakete mit erhöhter Sprengkraft "Sarmat"; die Hyperschallrakete "Zirkon" - land- und seegestützt; der unbemannte Unterwasserapparat "Poseidon" mit interkontinentaler Reichweite; der Marschflugkörper "Burewestnik" mit globaler Reichweite und atomarer Bewaffnung.

Zur Bewaffnung gehören auch andere Komplexe, eingeschlossen jene, die gut erprobt sind und ihre Kampftaufe unter verschiedenen Bedingungen erhalten haben, auch unter Kampfbedingungen in Syrien, wie die Marschflugkörper "Kalibr".

Es gibt noch andere Ausrüstungen. Über sie wird weniger gesprochen, aber es gibt sie, die Armee verfügt über sie und verwendet sie.

In dieser Hinsicht möchte ich noch folgendes sagen. Ungeachtet dessen, daß wir erheblich weniger Geld als andere Länder der Welt aufwenden (wir stehen im Moment auf dem siebten Platz, sagte der Minister, und könnten sogar auf Platz neun rutschen), bedeutet das nicht, daß wir bereit sind, unsere Kampfbereitschaft zu senken.

Bei einem unserer Treffen sagte ich bewußt etwas, was ich gern wiederholen möchte. Ich sagte es nicht zufällig, ich sagte es, weil es unseren Wettbewerbsvorteil zum Ausdruck bringt und es dabei um das von uns benötigte Niveau der Verteidigungsfähigkeit Rußlands geht. Was genau können, müssen und werden wir tun, wie werden wir vorwärtskommen? Ich sagte damals wörtlich: durch Köpfe, durch Intellekt, bessere Arbeitsorganisation, Minimierung von Diebstahl und Nachlässigkeit, durch Konzentration der Anstrengungen auf grundlegende, auf Hauptfelder, die uns ein hohes Niveau der Verteidigungsfähigkeit des Staates sichern.

Ich bitte Sie, in dieser Weise an die Arbeit zu gehen - auch im bevorstehenden Jahr 2020. Ich gratuliere Ihnen zum neuen Jahr! Ich wünsche Ihnen Erfolg. Danke!

Nach dem stenographischen Protokoll der Ansprache aus dem Russischen übersetzt von Arnold Schölzel.

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"Jetzt sprechen wir - die Völker Lateinamerikas"

Unter dieser Losung fand vom 2. bis 4. Dezember vergangenen Jahres der Kongreß zur "Bildung einer alternativen Kommunikation" in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, statt. Im Ergebnis des Forums von São Paulo wurde Venezuela beauftragt, einen solchen Kongreß durchzuführen, weil allen Beteiligten bewußt ist, daß die bürgerliche Propaganda als "vierte Macht im Staat" zur modernen Kriegsführung benutzt wird. Diese richtet sich gegen alle fortschrittlichen Kräfte, die um soziale Rechte kämpfen, bis hin zu jenen Staaten, die mit dem Aufbau des Sozialismus eine Alternative zum gegenwärtigen Kapitalismus bieten. Dieser Kongreß in Venezuela, der eigentlich erst im Januar 2020 stattfinden sollte, wurde notwendig aufgrund der zugespitzten Situation in Lateinamerika - mit dem faschistischen Putsch in Bolivien, den verstärkten sozialen Kämpfen in Chile und Kolumbien, der prekären Situation in Argentinien mit der hohen Staatsverschuldung, der extremen Situation in Brasilien mit dem faschistoiden Präsidenten und insbesondere mit der ausgeweiteten Embargopolitik der USA und deren Vasallen gegenüber Kuba und Venezuela. Das Ziel dieses Kongresses war eine solidarische Vernetzung aller fortschrittlichen Kräfte, um sich auf kürzestem Weg stets mit Informationen auszutauschen und diese entsprechend medial zu verbreiten, um so der Bevölkerung in allen Ländern eine alternative, wahrheitsgemäße Berichterstattung gegenüber der bürgerlichen Hetzpropaganda zu bieten.

Trotz der Embargopolitik haben 135 Delegationen aus 38 Ländern an diesem Kongreß teilgenommen. Die Delegierten erwartete ein vollgepacktes Programm. Schon am Vorabend des Kongresses gab es verschiedene Informationsveranstaltungen, so etwa ein Gespräch mit Tania Diaz, Ministerin für Kommunikation und Information und derzeit erste Vizepräsidentin der Asamblea Nacional Constituyente (Nationalversammlung), über die Bedeutung der Informationsverbreitung unter aktuellen Bedingungen.

Bei sommerlichen Temperaturen fand am nächsten Tag die Eröffnung des Kongresses unter freiem Himmel am Kongreßzentrum statt. Die Aussagen der Präsidentin von "teleSUR", Patricia Villegas, und Ernesto Villegas (Schriftsteller, ehemaliger Chef des Regierungsbezirkes Caracas und jetziger Kulturminister) waren hochinteressant, da sie verdeutlichten, wie die bürgerlichen Medien im In- und Ausland mit Falschmeldungen Hetzkampagnen gegen die Regierung Maduro inszenieren.

Danach folgte ein sehr emotionaler Teil, da hier verschiedene frei agierende Journalisten mit ihren Tatsachenberichten von den Putschversuchen seit 2017 berichteten. Dazu wurden von ihnen gefertigte Filmaufnahmen eingespielt. Die Bilder zeigten, wie vermummte Contras, mit Gewehren bewaffnet, auf mehreren Motorrädern auf Chavisten und andere für die Regierung demonstrierende Bürger zufuhren und mit Molotowcocktails warfen. Daß in diesem Zusammenhang bürgerliche Medienvertreter geschützt hinter den vermummten Angreifern ihre Aufnahmen machten, war deutlich zu erkennen. Die Film- und Fotoaufnahmen der freien Journalisten konnten nur unter Lebensgefahr gemacht werden.

Am 3. Dezember wurde in acht verschiedenen Gruppen sehr intensiv gearbeitet. Es wurden u. a. die Psychologie der Medien, digitale Netzwerke, Kultur in linker Vernetzung, neue Möglichkeiten der Vernetzung, Medien in Kriegszeiten und "Wir sind das Netzwerk" behandelt. Alle Themen waren für sich genommen schon sehr interessant. Ich entschied mich für letzteres, auch deshalb, weil ich hier Anregungen für die sofortige Umsetzung erwartete.

Am späten Nachmittag wurde kurzfristig eine Großdemonstration in Caracas organisiert. Hintergrund war der tags zuvor vom kolumbianischen Präsidenten mit weiteren 16 Staaten und den USA einberufene militärische Rat, der weitere Maßnahmen gegen Venezuela beschließen sollte. Wer eine solche Manifestation großer Teile der Bevölkerung zur Unterstützung ihrer Regierung in Venezuela nicht erlebt hat, war nicht in Venezuela. Sicherlich ist hier die besondere Mentalität der Lateinamerikaner mit zu berücksichtigen, aber wer eine solche Verbundenheit zwischen Regierung und Volk miterlebt, versteht, warum in Venezuela bisher jeder Putschversuch gescheitert ist. Meine eigenen Video- und Fotoaufnahmen belegen, wie entschlossen man ist, die Errungenschaften gegen jegliche Angriffe von innen oder außen zu verteidigen.

Daß ich am Rande des Kongresses an weiteren wichtigen Gesprächen teilnehmen konnte, war unserem Freund Dr. Carolus Wimmer zu verdanken. Als Aktivist im COSI (Komitee für internationale Solidarität und Friedenskampf ), welches 1971 gegründet worden ist, hat er eine große Bedeutung. Es ist die einzige Friedensorganisation in Venezuela, und es gilt auch hier, über die Landesgrenzen hinaus die solidarische Zusammenarbeit weiter auszubauen. Ebenso konnte ich mit Freude einige der vielen Errungenschaften seit der Zeit Hugo Chávez' bis heute live erleben. So wurden 2,9 Millionen Sozialwohnungen gebaut, die voll ausgestattet den Familien (ca. 77 m² für 4 Personen) kostenlos übergeben wurden. Bus- und U-Bahn-Fahrten sind ebenso gratis wie die medizinische Versorgung, der Besuch staatlicher Schulen oder das Studium.

Am letzten Tag wurde dann für alle Teilnehmer des Kongresses die Auswertung am Regierungssitz mit Präsident Maduro vorgenommen. Unter freiem Himmel wies der Präsident in seiner Rede auf die große Bedeutung der internationalen Solidarität hin und darauf, daß die Schaffung einer alternativen Vernetzung unter uns die beste Waffe gegen jegliche Angriffe des Imperialismus ist.

Danach ging es wieder zum Tagungsort ins Hotel Alba, wo der Vizepräsident der PSUV und Präsident des Verfassungskonvents, Diosdado Cabello, im Rahmen einer Kulturveranstaltung den Kongreß offiziell beendete.

Bei diesem kurzen, aber sehr intensiv erlebten Aufenthalt in Venezuela wurden auch viele noch bestehende Probleme sichtbar. In Gesprächen mit Repräsentanten der Regierung und der Bevölkerung wurde nicht nur ihre enge Verbundenheit deutlich - ihnen ist bewußt, daß in der Vergangenheit Fehler gemacht worden sind und man auch künftig nicht davon frei sein wird.

Ich habe die Venezolaner als ein sehr liebevolles und emotionales Volk erlebt, und ich kann sehr gut verstehen, wenn man jenen Linken eine klare Absage erteilt, die da meinen, sie müßten wegen begangener Fehler eine "kritische Solidarität" üben. Da kann ich den Venezolanern nur zustimmen, da jedem Land, jeder Bewegung, welche um Unabhängigkeit kämpft, für Frieden und sozialen Fortschritt eintritt sowie einen antikapitalistischen Kurs einschlägt, die uneingeschränkte Solidarität aller Linken gehören sollte. Jedem sollte bewußt sein, daß beim Aufbau einer neuen fortschrittlichen Gesellschaft immer wieder Fehler vorkommen können. Das ist auch der Tatsache geschuldet, daß dieser Aufbau ständig auf vielfältigste Art durch jene Kräfte gestört wird, die ihren Einfluß zu verlieren drohen.

Kämpfen wir gemeinsam solidarisch mit unseren Freunden, den Venezolanern, mit Kubanern, Chilenen, Bolivianern und allen Völkern, die für ihre Unabhängigkeit, für sozialen Fortschritt und Frieden eintreten!

Carsten Hanke
Rostock

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Zeichen der Schwäche

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Näher am heißen Krieg

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Der Frieden im Baltikum wird durch die NATO bedroht

Der erste Außenminister Lettlands nach der Trennung von der Sowjetunion 1991, Janis Jurkans, erklärte in einem Interview im März 2019: "Lettland bestimmt nicht die Politik, Lettland befolgt, was seitens der EU und vor allem den USA vorgeschrieben wird. Die baltischen Staaten sind willfährige Erfüllungsgehilfen der Amerikaner, militärisch, ökonomisch, einfach in jeder Hinsicht." Das ist das wichtigste Charakteristikum für die Realitäten in diesem geographischen Raum.

Das Interesse der NATO- und EU-Mächte an engen Beziehungen zu dieser Ländergruppe ergibt sich nicht aus der Größe der Länder beziehungsweise ihrem (wirtschaftlichen) Potential. Vielmehr wird es durch die geographische Lage und durch die Möglichkeiten bestimmt, diese Länder als Störfaktor gegen friedliche Bedingungen der Zusammenarbeit und Verständigung in der Region und im nachbarschaftlichen Verhältnis zu Rußland einzusetzen.

Dabei mischen sich die NATO und die EU aktiv auch in die Gestaltung der inneren Verhältnisse ein. Diese Einmischung läßt die antirussische Politik dieser Mächte als eine Politik erscheinen, die den Interessen der baltischen Völker entspricht. Ihr Agieren in diesem Raum kann man in einem Wort zusammenfassen: Gewinnmaximierung! Die wirtschaftliche und politische Schwäche der Länder nutzend, werden deren Wirtschaft und Politik, Kultur und Bildung, Wahlen und Medien, Steuer- und Finanzwesen sowie Rechtsnormen der Absicherung des materiellen und politischen Gewinns im Sinne der antirussischen Konzeption untergeordnet.

Die Verschleierung der eigenen Ziele dient der Angsterzeugung
Im Mittelpunkt steht die Erzeugung von "Angst der Balten vor den Russen". Dies läßt sich sowohl innen- als auch außenpolitisch im Sinne der Ziele der NATO- und EU-Mächte sowohl zur Kontrolle der Länder und der Ostsee als auch gegen Rußland instrumentalisieren. Es wird ein Feindbild Rußland gezeichnet, wonach der "Feind" so stark sei, daß "Verteidigung" allein nicht reiche. Man müsse angreifen, um sich verteidigen zu können. Es wird eine solche politische, geistige und psychologische Atmosphäre erzeugt, die das Akzeptieren eines Krieges zur Abwendung der vermeintlichen Gefahr einschließt.

Dazu hat die NATO seit 2008 eine militärische Infrastruktur und ein Netzwerk von Zentren aufgebaut, die über ganz Europa verteilt sind. Sie verfügen über einen integrierten Ansatz, der Bildung, Technologien der Massenmanipulation, Propaganda, Wissenschaft und Sicherheit miteinander verbindet. Die NATO verfügt über 19 funktionsfähige derartige Zentren in Osteuropa, darunter auch in Lettland, Litauen und Estland. Drei weitere sollen noch eingerichtet werden.

Das Strategische Kommunikationszentrum der NATO ist eine der neuen Strukturen. Im Januar 2014 unter Beteiligung Deutschlands gegründet, hat es seinen Sitz in Riga. Es befaßt sich mit öffentlicher Diplomatie, Zusammenarbeit mit den Medien, zivil-militärischen Beziehungen, Informationseinsätzen und psychologischen Operationen.

Das NATO-Kompetenzzentrum für kooperative Cyber-Verteidigung in Tallinn, der Hauptstadt von Estland, war die erste derartige Organisation (2008) im postsowjetischen Raum in den baltischen Staaten. Mit diesem Zentrum ist das Erscheinen des sogenannten Tallinner Cyberkriegshandbuchs verbunden. Es gilt als Regelwerk für das Handeln im Cyberspace im Falle eines Konfliktes mit Rußland. 2012 wurde in Vilnius das NATO-Exzellenzzentrum für Energiesicherheit gegründet. Seine Materialien sind Anleitung für den Energiekrieg mit Rußland.

In den "Zentren der strategischen Kommunikation" werden "geeignete Methoden eines Wahrnehmungsmanagements" zur "Kontrolle der Narrative" entwickelt. Ihre Arbeit und deren Ergebnisse werden, unter Einbeziehung der Medien, zur gezielten Desinformation der Bevölkerung dieser Länder und der internationalen Öffentlichkeit gegen die russische "Desinformation" eingesetzt.

Die Einwirkung auf die innere Stabilität der Länder und zur Pflege der Russophobie erfolgt über das systematische Schüren von innenpolitischen Gegensätzen zwischen verschiedenen Nationalitäten, besonders gerichtet gegen die russischsprachigen Bevölkerungsteile. Weiterhin wird die sogenannte Grenzfrage als ständiges Motiv eingesetzt. Und schließlich ist die Verfälschung der Geschichte dieser Länder und besonders der Zeit der Sowjetmacht ein bevorzugtes Feld der propagandistischen Beeinflussung der Menschen.

Die westliche Seite braucht diese Atmosphäre der Angst und der darauf beruhenden Instabilität zur Rechtfertigung ihrer rußlandfeindlichen Politik. Die Regierenden brauchen sie, um ihre reaktionäre Politik zur Herrschafts- und Systemsicherung zu rechtfertigen. Für beide ist die Angst ein Rohstoff, aus dem sich so ziemlich alle Gefahren formen lassen, die ihre nationalistisch begründeten Interessen und ihre reaktionäre Politik nach innen und nach außen verdecken. Dazu werden sowohl die Politik als auch die Medien eingesetzt.

Baltikum wird zum Aufmarschgebiet der NATO gegen Rußland
Besonders nach der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO und in die EU hat der Westen gezeigt, daß er entschlossen ist, diesen geographischen Abschnitt an den westlichen Grenzen Rußlands weiter auszubauen und aktiv im Sinne seiner geopolitischen Ziele einzusetzen. Der Charakter der genannten Maßnahmen wie auch die unmittelbar militärpolitischen Schritte zeigen, daß seine Politik gegenüber Rußland zunehmend in Richtung einer politischen und militärischen Konfrontation degeneriert. Für die Ostsee und deren Anlieger, aber auch für Europa bedeutet das zunehmende Militarisierung und Kriegsgefahr!

Die kürzlich stattgefundene NATO-Tagung in London bestätigte diese strategische Ausrichtung. Die Entwicklung in der Region wird weiter vom Willen der NATO und EU-Mächte bestimmt, zum "Herzland" vorzudringen. Nach der Aufnahme der osteuropäischen und baltischen Länder in die NATO hat der erste Schub intensivierter Militarisierung der Region mit dem "Readiness Action Plan" 2014 begonnen. Die Region wurde als potentieller Schauplatz einer direkten militärischen Konfrontation behandelt.

Darüber hinaus wurde die "NATO Response Force" von 13.000 auf 40.000 Mann aufgestockt. Sie ist die schnelle Eingreiftruppe der NATO und wurde nicht nur aufgestockt, sondern auch umstrukturiert. Mit der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), auch Speerspitze genannt, gibt es innerhalb der Responce Force eine Unterstruktur, die noch schneller einsatzfähig sein soll. Zur Erleichterung ihrer Verlegung gibt es in den Einsatzländern noch die NATO Force Integration Units. Die Präsenz der NATO in der Ostsee wurde erhöht, die Nachschubtruppen vergrößert und deren Verlegezeiten verringert. Auf dem NATO-Gipfel 2016 folgte die "Enhanced Forward Presence" (Verstärkte Vornepräsenz). Mit diesem Programm wurde die Präsenz der NATO an ihrer Ostflanke zusätzlich verstärkt. Mit jeweils einem Bataillon in Polen und den drei baltischen Staaten sind jetzt insgesamt 4000 NATO-Soldaten an der Grenze zu Rußland stationiert.

Auf dem NATO-Gipfel 2018 wurde die "Initiative zur Reaktionsfähigkeit", auch "4 x 30" genannt, ins Leben gerufen. Im Jahr 2020 sollen 30 Flugzeugstaffeln, 30 Kriegsschiffe und 30 Infanterie-Bataillone (bis zu 36.000 Soldaten) plus Unterstützungskräfte in einer "Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen und weniger" versetzt werden. Außerdem wurde die Einrichtung eines Logistikkommandos in Ulm beschlossen, das schnelle Transporte "nach, durch und aus Europa" organisieren soll. Die NATO baut also ihre Positionen in Osteuropa und an der Grenze zu Rußland systematisch quantitativ und qualitativ aus. Man geht schrittweise, aber zielgerichtet vor. Dabei verschiebt sich der Fokus von der Osterweiterung auf die Ostsicherung. Die Ausdehnung in Osteuropa wird als feste Plattform gegen Rußland ausgebaut.

Es ist aber zu befürchten, daß dies nur eine Hauptetappe sein soll. Denn damit wird der Halbkreis um Rußland zwar vom Baltikum über Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien und bis ins Schwarze Meer (Bulgarien) um 1000 Kilometer nach Osten verlegt und gesichert. Aber man ist nicht durchgehend bis an die Grenze Russlands herangerückt! Der Weg ins "Herzland" ist noch immer "verbarrikadiert". Dazwischen liegen noch Weißrußland, die Ukraine, Moldau (mit Transnistrien) und der Schwarze-Meer-Anrainer Georgien. Sozusagen die innere Wand des doppelwandigen Halbkreises um Rußland.

Das weist auch auf den Platz und die Bedeutung der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Ukraine und die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken hin.

Das Ziel bleibt, die Konkurrenz steigt, die Gefahren wachsen
Die bisherigen Ergebnisse der Osterweiterung der NATO und der EU zeigen, daß der Abgrund zwischen den Erfordernissen des Friedens auf der Grundlage der gleichen Sicherheit und der gleichberechtigten Zusammenarbeit der Staaten und Völker bedrohliche Ausmaße annimmt.

In diesem Prozeß spielt Deutschland eine kontinuierlich wachsende Rolle. Aus einem mitbestimmenden Faktor im europäischen und euro-atlantischen Raum ist es immer mehr zu einem bestimmenden Subjekt geworden. Schon in den 90er Jahren wurde diese Zielstellung in dem Schäuble-Lamers-Papier "Überlegungen zur europäischen Politik" der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 1. September 1994 deutlich ausgesprochen. Dort heißt es, daß ohne Weiterentwicklung und Ausdehnung der europäischen Integration "Deutschland aufgefordert werden, oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein [könnte], die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in traditioneller Weise zu bewerkstelligen".

Sowohl für die Politik der EU als auch der NATO mußte in der Nach-Jelzin-Ära das Schreckgespenst der Bedrohung aus dem Osten herhalten. Die Bundeswehr wurde strategisch und materiell auf dieses Ziel ausgerichtet. Der militärische Faktor ist zu einem Standardinstrument zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele geworden.

Die am 20. Juli 2018 erlassene neue Konzeption der Bundeswehr besagt: Übergreifendes Ziel ist das Entwickeln und Bereitstellen einer einsatzbereiten, bündnisfähigen und flexiblen Bundeswehr, die in einem unbeständigen Sicherheitsumfeld Fähigkeiten zur gleichrangigen Wahrnehmung aller Aufgaben zum Schutze Deutschlands besitzt.

In der Konzeption von 2013 hieß es noch deutlicher: "Die Befähigung zum Kampf als höchster Anspruch an Personal, Material und Ausbildung ist der Maßstab für die Einsatzbereitschaft." Neben dem Ausbau der anderen Felder aktiver Teilnahme soll 2025 eine erste deutsche schwere Brigade (5000 Soldaten) in die NATO eingebracht werden.

Diese Planungen und Handlungen werden in einer Gesamtlage durchgeführt, von der die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2019 sagte, daß "die Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte" das prägende Merkmal sei. Dafür müßten sich Deutschland und die NATO rüsten, ohne dabei die globalen Interventionsansprüche fallenzulassen.

In Fortsetzung dieses Konzepts erklärte sie im November 2019 als EU-Kommissionspräsidentin: "Europa muß auch die Sprache der Macht lernen." Und sie präzisierte: "Das heißt zum einen, eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten - zum Beispiel in der Sicherheitspolitik." Wenn kapitalistische Großmächte ihre "Muskeln" spielen lassen, ist es um eine Friedensperspektive jedoch schlecht bestellt.

Prof. Dr. Anton Latzo
Langerwisch

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Hoovers Kesseltreiben gegen Hemingway

Sensationelle Enthüllungen darüber, wie J. Edgar Hoover, der Chef des Bundesuntersuchungsamtes FBI, von Oktober 1942 bis Januar 1961 die Fährtenhunde seiner politischen Polizei beharrlich auf der Spur des amerikanischen Nobelpreisträgers Ernest Hemingway hielt, sollen demnächst in der Zeitschrift "The New York Review of Books" gedruckt vorliegen.

Verfasser des Berichts, dessen authentischen Charakter auch in den Vereinigten Staaten niemand bestreitet, ist der Hemingway-Forscher Jeffrey Meyers, Professor für Englische Sprache an der University of Colorado. Dem 43jährigen Literaturwissenschaftler war es möglich, Einblick in einen Teil der 124 Seiten umfassenden Beschattungsakte des FBI zu nehmen, deren Inhalt und Form wertvolle Aufschlüsse über den Stil "amerikanischer Kulturpolitik" während des zur Debatte stehenden Zeitraumes liefern.

Allerdings lüftete das FBI das Visier nur zur Hälfte. 15 Blätter des angeblich wegen "Ablaufs der Aufbewahrungsfrist" freigegebenen Schnüffler-Reports waren dem Vorgang "aus Gründen nationaler Sicherheit" entnommen und 14 weitere Seiten fast vollständig gelöscht worden, bevor man Meyers die Kopien gegen Gebühr ausgehändigt hatte. Schließlich, so ließ man den Universitätsmann wissen, seien auch mehrere Passagen wegen des inzwischen zu stark vergilbten Papiers leider nicht mehr reproduzierbar gewesen. Dennoch - was da ans Licht gekommen ist, mag dem Leser auch so ein überschaubares Bild vermitteln.

Im August 1942, erfährt man, soll sich der in Kuba lebende große nordamerikanische Romancier eine Idee Spruille Bradens, des ihm befreundeten USA-Botschafters in Havanna, zu eigen gemacht haben, an der Überwachung faschistischer Kreise auf der Karibikinsel teilzunehmen. Wie es heißt, baute Hemingway binnen weniger Wochen eine von ihm als "Crook Factory" oder "Hochstaplerfirma" bezeichnete 26köpfige Gruppe auf, die sich überwiegend aus spanischen Republikanern zusammensetzte, denen Kuba nach der Errichtung des Francoregimes in ihrer Heimat zum Zufluchtsland geworden war. Der Schriftsteller, so weiter, wählte dabei vor allem Personen aus, die ihm bereits seit seiner Reportertätigkeit an den Fronten des Spanienkrieges bekannt gewesen waren.

Während sich Hemingway mit Eifer an die Sammlung von Informationen über Aktivitäten Tausender Franco und damit die faschistischen Achsenmächte unterstützender Spanier machte, die damals in Kuba ihr Unwesen trieben, befand er sich selbst bereits im Visier des wohl mächtigsten Geheimpolizisten, den die Vereinigten Staaten je besessen haben: Der fanatische Antikommunist J. Edgar Hoover, dem das FBI schließlich mehr als vier Jahrzehnte gehorchen sollte, mochte keine Zusammenarbeit mit Leuten, die sich unmißverständlich zur Einheitsfront gegen Hitler, Mussolini und Franco bekannten.

Obwohl Botschafter Braden später in seinem Buch "Diplomaten und Demagogen" Hemingway ausdrücklich bescheinigte, "eine exzellente Organisation aufgezogen" zu haben, die den großspurigen Falangisten vor Augen führte, daß jemand da war, der ihre Schritte kontrollierte, leitete Hoover Maßnahmen ein, um die nur etwa acht Monate bestehende "Crook Factory" in Mißkredit zu bringen. Zugleich sorgte er für die Ablösung der "Amateur-Crew" durch professionelle FBI-Agenten. Unter Hinweis darauf, daß Hemingways Handeln von zunehmender Feindseligkeit gegenüber Kubas damaliger Regierung und der USA-Bundesuntersuchungsbehörde geprägt sei, befahl der FBI-Direktor Anfang 1943 seinem Residenten in Havanna - dem Botschaftsattaché für Rechtsfragen Raymond Leddy -, zur totalen Brunnenvergiftung überzugehen. "Jede beliebige Information, die Hemingways Unzuverlässigkeit als Nachrichtenübermittler ausweist, sollten sie Botschafter Braden auf diskrete Weise zur Kenntnis bringen", instruierte Hoover seinen Mitarbeiter Leddy.

Während Hoover, die "Bulldogge", wie der auch von Regierungsmitgliedern gefürchtete FBI-Chef in Washington allgemein genannt wurde, das aus seiner Sicht Erforderliche unternahm, um Hemingways Ruf zu demontieren, ließ er zugleich sorgfältig zusammentragen, was über dessen "Tätigkeit zugunsten des loyalistischen Spaniens" in Erfahrung zu bringen war. Unter dem Datum des 27. April 1943 wurden den FBI-Akten neun eng beschriebene Seiten beigefügt, auf denen Detail für Detail vermerkt war, was Hemingway im einzelnen zur Unterstützung des republikanischen Sanitätswesens veranlaßt hatte. Bereitstellung von Ambulanzen für Verwundete, Errichtung von Flüchtlingsasylen, Sicherung medizinischer Hilfe für Kranke - so lauteten die schwerwiegendsten "Anklagepunkte" in Hoovers geheimem Dossier. Unter der Rubrik "Mögliche Verbindungen zur Kommunistischen Partei" hieß es an anderer Stelle ohne jede Hinzufügung die Hypothese tragender Beweisargumente: "Im Herbst 1940 wurde Hemingways Name der Liste mit den Namen jener Personen hinzugefügt, von denen anzunehmen war, daß sie mit kommunistischer Aktivität befaßt seien."

Nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition - besonders mit dem Einsetzen des von der Truman-Administration entfesselten kalten Krieges und der daraus resultierenden antisowjetischen Hysterie - verstärkte das FBI Hemingways Beschattung. Der 1954 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Literat wurde von nun an Tag und Nacht im Auge behalten. Man registrierte jeden seiner Kontakte, jede Äußerung, die Hemingway öffentlich tat. Hoover ließ seine in Zeitschriften erscheinenden Beiträge, ja sogar von ihm an Redaktionen gerichtete Briefe in die Akte aufnehmen. Als der schwerkranke Schriftsteller wenige Monate vor seinem Tode in die Mayo-Klinik von Minneapolis eingeliefert wurde, folgte ihm auch dorthin "unauffällig" ein Sonderagent des FBI.

Hier endet das geheimpolizeiliche Dossier über einen der berühmtesten Männer Amerikas. Nicht einmal ihm war es erspart geblieben, so behandelt zu werden wie Millionen unbescholtene USA-Bürger, die in den Karteien des FBI nur deshalb als "potentiell gefährlich" geführt werden, weil sie nach offizieller Mutmaßung der stereotypen Norm des politisch manipulierten und dadurch entmündigten Untertanen imperialistischer Macht nicht zu entsprechen scheinen. Übrigens hielten Hoovers Nachfolger an der Spitze des FBI in bezug auf die Gründe der zwar lückenhaften, deshalb aber nicht weniger erstaunlichen Enthüllungen mit ihrer Meinung keineswegs hinter dem Berge. Zu der im polizeilichen "Vorgang" erwähnten Vermutung, Hemingway habe "den Kommunisten nahegestanden", erklärte FBI-Pressesprecher Cal Shishido lakonisch: "Ja: vielleicht wurde gerade deshalb beschlossen, die Akte jetzt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Doch ich kenne niemanden beim Bundesuntersuchungsamt, der im Augenblick dazu geneigt wäre, diese Angelegenheit zu kommentieren."

Die von Anfang an durchschimmernde Absicht des politischen Rufmordes wird damit vollends transparent. Doch das Unterfangen erweist sich lediglich als Rohrkrepierer, als eindeutige Ehrenerklärung für den Geschmähten.

Klaus Steiniger, 1983
(geringfügig gekürzt, RF-Archiv)

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Die VVN-BdA ist ein Seismograph der Gesellschaft

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Antifachismus und "Linksextremismus"

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Handlanger
Antifaschismus als Feindbild - nun auch der Finanzämter?

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Widerspruch zum Märchen vom ostdeutschen Antisemitismus

Wieder einmal bemüht ein Autor (Michael Brumlik in einem Beitrag für die "Blätter für deutsche und internationale Politik") die Legende vom ostdeutschen Antisemitismus. Das Resultat seiner Untersuchung ist eine herbe Enttäuschung. Mit diesem Beitrag desavouiert Brumlik seinen Ruf als renommierter Professor für Erziehungswissenschaften. Methodisch folgt er einem allzu bekannten Strickmuster: Man stellt eine "steile" These auf und versucht, sie mit willkürlich ausgesuchten Zitaten zu untermauern. Das allein erfüllt schon den Tatbestand des populistischen Herangehens. Da es für jede noch so aberwitzige These scheinbare Belege gibt, kann man eben alles oder eben auch nichts "beweisen". Würde jemand behaupten, die DDR habe antijüdischen Haß, wo immer er auftrat, bekämpft, würde man zahlreiche Hinweise finden, die zu einem völlig entgegengesetzten Urteil führen könnten. Da es aber Brumlik erkennbar nicht um Erkenntnis, sondern um Politik und Ideologie geht, benutzt er den Hammer, nicht das Florett. Die aus der Studie des Berliner Historikers Harry Weibel entnommene Zahl von ca. 9000 neonazistischen, rassistischen und antisemitischen Propaganda- und Gewalttaten wird genausowenig wie auch die anderen von ihm genannten Vergehen konkreten Zeiträumen zugeordnet. Da Weibel, wie Brumlik schreibt, aus "streng geheimen" Quellen des Ministeriums der Staatssicherheit (MfS) schöpft (seit wann zugänglich?), hätte Brumlik zumindest die Frage aufwerfen müssen, ob diese Straftaten vom Staat nicht nur, wie er schreibt, registriert, sondern auch verfolgt und verurteilt wurden. Das aber interessiert ihn nicht, weil es ihm darum geht, dem Narrativ der in Politik, Bildung und Wissenschaft weit verbreiten Formel vom "verordneten" Antifaschismus ein weiteres Update zu verpassen.

Ludwig Elm, Historiker aus Jena, hat sich zu diesem Vorwurf wie folgt geäußert: "Die fälschende und beleidigende Diffamierung als 'verordnet' täuschte über das Hauptanliegen und fügte sich in den anmaßenden und selbstgerechten Sound des Umgangs mit der DDR ein.

Als Vorwand wurden unbestreitbar autoritäre sowie parteiisch überhöhte und einseitige Tendenzen in der Geschichts- und Gedenkpolitik der DDR-Führung genannt. Sie hoben aber zu keiner Zeit auf, daß in der DDR von ihrem Ursprung und Beginn sowie im Gegensatz zur BRD antifaschistische Widerstandskämpfer und weitere Verfolgte der Nazi-Diktatur führende Positionen auf allen politischen Ebenen erlangten. Ihre Erfahrungen und Schlußfolgerungen gingen umfassend in Politik, Bildung, Wissenschaft, Kunst und Literatur sowie Medien ein." Ausdrücklich hinzufügen will ich das Filmschaffen und das Theaterleben. Besonders vom ersteren profitieren bis auf den heutigen Tag die Zuschauer des öffentlichrechtlichen Fernsehangebots.

Brumlik muß sich diese Einschätzung nicht zu eigen machen, aber er hätte sich wenigstens mit ihr auseinandersetzen müssen, wenn er auf Seriosität seiner Untersuchung wirklich Wert gelegt hätte. Die Ausgangssituation, die Gründung der DDR und ihre gesellschaftliche Entwicklung unter den ideologischen und ökonomischen Bedingungen im kalten Krieg, ignoriert Brumlik einfach. Andernfalls hätte er erwähnen müssen, daß faschistischer Ungeist nicht mit Kapitulation bzw. Befreiung ausgestorben sein konnte, weder im "Westen" noch im "Osten". Warum aber ignoriert er diese Tatsachen? Warum vermeidet er jedweden statistisch tragfähigen Vergleich über politisch-persönliche Kontinuitäten nach 1945 in beiden deutschen Staaten? Die Antwort fällt nicht schwer: Brumlik arbeitet sich an der eingangs genannten These ab. Zu diesem Zweck baut er eine ehemalige Sportlerin aus der DDR zur Kronzeugin auf: Ines Geipel. Sie trumpft mit einem auf den ersten Blick imponierenden Zahlenwerk auf: 80 Prozent der Lehrer seien ehemalige Mitglieder der NSDAP gewesen, 45 Prozent der in ihrem Heimatland wirkenden Ärzte wie auch 75 Prozent der Hochschullehrer würden gleichfalls dieser faschistischen Partei angehört haben. Was man schnell überlesen kann, sind fünf schlichte Worte: zu Beginn der DDR! Wollte er, wie Bertolt Brecht sarkastisch aber letztlich doch parteiisch formulierte, ein neues Volk backen lassen?

Es gibt einen sicherlich auch Brumlik bekannten Satz von Konrad Adenauer, der die Integration alter Nazifunktionäre in seine Regierung mit dem Satz begründet hat: "Wenn man kein sauberes Wasser hat, muß man eben schmutziges Wasser nehmen." Vor dieser Wahl standen auch diejenigen, die aus dem faschistischen Desaster einen neuen Staat aufbauen wollten. Wie sind sie vorgegangen? Sie haben diejenigen, die sich schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben zuschulden kommen lassen, verurteilt. Aber sie haben - und das ist ein Kritikpunkt von Brumlik - die Mitläufer mit dem Rezept einer Gehirnwäsche in Antifaschisten verwandelt. Das ist ein Vorwurf, den ich nicht einfach beiseite schieben will, weshalb ich den zu Beginn meines Widerspruchs erwähnten Aspekt aufgreife. In der Definition des Faschismus, die in der DDR dominierte, werden Aspekte der Hegemonie, der Identifizierung, also der massenhaften Zustimmung breiter Teile der Bevölkerung ausgeblendet. Die sich daraus ergebende "Schönfärberei" ließ die ideologischen Konflikte, die es in der DDR ja gab, bis an ihr Ende zur Unendlichkeit verkümmern, mit der Weigerung, daß postfaschistische Aktivitäten nicht bzw. nicht genügend in den öffentlichen Diskurs der DDR-Gesellschaft gestellt wurden. Hätte sich Brumlik allein auf diesen Aspekt bezogen, hätte ich seinem Beitrag vielleicht positive Aspekte abgewinnen können.

Aber genau das war gar nicht das Anliegen des Autors. Bei ihm fehlt jeder Hinweis auf die DDR-Gründerjahre, auf den Kampf um eine antifaschistische Grundierung eines Staats mit hohem Bildungsanspruch. Es fehlt jeder Hinweis auf eine Politik, die das Bildungsprivileg nicht zuletzt durch die Gründung der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten gebrochen hat. Geradezu peinlich finde ich, mit welchen Worten Brumlik die Integration von NSDAP-Mitläufern in den DDR-Staat kritisiert. Über Juristen, die ab 1949 auf Lehrstühlen, in der Rechtsprechung, der Verwaltung, den Sicherheitsorganen und der Politik ihre nunmehr postfaschistische Karrieren unbehelligt fortsetzen durften, will sich Brumlik nicht auslassen. Wie sollte er auch? Diese gab es nämlich zu Tausenden nur in der Bundesrepublik. Daß "höchste Funktionäre der FDJ aus Führungskreisen der HJ" stammten, dient ihm, egal ob es stimmt oder nicht, als Argumentations-Strohhalm. Ehemalige Nazi-Funktionäre vermag er nicht auszumachen. Diese bevölkerten indes nicht die SED-Führung, statt dessen aber die erste Adenauer-Regierung.

Brumlik stellt sich hinter Ines Geipel, indem er ihr wissenschaftliche Kompetenz zuweist und sie sagen läßt, daß ihr Geburtsland eine Synthese "von eingekapseltem Hitler und neuer Diktatur" ist. Daß Ines Geipel (inzwischen Liebling diverser Talkshows) mit ausdrücklicher Zustimmung von Brumlik behaupten darf, daß die DDR in "Wissenschaft, Bildung und Öffentlichkeit die Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden weitgehend ausblendet", läßt nur einen Schluß zu: Hier führen bei Ines Geipel nur antikommunistischer Haß und bei Micha Brumlik ideologische Voreingenommenheit die Feder. Diese Grundhaltung krönt Brumlik mit dem Satz, Antisemitismus sei der Sozialismus "eines diktatorischen Staatssozialismus namens DDR". Vergessen wir also die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und alle vorherigen!

Eine andere Behauptung von Brumlik: "Was die Aufarbeitung der eigenen NS-Geschichte anbelangt, weist die ehemalige DDR im Vergleich zur alten Bundesrepublik eine erhebliches Manko auf ...", ist Stoff für Satire. Ich verweise noch mal auf die Sätze von Ludwig Elm, verzichte darauf, Namen von einzelnen Künstlern zu nennen und begnüge mich mit Friedrich von Schiller: "Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen." Sie alle belegen das absolute Gegenteil.

Kurzum: Es ist mir schleierhaft, wie der Mitherausgeber der "Blätter" es geschafft hat, einen derart flachen Beitrag mit (Un-)Kenntnis seiner Kollegen in die Druckmaschine zu befördern. Meine Hoffnung ist, daß sein Machwerk weder den wissenschaftlichen Standard der Geschichts- noch den der Erziehungswissenschaften in Deutschland widerspiegelt.

Hans Schoenefeldt

Micha Brumlik: Ostdeutscher Antisemitismus - Wie braun war die DDR? In "Blätter für deutsche und internationale Politik", Heft 1/2020, S. 114 ff.


Vertiefendes, Ergänzendes und Weiterführendes findet sich u. a. in

• Das Thema "Antifaschismus" in Filmen der DDR für Kino und Fernsehen.
Auswahlbibliographie 1946-1984. Sonderheft "Podium und Werkstatt", Potsdam 1985, 138 S.

• Detlef Kannapin: Antifaschismus im Film der DDR.
DEFA-Spielfilme 1945-1955/56. PapyRossa-Verlag, Köln 1997, 192 S.

• Matthias Krauß: Völkermord statt Holocaust.
Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR.
Anderbeck-Verlag, Anderbeck 2007, 204 S.

• Detlef Joseph: Die DDR und die Juden. Das Neue Berlin,
Berlin 2010, 400 S. (mit der verdienstvollen Bibliographie Renate Kirchners, die allein über tausend Titel nachweist, welche in der DDR zum Thema erschienen sind)

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Dresden 1945

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Alternativen zum Kapitalismus sind notwendiger denn je

Angesichts der bekannten ökonomischen, politischen und kulturell-geistigen Entwicklungen in Deutschland, in Europa und weltweit braucht die Linkspartei gerade in der BRD eine Strategie, die Alternativen zu Kriegen, zu Umweltzerstörung und zu autoritären, faschistoiden Herrschaftsformen entwickelt. Das ist um so notwendiger, je wahrscheinlicher die gegenwärtige neoliberale Gesellschaft zu neuen allseitigen Krisen, Kriegen und Zusammenbrüchen führen wird. "Mit der Auflösung der 'sozialen Marktwirtschaft' löst sich auch der Kapitalismus in Barbarei auf." (Jürgen Kuczynski) Wenn da die Linke nicht noch rechtzeitig viele Menschen für eine Alternative mobilisieren kann, verfehlt sie ihre Aufgabe. Und weil die wichtigsten Ursachen für alle diese Gefahren im Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung liegen, muß die linke Strategie nicht nur kapitalismuskritisch, sondern antikapitalistisch, auf die Einschränkung, Zurückdrängung und Überwindung der eigentumsbasierten Macht der jetzt Herrschenden gerichtet sein. Das wäre auch im Sinne der nach wie vor richtigen Zielstellung des geltenden Parteiprogramms. Gegenwärtig liegen praktische Parteipolitik und Programmatik oft zu weit auseinander. Tatsache ist aber, daß bereits im Einsatz gegen akute verheerende soziale und politische Zustände tatsächliche Alternativen und reale Utopien erkennbar sein müssen. Da geht es sowohl um Materielles als auch um Hoffnung, um die Sehnsucht im Menschen nach Würde, Anerkennung, Solidarität. Das Ziel einer nichtkapitalistischen Gesellschaft darf unter dem Druck der Herrschenden und ihrer "öffentlichen Meinung" nicht aufgegeben, nicht verdrängt, verschwiegen, nicht auf Sonntagsreden für die Basis beschränkt werden.

Zu alternativen Strategien gehört auch, gute wie schlechte Erfahrungen der DDR, die zunehmend aufgearbeitet werden, mit dem Blick auf Wesentliches aufzunehmen und nicht den antikommunistischen Zeitgeist zu bedienen. Das ist für unsere lebenswichtigen Ziele kontraproduktiv und nicht mit notwendiger Bündnispolitik zu verwechseln. (Zur Notwendigkeit und zu denkbaren Elementen sozialistischer Alternativen siehe z. B.: K. Steinitz. Warum ist die Diskussion sozialistischer Alternativen gegenwärtig notwendig? Pankower Vorträge, Heft 206, Berlin 2017)

Es wäre schon zu erwarten, daß Führungskräfte der Linkspartei ihre Politik verwissenschaftlichen und Analysen und Schlußfolgerungen aus allen Strömungen zur Kenntnis nehmen und erkennbar damit arbeiten. Analyse als Grundlage von Strategie!

Antikapitalismus, Tagespolitik und Demokratie
Aus der notwendig antikapitalistischen Funktion der Partei ergibt sich, daß ihre Strategie darauf auszurichten ist, daß der tagespolitische Einsatz für die Abwehr akuter Gefahren und für die Verbesserung der unmittelbaren Lebenslage der Erwerbsabhängigen mit der Schwächung der Position der Machthabenden verbunden werden muß. Wo möglich mit ein und demselben Projekt. Zum Beispiel: Kampf gegen Mietwucher auch als Kampf für Vergesellschaftung von Grund und Boden und zur Entmachtung von Immobilienspekulanten. Kampf gegen Aufrüstung, Rüstungsexporte und Kriegsgefahr auch als Kampf für ein Verbot von bestimmten Rüstungsproduktionen, für demokratische Vergesellschaftungen und Umstellung auf zivile bedürfnis- und nicht profitorientierte Produktion. Einsatz der frei werdenden öffentlichen Mittel für Soziales. ("Entwaffnet Rheinmetall!") Ähnlich wäre es mit Bereichen der Pharmaindustrie etc. Da sind gegen die alles fressende Profitwirtschaft viele Initiativen, Bewegungen, selbstbestimmte Organisationen, Spontanabwehr, auch Wut und Aktionsbereitschaft in neuer Qualität und in fast allen Bereichen der Gesellschaft entstanden. Aber gegenwärtig trabt die Linkspartei zu oft den durch die Wirklichkeit erzwungenen Erkenntnissen über den Kapitalismus hinterher.

Die PDL müßte im und mit dem Alltagskampf über die im Kapitalismus wurzelnden Ursachen der Gefahren aufklären. Da könnten Kräfte in grundsätzlicher Übereinstimmung ihrer Interessen gebündelt, Gegenmacht könnte so tatsächlich aufgebaut werden. Marx hat darauf verwiesen, daß Menschen, indem sie zur Änderung der Umstände ihres Lebens tätig werden, sich selbst verändern - und so wieder die Umstände. Dabei ist wichtig, nicht länger die Tatsache zu negieren, daß alle Bemühungen, in die Sekundärverteilung einzugreifen oder gegen Details der Entwicklung vorzugehen, den neoliberalen und militaristischen Trend der Entwicklung nicht aufhalten konnten, und daß der Kampf nun auch an die Wurzeln gehen muß. Und zwar schon, um die gegenwärtig giftigsten Wucherungen abzuschneiden. Das heißt, die Linkspartei muß die marxistische Erkenntnis von Basis und Überbau für die aktuellen Verhältnisse konkret analysieren. Dem Wissen, daß - im Neoliberalismus mehr denn je - die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse, einschließlich Lebensweise und Politik, letzten Endes von den Eigentums- und daraus abgeleiteten Machtpotentialen beherrscht werden, ist nicht mehr auszuweichen. Und diese Verhältnisse werden ständig reproduziert. Eine Orientierung, daß nun wieder wie im Fordismus, also bei kapitalistischen Grundstrukturen, ein Primat der Politik über die Ökonomie erlangt werden könne/müßte, geht aus mehreren Gründen fehl.

Für eine einheitlich kapitalismuskritische-antikapitalistische Strategie wäre eine Konfliktlinie, eine kämpferische klassenpolitische Grundhaltung der Linkspartei notwendig. Es wäre nicht vorrangig auf das Mitmachen im ausgehöhlten, marktangepaßten, vermarkteten Parlamentarismus hinzuarbeiten. Und zum Dogma verkommene Orientierungen auf ein Mitregieren der Linkspartei helfen nicht, ihre spezifische Funktion in der Gesellschaft zu erfüllen. Dann wird bereits im Strategischen verkannt, daß der Staat nicht nur ein Feld der Klassenauseinandersetzung, sondern vor allem ein Machtinstrument der Herrschenden ist. Auch hierzu gibt es aufgearbeitete Erfahrungen, historische Analysen, zuverlässige Verallgemeinerungen und Hinweise auf Sinn, Gefahren und denkbare Notwendigkeiten, denen sich Politiker stellen müßten.

Da wäre in Auseinandersetzung mit dem Klassenwesen des Staates, inner- und außerhalb bestehender Strukturen, mit neuen Inhalten auch in neuen Formen Politik zu machen. Es ginge darum, bürgerlich-demokratische Errungenschaften gegen rechts zu verteidigen und dabei in selbstermächtigenden, basisdemokratischen, vielleicht auch in rätedemokratischen Richtungen, Demokratie neu zu erfinden und fortzuentwickeln, z. B. Zukunfts-, Wirtschafts-, Umwelträte, Gesetzesinitiativrecht für Gewerkschaften. Die außerparlamentarische Wirklichkeit bringt hier schon einiges hervor, was in die Strategie einer bewegungsorientierten PDL gehört. Demokratieentwicklung im täglichen Kampf mit antikapitalistischer Orientierung zu diskutieren, mehrheitsfähig zu machen und in verschiedenen Bereichen zu verbinden, wäre eine Aufgabe der Linken.

Insgesamt wäre in diesem Sinne eine längerfristig angelegte, eine daraus abgeleitete mittelfristige und eine Strategie zu entwickeln, die auf gegenwärtig wichtigste Kettenglieder oder Projekte orientiert. Hiervon sind jeweilige Programme für Wahlen zu unterscheiden, die selbstverständlich in die Richtung der längerfristigen Politik gehen müssen.

Zur Rolle der Eigentumsfrage in der Strategie der Linkspartei
Es ergibt sich, daß eine sozialistische Partei der Eigentumsfrage, der nach Vergesellschaftung, darunter nach Verstaatlichung machtgebenden privatkapitalistischen Großeigentums und seiner demokratischen, bedürfnis- und nicht profitbestimmten Nutzung, nicht mehr ausweichen und sie nicht mehr auf später vertagen kann. Mit der Bankenkrise 2008 ff. wurde das in linken Debatten bereits deutlich. Es geht um ein notwendiges, aber selbstverständlich nicht hinreichendes Element einer sozialistischen Strategie der Linkspartei. Und es geht ausdrücklich nicht um einen Ersatz von bisherigen Versuchen, im Rahmen der bestehenden Eigentums-, Macht- und Demokratieverhältnisse Herrschaft aus Großeigentum einzuschränken, sondern darum, diese kämpferisch fort- und bis hin zu revolutionären Brüchen zu entwickeln. Da geht es um komplexe, auch internationale Strategien: um den Kern der Klassenauseinandersetzungen und um entsprechenden Widerstand.

Hier nur - unter Nutzung bisheriger Diskussionen und auch internationaler Erfahrungen - einige Stichworte und Fragen:

- konsequente Verweigerung von Privatisierungen in der Daseinsvorsorge; Rückführung von privatisiertem in öffentliches Eigentum, Forderungen nach Vergesellschaftungen einbringen und unterstützen, damit Einschränkung der Herrschaft des Privatkapitals über wichtige Lebensbereiche, über die Lebensweise und die Zukunftsgestaltung der Erwerbsabhängigen,

- Nutzung des Grundgesetzes, u. a. Art. 14 und 15, und von Landesverfassungen von 1946/47; von Rechtsprechung zum Sozialstaatsprinzip und Art. 1 GG (Menschenwürde); von Interpretationen von Eigentum, von grundgesetzlich nicht geschütztem Eigentum, Besonderheit u. a. von Grund und Boden; Privateigentum-Umwelterhaltung-Recht auf Leben; Thematisierung von "Enteignung durch Neoliberalismus" und daß Arbeit Eigentum schafft (auch BGB) und daraus Macht zu gebrauchen ist,

- Nutzung von gewerkschaftlichem großem Eigentum, um Anteile an produktivem Kapital und damit Arbeiterrechte und strategische Mitbestimmungsrechte für Gewerkschaften und Belegschaften zu erwerben,

- Kampf darum, daß öffentliches Eigentum - auch für Umweltschutz und Digitalisierung - demokratisch kontrolliert, für das Gemeinwohl eingesetzt und nicht den Marktgesetzen unterworfen wird,

- gesetzliche Verankerung von Vorkaufsrechten für die öffentliche Hand und Gewerkschaften/Belegschaften, wenn private Wirtschaftsgüter wegen Profitinteressen ins Ausland verlegt oder stillgelegt werden sollen,

- gesetzliche Förderung einer "Wirtschaftsdemokratie von unten" und zukunftsträchtiger Lebensweisen.

Prof. Dr. Edeltraut Felfe, Greifswald

(Mitglied des Ältestenrates der Partei Die Linke)

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UNO fordert Kampf gegen NS-Propaganda

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Antikommunismus entschieden zurückweisen!

Am 9. Dezember trafen sich auf Einladung der KP Griechenlands 33 Vertreterinnen und Vertreter von 30 europäischen kommunistischen Parteien. Sie diskutierten im Gebäude des EU-Parlaments über die antikommunistische Resolution des EU-Parlaments zur "internationalen Verurteilung der Verbrechen totalitärer kommunistischer Regimes" vom 19. September. Die Vertreter der Parteien verurteilten die antikommunistische Resolution, die darauf abzielt, die historische Wahrheit zu verzerren und den Kommunismus mit der Monstrosität des Nazi-Faschismus gleichzusetzen. Sie brachten ihre Solidarität mit den Parteien zum Ausdruck, die Verfolgung und Verbot ausgesetzt sind und betonten, daß diese Bemühungen mit der Reinwaschung des Faschismus und der Unterstützung reaktionärer, sogar offen faschistischer Kräfte durch die EU einhergehen, wie beispielsweise in der Ukraine.

Es wurde folgende Abschlußerklärung verabschiedet:

Abschlußerklärung des Treffens europäischer kommunistischer und Arbeiterparteien

Die kommunistischen und Arbeiterparteien, die am europäischen Treffen 2019 teilnehmen, verurteilen die empörende antikommunistische Resolution des EU-Parlaments. Es handelt sich um ein Machwerk, das auf die Zerstörung der historischen Wahrheit abzielt und die Grundlagen für die Rehabilitierung des Faschismus legt, der in Europa sein Haupt erhebt. Die rote Fahne auf dem Reichstag ist unauslöschliches Zeugnis dafür, wer den Nazismus/Faschismus besiegt hat.

Der entscheidende Beitrag der Sowjetunion zur Zerschlagung des Faschismus/Nazismus und zur ewigen Verdammung seiner Verbrechen kostete das Blut von Millionen Toten, Millionen Verwundeten und unzähligen Opfern des antifaschistischen Kampfes der Völker Europas. Das kann nicht ausgelöscht werden, es kann nicht durch eine geschichtslose Niederträchtigkeit wie diese Resolution verzerrt werden, die provokativ versucht, den Kommunismus mit dem Faschismus gleichzusetzen, der aus dem Kapitalismus erwachsen ist.

Die arbeitenden Menschen, die Völker Europas wissen sehr wohl, daß die neuen volksfeindlichen und antidemokratischen Maßnahmen, die Unterdrückung der Arbeiterbewegung wie immer mit einer Eskalation des Antikommunismus einhergehen. Wir rufen sie auf, die antikommunistische Entschließung des EU-Parlaments zu verurteilen und zurückzuweisen, dem Antikommunismus eine Absage zu erteilen, aktiv die antikommunistische Hysterie zu blockieren und die kommunistischen und Arbeiterparteien Europas in jeder Weise zu stärken!

Brüssel, 9. Dezember 2019
(Gestützt auf "UZ", 20.12.2019)

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Über den Klassenkampf von oben und die notwendige Gegenwehr von unten

Vor einiger Zeit hat ein Multimilliardär in den USA im Auftrag seiner Klasse voller Überzeugung verkündet, daß sie heute und morgen den Klassenkampf von oben führen und auch siegreich gestalten werden.* Das Echo in den bürgerlichen Medien auf diese unmißverständliche Kampfansage eines renommierten Exponenten des Kapitals war betretenes Schweigen. Es ist davon auszugehen, daß es in der politischen und ökonomischen Landschaft der BRD einige Reaktionen gab. Insbesondere Vertreter des Großkapitals werden neben einer verständnisvollen, aber lautlosen Zustimmung säuerlich darüber gewesen sein, daß jemand aus ihrer Klasse den täglichen Prozeß der Ausbeutung, der Verarmung, des massenhaften Tötens durch mörderische Kriege, des skrupellosen Raubbaus der einmaligen Ressourcen unserer Erde so ungeschminkt als "Klassenkampf von oben" formuliert. Gab es nicht unter allen politischen, ökonomischen und juristischen Akteuren der BRD seit Jahr und Tag eine stillschweigende Übereinkunft, daß alle Gedanken zum und über den Klassenkampf in die politische Tabuzone gehören? Für viele linke Politiker und auch für Gewerkschaften war es offensichtlich schockierend und desillusionierend zugleich, daß ein Nichtmarxist und eine Ikone des Kapitals so brutal sagt, es werde mit dem rasanten technologischen Fortschritt im Kapitalismus (Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Industrie 4.0) keine soziale Wunderheilung für die Gesellschaft geben. Und auch eine größere soziale Verantwortung und moralische Bringepflicht durch die Kapitalisten wird man, von einigen Ausnahmen abgesehen, in der Kapitalistenklasse vergeblich suchen. Für Marxisten war die Äußerung des amerikanischen Kapitalisten nur eine erneute Bestätigung dafür, daß gerade durch die Erschließung und Nutzung der Hightech-Felder die Polarisierung der kapitalistischen Gesellschaft weiter voranschreitet. Viele Menschen sehen in den Schikanen am Arbeitsplatz, in den Ungerechtigkeiten und Gesetzesverstößen bei den Arbeits- und Lebensbedingungen nur Willkür, Herzlosigkeit und Geldgier einzelner Kapitalisten und ihrer Manager. Oft werden diese dunklen Flecken im kapitalistischen Alltag nur dummen Managementfehlern angelastet. Die Leugnung und Verteufelung des Klassenkampfes durch die bürgerlichen Parteien und Medien haben eine tiefe Schleifspur des Nichterkennens und der politischen Naivität hinterlassen.

Klassenkampf von oben bedeutet heute ständige Sicherung der politischen, ökonomischen, finanziellen, juristischen und gewünschten sozialen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen für eine größtmögliche Kapitalverwertung in immer kürzeren Zeiträumen. Die äußeren, in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Ausdrucksformen des Klassenkampfes von oben wie Entlassungen, Leiharbeit, Kurzarbeit und Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte verdecken die tiefer liegende Drehachse des Klassenkampfes. Sie besteht darin, über die Entsolidarisierung der abhängig Beschäftigten in den Unternehmen, über kapitalfreundliche Beschäftigungsverhältnisse und Lohnformen, über die Lösung der Tarifbindung des Lohnes, über das ständige Höherlegen der physischen und psychologischen Belastbarkeitsgrenzen für die Beschäftigten, über ein Klima andauernder sozialer Unsicherheit und auf Angst gegründeter Disziplin den Ausbeutungsprozeß so profitabel wie möglich zu gestalten. Die mit der Digitalisierung sich eröffnenden größeren ökonomischen und arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten werden den einzelnen Beschäftigten rigoros aufgezwungen. Für das Kapital kann es beruhigend wirken, wenn zig Millionen abhängig Beschäftigte den Klassenkampf von oben nicht mehr richtig erkennen, da die Gemeinheiten im Arbeitsvertrag und die Belastungen im kapitalistischen Arbeitsprozeß als normaler Bestandteil des Alltagslebens hingenommen werden.

Das Schweigen der Lämmer - Wie lange noch?
Die Konturen des Klassenkampfes verschwimmen und verschwinden, wenn dem Beschäftigten das Kapital als freundlicher und jovialer Unternehmer gegenübertritt.

Angetrieben durch das objektiv bedingte Profitstreben der Konzerne, des Kapitals generell, werden heute im Klassenkampf von oben bis jetzt geltende, international anerkannte Normative und Standards zum Schutz von Klima und Natur bewußt mißachtet, werden bisherige Tabuzonen für das Kapital (öffentliche Daseinsvorsorge, dem Gemeinwohl dienende Infrastrukturen - Brücken, Straßen, Schulen) als renditeträchtige Objekte regelrecht okkupiert, ist die Privatsphäre des Menschen dank der modernen Elektronik kein Hemmnis mehr für eine Vermarktung durch das Kapital. Der Motor für den Klassenkampf von oben ist die auf Ausbeutung ausgelegte Wirtschaft mit ihrem entsprechenden Finanzsystem. Der Schmierstoff sind die angestrebten Profitraten.

Der vom großen Kapital maßgeblich vorbereitete und vom Staat finanzierte Krieg ist der brutalste und blutigste Klassenkampf von oben. Der Klassenkampf von oben ist breit gefächert, aber dennoch eindeutig fokussiert. Er reicht von den Konsequenzen aus der jeweiligen kapitalistischen Betriebsordnung bis zum Funktionieren jeder politischen Instanz des Staates.

Der Klassenkampf von oben zeigt in der BRD die für den Kapitalismus allgemeintypischen Merkmale. Es gibt aber auch einige spezifische Charakteristika. Das Bemühen um den ständigen Ausbau der Führungsrolle der BRD in der EU, insbesondere in der Eurozone, der Kampf des BRD-Kapitals um die Dominanz in der internationalen Exportwirtschaft und das unverhüllte politische und militärische Weltmachtstreben der BRD haben den Klassenkampf von oben maßgeblich geprägt und bestimmen ihn weiter.

Der DAX - ein Raubtier im Gewand eines Dompteurs
Als Speerspitze und Regiezentrale des Klassenkampfes von oben fungieren die 30 börsennotierten DAX-Konzerne. Mit ihrem wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und finanziellen Potential, ihrer gewollten finanzpolitischen Absicherung als systemrelevante Großunternehmen, ihrem mächtigen juristischen Flankenschutz und ihrer kaum zu durchschauenden Vernetzung mit allen Bereichen der Wirtschaft und mit allen Organen des Staates sind sie das eigentliche Wirtschafts- und finanzpolitische Machtzentrum in der BRD. Die DAX-Konzerne haben in besonderem Maße Rechte und Freiheiten, genießen viele Vorteile und Vergünstigungen im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß. Sie sind eine Art Sonderwirtschaftszone mit der Aufgabe, für alle kleinen und mittleren Unternehmen eine profitsichernde Sogwirkung aufzubauen. Ihre exklusive Stellung ermächtigt sie, die Weichen für die Regierungsarbeit zu stellen. In dieser Funktion sind sie Vordenker und Taktgeber im Klassenkampf von oben. Einen entscheidenden Beitrag leisten dabei die vom Kapital geschaffenen Denkfabriken, aufgebauten Unternehmerverbände (BDI, BDA und viele Branchenverbände) und krakenartig agierenden einflußreichen Lobbygruppen. Bei der Besetzung aller politischen Schaltzentralen in der BRD sowie der EU und bei der Endfassung von Beschlüssen, Gesetzen, Verordnungen haben sie faktisch das letzte Wort.

In Verbundenheit mit den bürgerlichen Medien, die sich als Übersetzer und ideologische Designer des Kapitals verstehen, ist es bisher immer gelungen, bei der Masse der Beschäftigten und der Bevölkerung Verständnis, Einsicht und sogar Mitleid für "notleidende" Konzerne zu entwickeln.

Es gehört zur bürgerlichen Verschleierungs- und Täuschungskultur, die Annexion der DDR durch die BRD als friedliche Revolution und als rechtsstaatlichen Akt zu preisen.

Sie war aber eine gesteuerte Klassenkampfoperation der Konzerne und der Banken mit den Zielen:

  • Ausgestaltung aller Konkurrenten auf dem nationalen und internationalen Markt durch eine radikale Deindustrialisierung;
  • Umwälzung der Eigentumsverhältnisse mit einer Orientierung - Volkseigentum und genossenschaftliches Eigentum müssen Aktiva in den Bilanzen der Konzerne und des Adels werden;
  • Okkupation eines sehr lukrativen Konsumgütermarktes für 16 Millionen Bürger;
  • Eingliederung von sehr gut ausgebildeten Arbeitskräften in den kapitalistischen Arbeitsmarkt, ohne eigene Bildungsinvestitionen zu tätigen;
  • wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verödung größerer Landschaften auf DDR-Gebiet;
  • gezielte Vernichtung herausragender Aufbauergebnisse;
  • Entwertung der Biographien von Millionen DDR-Bürgern, die sich aktiv für ihren Staat eingesetzt hatten.

Das scheue Reh, die Treuhand, der Kapitalismus
Mit der Exekution des Staates und der Wirtschaft der DDR durch die tödlichen Aktionen Privatisierung vor Sanierung, Rückgabe vor Entschädigung, Delegitimierung des Staates und all seiner Organe, Verteufelung der SED und der Staatssicherheit, gekoppelt mit einem massenhaften politisch-sozialen Kahlschlag, wurde ein Klassenauftrag erfüllt, der schon 30 Jahre vorher als Regieanweisung durch das große Kapital in Auftrag gegeben wurde. Die Treuhand war das entscheidende Instrument und der verläßliche Garant für die erfolgreiche Offensive des BRD-Kapitals auf dem Territorium der DDR. Die politischen Köpfe und Regisseure dieser Offensive - Konzerne, Banken, das Finanzministerium, die BRD-Regierung - bleiben bis heute ungenannt. Der Klassenkampf von oben hat unter dem Schirm der NATO und mit freundlicher Zustimmung durch sowjetische Partei- und Regierungsvertreter zur Zerschlagung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden geführt. Die Dimension und Schärfe dieses Klassenkampfes von oben hat alle bisher gekannten Maßstäbe gesprengt. Mit dem Slogan "friedliche Revolution" hatte das große Kapital das ideale Tarnnetz gefunden, um die beispiellose Verwüstung eines souveränen Staates zu kaschieren.

Das große Kapital hat das Klassenkampfprojekt Agenda 10 mit den Hartz-IV-Gesetzen zur bitteren Realität für über 45 Millionen abhängig Beschäftigter werden lassen. Der Erfolg des Kapitals wird als Klassiker des siegreichen Klassenkampfes von oben in die Analen der Konzerne und der großen Unternehmerverbände eingehen.

Bemerkenswert sind dabei fünf Momente:
1. Auf das Ankündigen wachsender Schwierigkeiten im kapitalistischen Verwertungsprozeß, auf die Signale des möglichen Verlustes der ökonomischen und finanziellen Führerschaft in der EU, auf die Alarmzeichen wachsenden scharfen internationalen Konkurrenzdrucks sollte mit einer langfristigen, tragfähigen Strategie geantwortet werden, die über viele Jahre hinweg höhere Profite sichert. Unter Federführung der Konzerne hat das Kapital zwei strategische Eckpunkte für eine bessere Kapitalverwertung gefunden:
- ständig hoher Kostendruck auf den Faktor Arbeit;
- Kosten-, Qualitäts- und Designvorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz sichern.

Deshalb wurden und werden Beschäftigungsverhältnisse, Entlohnungssysteme, die Arbeitsorganisation, Rechte und Pflichten der Beschäftigten, soziale Ansprüche der Arbeitslosen ständig auf den Prüfstand gestellt mit einer glasklaren Orientierung: Umbau, Veränderung, Einschränkung, Streichung im Interesse des Kapitals.

2. Die in Hartz IV enthaltenen sozialen Härten und menschlichen Erniedrigungen mußten aufgefangen, neutralisiert und über Gesetze, Verfügungen, also mit der Autorität des Staates, als ertragbar und gesellschaftsfähig verordnet werden. Die Sanktionierungsgewalt der Hartz-IV-Gesetze sollte von Anfang an Bestandteil des normalen Rechtsempfindens der Bürger werden (auch wenn das Bundesverfassungsgericht hier Anfang November 2019 Korrekturen vorgenommen hat).

3. Mit Hartz IV sollte eine weitere Entsolidarisierung, soziale Spaltung innerhalb der abhängig Beschäftigten vorgenommen werden. Die Hartz-IV-Gesetze haben den Arbeitsvertrag zum Gütesiegel für gute Arbeitseinstellung, große Lernbereitschaft erklärt, die Arbeitslosigkeit und den Gang zum Jobcenter als selbstverschuldeten Makel herausgestellt. Diese Gesetze sollen ein politisch und juristisch abgesichertes Droh- und Einschüchterungspotential sein, das dauerhaft demoralisierend wirkt und eine weitgehend forderungslose Anpassung an das Unternehmen produziert.

4. Die mit Hartz IV eintretenden ökonomischen Effekte für das Kapital sollten von Anfang an so erklärt werden, daß sie hilfreich für den einzelnen sind und letztlich dem Gemeinwohl dienen.

5. Hartz IV zeigt unmißverständlich: Die Hauptstränge des Klassenkampfes von oben mit den tiefgreifenden sozialen Konsequenzen für die Beschäftigten verlaufen über die Regierung der BRD, über alle Ministerien, über bürgerliche Parlamentsmehrheiten. Gesetze, Verordnungen, Verfügungen, die den ökonomischen und finanziellen Nerv des Kapitals berühren könnten, werden von vornherein kapitalfreundlich formuliert. Mit einer kapitalfreundlichen und -stützenden Gesetzgebung wird der Klassenkampf von oben endgültig auf Grün geschaltet. Gegen die durch Gesetze und Verordnungen abgesegneten sozialen Einschnitte und Kürzungen politische und juristische Gegenwehr zu organisieren wird immer schwerer. Widerstand gegen das Kapital wird juristisch zermürbt und medial diskreditiert. Im Klassenkampf von oben ist in der BRD das Zusammenspiel von bürgerlicher Justiz und bürgerlichen Medien ein Erfolgsmodell des Kapitals.

Es gibt keine Alternative zum Widerstand
Der Klassenkampf von oben wird heute auf Feldern geführt, die über Jahrzehnte hinweg, vornehmlich in der alten BRD, kapitalistisch geprägt, aber keine Sphären der Profitproduktion waren. Aus Einrichtungen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge, des Gemeinwohls in Städten und Gemeinden wurden Profitmaschinen. Mit den Fallpauschalen, mit der bürgerlichen Betriebswirtschaft, mit der Privatisierung von Krankenhäusern, Pflegeheimen, Reha-Kliniken und bei Nutzung des finanziellen Notstandes der Kommunen hat man medizinische Fabriken geschaffen, die über viele Jahre hinweg risikoarm hohe Profite abwerfen können. Es ist Kapitalverwertung ohne nennenswerten Konkurrenzdruck. Das medizinische Personal in diesen Einrichtungen ist heute total den Regeln des Klassenkampfes von oben unterworfen. Rendite geht vor Gesundheit.

Das große Kapital hat den Klassenkampf von oben in bisher nicht gekannten Dimensionen und mit großer Härte in die Wohnungswirtschaft getragen. Unter Nutzung der bürgerlichen Gesetzgebung bzw. ihrer gezielten Aufweichung und in Anbetracht der skandalösen Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus durch den Staat wurde die Mietwohnung als sichere Renditequelle und lukratives Spekulationsobjekt im Ranking der kapitalistischen Verwertungsfelder ganz oben eingestuft. Im Grunde ist der Mieter in der BRD zwei Fraktionen des Kapitals ausgeliefert. Am Arbeitsplatz schwebt eine jederzeit mögliche Kündigung und damit drohende Arbeitslosigkeit wie ein Damoklesschwert über dem Menschen. Als Mieter hat er mit der sich verstärkenden Unsicherheit und Angst zu leben, die höheren Mietpreise nicht mehr bezahlen zu können. Mit der Akzeptanz der höheren Miete und ihrer monatlichen Zahlung wird versucht, sich von den aufkommenden Ängsten und Sorgen vor Wohnungs- und Obdachlosigkeit, vor sozialem Abstieg freizukaufen.

Die Offensiven des Kapitals für eine effektivere Verwertungsdynamik und für das Erschließen neuer Profitfelder haben die Gegenwehr der abhängig Beschäftigten herausgefordert. Keimzellen der Gegenwehr, des Widerstandes waren und sind vor allem die Gewerkschaften und Initiativgruppen der Beschäftigten selbst. Durch Demonstrationen, Protestaktionen, Streiks und öffentliche Anprangerung in den Medien konnten manche unzumutbaren, brutalen Angriffsspitzen des Kapitals gebrochen werden. Eine sehr schöpferische und zugleich wirksame Gegenwehr hat das medizinische Personal in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen geleistet. Es ging und geht nicht nur um höhere Löhne, um ihre Tarifbindung, sondern in hohem Maße um die Herstellung und Sicherung von Arbeitsbedingungen, die den Patienten eine wirkliche Hilfe sein können und die Schwestern und Pfleger in ihrem schweren Dienst besser motivieren. Mit ihren mutigen Gegenwehraktionen ist das medizinische Personal aber weitgehend allein geblieben.

Der explosionsartig angewachsene Mietwucher hat vor allem in den großen Städten viele Gegenwehrinitiativen und -aktionen ausgelöst. Neben dem Druck auf die Bürgermeister und Stadtverwaltungen, sich für ein elementares Menschenrecht wirklich kompromißlos einzusetzen, werden die Forderungen nach Enteignung der Immobilienfonds lauter. In Berlin hat eine linke Senatorin, getragen von einer großen Zustimmung durch die Bevölkerung, begonnen, gegen den Widerstand des Immobilienkapitals, der privaten Wohnungswirtschaft und der bürgerlichen Parteien alle notwendigen Schritte einzuleiten, um die Mieten für die nächsten fünf Jahre zu deckeln. Das hätte, wenn damit keine Schwächung der kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften eintreten würde, eine Signalwirkung für alle großen Städte der BRD. Zugleich wird deutlich: Der Widerstand durch das Kapital mit seinen Protagonisten selbst gegen einen schon sehr löchrigen Mietendeckel ist enorm und zeigt allen Mietern, daß kein Zentimeter Profitaussicht aufgegeben werden soll. Alle juristischen Geschütze zur Annullierung des Mietendeckels sind schon aufgefahren.

Ein ähnlich fester und wirksamer Widerstand gegen die Offensiven des Kapitals könnte das Kräfteverhältnis zwischen dem Kapital und den abhängig Beschäftigten merklich beeinflussen.

Zur bitteren Bilanz der Gegenwehr von unten aber zählt: Es ist nicht gelungen, die Agenda 2010 mit den Hartz-IV-Gesetzen zu stoppen und das System Fallpauschalen in den Kliniken außer Kraft zu setzen. In beiden Fällen zeigt sich exemplarisch: Diese beiden Klassenkampfaktionen mit strategischer Ausrichtung wurden vom Kapital politisch, fachkompetent und juristisch akribisch vorbereitet und mit entsprechender medialer Betreuung kompromißlos und ohne irgendwelche Rücksichtnahmen in die Praxis umgesetzt. Das große, mittlere und kleine Kapital, vereint unter einer profitorientierten Zielstellung, spricht mit einer Sprache und handelt geschlossen und kompakt.

Es ist das Dilemma der klassenkämpferischen Gegenwehr, vielfach zu spät, regional, berufsmäßig und organisatorisch zersplittert den Kampf mit unterschiedlicher Prioritätensetzung zu führen. Die Linke, die Gewerkschaften und andere engagierte Organisationen und Initiativgruppen kamen oft nicht auf einen Nenner, fürchteten im Mißtrauen untereinander um politische Instrumentalisierung. Der latent vorhandene und offene Antikommunismus verfehlte nicht seine Wirkung. Das Vorherrschende in der Gegenwehr von unten war kein kategorisches Nein, sondern die Abmilderung, die Abstumpfung der Klassenkampfprojekte des Kapitals. Natürlich hat der Kampf um höhere Löhne, um ihre Tarifbindung, um bessere Arbeitsbedingungen und um den Erhalt der Arbeitsplätze existentielle Bedeutung für die abhängig Beschäftigten. Das schlug und schlägt politische Wellen. Aber konsequente politische Forderungen werden nicht gestellt. Derartiges ist - trotz anfangs aufhorchen machender Töne - auch von der neuen Führungsspitze der SPD nicht zu erwarten. Zu sehr beharrt sie auf ihrer Rolle als Helfershelfer bei der Umsetzung der Kapitalstrategie. Die Linke hat es in den letzten 20 Jahren nicht vermocht, mit aufrüttelnden, bewegenden politischen und sozialen Forderungen größere Bewegungen, Aktionen auszulösen, denen sich sehr viele Bürger mit Herz und Verstand hätten anschließen können. Die begrenzten Mobilisierungsmöglichkeiten der Gewerkschaften und der Linken sind nicht zu übersehen.

Sag mir, wo du stehst - und wohin du gehst!
Genau hier wollte die Initiative "Aufstehen" ansetzen, um dem Kapital und damit dem Klassenkampf von oben eine breit gefächerte große Front entgegenzustellen. Es sollte keine neue Partei entstehen, sondern über Partei- und Organisationsgrenzen hinweg eine Sammlungsbewegung geschaffen werden, die große, unter die Haut gehende soziale und friedenspolitische Forderungen mit einer Stimme vertritt und weitgehend einheitlich handelt. Viele Gründe haben zum Abbremsen und zum Stillstand dieser Initiative geführt. Maßgeblich war aber offensichtlich die Verweigerungshaltung der Linken gegenüber dieser Sammlungsbewegung. Man fürchtete eine politische Abwertung der Linken und sah nicht die Chancen einer Neubelebung der Partei durch diese konsequent sozial- und friedenspolitisch ausgerichtete Bewegung.

Das aktive Handeln im Klassenkampf hat seine Wurzeln im klassenmäßigen Herangehen an die gesellschaftlichen Prozesse. Es geht um die Konsequenzen aus der Beantwortung der Frage: Was nützt - was schadet den abhängig Beschäftigten, den Arbeitslosen, den von Armut bedrohten Rentnern, Kindern und Jugendlichen, den in Angst lebenden Mietern, den am Rande der Gesellschaft vegetierenden Obdachlosen? Für die Linke bedeutet das, sich illusionslos als entschlossener Akteur im Klassenkampf zu begreifen und sich mit einer klaren politischen Strategie dem Klassenkampf von oben zu stellen. Das wird nur gelingen, wenn sie es vermag, in Grundfragen, die heute praktisch jede Diskussion bestimmen, eine weitgehend einheitliche Grundauffassung herauszuarbeiten, die im Klassenkampf eine wirksame Hilfe sein kann. Dazu zählen solche Themenkreise: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft in der DDR und die Ursachen ihres Scheiterns; Politik, Wirtschaft und das wirkliche Machtgefüge in der BRD; der Charakter der EU und der NATO; die Rolle Rußlands und Chinas in der internationalen Politik; wesentliche Charakteristika der USA und Israels.

Es geht hier nicht um akademische Erörterungen, sondern um politische Standortfindungen und klare Antworten auf die Frage, auf welcher Seite des Klassenkampfes Linke und Sympathisanten dieser Partei stehen und handeln sollten. Die Passivität der Führung der Linkspartei, ihr Ausweichen vor dem politisch-theoretischen Streitgespräch, die widersprüchlichen Auffassungen von Spitzenpolitikern der Linken und ihre oft fabrizierten Kopien bürgerlicher Standpunkte haben schon vor Jahren dazu geführt, daß die politische Standortfindung in der Regel dem einzelnen überlassen blieb, man auf seinen gesunden Menschenverstand vertraute. Eine solche ideologische und theoretische Zerfaserung innerhalb der Linken liegt als Geschenk im operativ-taktischen und strategischen Kalkül des Kapitals. Seine Klassenkampfstrategie ist darauf ausgerichtet, in der schon spürbaren Rezession, in den Vorläufern einer weltweiten Überproduktionkrise, gekoppelt mit den politischen, ökonomischen und militärischen Abenteuern der USA und der NATO, jenen Rahmen zu sehen, um mit einer neuen Agenda rücksichtsloser, soziale und ökologische Standards mißachtend, die Profitmaschinerie am Laufen zu halten. Die Gesetze des Klassenkampfes werden in den kommenden Monaten und Jahren mit großer Wucht, finanziell und sozial einschneidend das Arbeitsleben der abhängig Beschäftigten, die persönliche Sphäre aller Bürger beeinflussen.

Wie ist die Linke, wie sind die Gewerkschaften auf die sich abzeichnende größere Schärfe und Kompromißlosigkeit im Klassenkampf von oben eingestellt?

Prof. Dr. Achim Dippe

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Von der Tesla-"Gigafactory 4" bei Grünheide

Ein besonderes Lehrstück über den Zusammenhang von Politik und Kapital wird gerade in Brandenburg geboten. Mitte November 2019 kündigte Tesla-Chef Elon Musk an, im östlichen Umland von Berlin eine Autofabrik aus dem Boden stampfen zu wollen, in der hauptsächlich E-Autos produziert werden sollen. Von 4 Milliarden Euro und 8000 und mehr Arbeitsplätzen ist die Rede. Dieses Vorhaben, der Bau einer "Gigafactory 4", demonstriert die wahren Machtverhältnisse in der BRD, aber auch die Konzeptionslosigkeit der politischen Führung in wirtschaftsstrategischen Fragen.

Was mag dahinterstecken, wenn sich ein amerikanischer Konzern ausgerechnet vor die Nase der doch wirklich nicht unbedeutenden Auto-Industriemacht Deutschland pflanzt? Wie kann es sein, daß über den Bau einer solchen riesigen Fabrik mit weitreichenden und langfristigen Auswirkungen auf Volkswirtschaft und Gesellschaft ein amerikanischer Privatinvestor entscheidet?

Offensichtlich zielt die Unternehmensstrategie darauf ab, von Deutschland aus den europäischen Markt in dieser zukunftsträchtigen Branche aufzumischen und unter Teslas Kontrolle zu bringen. Das erfordert aus deren Sicht einerseits die lästige Konkurrenz aus Deutschland, dem vermutlich stärksten Kontrahenten, aus dem Feld zu schlagen und andererseits in diesem Zuge frei werdendes hochqualifiziertes Fachpersonal für sich einzukassieren.

Die Tesla-Strategen gehen vermutlich davon aus, daß ihre eigene wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Überlegenheit billigere und bessere Produkte auf den Markt zu bringen vermag. Und da dieser an sich schon gesättigt ist, also gar keine zusätzlichen Autos mehr aufnehmen kann, müssen die Schwächeren zurückgedrängt werden, werden sie gezwungen, ihre Produktion zu drosseln oder ganz einzustellen. Wenn dieses Szenario aufgeht, werden Fachkräfte frei, die sie dann mit offenen Armen empfangen können. Deshalb eben auch die Nähe zu Berlin, denn die benötigten Wissenschaftler, Ingenieure, Spezialisten usw. lassen sich viel leichter in die Hauptstadtregion locken als z. B. nach Niedersachsen, in die Lausitz oder in die Uckermark. Der größte Anteil von ihnen wird vor allem aus den umliegenden Regionen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns oder Sachsens kommen müssen. Das bedeutet aber, daß diese gerade aus den Regionen "abgesaugt" werden, die ohnehin immer schon als die "strukturschwachen" Regionen charakterisiert worden sind. Schon seit vielen Jahren gibt es diverse Versuche, z. B. in der Lausitz im Ergebnis des erforderlichen Kohleausstiegs Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, um den Menschen dort eine Zukunft zu bieten. Minister Woidke selbst hatte zu diesem Zweck vorgeschlagen, Ministerien von Potsdam nach Cottbus umzusiedeln. Und auf höchster Ministerebene wurden Vorschläge präsentiert, u. a. eine zentralisierte Batteriefertigung in der Lausitz zu errichten.

Viele Milliarden wurden in Aussicht gestellt, um Industrieansiedlungen in dieser Region zu fördern. Alles wird plötzlich über den Haufen geworfen. Es waren durchaus vernünftige Überlegungen, die Arbeit dorthin zu bringen, wo die Menschen sind. Sie fordern lautstark Sicherung und Schaffung von zukunftsfähigen Arbeitsplätzen.

Aber es tut sich nichts. Wie auch? Es müßte Kapital fließen. Aber wenn das Kapital nicht will, kann die Politik noch so viel betteln und bitten, sogar mit Millionen und Milliarden versuchen zu ködern, es tut sich nichts - im Ruhrgebiet übrigens seit Jahrzehnten das gleiche Dilemma. Und plötzlich taucht da wie aus heiterem Himmel dieser amerikanische Großinvestor auf, und alles wird nahezu auf den Kopf gestellt. Jetzt kommt die Arbeit nicht zu den Menschen, wo sie dringend gebraucht werden würde; jetzt sollen die Menschen dahin kommen, wo es dem Großkapital gefällt - mit wohlwollender Billigung der Landesregierung - und vergessen sind alle bisherigen Bemühungen.

Das ist natürlich auch eine "Lösung": Wenn man auch noch die Letzten der arbeitswilligen Bevölkerung weglockt, braucht man dort nicht mehr für Arbeitsplätze zu sorgen. Ist das aber nun wirklich Sinn und Zweck wirtschaftspolitischer Strukturpolitik? Nein! Die läßt man sich lieber von amerikanischen Multis diktieren!

Was passiert im Ostberliner Umfeld, wenn diese Giga-Fabrik dort tatsächlich gebaut werden sollte? Die Probleme, die es schon heute gibt, werden sich in dramatischer Weise verschärfen. Die Preise und Mieten für Grundstücke, Wohnungen und Gewerbe werden weiter deutlich ansteigen mit verheerenden Auswirkungen auf die dortige Bevölkerung. Die Verkehrsprobleme, die bereits jetzt chaotischen Charakter annehmen, werden sich weiter verschärfen u. a. m.

Aber es geht noch weiter: Ein großer Teil der in der Giga-Fabrik gebauten Autos sind zweifellos für den Export bestimmt. Das bedeutet, daß sich in der deutschen Volkswirtschaft, die schon heute ständig Exportüberschüsse ausweist, die Disproportionalität weiter zuspitzt. Dieses Problem, das hin und wieder in Fachkreisen auch angesprochen, aber nie als ein wirklich ernstes Problem angeprangert wird, hat weitreichende negative Konsequenzen. Im Inland entwickeln sich Mißverhältnisse in der Verteilung von Arbeitskräften auf die einzelnen Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft. Wie bekannt ist, fehlen Arbeitskräfte fast flächendeckend und permanent: Es werden händeringend Handwerker, medizinisches Personal, Pflegepersonal, Lehrer usw. gesucht. In Justiz, Polizei, Verwaltungen herrscht Arbeitskräftemangel. Schulen, Sporteinrichtungen, Straßen, Brücken usw. können wegen fehlender Kapazitäten nicht ausreichend instandgehalten werden. Schon jetzt würden manche Branchen gar nicht mehr arbeitsfähig sein, wenn nicht ausländische Arbeitskräfte eingesetzt worden wären. Und der Ruf nach immer mehr ausländischen Arbeits- und Fachkräften wird immer lauter. Die Hauptursache für diesen Zustand ist darin zu suchen, daß die Exportindustrie (darunter auch die Autoindustrie) überproportional viel Potential aufsaugt, das dann zwangsläufig in den anderen Bereichen fehlt, was mit dem Bau einer Giga-Fabrik noch deutlich verschlimmert wird.

Auch außenwirtschaftlich ist diese Entwicklung unkalkulierbar problematisch. Die Gefahr, daß von Deutschland aus der europäische Markt weiter dominiert wird, ist sehr groß. Schon jetzt wird vielerorts die disproportionale Entwicklung der Volkswirtschaften vor allem im Euro-Raum beklagt mit solchen Konsequenzen wie steigender Staatsverschuldung anderer Mitgliedsländer, wachsender Arbeitslosigkeit, ansteigendem Nationalismus, anschwellenden sozialen Konflikten usw.

Wem also nützt diese Giga-Fabrik? Ausschließlich dem Tesla-Konzern mit dem Herrn Elon Musk an der Spitze. Hier in Deutschland und Europa dagegen wird kein einziges Problem gelöst und keine Lösung zumindest glaubhaft in Aussicht gestellt. Im Gegenteil, die schon vorhandenen Probleme werden sich mit Sicherheit verschärfen.

Und was treibt die brandenburgische Landesregierung (damals noch rot-rot!) und den Herrn Ministerpräsidenten Woidke dazu, dieses Riesenprojekt zu unterstützen (sogar Fördermittel aus der Landeskasse sind im Spiel)? Erklärbar ist dies wohl nur mit dem neoliberalen Irrglauben eines bedingungslosen Wachstumsfetischismus, bei dem nur Zuwachsraten zählen, ohne zu fragen, woher, wohin, wem es nützt - und mit einer gehörigen Portion nationalem und brandenburgischem Landes-Egoismus. Man demonstriert allenthalben die Unterwürfigkeit der Politik unter die Interessen und die Macht des Kapitals in diesem System. Und was, wenn sich der Herr Musk plötzlich als ein Herr "Murks" entpuppt? Wer zahlt dann die Zeche?

Dr. Peter Elz

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BUCHTIPS

Phillip Hoose: Sabotage nach Schulschluß
Wie wir Hitlers Pläne durchkreuzten

Die Faschisten belächelten Dänemark als ihre "Schlagsahnefront", weil das Land sich 1940 kampflos ergibt und kaum widersetzt. Doch damit will sich der 14jährige Knud nicht abfinden. Er gründet den Churchill-Club, eine Gruppe Jungs, die sich auf ihren Fahrrädern aufmachen, um die deutschen Besatzer zu sabotieren: Sie verdrehen Schilder, zerschneiden Stromleitungen und schreiben Parolen an Häuserwände. Was mit einfachen Streichen beginnt, entwickelt sich zu einem gefährlichen Abenteuer. Die Jungs gehen immer strategischer vor, stehlen Waffen und zerstören deutsche Fahrzeuge. Für ihre Prinzipien setzen sie ihr Leben aufs Spiel und ahnen nicht, daß ihre Taten später den Widerstand im ganzen Land entfachen werden.

Phillip Hoose hat für dieses Buch mit einem Zeitzeugen zusammengearbeitet und dessen Erinnerungen aufgeschrieben. Das Buch selbst ist in unterschiedliche Lesebereiche geteilt. Zwischen den Erzählungen von Knud Pedersen, einem der Gründer und Anführer des Churchill-Clubs, gibt es Zeitungsberichte, Briefe, Zeichnungen und Fotos zu sehen, die über die damalige Zeit und die allmähliche Entwicklung des Widerstands der Dänen gegen die Besatzer anschaulich Auskunft geben.

dtv-Verlag, München 2018, 240 S., 9,95 €. Altersempfehlung: ab 12 Jahren


A. Becker/S. Eberhardt/H. Kellershohn (Hg.): Zwischen Neoliberalismus und völkischem "Antikapitalismus"
Sozial- und wirtschaftspolitische Konzepte und Debatten innerhalb der AfD und der neuen Rechten

Das Buch ist eine Bestandsaufnahme der sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepte und Debatten innerhalb der AfD und der Neuen Rechten und unterzieht diese einer kritischen Analyse. Die Beiträge berücksichtigen dabei drei Dimensionen: erstens die Ebene der Akteure, also der Kräfte, welche die Debatte bestimmen; zweitens geht es um konkrete Themenfelder, in die mit Konzepten, Thesenpapieren etc. interveniert wird; und drittens geht es um die jeweiligen ideologiepolitischen Perspektiven und deren Verortung im Spannungsfeld zwischen Neoliberalismus und völkischem "Antikapitalismus", sowohl unter dem Blickwinkel der innerparteilichen Auseinandersetzungen als auch unter dem der Relevanz für die von der AfD angesprochene Wählerkoalition. Darüber hinaus spannt das Buch einen ideengeschichtlichen Bogen zurück zur "konservativen Revolution", die der Neuen Rechten als eine Art Steinbruch von Ideen und Argumenten dient, welche je nach Lage und Intention aktualisiert werden.

Edition DISS im Unrast-Verlag, Münster 2019, 272 S., 24 €



Dieter Hoffmann: Der Skandal
Hindenburgs Entscheidung für Hitler

Dieter Hoffmanns glänzende Darstellung geht einem ungelösten Rätsel auf den Grund: Weshalb ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den von ihm abgelehnten Emporkömmling Adolf Hitler zum Reichskanzler? Eine Entscheidung mit unabsehbaren Folgen - für Deutschland, Europa und die Welt.

Im Mittelpunkt steht ein Skandal, den damals schon viele als die Ursache für Hindenburgs Vorgehen ansahen und der im Januar 1933 in zunehmendem Maße die deutsche Öffentlichkeit und die Presse beschäftigte. Ein Ausschuß des Reichstags begann, den Hinweisen auf betrügerische Machenschaften bei der "Osthilfe", dem größten Subventionsprogramm der Weimarer Republik, nachzugehen. Die Finanzhilfen kamen hauptsächlich den ostelbischen Großgrundbesitzern zugute, während das Volk unter den Lasten der Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit litt. Die Aufdeckung der Mißstände drohte Hindenburg, den "Vater" der "Osthilfe", in Verruf zu bringen. Was spielte sich hinter den Kulissen ab? Darauf hat die Geschichtsschreibung bis heute keine befriedigende Antwort gefunden. Dieter Hoffmann gibt sie in seinem spannend erzählten Buch.

Donat-Verlag, Bremen 2019, 208 S., 18 €



Holger Michael: Kompromißlos gegen Mobbing
Ein Lehrer wehrt sich

Ein Geschichtslehrer muß sich vier Jahre lang an einer Oberschule gegen Vorgesetzte wehren, die ihn organisiert diskreditieren, diskriminieren und ihm zu kündigen versuchen. Durch seinen aktiven Widerstand verschafft er seinen Gegenspielern jedoch permanent Mißerfolge und Niederlagen. Eine Geschichte, die sich so wirklich ereignet hat, die hier mit zahlreichen Details, kühnen und spannenden Aktionen aufwartet und die so auch an anderen Schulen unter Lehrern passieren kann. Hilfreich sind die praktischen Ratschläge, wie mit Mobbingsituationen umgegangen werden, und Tips, wie man sich effektiv zur Wehr setzen kann.

Der Autor ist Historiker und veröffentlichte zahlreiche geschichtswissenschaftliche Werke.

Kellner-Verlag, Bremen 2019, 300 S., 14,90 €



Volker Hermsdorf: Lektionen der Geschichte
Hans Modrow über Kuba, die DDR und die Perestroika

70 Jahre nach der Gründung der DDR erscheint diese aktualisierte Neuauflage von Reflexionen ihres vorletzten Ministerpräsidenten Hans Modrow über Entwicklungen und Fehlentwicklungen in seinem Staat, über die Perestroika und über die Chancen Kubas, den Sozialismus zu bewahren.

In nachdenklichen Gesprächen mit dem Hamburger Journalisten Volker Hermsdorf findet Hans Modrow nicht nur überraschende Worte zu Fehlern und Versäumnissen in der DDR, er erinnert auch an die Anstrengungen, das Erreichte und historische Notwendigkeiten. Modrow erläutert seine Sicht von Glasnost und Perestroika und denkt darüber nach, warum Gorbatschow ihn und andere hat täuschen können. Und er begründet, warum Kuba, das er seit 1970 regelmäßig besucht, nicht nur für ihn weiterhin eine Insel der Hoffnung ist.

Verlag Wiljo Heinen, Böklund und Berlin 2019, 130 S., 9,50 €

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Neue Töne aus dem Kurt-Schumacher-Haus

Muß das Kapital jetzt zittern?

Bislang befand sich die SPD fest im Griff des Kapitals. Selbst wenn an der Spitze der Bundesregierung ein Sozialdemokrat stand, brauchten sich Konzerne, Banken und Vermögenshaie um ihre Pfründe keine Sorgen zu machen. Wenn es je eine Hoffnung in SPD-Kreisen auf eine Rückbesinnung auf die Gründerziele der Partei gab, so blieb diese eine Fata Morgana und stellte sich spätestens mit der Politik von SPD-Kanzler Schröder in Gestalt der Agenda 2010 als Täuschung heraus.

Zum Jahresende 2019 hatten die Mitglieder, vor allem die Jüngeren, genug davon, sich von ihrer Leitung an der Nase herumführen zu lassen. Sie entschieden sich in einer Befragung über einen neuen SPD-Vorsitz mit immerhin fast neun Prozent Mehrheit für ein Duo, das eine Wende der SPD-Strategie zum Mit- oder auch Gegenregieren in der BRD versprach. Dieses Duo wollte die große Koalition mit der CDU/CSU neu verhandeln oder gar diese Regierung verlassen.

Welche Unverschämtheit, schrieen nun das Kapital, seine Verwalter und medialen Verteidiger, auch in der SPD selbst. Schlotterten ihnen die Knie ob der Forderung der neuen SPD-Führung nach Umschuldung im Finanzhaushalt auf Sozialausgaben und Investitionen für Infrastruktur und Wohnungsbau? Hatten sie Angst, daß Ausgaben für Rüstung und Kriegsteilnahme reduziert und so ihre Profite eingeschränkt werden könnten? Machten sie sich Sorgen um den Wohlstand einer herrschenden Minderheit? Bangten sie womöglich um ihre Macht?

Der neue Doppelvorstand Walter-Borjans/Esken zeigte zwar Krallen gegen die GroKo. Die sind jedoch viel zu stumpf, um dem Kapital zu nahe zu kommen und der CDU/CSU die christlich-demagogische Maske vom Gesicht zu reißen. Zu weit hat sich die SPD im vergangenen Jahrhundert von ihren sozialistischen Zielen entfernt, ist ins Lager der Kapitalismusbefürworter übergelaufen und hat sich schon seit langem zum "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" herabgelassen.

Für das Erinnern an die geistigen Väter der Sozialdemokratie August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Ferdinand Lassalle sowie deren Ideen gibt es in der Sozialdemokratie keinen Platz mehr. Allenfalls hängen da und dort in SPD-Büros vergilbte Fotos von ihnen. Zu viele von diesen Erben haben vor entscheidenden Wahlen ihren Wählern den sozialen Himmel auf Erden versprochen. Waren sie dann erfolgreich, wurden sie aber nicht nur wortbrüchig, sondern durch einen leichten Anstoß ihrer Wahlgegner einfach umgestoßen. Die Namensskala reicht von Philipp Scheidemann über Kurt Schumacher, Willi Brandt, Gerhard Schröder und Martin Schulz bis zu Andrea Nahles.

Was kann man nun von der neuen SPD-Doppelspitze erwarten? Wird sie standfest bleiben, oder wird sie vom Sturm ihrer außer- und innerparteilichen Gegner auch wieder umgeblasen? Sympathie aus der Basis allein wird dem Sturm nicht standhalten. Es braucht dazu mehr: politische Ehrlichkeit, ideologische Opposition gegen das herrschende Kapital und Mut zum Kämpfen für eine Systemwende. Besitzt das Duo diesen Charakter? Wohl kaum, denn schon ist es passiert: Das Anti-GroKo-Geschrei ist nach seiner Wahl erheblich leiser geworden. Was vor der Mitgliederentscheidung lauthals verkündet wurde, wird nur noch geflüstert, und die schrillen Töne bleiben im Halse stecken. Das Kapital und seine GroKo brauchen sich nicht mehr die Ohren zuzuhalten. Die Gefahr, übertönt zu werden, ist für sie wieder einmal vorbei.

Manfred Wild
Berlin

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Rekrutierer statt Ausbilder

Fachkräftemangel und Zuwanderungsgesetz

Auf einmal kann es nicht schnell genug gehen. Am 1. März 2020 tritt das Gesetz, das die Zuwanderung von Fachleuten aus Nicht-EU-Ländern regeln soll, in Kraft. Mitte Dezember 2019 gab es dazu einen "Gipfel" mit Kapital und Gewerkschaften im Kanzleramt. Laut Entwurf der Abschlußerklärung werden "Rekrutierungsreisen" organisiert, zugleich wird das "inländische Potential" als "wichtigste Stellschraube" bejubelt. Verlogener geht's kaum.

Das offizielle Geschichtsmärchen dazu lautet: Jahrzehntelang haben sich insbesondere CDU und CSU gegen Einwanderung gesträubt. Das ist Schwindel. Zum einen historisch: Das Geschäftsmodell der Bundesrepublik - Dumpinglöhne und Exportweltmacht - ist Fortsetzung einer alten Strategie des deutschen Kapitals. Sie basiert auf massenhaftem Hereinholen von Niedriglöhnern, also gezielter Lohndrückerei nach innen. Das geht traditionell einher mit rassistischer Hetze. Der "Alldeutsche Verband", so etwas wie die AfD des Kaiserreichs, behauptete schon damals, die ins Ruhrgebiet einwandernden Polen und Italiener schafften die Deutschen ab. Die Sozialdemokratie war damals so gespalten wie heute: standortchauvinistisch oder internationalistisch. Nach 1945 änderte sich wenig: Die Geschichte der Bundesrepublik ist eine Geschichte des Fachkräfteklaus. In den 50er Jahren aus der DDR, dann aus Südeuropa, der Türkei, ab 1990 wieder aus Ostdeutschland, seit den 2000ern aus Osteuropa. Grundsatz ist: Die Abgeworbenen werden nicht als gleichwertige Bürger behandelt.

Zum anderen wird beim Gejammer über Fachkräftemangel die hiesige Bildungskatastrophe "vergessen". Mit der "Stellschraube" verhält es sich so: Die Bundesregierung erklärte im November auf eine Anfrage der Linken, von den knapp 15 Millionen jungen Erwachsenen zwischen 20 und unter 35 Jahren in der Bundesrepublik hätten 4,8 Millionen keinen Berufsabschluß. Darunter waren 2,2 Millionen, die weder berufliche noch schulische Bildung vorweisen können. Das ist gewollt. Wer 50 Prozent aller 15jährigen das Lesen verleidet, wie es PISA gerade feststellte, und ein Drittel nicht bis zur Lesefähigkeit bringt, dem sind Schule, sind Heranwachsende lediglich Profitverkürzer. Bewußt wird ein großer Teil der Heranwachsenden Analphabetismus und "Bildung" durch Youtube-Influencer überlassen.

Bisher übernahm das nahe Ausland ja die Kosten für Qualifizierung. Nun rücken also Drückerkolonnen nach Brasilien, Indien, Vietnam und Mexiko mit der Parole "Make it in Germany" aus. Geheuert wird wie eh und je mit falschen Versprechungen auf raschen Wohlstand, friedliches Zusammenleben oder sogar Staatsbürgerschaft.

Angela Merkel faßte das Programm in der Binsenweisheit zusammen: "Ohne ausreichend Fachkräfte kann ein Wirtschaftsstandort nicht erfolgreich sein." Tja, und wenn der Erfolg ausbleibt, Krise herrscht, dann fliegen wie gewohnt die zuerst, die zuletzt kamen.

Arnold Schölzel

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Zwischen Feindbild und Wetterbericht

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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66 Prozent der Deutschen ohne Verstand?

In der "Welt am Sonntag" (WamS) vom 29.12.2019 befaßte sich der Chefkommentator der "Welt"-Gruppe, Jacques Schuster, mit den Ergebnissen einer Umfrage, die einige Tage zuvor in der Welt zu lesen waren. In der WamS-Druckausgabe trägt Schusters Text die kryptische Überschrift "Weltkind in der Mitten", in der Internetfassung steht oben drüber: "Bei Rußland setzt der Verstand vieler Deutscher aus". Dort gibt es auch, anders als auf dem bedruckten Papier, einen kleinen Vorspann. Der lautet: "Rußland wird von vielen Deutschen mit Milde betrachtet, von einigen sogar als Alternative zum Bündnispartner USA gesehen. Doch ein Regime, das seine Kritiker wegsperrt und Nachbarstaaten bekriegt, kann kein Partner sein."

Den Anlaß für die schlechten Kopfnoten, die Schuster wie ein Oberlehrer der Nation erteilt, beschreibt er so: "Während knapp 70 Prozent der Amerikaner sich künftig engere Beziehungen zu Deutschland wünschen, legen 66 Prozent der Menschen hierzulande mehr Wert auf bessere Beziehungen zu Rußland als zu den Vereinigten Staaten." O.k., das muß einem "Welt"-Chef für Sonstwas nahe gehen. Oder gibt es die Verpflichtungen, genannt "Unternehmensgrundsätze", an die sich jeder bei Springer zu halten hat, nicht mehr? 2017 hieß es darin jedenfalls noch: "Wir zeigen unsere Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika." Schuster hält sich einfach dran - im Gegensatz zu "vielen Deutschen". Das wäre in Ordnung, betrachtete er die Landsleute mit Milde. Die ist aber offenbar in den Unternehmensgrundsätzen nicht vorgesehen. Das Urteil "Verstand setzt aus" kommt ungefähr dem gleich, wie einst steißtrommelnde Dorfschullehrer über ihre Schüler dachten. Schusters Vertrauen haben die 66 Prozent in ihrem "Sumpfboden des kollektiven Unbewußten" jedenfalls verloren.

Anders als bei ihnen funktioniert Schusters Verstand zu Stichworten wie USA, Rußland, Bundesrepublik. Den 66 Prozent wirft er daher vor: "Daß Rußland als erster Staat seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Landnahme der Krim und dem Krieg in der Ostukraine die Grenzen in Europa gewaltsam verschob, kümmert sie genausowenig wie das autokratische Gebaren des russischen Präsidenten." Zynisch und menschenverachtend sind sie auch noch! Im Grunde gehören sie aufgelöst.

Tatsachen sind da überflüssig. Die erste gewaltsame Grenzverschiebung in Europa nach 1945 war die Abtrennung des Kosovo von Serbien durch den NATO-Krieg 1999. Das EU-Protektorat, in dem bis heute deutsche Soldaten stationiert sind, wird wegen seines illegalen Status nicht einmal von allen Mitgliedsstaaten anerkannt. Und der "Krieg in der Ostukraine" hat Grenzen verschoben? Das behaupten nicht einmal Washington, Berlin, Paris und ihre Marionetten in Kiew, obwohl sie alle zu jedem antirussischen Schwindel bereit sind.

Aber Schuster verfügt über eine journalistische Wunderwaffe, die dem Russen keine Chance läßt: den deutschen Konjunktiv. "Hätte", hebt der deutsche Verstandesexperte an, "Donald Trump kurz vor Weihnachten öffentlich verkündet, im Zweiten Weltkrieg habe Polen keinerlei Landverlust hinnehmen müssen, schlimmer noch: Hätte der amerikanische Präsident behauptet, Warschau habe damals 'den ersten Schritt zum Genozid, zur Vernichtung des europäischen Volkes' getan, und die Sowjetunion sei der letzte Staat in Europa gewesen, der einen Nichtangriffspakt mit Hitler geschlossen habe, hätte Trump einen Sturm der Entrüstung ausgelöst." Das sind ziemlich viele "Hätte" auf einmal. Putin, hat - anders als Schuster unterstellt - das meiste davon auch nicht gesagt. Der Russe hat möglicherweise neben Verstand auch noch Vernunft. Ohne Aussetzer.

A. S.

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Über Freiheit und Verantwortung (1)
Beitrag des Deutschlandsenders vom 29. April 1976

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BEI ANDEREN GELESEN
Preiswürdig

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Als Soldaten Mörder wurden

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Die Fabel vom Hund und von den Wölfen

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Wolfgang Reuter: Ein Autor stellt sich vor

Ich bin Jahrgang 1943, in Görlitz geboren und dort aufgewachsen. Mit meinem Lehrerstudium an der Pädagogischen Hochschule Potsdam mußte ich mich allmählich von meiner Heimatstadt lösen; als Lehrer kam ich ab 1965 nach Laubusch (Kreis Hoyerswerda). Mein Leben hatte immer mit jungen Leuten zu tun; neben meiner Arbeit als Lehrer u. a. bei der Organisation von Singeclubs oder beim Festival des Politischen Lieds.

Später landete ich beim Kinderfernsehen der DDR, dessen Chefredakteur ich kurz vor der "Wende" wurde. Mit dem Sandmännchen, Pittiplatsch, Herrn Fuchs und Frau Elster, Clown Hoppla, mit dem Märchenland, dem Spielhaus und vielen anderen Freunden der Kleinsten hatte auch ich meine Freude.

Nebenbei ergab sich in Gera die Gelegenheit, zu Weihnachten und in den Sommerferien Programme für Kinder aufzuführen. Insgesamt über zehn verschiedene Stücke liefen im großen Saal des Hauses der Kultur. Viele lokale Kinder- und Jugendgruppen - vom Kinderchor über eine Tanzgruppe oder einen Kinder-Gesellschaftstanzkreis bis zur Sportwerbegruppe der IG Wismut - freuten sich, auf der "großen Bühne" mitwirken zu dürfen. Also schrieb ich Kindermusicals, die diese Volkskunstgruppen mit ihren Möglichkeiten einbezogen.

Im letzten Jahr des Deutschen Fernsehfunks leitete ich das werktägliche "Mittagsjournal" und die Samstagsreihe "Land und Leute", in der Menschen mit Familientraditionen über mehrere Generationen vorgestellt wurden. Am 31.12.1991 war ich unter denen, die im DDR-Fernsehen das Licht ausknipsen mußten. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit bewarb ich mich erfolgreich beim neugegründeten Deutschen Sportfernsehen in München-Unterföhring und arbeitete dann dort als Sendeleiter bis zu meinem Rentenbeginn im April 2008.

Inzwischen habe ich mehrere Bücher geschrieben (u. a. "High-matt-Land" oder "Jetzt ham wa den Salat!") und verfasse gerne ironische Reimereien wie die obenstehende Fabel - an Anlässen dazu mangelt es in diesem geeinten (?) neuen Deutschland ja wahrlich nicht.

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Warnung vor dem Kommunisten

Der kürzliche Besuch bei der Verwandtschaft meiner Frau war ein Ausflug in das Leben der Oberschicht. Die besuchte Cousine bewohnt eine gigantische Villa mit riesigem Garten in einer der Oberklassen-Gemeinden nördlich von Frankfurt. Die Kinder sind aus dem Haus, der Mann arbeitet in den USA im finanzkapitalistischen Sektor für einen Investmentkonzern, das Vermögen ist in einer Stiftung angelegt.

Im Gegensatz zu der in ähnlichen Klassenprivilegien lebenden Schwester (die vor lauter Klassenarroganz ihren - angeheirateten - Wohlstand nicht nur für ihr höchst eigenes Verdienst hält, sondern als Ausweis ihrer menschlichen und moralischen Überlegenheit über monetär minderbemitteltere Zeitgenossen sieht), ist die Cousine allerdings "normal" geblieben, hat Humor und das Herz auf dem rechten Fleck. Die Tatsache, daß sie sich sowohl ihre Empfindsamkeit wie eine gewisse unverstellte Sicht auf die Bedingungen menschlicher Existenz bewahrt hat, manifestiert sich bei ihr allerdings in einem ausgiebigen Gebrauch legaler Drogen ... Umgang und Gespräche mit ihr sind jedoch erfrischend, unterhaltsam und mitunter tiefgründig. Anläßlich eines bei ihr im Hause vergessenen Anoraks kommt es zu einem Telefonat, in dem sie mir folgende Anekdote mitteilt: "Weißt du, was das Beste ist? Paß auf, der J. (ihr Mann) und ich haben uns fast nicht mehr eingekriegt vor Lachen: Deine Schwiegermutter hat meine Mutter angerufen, damit die mich warnt. 'Sag mal deiner Tochter, daß der Kay ein Kommunist ist. Also nicht nur irgend so ein Linker, sondern Kommunist durch und durch!'"

Ich muß ebenfalls loslachen und fühle mich wie in einem bizarren antikommunistischen Film aus der McCarthy-Ära. Ich schlage meiner Gesprächspartnerin vor, lieber vorsichtig zu sein und schnell aufzulegen - sonst würde ihr nachts noch Stalin erscheinen oder plötzlich "Die Internationale" als Klingelton ihres Smartphones ertönen ...

Wir reden dann aber doch noch eine Weile weiter und amüsieren uns gemeinsam über den putzigen Versuch ihrer Tante - meiner Schwiegermutter -, unter dem Vorwand der wohlmeinenden Warnung vor abweichenden Meinungen Zwietracht zu stiften und sich selbst wichtig in Szene zu setzen. Da mir durch meinen täglichen Umgang mit Hochaltrigen, Dementen und altersbedingt verwirrten Menschen sowieso nichts Menschliches fremd ist, weiß ich die Einlassung meines alten Schwiegermütterchens - die dazu noch Produzentin der republikweit allerbesten Blaubeer-Pfannkuchen ist - richtig einzuschätzen und beschließe, beim nächsten Besuch mal mein T-Shirt mit der Aufschrift "Brigade der sozialistischen Arbeit" anzuziehen.

Für mich interessant: meine anthropologischen Feldstudien in einer Familie mit zwei Sorten Bourgeois durchführen zu können: sowohl die klassischen Exemplare voller Standesdünkel und Klassenarroganz als auch menschlich korrekte Vertreter ihrer Klasse, die einfach Fachleute der kapitalistischen Geldvermehrung sind, weil das die Welt ist, in die sie geboren wurden und in der sie für sich das Beste herausholen. Opfer des Ausbeutersystems sind sie beide (genau wie die lohnabhängige Klasse sowieso), selbst wenn sie sich auf der Gewinnerseite wähnen.

Kay Strathus

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Aphorismen zum Nachdenken Streiten

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Ohrfeigen für literarisches Banausentum

In der Eifel eröffnete man ein Museum für Clara Viebig. Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz gab Zigtausende für die "Förderung der Kriminalliteratur" aus. Kurt Beck verlieh die Carl-Zuckmayer-Medaille an Udo Lindenberg, und die Deutsche Lesegesellschaft in Frankfurt/Main gab "das schnellste Buch der Welt" heraus, das von 40 Autoren in weniger als zwei Stunden geschrieben und nach insgesamt 24 Stunden fertig gebunden ausgeliefert wurde.

Dem setze ich entgegen: Alle mit Literatur und ihrer Wertung ernsthaft und kompetent Befaßten: Philologen, Linguisten, Sprachlehrer, Schriftsteller, Lektoren und Rezensenten sind sich darin einig, daß das höchste Lob, das man einem literarischen Text spenden kann, darin besteht, daß man sagt: "Dies ist Dichtung." Fragt man aber nach den Gründen für so hohes Lob, weil man wissen will, woran man denn die wesentlich dichterische (oder poetische) Eigenart eines Textes erkennen und wie man Dichtung von anderer, minderwertiger Literatur unterscheiden kann, so ist der Befragte mitunter ratlos und reagiert womöglich mit betretenem Schweigen wie ein vornehmlich am Umsatz interessierter Buchverkäufer, dem schließlich nichts Besseres einfällt, als auf irgendeine Bestsellerliste zu verweisen.

Da uns hiermit nicht geholfen ist, weil Verkaufszahlen in aller Regel in die Irre führen, wollen wir einmal tiefer ansetzen, das heißt uns an der Sache orientieren, meint Texte lesen und uns bewußtmachen, was uns an ihnen begeistert oder kalt läßt. Ich will versuchen, dies, von eigenen Leseerfahrungen ausgehend, an mehr oder weniger bekannten literarischen Werken zu veranschaulichen, und nenne hier vorab schon einmal drei Merkmale oder Kennzeichen des Dichterischen, die ich im Lauf meines Lebens als für die Definition von Dichtung am besten geeignet erkannt zu haben glaube: nämlich das Lebendige, das Mythische und das Kosmische. Beginnen wir mit dem Lebendigen. Was ist damit gemeint? Zwei Beispiele, die ich anerkannt großer Literatur entnehme, mögen es zeigen: In Emile Zolas Roman "Germinal" findet sich eine Szene, in der sich tief unter Tage zwei ausgemergelte und nahezu erblindete Grubenpferde begegnen, die einander beschnuppern, vor Freude wiehern und einen sekundenlangen sehnsüchtigen Tagtraum vom Leben auf einer sonnigen Wiese haben. Das mögliche Glück und das tatsächliche Leid, die Qual dieser Tiere ist vom Autor in nur wenigen Sätzen so voller Mitgefühl geschildert, daß es dem Leser die Kehle schnürt, und es zeigt dies, daß Zola nicht nur ein sozialkritischer Schriftsteller, sondern aufgrund seiner Gemütstiefe, seiner Fähigkeit des Mitleidens mit Mensch und Tier, also seiner Liebe zum Lebendigen, auch ein großer Dichter war.

Ein weiteres Beispiel des Lebendigen ist mir aus meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben, als ich zum ersten Mal Tolstois Novelle "Herr und Knecht" las mit der mich damals und noch heute zutiefst erschütternden Szene, in der das vom Knecht Nikita zärtlich geliebte Pferd Muchortyj im Todeskampf mit den Hinterhufen gegen die Wand des Schlittens trommelt, in dem die Menschen liegen, als wollte es diese auf sich aufmerksam machen und ihre Hilfe erflehen. Dann hört das Getrampel mit den Hufen auf - Muchortyj ist tot. Eine herzzerreißende Szene, die auch Tolstoi als großen, lebendig fühlenden und mit Lebendigem fühlenden Dichter ausweist. Kommen wir nun zum Mythischen als einem weiteren Kennzeichen dichterischer Gestaltung:

Das Wesen der Mythenbildung ist die Personifizierung apersonaler Naturmächte und Naturdinge wie Wälder, Berge, Quellen, Flüsse und Meere oder auch toter Gebrauchsgegenstände oder von Menschen geschaffener Dinge, die der Dichter gleichsam zum Leben erweckt, indem er ihnen eine Seele einhaucht und eine Stimme verleiht, mit der sie dann zu ihm sprechen und zu erzählen beginnen, was er ihnen in den Mund legt, so daß sie nun an seiner Statt reden und er selbst ihnen nur noch zu lauschen braucht. Solche nunmehr personifizierten, belebten, redenden und das heißt mythisierten Größen können ein zerbrochenes altes Windrad, ein klappernder Fensterladen, eine knarrende Bodendiele, ein vergessener Sonnenschirm oder ein Schaukelstuhl auf der Terrasse eines alten, halbverfallenen Hauses, eine alte Uhr oder ein Möbelstück sein - die zauberhafte Wirkung auf den Leser ist stets die gleiche: die Mythe lebt dank der lebenspendenden Macht des allwissenden und allmächtigen Erzählers. Entscheidend für die Mythisierung ist immer, daß nicht wie in alltäglicher Rede über einen oder von einem Gegenstand in der dritten Person gesprochen wird, sondern daß dieser personifiziert wird, also entweder selbst wie ein menschlicher Erzähler zu einem Hörer spricht oder aber wie ein geliebter Partner vom Erzähler mit dem freundschaftlich-familiären Du angeredet, ins Vertrauen gezogen und gleichsam zum Intimus gemacht wird.

Zwei Beispiele aus der klassischen deutschen Lyrik mögen dies veranschaulichen: In seinem Gedicht "An den Mond" sagt Goethe: "Fließe, fließe, lieber Fluß!" und wenig später: "Rausche, Fluß, das Tal entlang, ... Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu." und Hölderlins Ode "Heidelberg" beginnt mit den Versen: "Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust, Mutter nennen und dir schenken ein kunstlos Lied, ..."

Bleibt als drittes wesentliches Kennzeichen für Dichtung noch der Begriff des Kosmischen zu erklären. Hierfür ein Beispiel zwar nicht aus der Gegenwartsliteratur, aber doch aus der modernen neuzeitlichen englischsprachigen Literatur: nämlich A. J. Cronins Roman "Die Sterne blicken herab". Schon mit dem Titel des Buches hat der Autor die Dimension des Kosmischen eröffnet und das von ihm erzählte irdische Geschehen (der Roman spielt 1909 und in den folgenden Jahren in dem Städtchen Sleescale im englischen Steinkohlenrevier) in den Rahmen eines übermächtigen, schicksalhaften, unendlich Erhabenen gestellt, angesichts dessen den Leser ein Schauer aus Furcht und Mitleid überrieselt. Der Schlußabschnitt des Romans macht es deutlich: "Schweigen. Die Stange klirrte. Wieder Schweigen. Der Klang einer fernen Glocke. Da standen sie, die Männer, aneinandergedrängt im Korb, aneinandergedrängt in Schweigen und Dunkel der Dämmerung, über ihnen ragten die Schachttürme des Bergwerks, beherrschten die Stadt, den Hafen, das Meer, unter ihnen lag, gleich einer Gruft, das verborgene Dunkel der Erde. Der Korb fiel. Er fiel plötzlich, rasch, ins verborgene Dunkel, und das Geräusch seines Falls stieg auf aus dem Dunkel wie ein großer Seufzer, drang empor bis zu den fernsten Sternen."

Nein, hier geht es nicht um handwerklich-technische Methoden, die sich in Schreibseminaren erlernen lassen. Das Wesen des Dichterischen ist nicht erlernbar. Dichtung erwächst aus der Tiefe der Person des Autors. Er mag ihr den Boden bereiten durch beharrliches Üben und Praktizieren alles nur irgend Erlernbaren - das Beste ist am Ende doch Inspiration. Es wird ihm geschenkt, wenn er's fühlt, doch (frei nach Goethe), wenn er's nicht fühlt, so wird er's nicht erjagen ...

So bleiben am Ende Staunen und Bewunderung des Grandiosen als Freude und Glück des literarischen Kenners, der das wahrhaft Große im sprachlichen Kunstwerk zu schätzen und zu würdigen weiß. Freilich: den Banausen wird dies nicht daran hindern, Makulatur mit Literatur verwechselnd, Bücher von Hera Lind und Dieter Bohlen zu lesen und Gustave Flaubert für den Erfinder des Luftgewehrs zu halten ...

Theodor Weißenborn

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Logbuch einer Entdeckungsreise

Geh doch rüber! Das war bei uns im Westen die Totschlagsphrase, wenn man über den Frieden, die Arbeit, die Kinder, die Rente, die Mieten, die Alltagssorgen redete. Wenigstens das sollte doch aufhören, so glaubten wir, als die DDR dem deutschen Kapital und seinem Staat einverleibt war. Aber nein - "Geh doch rüber!" verwandelte sich in "Willst du die DDR wiederhaben?". Die Platitüde überdauert den offiziellen Tod der DDR bereits seit 29 Jahren.

"Die DDR ist unsterblich", heißt es auf der ersten Tafel der Ausstellung des Vereins "Unentdecktes Land", die Anfang Oktober 2019 auf dem Berliner Alexanderplatz gezeigt wurde. "Die DDR ist unsterblich, von Arbeitslosigkeit bis Zwangsarbeit, manchmal auch das schlechte Wetter. Schuld ist immer sie. Dafür wird sie ausgepeitscht, öffentlich auf den Bildschirmen, in den Schlagzeilen, Leitartikeln und Opfergruppen, vom Heer der Bundes-Aufarbeiter."

48 Tafeln, auf acht wetterfesten Gestellen befestigt, informieren über das, was mit den 30-Jahre-"Mauerfall"-Gedächtnisfeiern nun doch endlich vergessen gemacht werden sollte. Das Potsdamer Abkommen als politische und wirtschaftliche Grundlage der DDR, ihre äußerst schwierigen Ausgangsbedingungen werden erläutert. Gezeigt wird, wie ein "Industriestaat aus dem Nichts" geschaffen wurde. Betriebe und Kombinate werden vorgestellt, und es wird Bilanz gezogen: Im Teil "Die Wirtschaft der DDR vor dem Anschluß" wird die Lüge von der "Pleite der maroden DDR" widerlegt. Der größte Teil der Ausstellung zeichnet die Zerstörung der DDR, die Enteignung der DDR-Bürger und die Deindustrialisierung des Ostens nach.

Es wurden damals keine "Fehler", gemacht, es geht nicht um das "Versagen" einzelner Beamter oder der Treuhand. Das Ganze hatte System, die Bundesregierung stand dahinter, und sie handelte im Auftrag des deutschen Kapitals. Die Abläufe werden auf den Schautafeln akribisch aufgelistet, Fakten, die niemand schönreden kann, sofern er sie zur Kenntnis nimmt. Drei Abteilungen der Ausstellung beschäftigen sich mit speziellen Themen: "Nazis in der DDR" (unentbehrlich für jeden, der ausgerechnet die antifaschistische DDR für die Rechtsentwicklung und die neuerlichen Wahlerfolge der AfD bei den Landtagswahlen verantwortlich macht), "Auferstanden aus Ruinen: Wohnungspolitik in der DDR und heute" (für dieses heute so brisante Thema eine interessante Diskussionsgrundlage), "Der Mensch im Mittelpunkt:

Das Rechtssystem der DDR" (wer etwas über das "Absterben des Staates" im Sozialismus lernen will, über das Marx, Engels, Lenin geschrieben haben, kann hier anhand des praktischen Beispiels Material finden). Weitere Themen sind beim Verein "Unentdecktes Land" in Arbeit.

Ein Renner bei den Besuchern der Ausstellung ist der Katalog. "Sind da wirklich alle Texte drin?", "Da lese ich noch mal nach", "Das schicke ich meinem Enkel im Westen!" Überhaupt sind die Reaktionen auf dem Alexanderplatz überwiegend freundlich und zustimmend. Viele erzählen ihre eigene Sicht, ihre eigene Geschichte. Manche verteidigen sehr vehement die DDR, sind zum Teil extra zur Ausstellung gekommen. Eine Besucherin aus Kolumbien, die in der DDR studiert hat und begeistert von der Ausstellung ist, mahnt an, daß die internationale Solidaritätsarbeit der DDR beleuchtet werden müsse. Sie erzählt, wie Antifaschisten aus Chile während des Pinochet-Regimes Asyl gegeben wurde, wie das zunächst etwas Ärger gegeben habe bei denen, die deshalb länger auf eine bessere Wohnung warten mußten, aber wie die Notwendigkeit dieser praktischen Solidarität dann doch von den meisten eingesehen wurde. Der Themenbereich "Internationale Solidarität" ist beim Verein "Unentdecktes Land" bereits in Vorbereitung - das Wissen solcher Menschen kann da eine große Hilfe sein. Überhaupt wird gerade durch einen Mangel der Charakter der DDR als Projekt der internationalen Arbeiterbewegung sichtbar - öfters wird bedauert, daß der Text nicht auf Englisch vorhanden ist.

Interessant sind auch die Gespräche mit Zweiflern und Schwankenden, denen die Ausstellung gefällt, die aber darüber grübeln, was in der DDR schiefgelaufen ist, vieles kritisch sehen, dann aber wieder sagen: Aber das, was wir heute haben, geht überhaupt nicht. Bei solchen Gesprächen habe ich manchmal die Frage gestellt, ob es denn überhaupt realistisch ist, daß der Sozialismus sofort fertig und einwandfrei funktioniert, ob das nicht eher ein mit heftigen Kämpfen verbundener Übergang ist (was ja übrigens auch die Ausstellung in ihrem Faktenreichtum sehr deutlich zeigt). Und dann gab es - zwar in der Minderheit, aber unüberhörbar - die erklärten Gegner. Alle beispielhaft dafür, daß die Lüge, die Halbwahrheit, das Vorurteil keine Beweise brauchen.

372 Quellenangaben findet man auf den letzten drei Tafeln der Ausstellung. Die Wahrheit herauszufinden, das "unentdeckte Land" zu entdecken, ist harte und schöne Arbeit, bei der jeder dabeisein kann.

Man kann:
- die Ausstellung anfordern (Outdoor-Ausstellung, für jedes Wetter geeignet)
- den Katalog anfordern (gegen Spende),
- die Ausstellungstafeln im Internet ansehen,
- den Verein "Unentdecktes Land" mit Material für die weitere Arbeit an der Ausstellung arbeitsmäßig und/oder finanziell unterstützen.

Kontakt und weitere Informationen:
www.unentdecktes-land.org

E. W.-P.
(Red. bearbeitet aus: KAZ, Nr. 368)

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Vor 70 Jahren verabschiedete die provisorische Volkskammer der DDR das 1. Jugendgesetz

Wenige Wochen nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik beschloß die provisorische Volkskammer am 8. Februar 1950 das von der Regierung der DDR und dem Zentralrat der Freien Deutschen Jugend gemeinsam erarbeitete "Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung". Es war eines der ersten Gesetze der provisorischen Volkskammer der DDR, die sich am 7. Oktober 1949 konstituiert hatte.

Bereits in der vom III. Deutschen Volkskongreß im Mai 1949 beschlossenen und mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 in Kraft getretenen Verfassung war die verfassungsrechtliche Gleichstellung der Jugend in Staat und Gesellschaft, ihre Mitverantwortung und Mitentscheidung in allen die Entwicklung der DDR betreffenden Fragen festgeschrieben. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten regte Wilhelm Pieck die Erarbeitung eines Jugendgesetzes und dessen Beschlußfassung durch die provisorische Volkskammer an. Anliegen des Jugendgesetzes war es, den Mädchen und Jungen ihre Rechte und Pflichten in Staat und Gesellschaft aufzuzeigen und sie, als die Hausherren von morgen, auf die Wahrnehmung künftiger Verantwortung vorzubereiten.

Die Abgeordneten der Volkskammer und die Regierung der DDR würdigten mit dem Gesetz den Beitrag der Jugend unter Leitung ihrer einheitlichen, antifaschistisch-demokratischen Jugendorganisation, der FDJ, zur endgültigen Zerschlagung der Herrschaft des deutschen Imperialismus, zur Beseitigung des von den Faschisten hinterlassenen Chaos sowie der Trümmer und Zerstörungen im östlichen Teil Deutschlands. Mit dem Gesetz zollten Abgeordnete und Regierung der Jugend Achtung und Anerkennung für ihre aktive Mitwirkung beim Aufbau einer neuen, einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung auf dem Territorium der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone.

Die vom 1. Parlament der FDJ im Juni 1946 in Brandenburg/Havel im Auftrag der deutschen Jugend eingeforderten Grundrechte der Jugend

- das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme der Jugend am politischen Leben,
- auf Arbeit und Erholung,
- auf Bildung,
- auf Freude, Frohsinn und ein glückliches Leben im Frieden und in Freundschaft mit der friedliebenden Jugend der Welt hatten ihre Bewährungsprobe bestanden. Mit dem Beschluß vom 8. Februar 1950 wurden die Grundrechte der Jugend in der DDR gesetzlich verankert.

Der jahrzehntelange Kampf der revolutionären deutschen Arbeiterjugendbewegung für eine Entmachtung des Kapitals, die Beseitigung der Ursachen für Ausbeutung und Unterdrückung des deutschen Volkes und seiner Jugend, eines geschürten Rassismus und verbrecherischer Kriege gegenüber anderen Völkern, hatte zumindest in einem Teil Deutschlands, der DDR, zum Erfolg geführt.

Mit dem Jugendgesetz wurde erstmals in der deutschen Geschichte den Mädchen und Jungen, insbesondere den Kindern der Arbeiterklasse, der Bauern und der anderen werktätigen Schichten, soziale Sicherheit, umfassende Bildung und eine allseitige Entwicklung ihrer Persönlichkeit, unabhängig von ihren konfessionellen Anschauungen, zugesichert.

Die Mehrheit der Mädchen und Jungen der DDR nahmen ihre neue Stellung in der Gesellschaft und das in sie gesetzte Vertrauen wahr und erklärten ihre Bereitschaft, sich den neuen Herausforderungen zu stellen.

An der Seite der älteren Kampfgefährten entfaltete die Jugend unter Leitung der FDJ in den Städten, Dörfern, Betrieben, Schulen, Hochschulen und Universitäten vielfältige Initiativen und Aktivitäten beim Aufbau, der Stärkung und der Verteidigung des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates in der Geschichte Deutschlands.

Die Relikte der alten kapitalistischen Gesellschaft - Ausbeutung, Unterdrückung, Bildungsprivilegien, Arbeitslosigkeit, politische Rechtlosigkeit, Rassendiskriminierung und die Ursachen für Kriege - wurden in der DDR ausgemerzt. Humanistische und sozialistische Ideale setzten sich in den Beziehungen der Bürger der DDR und ihrer Jugend durch. Der Kampf für eine Welt des Friedens, die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zur Sowjetunion sowie internationale Solidarität mit allen friedliebenden Völkern prägten das neue Denken und Handeln der Mehrheit der Jugend der DDR. Die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen mit der Jugend und ihrer Organisation, der FDJ, bei der Verwirklichung der im Jugendgesetz enthaltenden Festlegungen und Aufgaben drückte ein völlig neues Verhältnis in den Beziehungen eines deutschen Staates und seiner Regierung gegenüber den heranwachsenden Generationen und deren Zukunft aus.

Anläßlich der Verleihung seines Namens an die höchste Bildungseinrichtung der FDJ, die Jugendhochschule am Bogensee (am 14. September 1950) charakterisierte Wilhelm Pieck das neue Verhältnis von Staat und Jugend mit den Worten: "Wenn uns seit dem Bestehen der Deutschen Demokratischen Republik eine Tatsache immer mit großem Stolz und innerer Befriedigung erfüllte, dann war es die Haltung unserer Jugend zur Deutschen Demokratischen Republik, der große Schwung, mit dem sie an die Lösung der ihr gestellten Aufgaben herangegangen ist. Es gibt heute schon keinen Betrieb mehr in der Deutschen Demokratischen Republik, keine Baustelle, keinen Schacht, in dem nicht die Jugend durch ihr stürmisches Vorwärtsdrängen das Tempo der Arbeit bestimmt und täglich aufs neue unter Beweis stellt, daß sie gewillt ist, zu lernen, daß sie gewillt ist, zu arbeiten, und daß sie gewillt ist, den Frieden zu verteidigen." (Wilhelm Pieck, An die Jugend, Verlag Neues Leben, Berlin 1955, S. 139)

Die im Osten Deutschlands nach 1945 gestaltete Jugendpolitik, zunächst auf Länder- und Kreisebene und ab Oktober 1949 durch den neuen Staat entsprach sowohl den Wünschen und Vorstellungen der jungen Generation wie auch den Interessen und Zielen der Arbeiterklasse und aller anderen werktätigen Schichten des deutschen Volkes.

Volkskammer und Regierung der DDR waren stets darum bemüht, die objektive Übereinstimmung zwischen den Interessen der Jugend und den Zielen der DDR in ihrer Jugendpolitik zu beachten und diese, unter Berücksichtigung sich verändernder Bedingungen und neuer Herausforderungen, zu konkretisieren bzw. weiterzuentwickeln.

So verabschiedete die Volkskammer der DDR am 4. Mai 1964 das 2. Jugendgesetz "über die Teilnahme der Jugend am umfassenden Aufbau des Sozialismus und ihrer allseitigen Förderung in Beruf, Schule und bei Kultur und Sport". Zehn Jahre später, am 28. Januar 1974, wurde das 3. Jugendgesetz "über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und ihrer allseitigen Förderung" von der Volkskammer beschlossen.

Die in den Jugendgesetzen vorgegebenen Orientierungen und beschlossenen Festlegungen für die Gestaltung staatlicher Jugendpolitik waren für alle staatlichen Organe, Institutionen, Betriebe und Einrichtungen bindend. Weitergehende Präzisierungen erfolgten im Rahmen von Verordnungen und Gesetzen, so z. B. im Arbeitsgesetzbuch der DDR, durch Maßnahmen auf der Ebene der Bezirke und Kreise, und vor allem durch die in Betrieben, Institutionen und Einrichtungen, gemeinsam mit der Jugend und den Leitungen der FDJ, jährlich zu erarbeitenden und zu beschließenden Jugendförderungspläne. Jeder Leiter eines Betriebes oder einer Einrichtung war dazu verpflichtet, jährlich vor der Jugend seines Bereiches über den Stand der Erfüllung des Jugendförderungsplans zu berichten.

Die verfassungsrechtliche Stellung der Jugend in der DDR, ihre aktive Teilnahme am Aufbau und der Gestaltung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse stieß auch bei der Jugend der BRD, insbesondere der Arbeiterjugend und ihren Organisationen, auf große Aufmerksamkeit und Zuspruch. Wurde ihnen doch nach 1945, mit Duldung der westlichen Besatzungsmächte, durch die alten, sich weiterhin in der Wirtschaft und den staatlichen Einrichtungen an der Macht befindenden Kräfte des Kapitals eine gesetzliche Gleichstellung und Mitbestimmung untersagt. An diesem Zustand hat sich mit der Gründung der BRD am 7. September 1949 und dem in Kraft getretenen Grundgesetz nichts geändert. Bis heute, 70 Jahre nach der Gründung der BRD und fast 30 Jahre nach der "Wiedervereinigung", wird der Jugend die gesetzliche Gleichstellung versagt und ihr die Mitbestimmung und Mitentscheidung über ihr Leben und ihre Zukunft verwehrt.

Kapital und Bundesregierung unternahmen bisher alles, Aktionen der Jugend, insbesondere der Arbeiterjugend, zur Durchsetzung ihrer berechtigten Forderungen auf Verbesserungen ihrer sozialen Lage, eine gleichberechtigte Bildung und insbesondere eine gesicherte Zukunft in Frieden zu verhindern. Der Einsatz von Gewalt und Verboten gegen Demonstrationen und Aktionen der Jugend wurde zu keiner Zeit ausgeschlossen. Nichts fürchtet das Kapital mehr als eine kritische, auf Veränderungen drängende Jugend und ihre Organisationen. Die Geschichte der BRD ist reich an Beispielen und Tatsachen, wie der Staat von seiner Gründung an die berecht igten Forderungen der Jugend und deren Kampfentschlossenheit auch mit Gewalt unterdrückte bzw. verhinderte, Funktionäre verurteilte, Vereinigungen und Organisationen unter Verbot gestellt hat. (Verbot der FDJ in der BRD am 26. Juni 1951; Verbot der KPD am 17. August 1956; Radikalenerlaß [Berufsverbot] am 28. Januar 1972 u. a. m.)

Junge Bundesbürger, Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaf tsjugend, von Arbeiterjugendorganisationen u. a. demokratischen Jugendorganisationen der BRD betonten in Gesprächen auf Treffen, Kongressen und Begegnungen der Jugend beider deutscher Staaten immer wieder, daß die gesellschaftliche Stellung der Jugend in der DDR, ihr Engagement und ihre Mitverantwortung für die Jugend der BRD beispielgebend und für ihren Kampf hilfreich sind.

Nicht wenige Erfolge in den Auseinandersetzungen zur Verbesserung der Lage der Jugend in der BRD bis Ende der 80er Jahre waren vor allem der Existenz der DDR, ihrer Friedens- und Jugendpolitik, zu verdanken. Bei vielen Tarifverhandlungen mit den Unternehmern saß die DDR als dritter Verhandlungspartner mit am Tisch. Der Durchsetzung innen- und außenpolitischer Forderungen des Kapitals waren durch die Existenz der DDR Grenzen gesetzt.

Mit der Liquidierung des ersten Staates der Arbeiter und Bauern und einzigen deutschen Friedensstaats, zu dessen Untergang die BRD durch ihre menschenfeindliche Innen- und diktatorische Außenpolitik ("Hallstein-Doktrin") gegenüber anderen Staaten beigetragen hat, wurden alle von der Jugend der DDR erreichten Ergebnisse und Erfolge über Nacht für null und nichtig erklärt.

Die Jungen und Mädchen aus der DDR wurden durch die Politik der Bundesregierung 1990 in die gleiche soziale Lage und rechtliche Stellung in der Gesellschaft hinabgestoßen, in der sich die Jugend der BRD seit Jahrzehnten befand. Auch für die Jugend der alten BRD ging damit der Wunsch auf eine hoffnungsvolle gesicherte soziale und friedliche Zukunft zu Ende.

Seit 1990 zieht die Bundesregierung mit allen ihren Institutionen und Einrichtungen, unterstützt durch die Medien u. a. alle Register zur Verschleierung der wahren Ziele ihrer jugendfeindlichen Politik, um die Jugend daran zu hindern, die wahren Ursachen für ihre soziale Schieflage und Rechtlosigkeit in der Gesellschaft zu erfassen.

Die Herrschenden der BRD sind seit 1990 intensiv darum bemüht, ihren seit Jahrzehnten geschürten Antikommunismus weiter zu beleben und fortzusetzen. Um die Bundesbürger, vor allem die Jugend, von den wahren Zielen bundesdeutscher Innen- und Außenpolitik abzulenken, stellt man den Staat an den Pranger, der sich trotz aller Probleme und Schwierigkeiten über viele Jahre hinweg darum bemüht hat, eine Politik im Interesse seiner Bürger und ganz besonders seiner Jugend und deren Zukunft zu gestalten: "SED-Diktatur", "Unrechtsstaat DDR" dröhnt es Tag für Tag in unterschiedlichsten Schattierungen von den Herrschenden und ihren Medien.

- Ist das etwa ein Rechtsstaat, der seit nunmehr über 70 Jahre seiner Jugend, insbesondere der arbeitenden Jugend, soziale Sicherheit, gleiche Bildungschancen, rechtliche Gleichstellung in der Gesellschaft, Mitbestimmung und Mitentscheidung sowie eine Zukunft in Frieden und guter Nachbarschaft mit allen friedliebenden Völkern verweigert?

- Ist es rechtens, wenn ein nicht geringer Teil der Jugend der BRD sich in einer katastrophalen sozialen Lage befindet und weitestgehend aus der Gesellschaft ausgegrenzt ist? (In der BRD leben über zwei Millionen Kinder in Armut.)

- Ist es rechtens, wenn Teilen der Jugend aufgrund vorherrschender Bildungsprivilegien jede Chance auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit genommen ist?

- Ist es rechtens, wenn sich Zehntausende junge Bundesbürger in Uniform im Auftrag der Bundesregierung im Auslandseinsatz befinden, um die Profit- und Machtinteressen des deutschen Kapitals und der BRD in fremden Ländern durchzusetzen? Über hundert junge Soldaten haben bei ihnen befohlenen Kriegseinsätzen bereits ihr Leben verloren. Tausende (genaue Zahlen werden verschwiegen) kommen traumatisiert von ihrem Einsatz zurück.

Das alles reicht den Herrschenden der BRD offensichtlich nicht. Sie wollen in der internationalen Politik wieder den Ton angeben. Nicht anders darf man die Aufforderung der Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Union und Bundesministerin für Verteidigung auf dem Parteitag der CDU Ende November 2019 in Leipzig nach einem stärkeren Ausbau der Bundeswehr und einer Ausweitung ihrer Auslandseinsätze, verstehen. Daß die Mehrheit der Bevölkerung der BRD diese Politik ablehnt, wird von der Bundesregierung und den derzeitigen Regierungsparteien nicht zur Kenntnis genommen.

Die hier angeführten Beispiele widerspiegeln die wirkliche Lage der Jugend in der BRD, dem angeblich reichsten Land in der Europäischen Union.

Ihre Lage und gesellschaftliche Stellung in der BRD verändern kann die Jugend nur dann, wenn sie sich zusammenschließt und gemeinsam ihre Interessen und Ziele gegen den Widerstand von Kapital und Staat durchsetzt.

Die geschichtliche Erfahrung der Jugendbewegung der DDR besagt: die Jugend kann in ihrem Handeln nur dann erfolgreich sein, wenn sie an der Seite der Arbeiterklasse und aller Werktätigen kämpft.

Die DDR besteht seit nunmehr 30 Jahren nicht mehr. Ihre Erfahrungen und Lehren, gerade auf dem Gebiet staatlicher Jugendpolitik, sind jedoch für die Gegenwart und in Zukunft von unschätzbarem Wert. Eine kritische und wahrheitsgetreue Aufarbeitung der Jugendpolitik beider deutscher Staaten, der DDR und der BRD - sowie in den drei Jahrzehnten seit der sogenannten Wiedervereinigung -, wäre im Interesse der heute Lebenden wie kommender Generationen dringend notwendig!

Dr. Dieter Luhn
Berlin

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Internationale Solidarität war in der DDR Staatsdoktrin

So wie der Ruf "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" war auch die internationale Solidarität in der Geburtsurkunde der DDR manifestiert. Ein solcher Staat kann niemals nur "eine Fußnote der Geschichte" sein, wie Stefan Heym das Ergebnis der Wahlen zur Volkskammer vom 18. März 1990 kommentierte. Rhetorisch gefragt: In welcher Welt hat Stefan Heym eigentlich gelebt? Als die UNO die BRD und die DDR 1973 in die Familie der Völkergemeinschaft aufnahm und als gleichberechtigt anerkannte, nahmen 134 Länder mit der DDR diplomatische Beziehungen auf. Spätestens ab dieser Zeit entfaltete sich eine starke internationale Solidarität mit den vom Imperialismus unterjochten Völkern auf fast allen Kontinenten. Zwischen 1964 und 1989 waren insgesamt 22 FDJ-Freundschaftsbrigaden in 16 Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas tätig.

Diese und andere bemerkenswerten Aussagen zur Geschichte der internationalen Solidarität der DDR trafen Thomas Kunze und Thomas Vogel in ihrem Buch "Ostalgie international: Erinnerungen an die DDR von Nicaragua bis Vietnam".

"Die Zeit in der DDR war die beste in meinem Leben", erklären damals Studierende aus Nikaragua noch heute.

Während sich die BRD nach dem Sieg der Sandinisten auf die Seite der USA schlug und deren Blockadepolitik unterstützte, flogen regelmäßig Maschinen mit Solidaritätsgütern aus der DDR nach Managua. Unvergeßlich bleibt die Entstehung des Krankenhauses "Carlos Marx". 1984 wurde das Berufsbildungszentrum gegründet, in dem jährlich 300 Lehrlinge aller Fachrichtungen ausgebildet wurden. Das immer noch voll funktionsfähige Polytechnische Institut "Ernst Thälmann" ist 1984 von der DDR gegründet worden. Es ist lebendig im Bewußtsein der Bevölkerung Nikaraguas geblieben, daß dieses Institut durch die Solidarität der DDR entstanden ist.

Das standhafte und dem US-Imperialismus trotzende Kuba war ein weiterer Schwerpunkt der DDR-Solidarität. Seit 1961 gab es unzählige Verträge zwischen beiden Ländern, in deren Rahmen viele junge Kubanerinnen und Kubaner an den Universitäten, Hoch- und Fachhochschulen der DDR ausgebildet wurden. Durch ihre fundierte Qualifikation haben diese Absolventen bis heute hohe Positionen in der kubanischen Administration. Unzählige Kultureinrichtungen, Museen, Vereine, wissenschaftliche und wirtschaftliche Gremien - sie alle profitierten von der Hilfe durch die DDR. Das Kulturzentrum "Bertolt Brecht" befindet sich heute noch im Zentrum Havannas. Das kubanische Archipel mit mehr als 4000 Inseln trägt den Namen Ernst Thälmanns. Beliebte und billige Fahrzeuge sind immer noch die DDR-Motorräder. Kubaner mit DDR-Erfahrung empfinden die Zeit ihres Aufenthalts in der DDR als ihre "schönsten Lebensjahre" überhaupt. Jährlich treffen sich Absolventen von DDR-Hochschulen am 11.11. um 11.11 Uhr in Alt-Havanna auf der Plaza de Armas. So pflegen die Menschen die Erinnerung an die DDR und halten sie damit lebendig. Während die BRD den faschistischen Putsch in Chile finanziell, propagandistisch und politisch unterstützte, gab die DDR Tausenden geflüchteten Chilenen ein Zuhause. Später wurden als Dank und Anerkennung Margot und Erich Honecker in Chile herzlich aufgenommen.

Die DDR war jahrzehntelang ein enger und treuer Verbündeter der Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika. Zwischen ihr und den afrikanischen Staaten gab es in vielen internationalen Fragen weitgehende Übereinstimmung, wobei ihnen die DDR als Partner und Verbündeter immer zur Seite stand.

Während die Bundesrepublik das Apartheidregime in Südafrika hofierte, gab die DDR den schwarzen Verfolgten Schutz. Trotz ihrer begrenzten ökonomischen Möglichkeiten "hielt die DDR an der Hilfe für die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika unvermindert fest, teilweise wurde die Unterstützung sogar noch verstärkt". Viele junge Afrikaner aus Namibia, Angola, Mosambik und Südafrika wurden in der DDR ausgebildet. Befreiungsbewegungen des Kontinents, der Afrikanische Nationalkongreß (ANC), die Mosambikanische Befreiungsbewegung FRELIMO, die Befreiungsbewegung Namibias SWAPO und die MPLA aus Angola erhielten finanzielle und beratende Unterstützung. "Die DDR und ihre Bürger haben durch aktive Solidarität einen Beitrag zur Überwindung des Kolonialismus und der Apartheid geleistet. [...] Wir waren zutiefst getroffen durch den Kollaps der DDR", sagte der Parlamentspräsident Südafrikas, Max Sisulu.

Die DDR stand stets auf der Seite der national-patriotischen arabischen jungen Nationalstaaten Ägypten, Algerien, Libyen, Irak und Syrien. Die Solidarität mit dem Volk Palästinas hatte besonderes Gewicht. Freundschaftliche Kontakte charakterisierten das Verhältnis zwischen dem PLO-Chef Jassir Arafat und Erich Honecker. "Arafat ist Honecker bis zu dessen Tod treu geblieben." Die DDR hat Palästina offiziell als Staat anerkannt. In Berlin residierte ein Palästina-Botschafter. Nach der Restauration des Kapitalismus in Ostdeutschland "verloren wir den diplomatischen Status", stellt Abdallah Frangi, Chef der palästinensischen Vertretung in der BRD, verbittert fest. Zur Solidarität mit dem afghanischen Volk sei auf meinen Beitrag im Dezember-"RotFuchs" verwiesen.

Es darf nicht vergessen werden, auf die Rolle und die zahlreichen Initiativen der DDR in den Abrüstungsgremien der Vereinten Nationen hinzuweisen. Die Deutsche Demokratische Republik war ein Friedensstaat. Solange sie existierte, traute sich der westdeutsche Imperialismus nicht, ohne weiteres in einen Krieg zu ziehen. Nach dem Ende der DDR führte die BRD wieder völkerrechtswidrige Kriege, vom Balkan bis zum Hindukusch. Zur Zeit ist die Bundeswehr auf insgesamt 16 Kampfschauplätzen international aktiv.

Von wegen "Fußnote der Geschichte"! Wenn es die DDR nicht gegeben hätte, müßte sie erfunden werden. Dieser Friedensstaat auf deutschem Boden wird im kollektiven Gedächtnis der friedliebenden Völker weiterleben. Wir Menschen aus den ehemaligen Kolonien und Halbkolonien haben der DDR und ihren Bürgern viel zu verdanken.

Das Buch beleuchtet die DDR aus verschiedenen Perspektiven. Es gibt sachliche und lesenswerte Beiträge, aber auch andere, eher feindselige Texte, die man vernachlässigen kann. Wer sich hier die Mühe macht, die Spreu vom Weizen zu trennen, wird mit vielen nützlichen Informationen belohnt.

Dr. Matin Baraki


Thomas Kunze/Thomas Vogel (Hrsg.): Ostalgie international. Erinnerungen an die DDR von Nicaragua bis Vietnam.
Ch.-Links-Verlag, Berlin 2010, 256 S. (Nur noch als E-Book lieferbar)

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Ein Schwimmbad in der Haftanstalt Hohenschönhausen?

Schon vor einiger Zeit haben mich einige Freunde und Bekannte dazu überredet, meine Erinnerungen aufzuschreiben - nun liegen sie bereits gedruckt als Buch vor (Edition Berolina). Ich war ja eher der Ansicht, daß ich ganz normal meine Arbeit getan habe, nach bestem Wissen und Gewissen. Ich war von April 1967 bis zum Januar 1990 Mitarbeiter der Hauptabteilung Untersuchung IX/7 beim MfS und dort mit der Aufklärung von politisch und operativ bedeutsamen Vorkommnissen in der DDR befaßt. Da ich ursprünglich Morduntersucher beim Ministerium des Innern war, hatte ich auch in meiner Diensteinheit viel mit nicht natürlichen Todesfällen, aber auch mit anderen Vorkommnissen zu tun. Fast drei Dutzend von vielen Fällen, an deren Bearbeitung ich beteiligt war, sind nun im Buch beschrieben. Spannendes, Tragisches und Skurriles. Natürlich setzt man sich nicht einfach hin und schreibt drauflos. Neben vielen Gesprächen mit ehemaligen Weggefährten mußte ich auch etliches recherchieren, Akten und Bücher lesen, um meine Erinnerungen aufzufrischen.

Dabei fielen mir viele fast vergessene Sachen ein, unter anderem das mit dem Schwimmbecken für die Gefangenen der Haftanstalt des MfS, die innerhalb unserer Dienststelle lag. Wir (also meine Diensteinheit) hatten mit der Haftanstalt nichts zu tun; wir übergaben die überführten Straftäter, in meinem Fall Mörder, Brandstifter usw. an die entsprechenden Kollegen, die für die Hafteinrichtungen zuständig waren. Allerdings konnte ich vom Fenster meines Büros auf einen Teil der Haftanstalt hinunterblicken. Und einige Jahre blickte ich auf ein großes Schwimmbecken, welches Teil der Haftanstalt war. Dieses Becken, es bestand aus Beton und hatte eine Einstiegsleiter aus Edelstahl, war nicht etwa zur Entspannung des Wachpersonals gedacht, nein, es war für die Häftlinge. Jahrelang konnte ich sehen, wie sich die Gefangenen in dem Schwimmbecken tummelten. Allerdings wurde es so um 1973 eingeebnet. Der Beton hatte wohl Risse bekommen, und die Reparatur wäre zu aufwendig und zu teuer geworden. An die Stelle des Schwimmbeckens kam ein Gewächshaus, in dem die Häftlinge gärtnern konnten und Obst und Gemüse zur Eigenversorgung anbauten.

Nach den gesellschaftlichen Umbrüchen hatte ich erst einmal gehörig zu tun, um mich und meine Familie über Wasser zu halten.

Aber ich blieb neugierig und wißbegierig, das war schließlich lange Zeit Bestandteil meines Berufes. So stattete ich im Jahr 2000 zum ersten Mal der zur Gedenkstätte erklärten Haftanstalt einen Besuch ab. Die etwa zweistündige Führung beeindruckte mich sehr, aber wahrscheinlich hätte mich die Führung durch eine alte Haftanstalt irgendwo in der Welt nicht minder beeindruckt. Eine Haftanstalt ist nun mal keine Ferieninsel, und die meisten Menschen kennen so was ja nur aus Filmen.

Irgendwann erklärte der Referent, daß die DDR 33 000 Häftlinge an den Klassenfeind verkauft hätte, und wälzte das Thema breit aus, weil die DDR der einzige Staat gewesen wäre, der so etwas getan habe. Nach seinen Ausführungen blickte er zufrieden in die Runde und sagte: "Gibt es noch Nachfragen zum Thema, sonst gehen wir weiter ..." Ich meldete mich und fragte, wieviel Häftlinge sich bei der UNO oder sonstwo über ihre Haftbedingungen beschwert hätten. Aber erst als ich die Frage wiederholte, bekam ich die kurze Antwort: "Keiner!"

Gemeinsam mit Freunden besuchte ich zehn Jahre später noch einmal die Gedenkstätte. Zu Beginn des Rundganges wurden uns an einem großen Modell alle Gebäude der Haftanstalt, gelegentlich auch Arbeitslager X genannt, erläutert. Natürlich gab es keinen Hinweis auf ein Schwimmbecken. Also - ich hatte es seinerzeit ja mit eigenen Augen gesehen - fragte ich danach. Damit handelte ich mir einen schiefen Blick und die Bemerkung "Sie sind wohl gekommen, um zu provozieren?" ein. Und auf mein Nachhaken gab es die Antwort: "Das war doch ein Feuerlöschbecken ..." Ich begann dann keine Diskussion, indirekt war ja mein Wissen bestätigt worden.

Im Anschluß an die Führung tranken wir Kaffee auf dem Hof und stellten fest, daß es auch vom Gewächshaus keine Spur mehr gab. Danach ging's in die hauseigene Buchhandlung. Naturgemäß gab es dort fast ausschließlich Bücher, die über die "schlimmen" Verhältnisse in der DDR aufklären sollten. Da ich mich ja über Dinge informieren wollte, die ich nicht wissen konnte, kaufte ich mir das Buch "Gefangen in Hohenschönhausen", herausgegeben von Hubertus Knabe, bis zu seinem unrühmlichen Abgang vor ein paar Wochen Leiter der Gedenkstätte. Zu meinem großen Erstaunen las ich abends im Buch, daß ein Häftling, Hans-Eberhard Zahn, über das Schwimmbecken schrieb. Er war 1958 bis 1959 Häftling in Hohenschönhausen. Ich zitiere hier nun seine Ausführungen zum Schwimmbecken: "'Willkommen bei uns im Lager!' begrüßte man uns - und einer bietet mir sogleich eine aus edlem Tabak selbstgedrehte Zigarette an. Welch ein Kontrast: Vor Stunden noch Stumpfsinn in der Bautzener Einzelzelle, jetzt ein sonnenbeschienenes Gelände mit - man mag es nicht glauben - einem Schwimmbecken, in dem sich fröhliche Gefangene tummeln. Mußten wir noch in der 'Freistunde' zum Beispiel im Zuchthaus Brandenburg in Reih und Glied unter argwöhnischer Aufsicht im Gleichschritt um den Hof marschieren, so wandeln hier pfeiferauchende Gefangene angeregt plaudernd lässig um den 'See' oder sitzen in einem großen, von Musik durchfluteten Saal schachspielend bei selbstgebrühtem Tee ..."

Natürlich hat die Person Hans-Eberhard Zahn mein Interesse geweckt, und ich forschte nach. Er war am 11. November 1953 vom MfS festgenommen und inhaftiert worden. Bei der Festnahme hatte er 67.000 DDR-Mark dabei, die er nach eigenen Angaben an notleidende Angehörige von in Westberlin Studierenden auszahlen wollte. Er selbst wohnte in Westberlin.

Das Stadtgericht Berlin verurteilte ihn jedoch wegen Militärspionage zu sieben Jahren Freiheitsentzug, den er bis November 1960 verbüßte. Nach der Haftentlassung setzte er sein Psychologiestudium bis zum Abschluß fort und arbeitete danach als wissenschaftlicher Assistent. Er war Ehrenvorsitzender des reaktionären "Bundes Freiheit der Wissenschaft" und nach 1989 Gründungsmitglied der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Dort war er von 2003 bis 2005 Vorstandsmitglied, von 2001 bis 2010 Besucherreferent und hat 2011 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Am 29. August 2013 ist er verstorben.

Mit ihm hatte ich einen "Zeugen" für das Schwimmbecken in der Haftanstalt gefunden, der meine eigenen Erinnerungen bestätigte.

Hans Becker
Berlin

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Fanatismus der Auslöschung - Gab es in "Ostzonesien" Kunst?

In der "Phänomenologie des Geistes" verwandte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1807 die Formulierung "Furie des Verschwindens". Er drückte damit seine Mißbilligung bestimmter Entwicklungen der Großen Französischen Revolution von 1789 aus. Ansonsten feierte er sie zeitlebens an jedem 14. Juli als "großen Sonnenaufgang" und hielt sie für ein weltgeschichtliches Ereignis, mit dem die Welt auch im übertragenen Sinn "auf den Kopf gestellt" worden sei. Unbehagen aber bereiteten ihm zwei Dinge. Erstens: die Leichtigkeit, mit der im Namen der allgemeinen Freiheit in ganz Frankreich Köpfe rollten. Das sei "der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers". Den Abschnitt, in dem sich diese Aussagen finden, versah er mit dem Titel "Die absolute Freiheit und der Schrecken", was sich auch übersetzen läßt mit: keine Revolution, die nicht konterrevolutionäre Züge trägt. Zweitens: So unvermeidlich die mit der Revolution freigesetzte Gesellschaft der "Nützlichkeit" war, so wenig gefiel sie ihm: "Kein positives Werk noch Tat" könnten diese allgemeine Freiheit hervorbringen, es bleibe ihr nur das negative Tun, sie sei "nur die Furie des Verschwindens". Hegel mochte den Kapitalismus nicht, nahm ihn aber notgedrungen hin. Nur in der "Welt der Bildung" komme der Einzelne dazu, sich nicht nur negativ oder in Entfremdung zu sehen. Das war ein politisches Programm, das besagt: Wenn der Kapitalismus schon kommt, dann streng geregelt durch den Staat und auf der Grundlage von Bildung, durch Reformen.

Der Vorgang wiederholte sich 200 Jahre nach 1789, allerdings rückwärtsgewandt: In der DDR und den anderen sozialistischen Ländern Europas fand eine Konterrevolution statt. Daß es sich um eine solche handelte, war exakt meßbar an den Quantitäten sozialistischen Eigentums, die durch eine staatliche Einrichtung, die "Treuhand", in ähnlich kurzer Zeit beseitigt wurden, wie einst für "das Durchhauen eines Kohlhaupts" benötigt worden war. Rasend schnell verloren in der DDR mehr als vier Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze, transportierten die Eroberer alles Mobile und Verwertbare an Maschinen ab und sicherten sich die Immobilien. Mit den Betrieben verschwanden die real existierenden sozialen und kulturellen Netzwerke, dann die Beschäftigten. Nach Erhebungen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle an der Saale vom April 2019 verließen von 1989 bis 2015 etwa 5,2 Millionen Menschen die DDR bzw. Ostdeutschland. Mehr als 3,3 Millionen zogen in die umgekehrte Richtung.

Der "Furie des Verschwindens" schien erst recht alles ausgeliefert zu sein, was nach Kunst und Kultur der DDR aussah. In keinem anderen sozialistischen Land herrschte eine ähnliche Zerstörungswut. Millionen Bücher und Zehntausende Kunstwerke wurden vernichtet, Künstler und Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler verleumdet und an den Pranger der "Qualitätsmedien" gestellt.

Die Zerstörung hatte nicht nur mit der Wiederkehr des Kapitalismus zu tun, sondern vor allem mit der kolonialen Attitüde seiner Repräsentanten. Das Verdikt lautete: Die Eingeborenen von "Ostzonesien" hatten keine Kunst, keine Literatur, keine Spielfilme und keine wichtigen Theaterinszenierungen hervorgebracht, sondern lediglich Agitation und Propaganda. Literaturwissenschaftler wie der Bremer Professor Wolfgang Emmerich, in den 80er-Jahren Verfasser einer "Kleinen Literaturgeschichte der DDR", beteuerten nun, sie hätten dem ostdeutschen Staat "zuviel Kredit" eingeräumt, und schrieben ihre "Standardwerke" eilends um. Bildende Kunst wurde in offiziellen und offiziösen Verlautbarungen zu "Staatskunst" oder "Auftragskunst" erklärt, was negativ gemeint war. Ästhetische Qualität hatte es demnach im Osten nie gegeben, nur Politik. Es dauerte eine Weile, bis Sachverständige darauf aufmerksam machten, daß bildende Kunst seit Tizians oder Michelangelos Zeiten zumeist beides gewesen war.

Das änderte wenig. Höhepunkt der kolonialen Exzesse war eine "Ausstellung" genannte Parallelisierung von Nazi- und DDR-Gemälden 1999 in Weimar. Die Gleichsetzung der "beiden deutschen Diktaturen", also die Verharmlosung von Faschismus, Weltkrieg und Auschwitz, ist Staatsdoktrin - erst recht im Umgang mit der DDR-Kultur. Repräsentativ blieb, was der Maler Georg Baselitz 1990 dekretierte: "Es gibt keine Künstler in der DDR" - um dann einzuschränken: "Die Künstler der DDR sind Arschlöcher"; 2018 reduzierte er diesen Befund auf "Nationalpreisträger".

Zeichnete sich dieser Fanatismus des Auslöschens vor 1989 ab? Nach außen hin nicht: DDR und BRD schlossen 1986 ein Kulturabkommen ab, Ausstellungen wanderten über die Grenze, Wissenschaftler loteten Möglichkeiten einer Zusammenarbeit aus. Nach dem 3. Oktober 1990 plötzlich schien es diesen Austausch nie gegeben zu haben. Bundesdeutsche Professoren wickelten ihre ostdeutschen Kollegen zu Zehntausenden ab.

Die heutige Medienwelt transportiert eine Generalnachricht, die Peter Hacks als die große Lüge ausmacht. Sie besage, "daß es mit dem Zustand der Gesellschaft seine Unabänderlichkeit und seine Richtigkeit habe". Das sei so irrsinnig, daß das Erkenntnisstreben des Rezipienten ausgetilgt werden müsse. Hacks hatte richtig beobachtet. Spätestens in den 80er-Jahren war die sogenannte Massenkultur in Teilen der DDR-Bevölkerung hegemonial geworden. Das BRD-Privatfernsehen, durch Kanzler Helmut Kohl mit einer seiner ersten Amtshandlungen 1983 freigeschaltet, wurde in Ostdeutschland zum Renner. Staat und Kommunen ermöglichten Gemeinschaftsanlagen für den Fernsehempfang. Die Legende vom "Tal der Ahnungslosen" begann zu blühen. "Dallas" sah in der DDR prozentual ein größerer Teil der TV-Zuschauer als in der BRD.

Die sozialistische Kulturpolitik hatte kapituliert, es ging nicht mehr um einen Gegenentwurf zum Imperialismus und dessen Verheerungen, nicht mehr vorrangig um Solidarisierung mit widerständiger Kunst im Westen, sondern um "anything goes" - um den Mythos der Postmoderne, wonach die Zeit der "großen Erzählungen" von Sozialismus, Humanismus, von Kunst und Philosophie vorbei sei. Das hatte den Glanz von Liberalität, Offenheit, ja Anarchie im Sinne von Herrschaftsfreiheit und fragte nicht nach realer Macht. Romantik eben.

Den Rest erledigte die koloniale Bürokratie: Auf ostdeutscher Seite herrschte bei vielen Künstlern und Kunstliebhabern 1989 und 1990 noch die Illusion, daß durch Stiftungen und Sponsoring die kulturelle Infrastruktur der DDR erhalten werden könne. Immerhin fand die sogenannte Kulturklausel Eingang in den "Einigungsvertrag", wonach die "kulturelle Substanz der DDR" keinen Schaden davontragen sollte. Das galt für die Hochkultur. Der Bund finanzierte mit Milliarden Deutscher Mark die Zusammenführung von Kunstsammlungen, 1991 die Gründung der Stiftung Weimarer Klassik und 1994 der Stiftung Bauhaus Dessau, die Einrichtungen unterhielten, die in der DDR entstanden waren.

Opernhäuser und Theater schlossen erst nach und nach, Orchester wurden schrittweise aufgelöst. Die sogenannte Breitenkultur überlebte den Anschluß allerdings kaum. Der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp zählte 1994: Verschwunden waren damals bereits 360 von 861 Kulturhäusern, 2552 hauptamtliche und 753 ehrenamtliche Bibliotheken sowie 47 Kulturhäuser von Organisationen. Von knapp 100.000 in kulturellen Einrichtungen Beschäftigten blieben einige Tausend. Analog verlief die Abwicklung im Wissenschaftsbereich als scheinbar unpolitischer Verwaltungsakt. Bis 1992 waren fast alle 200.000 Wissenschaftler der DDR entlassen oder auf befristete Arbeitsstellen versetzt. Das übertraf bei weitem die Zahlen früherer historischer Zäsuren von 1919 über 1933 bis 1945. Der Vernichtungswille war grenzenlos.

Das kulturelle Netz schien ein für alle Mal zerrissen, heute stellt sich aber heraus: Soweit die Ostdeutschen geblieben sind, blieb vieles erhalten. Mehr als 80 Prozent von ihnen fanden in den 90ern, daß der Sozialismus zumindest eine "positive Idee" sei (heute sind es knapp 60 Prozent). Das wiedererwachte Interesse für Musik, bildende Kunst und Literatur der DDR wurde als "Ostalgie" denunziert, als Unbotmäßigkeit der "Zone". Der ostdeutsche SPD-Politiker Hans-Jürgen Misselwitz schrieb dazu: "Es ist die öffentliche und systematische Ignoranz bzw. Nichtanerkennung ihrer Geschichte, die aus den unterschiedlichen Menschen und gegensätzlichen Schicksalen in der DDR nun in der Bundesrepublik ein paradoxes DDR-Erfahrungskollektiv schmiedet."

Anders gesagt: In einem gewissen Sinn wurde die DDR-Kulturnation nach 1990 wiederhergestellt. Das heißt zudem: Auch eine Konterrevolution enthält ihr Gegenteil. Kapitalismus in seiner kolonialen Form führt nicht zur Assimilation, sondern zur Artikulation des Unterdrückten. Die Erfahrung der Kolonisierten enthält Bildungselemente, von denen die Kolonialkommissare nichts wissen. Die "Furie des Verschwindens" ist ein Anfang dieser Dialektik. Gegenwärtig gibt es Überlegungen, die X. Kunstausstellung der DDR, die 1987/1988 in Dresden stattfand, zu rekonstruieren. Meldungen dieser Art häufen sich.

Arnold Schölzel

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Schicksal Treuhand?

Brach die Treuhandpolitik 1990 tatsächlich wie ein "Schicksalsschlag", d. h. eine Art Unwetter oder Naturgewalt über die Ostdeutschen herein? So lautet die Frage im Umschlagtext des Begleitbuchs zur Ausstellung "Schicksal Treuhand - Treuhand-Schicksale" der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Vergessen wir bei unseren Urteilen nie: Alles Seiende ist geworden - ein Blick zurück ist daher nützlich. Am 18. Oktober 1989 wurde Erich Honecker von seinen Partei- und Staatsämtern abgelöst; das SED-Politbüro und die Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph traten zurück. Am 9. November ordnete der Staatsratsvorsitzende der DDR Egon Krenz die Öffnung der Grenzübergänge an, nachdem er den Einsatz der Schußwaffen untersagt hatte. Dem Wesen der Sache nach diktierte nun die BRD der DDR die Bedingungen - von Verhandlungen "auf Augenhöhe" konnte keine Rede mehr sein. Die westdeutschen Fernsehanstalten ARD und ZDF hatten bei zu vielen DDR-Bürgern Illusionen über die BRD erzeugt. Nichts ist bekanntlich so begehrenswert wie ein Land ohne Sorgen und Mühsal, das man nicht hat.

Dr. Dagmar Enkelmann (PDL) schreibt: "Der Protest gegen die Politik der Treuhand hat die Anstalt von Anfang an begleitet - ebenso wie die Erfahrung, daß Widerstand in Form von Betriebsbesetzungen, Demonstrationen vor der Treuhandzentrale in Berlin oder sogar Hungerstreiks zumeist vergeblich war. [...]

Bei den Massenentlassungen ging es nicht um individuelle Lebensleistungen. [...] berufliche Qualifikationen und Kenntnisse aus 40 Jahren DDR fanden keinerlei Berücksichtigung. Das war vor allem für jene schmerzhaft, die die DDR mit aufgebaut hatten, deren Lebens- und Familiengeschichte auf vielfältige Art und Weise mit der Berufstätigkeit und dem Arbeitskollektiv verknüpft war. Sie mußten ohnmächtig mit ansehen, wie ihr Betrieb für die symbolische eine D-Mark verkauft oder gleich ganz geschlossen wurde. [...] Dabei war die ursprüngliche Idee der Errichtung einer Treuhandanstalt eine ganz andere gewesen. Als 'Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums' war sie am 1. März 1990 von der Modrow-Regierung beschlossen worden mit dem Ziel, das Volkseigentum zu bewahren und im Interesse der Allgemeinheit zu verwalten. Mit dem Sieg der 'Allianz für Deutschland' bei der letzten Volkskammerwahl 1990 wurde die Treuhand dann zur Privatisierungsbehörde. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Noch immer besteht eine wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland. Das Versprechen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist nicht erfüllt. Die Wirtschaftsstruktur im Osten ist eher kleinteilig, es fehlen große Industriebetriebe. Bei Einkommen und Vermögen hinkt der Osten dem Westen hinterher."

Werfen wir einen Blick auf meine Heimatstadt Mühlhausen/Thüringen. Zur Erinnerung: In ihr vollzog sich mit der Einsetzung eines Ewigen Rates im Frühjahr 1525 ein Akt frühbürgerlicher Revolution. Nachdem bei Frankenhausen die aufständischen Bauern von den Heeren der vereinigten Feudalherren geschlagen waren, wurde Thomas Müntzer in der Wasserburg zu Heldrungen festgesetzt und der Folter unterzogen. Vermutlich wegen der gebrochenen Finger diktierte er seinen letzten Willen dem anwesenden Gerichtsschreiber am 17. Mai 1525: "Liebe Brüder, es ist euch hoch von Nöten, daß ihr solche Schlappen nicht empfangt wie die von Frankenhausen, denn solch eine ist ohne Zweifel dadurch entsprungen, daß ein jeder seinen eigenen Nutzen mehr gesucht hat als die Rechtfertigung der Christenheit. Darum haltet guten Unterschied und nehmt eure Sachen gleich wahr, daß ihr nicht weiterhin euren Schaden verursacht." D. h. Müntzer meinte, daß allmählich die eigenen Interessen der Aufständischen gegenüber den allgemeinen zu stark geworden waren. Zehn Tage später wurde er im Fürstenlager vor den Toren der Stadt Mühlhausen enthauptet. Dennoch hatte die Reformation bürgerliche Revolutionen ausgelöst, die dann wenige Jahrzehnte später beginnend in den Niederlanden, in England, in der Unabhängigkeitsbewegung der USA und in Frankreich bis 1848, 1905/07, 1911 und 1917/1918 eintraten und die Monarchien überwanden.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Mühlhausen 1945 Kreisstadt mit mehreren großen Betrieben wie Schlachthof, Spinnerei, Betriebe für Förderwagen und Beschlagteile, Bekleidung, Baumwollerzeugnisse, Spezialnähmaschinen, Fahrräder, Fahrzeugteile, Lederwaren, Schulrechner, Möbel, Bier und Limonade, Konserven, Zierblumen und Baustoffe. Im umliegenden Kreis gab es die Produktion von Feinstrumpfwaren, Land- und Forstwirtschaft, Kaliproduktion, Baubetrieb, Kreisbetrieb für Landtechnik, Landschafts- und Grünanlagenbau, Pflaumenmus-, Marmeladen- und Konservenherstellung, eine Molkerei und ertragreiche Tier- und Pflanzenproduktion sowie die Ausbildung von Lehrern sowie Krankenpflegerinnen und -pflegern.

Arbeitslose gab es nicht. Die Abteilung Arbeit beim Rat des Kreises beanspruchte ganze zwei Zimmer für die Vermittlung von Arbeitsplätzen. Es gab die Standorte für Grenztruppen und ein Motorisiertes Schützenregiment der Nationalen Volksarmee. Eisenbahnverbindungen gab es nach Schlotheim (Netz-, Seiler- und Sportwaren) sowie Bad Langensalza, Erfurt (auch Eilzüge), Gotha und Leinefelde. Die Deutsche Reichsbahn verlangte pro Kilometer 2. Klasse 8, 1. Klasse 12 Pfennig. Auf Arbeiterrückfahrkarten bekam man 75 Prozent Ermäßigung! Fahrten zur Arbeit mit eigenem oder betriebseigenem PKW waren daher zum überwiegenden Teil unangebracht.

Nach der als "Wiedervereinigung" (es wuchs eben wirklich nur das zusammen, was zusammengehörte - was nicht ins westdeutsche Konzept paßte, wurde "entsorgt") bezeichneten Okkupation muß zur Kenntnis genommen werden, daß die BRD und die NATO die mit dem 8. Mai 1945 entstandene geopolitische Lage in Europa zu ihren Gunsten verändert haben. Das bundesrepublikanische Deutschland tritt in der Europäischen Union und in der NATO als Großmacht auf und denunziert das Wirken der Russischen Föderation und der Volksrepublik China als international größte mögliche Gefahr.

In Mühlhausen/Thüringen sind nach 1990 fast alle großen Betriebe beseitigt worden. Das Arbeitsamt organisierte z. B. den Abriß des Lederwarenwerkes, das die gesamte DDR, aber auch westdeutsche und belgische Großhändler, versorgt hatte. Die Einwohnerzahl ging deutlich zurück. Die Stadt verlor deutlich an Bedeutung. Kleinere Textilunternehmen, IFA-Zulieferer und Handwerksbetriebe produzieren aufbauend auf der früheren soliden Qualitätsarbeit.

Anstrengungen touristischer Art (Thüringer Bratwurstmuseum) und gute Gastronomie sollen der wirtschaftlichen Lage dieser ehemals bedeutenden deutschen Reichsstadt auf die Sprünge helfen. Zahlreiche Handwerksbetriebe fahren montags früh mit Transportern als Wanderarbeiter ("Pendler") in die alten Bundesländer und kehren am Wochenende wieder zurück.

Und nun wird so getan, als seien die "Wessis" und die Treuhand sozusagen wie ein Heuschreckenschwarm von alleine gekommen; die habe man nicht gewollt. Nun wählen viele aus Frust über die eingetretene Lage "freie Wähler" oder AfD.

Aus revolutionsgeschichtlicher Sicht hat sich auf deutschem Boden seit dem Herbst 1989 eine Konterrevolution vollzogen; deren Akteure zum großen Teil in "freien Wahlen" 1990 - um ein Bild zu verwenden - die betrogenen "großen Kälber" waren, die sich im Schlachthof ihre Metzger selber wählten. Und konsequent, als sollte die Richtigkeit der Erkenntnisse von Marx, Engels und Lenin unterstrichen werden, wurden systematisch alle Basis- und Überbauebenen (Ökonomie, Politik, Soziales, Recht, Moral, Kunst, Religion, Einzelwissenschaften, Philosophie) der DDR mit ihren Einrichtungen, ihrem Personal, ihren Tätigkeiten und den daraus hervorgehenden Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins) historisch um- bzw. zurückgewälzt.

Prof. Dr. Eike Kopf
Beijing



Treuhänderische Vereinigungskriminalität ...

Einer brachte es sogar fertig, der Treuhand eine ostdeutsche Schiffswerft abzuschwatzen und dafür eine Subvention in Höhe von 850 Millionen Mark zu kassieren, die er für den Erhalt von Arbeitsplätzen erhielt, aber lieber in sein angeschlagenes Westunternehmen steckte. Als dies aufflog und der ehrenwerte Herr angeklagt wurde, lautete das Urteil: Freispruch. Wieso? Weil das Bundesfinanzministerium mit einer sogenannten Haftungsfreistellung für die führenden Treuhandbeamten die Hand über Fahrlässigkeit und Mißbrauch hielt. Strafrechtliche Konsequenzen hatte demnach keiner der Treuhandmitarbeiter zu fürchten. So konnte ein unredlicher Unternehmer alles auf die Treuhand schieben.

Lutz Jahoda

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LESERBRIEFE

Mir persönlich imponierte an der DDR ihre entschiedene Haltung für eine friedliche Zukunft. Gleich vom ersten Tag an hieß es: "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Anerkennung der bestehenden Grenzen! Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden Völkern!". Im Gegensatz dazu machten sich im Westen wieder alte Nazis breit, und es wurde über die verlorenen "Ostgebiete" gejammert. Wir wurden zu Anstand und Achtung vor unseren Mitmenschen erzogen und nicht zu Ellenbogenmentalität. Der DDR wurde die vormilitärische Ausbildung vorgeworfen, aber Soldaten und Offiziere zogen nicht in Kriege. Heute gibt es die vormilitärische Ausbildung nicht mehr, dafür beteiligt sich die Bundeswehr wieder an Kriegen.
Die Hemmschwelle für Feindseligkeit und Aggressivität ist in einem derart erschreckenden Maße gesunken, daß es einem Angst und Bange werden muß. Beleidigungen, Beschimpfungen und Angriffe in der Öffentlichkeit, in den asozialen Medien und im Schriftverkehr sind an der Tagesordnung und überall wahrnehmbar. Die heutige Gesellschaft ist zerrissener, zerstrittener und gespaltener als jemals zuvor.

Jürgen Förster, Dresden


Rußland sollte souveräner auf die nicht enden wollenden Anschuldigungen wegen des tragischen Abschusses von MH17 über der Ostukraine reagieren: Es war ein "Kollateralschaden", wie sie die NATO bei ihren Angriffskriegen in Serie produziert. Als die USS Vincennes am 3.7.1988 irrtümlich die Iran Air 655 abschoß (mit annähernd gleicher Opferzahl), gab es weder jahrelange "Ermittlungen" noch internationale Haftbefehle gegen Mitglieder der Besatzung. Die Behauptung, Rußland sei "direkt" für das Unglück verantwortlich, halte ich für eine bösartige Falschaussage - ich denke, die russische Luftüberwachung wäre durchaus in der Lage gewesen, das Passagierflugzeug zu identifizieren. Das gilt nicht für die Aufständischen in der Ostukraine, denen Rußland zur Abwehr von Luftangriffen ein Flak-Gerät zur Verfügung gestellt hat. Die Verantwortung für die Katastrophe liegt allein bei der Regierung in Kiew, die ein Kriegsgebiet mit eigenem (!) Luftwaffeneinsatz nicht für die Zivilluftfahrt gesperrt hat. Dabei erscheint es plausibel, daß ukrainische Kampfflugzeuge im "Radarschatten" des Linienflugzeugs Angriffe geflogen und so die Verwechslung provoziert haben.
In diesem Zusammenhang ist eine Randbemerkung zum "Zwei-Prozent-Ziel" bei Rüstungsausgaben angebracht: Die Bundesrepublik hätte dann den gleichen Militäretat wie Rußland. Es gibt aber 28 weitere NATO-Staaten, darunter drei Atommächte, wobei allein die USA das 10fache für Rüstung ausgeben wie Rußland. Also: Wer bedroht jetzt hier wen?!

Michael Gies, Stegaurach


Die US-Sanktionen gegen die Erdgas-Pipeline "Nord Stream 2", wodurch russisches Erdgas nach Westeuropa transportiert wird, sind nichts anderes als eine ökonomische Kriegserklärung gegen Rußland und Westeuropa. Mit ihren völkerrechtswidrigen Sanktionen verfolgen die Vereinigten Staaten natürlich die Interessen eigener Energie-Konzerne. Es ist schon unverfroren, wie Donald Trump sein Erpressungsmanöver mit angeblich edlen Zielen kaschiert. Derselbe Mann, der einst mit dem NATO-Austritt drohte, sorgt sich nun um das Wohl Europas. Wahrlich mehr als ein Witz! Die US-Amerikaner reden zwar von europäischen Interessen, meinen aber in der Tat nur ihre eigenen. Sie treiben einen Keil zwischen die Europäer, um ihr teureres Flüssiggas in den Markt zu drücken und Rußland zu schädigen. Der Riß, der sich in dieser Frage durch Europa zieht und den die USA nach Kräften vertiefen, ist die eigentliche Botschaft aus Übersee.

Dr. Matin Baraki, Marburg


Jetzt hat Deutschland dem Druck des US-Präsidenten nachgegeben und die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöht. Damit wird jeder achte Euro des Etats für die Rüstung ausgegeben.
Zugestimmt hat die Bundeskanzlerin auch, daß deutlich mehr amerikanisches Frackinggas eingekauft wird, obwohl es teurer ist als das russische Erdgas. Trotz all dieser Zugeständnisse unterschrieb Trump Sanktionen gegen Firmen, welche an Nordstream 2 arbeiten. Der Vorwurf, Deutschland mache sich mit dieser Erdgasleitung von Rußland abhängig, ist durch die Praxis von über 60 Jahren Lieferungen von russischem Erdöl und Erdgas nicht nachvollziehbar. Rußland war stets ein zuverlässiger Vertragspartner. Daß die neue Leitung unter Umgehung von Polen und der Ukraine gebaut wird, erhöht meiner Meinung nach sogar die Liefersicherheit.
Die Maßnahmen der US-Regierung belegen einmal mehr, wer hier wen erpressen will.

Ralf Kaestner, Bützow


Der deutsche Imperialismus ist dabei, seine Weltherrschaftspläne, die seit langem in der Schublade schlummern, Schritt für Schritt umzusetzen. Die Bundesverteidigungsministerin leistet dabei unentbehrliche Schützenhilfe. Erinnert sei nur an ihren Vorstoß zur "Einrichtung einer Schutzzone in Nordsyrien", natürlich mit Beteiligung der Bundeswehr, zur angeblichen Bekämpfung der Terrormiliz "Islamischer Staat". Das Trostpflaster, anschließend beim Wiederaufbau des zerstörten Staatsgebietes zu helfen, liefert sie gleich mit - was für eine "humanistische" Haltung! Annegret Kramp-Karrenbauer hat offensichtlich noch nicht erfaßt, daß nichts in Syrien zu vollziehen ist ohne die Zustimmung der syrischen Regierung.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Frau Kramp-Karrenbauer schlägt für alle, bevor sie ins Berufsleben einsteigen, eine Dienstpflicht von einem Jahr vor. Das erinnert mich sehr an den Arbeitsdienst und das Pflichtjahr für Mädchen in der Hitler-Zeit. Weiß sie davon nichts? Es ist unglaublich, daß AKK so etwas wieder hervorholt und ins Gespräch bringt. Was wird der CDU-Vorsitzenden und der Regierung noch alles einfallen? Mehr Geld für die NATO, mehr Rüstung, mehr Kriegseinsätze - es graust mich. Der Schoß ist fruchtbar noch? Der Schoß gebiert schon! Menschen, seid wachsam!

Beate Bölsche, Beetzsee


Papst Franziskus ist sehr beunruhigt über den gegenwärtigen Zustand der gesellschaftlichen Strukturen und politischen Kräfte auf der Welt. Er spricht sogar von Erscheinungsformen eines Weltkrieges in unterschiedlichen Gefährdungen. Eindeutig und unmißverständlich hat er im Gegensatz zu früheren Verlautbarungen aus dem Vatikan die Anwendung von Atomwaffen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als durch nichts zu rechtfertigen bezeichnet. Acht Kardinäle geißelten auf der Sondersynode für das Amazonasgebiet schon die bloße Untätigkeit in der Politik als Verbrechen gegen Mensch und Natur.
Diese ernsten Überlebensmahnungen sind bekannt. Auf dem jüngsten NATO-Jubiläumstreffen und aus dem Munde der deutschen Bundesverteidigungsministerin war darüber nichts zu hören.
Der Zustand der Welt drängt nach der Beantwortung der Frage: Wie weiter mit uns Menschen? Letztlich muß jene Gesellschaftsordnung sich durchsetzen, in der die Achtung vor dem Menschen und der Schutz der Umwelt hochgehalten werden, das heißt, Grundlage gesellschaftlichen Denkens und Tuns ist. Vergessen wir nicht, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und seine Individualität sich aus der Qualität der Gesellschaft ergibt.

Dr. Wilfried Meißner, Chemnitz


Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind Begriffe, die einen guten Klang haben. Sie wurden aber so oft mißbraucht, daß man sie doch hinterfragen sollte - Freiheit für und gegen wen? Wer spricht im Namen des Volkes? Welche Rechte sollten alle Menschen haben? Es macht sich gut, wenn es da "Helden" gibt, die sich an die Spitze "heldenhafter Volksbewegungen" für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte stellen. Um solche "Helden" in den Kampf zu führen, hilft man gerne nach. So geschehen in Venezuela. Dort hat man einen "selbsternannten Präsidenten" unterstützt, der versprach, binnen kürzester Zeit den rechtmäßigen Präsidenten Nicolás Maduro, der ein linker Diktator sei, hinwegzufegen. Doch das Volk spielte nicht mit. Der Marktwert des "Selbsternannten" ging nun gegen Null. Es wurde still um den "Helden".
Neue "Helden" waren jüngst zu sehen in Hongkong. Junge Leute mit bunten Regenschirmen demonstrierten gegen ein beabsichtigtes "Auslieferungsgesetz". Nach deren Lesart drohe Kämpfern für "Freiheit, Demokratie und Menschenrechte" die Auslieferung nach Peking und damit Gefängnis, Folter oder gar der Tod. Der Gesetzentwurf wurde inzwischen zurückgezogen, doch die Proteste gehen weiter. Man fordert nun "freie Wahlen". Auch wenn das Wahlrecht in Hongkong tatsächlich nicht den westlichen "Standards" entspricht, bleibt die Sache doch innere Angelegenheit Chinas. Die westliche Seite wäre gut beraten, sich einer Einmischung zu enthalten. Doch die deutsche Kanzlerin, die Ende 2019 mit einer Wirtschaftsdelegation nach China reiste, konnte es nicht lassen, ihre Stimme für "Menschenrechte und Demokratieaktivisten" zu erheben. Prompt wurde ihr beschieden, daß sich Einmischung nicht mit guten Beziehungen verträgt. Und was unsere deutschen "Helden" aus der Zeit der "friedlichen Revolution" betrifft, hatten diese - 30 Jahre nach dem "Mauerfall" - wieder mal reichlich Gelegenheit, ihre "Gruselgeschichten" zu präsentieren. Da rechte Antikommunisten mit SPD-Parteibuch zunehmend an Glaubwürdigkeit verlieren, springen immer mehr Spitzenfunktionäre der Partei Die Linke ein und stärken die Front der DDR-"Unrechts"bekämpfer. Wissen sie nicht, daß das Wasser auf die Mühlen der AfD ist?

Bernd Freygang, Berlin


Zu Hans Schoenefeldt: Thüringer Wahlabend, RF 263, S. 9
Es hat mich sehr gefreut, daß Schoenefeldt in seinem Beitrag sozusagen auf wissenschaftlicher Grundlage das Schlagwort "Unrechtsstaat" DDR aufgreift. Daran, daß es diesen Begriff gibt, ist vielleicht der frühere Justizminister Klaus Kinkel mit seiner Delegitimierungsaufforderung schuld.
Den Schlußsatz im genannten Artikels würde ich so formulieren: Es muß gelingen, eine wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu gewährleisten, aus der eine realistische Betrachtung für künftige Gesellschaftsmodelle geschöpft werden kann.

Manfred Jantsch, Pirna


Die Mär vom "Unrechtsstaat" DDR hatte im vergangenen Jahr Hochkonjunktur. Das Völkerrecht kennt einen solchen Begriff nicht, er wurde eigens zur Diffamierung der DDR erfunden. "Unrechtsstaat" DDR - völkerrechtlich von der UNO und weit über einhundert Staaten anerkannt, ein Staat des Friedens, der Völkerverständigung, der Solidarität mit allen Völkern, die unter imperialistischen Kriegen zu leiden hatten, aus kolonialer Versklavung ausgebrochen waren oder Aufbau- und Entwicklungshilfe brauchten und von der DDR erhielten.
"Unrechtsstaat" DDR, der den Antifaschismus als Staatsdoktrin festgeschrieben hatte und das Potsdamer Abkommens konsequent umsetzte. "Unrechtsstaat" DDR - ein Staat, der seinen Bürgern das Recht auf Arbeit, eine solide Bildung, ein gut funktionierendes Gesundheitssystem, erschwingliche Mieten und vieles andere mehr garantierte. Wie schwer muß den Herrschenden wohl dieser kleine sozialistische Staat DDR, der ihren Raubgelüsten 40 Jahre lang im Wege stand, immer noch im Magen liegen, daß deren Hetze kein Ende zu nehmen scheint?
Zum Kampfbegriff "Rechtsstaat" BRD muß man anmerken, daß sich dieser selbst zum Rechtsnachfolger der Weimarer Republik und des Hitlerregimes erklärte. Zu seinen Gründungsvätern zählt nicht nur Adenauer, sondern zählen auch solche Faschisten und Helfershelfer wie Globke, Gehlen, Speidel, Lübke, Kiesinger und Filbinger, um nur einige zu nennen.
Eine ernsthafte juristische Verfolgung faschistischer Kräfte, ein Verbot jeglicher faschistischer und nationalistischer Bewegungen - NPD, NSU, SS- und Wehrmachtstraditionsvereine etc. - gab und gibt es nicht.

Siegfried Schott, Templin


In seiner Autobiographie warnte Werner Eberlein vor einer "Totalkritik am Sozialismus der DDR". Aber gerade dazu sah sich die Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek (CDU) nun berufen. Sie regte an, einen Wettbewerb zur Auseinandersetzung mit dem "Unrechtsstaat" DDR auszurufen. 14 Forschungsverbünde, zumeist an Universitäten angesiedelt, wurden dafür in einem wettbewerblichen Verfahren ausgewählt. Als "Honorar" stehen 40 Millionen Euro bereit. Damit will man nun endlich die "Wissenslücken über die DDR schließen", denn nur, "wer die Vergangenheit kennt, kann Zukunft gestalten", weiß Frau Karliczek.
"Geforscht" werden soll über solche Themen wie "Sexuelle Gewalt und traumatische Erfahrungen in DDR-Kinderheimen" (Uni Leipzig) oder zur "Seelenarbeit im Sozialismus - die ambivalente Rolle der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie im Gesundheitssystem der DDR" (Universitätsklinikum Jena). Es gibt auch einen Verbund zu "Das mediale Erbe der DDR. Akteure, Aneignung, Tradierung" (LMU München).
30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es also offenbar noch immer viel zu erforschen, selbstredend mit dem Ziel, der DDR nachträglich jegliche Legitimation abzusprechen. Der Sieger schreibt die Geschichte, und die kapitalistische Bundesrepublik hat für alle Zeit das "Paradies auf Erden" zu sein. "Alternativlos" eben, wie Frau Merkel gerne betont. Damit dies so bleiben möge, sind 40 Millionen Euro sicherlich gut investiert.

Dr. Heinz Sonntag, Magdeburg


Die Entscheidung der Berliner Finanzbehörde, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit zu entziehen, ruft zu meinem Entsetzen keinen Aufschrei in der Öffentlichkeit hervor.
Diese Vereinigung wurde von Menschen gebildet, die unter Einsatz ihres Lebens den Hitlerfaschisten aktiven Widerstand entgegensetzten. Es waren nicht nur Kommunisten und Sozialdemokraten, die den Kampf gegen Hitler und sein Regime aufnahmen, aber sie standen in vorderster Reihe. Sie wurden mir, dem damals 19jährigen Hitlerjungen, zum Vorbild auf meinem Weg zum Sozialisten. Die VVN ist und bleibt für mich die Verkörperung des antifaschistischen Widerstandes - und diese Vereinigung soll nicht mehr gemeinnützig sein? Und das in einer Zeit, in der Neofaschisten und Kriegstreiber wieder ihr Haupt erheben und weltweit blutige imperialistische Kriege stattfinden! Ich fühle mich dem Schwur von Buchenwald verpflichtet: "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!"
Es muß gelingen, daß diese schändliche Weisung sofort zurückgenommen wird!

Eberhard Kunz, Berlin


Auf Betreiben der Fraktion der Linken im Chemnitzer Stadtrat wurde beschlossen, den 8. Mai 2020 in Chemnitz als einen Tag zum "Gedenken aus Anlaß des 75. Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des 2. Weltkrieges am 8. Mai" zu begehen. Es sind Veranstaltungen, darunter auf dem sowjetischen Friedhof unter Einbeziehung von Vertretern der Antihitlerkoalition - zum Beispiel von Jugenddelegationen aus den Chemnitzer Partnerstädten -, geplant.
Damit wollen wir das im Alltagsbewußtsein der Menschen verankerte Gedenken an Antifaschisten, die an der Seite der Roten Armee kämpften, so auch an Dr. Richard Sorge und Fritz Schmenkel (beide 1964 posthum als "Helden der Sowjetunion" ausgezeichnet), erneuern.

Peter Blechschmidt, Chemnitz


Zu Gerd-Rolf Rosenberger: Antifaschistische Kaufleute, RF 260, S. 29 
Im September-RF wurde über die Bremer Familie Hollmann berichtet. Als weit entfernter Verwandter kannte ich nur die Namen Hollmann und Mehlhase. Durch Zufall gelangte ich nun in den Besitz des Buches "Bremen im 3. Reich. Anpassung - Widerstand - Verfolgung" (Carl-Schünemann-Verlag, 1986).
In der Schule der 50er-Jahre war nicht viel über diese Zeit an uns gelangt und so interessierte mich der Inhalt des erworbenen Buches sehr. Erstaunt las ich im Abschnitt über den kommunistischen Widerstand: Der Fall Hollmann. Ich erfuhr Stück für Stück mehr über die Zusammenhänge in der Vor- und Nachkriegszeit 1933 bis 1955. Namen wie Leo Drabent, Georg Gumpert, Hans Neumann, Karl Preißner und andere wurden zu festen Begriffen.
Im "Weser-Kurier" wurde im letzten Jahr über den Kampf eines Freundes um die Anerkennung des Straßenschildes Leo-Drabant- und Hans-Neumann-Weg berichtet. Offenbar ist es bis heute in Teilen Deutschlands immer noch nicht selbstverständlich, Kommunisten und Antifaschisten für deren Widerstand in der Nazizeit öffentlich zu ehren.

Peter Mehlhase, Farmsen-Berne


Zu Joachim Augustin: Sabra und Schatila nicht vergessen! RF 263, S. 7 
Zunächst eine Berichtigung: Die ca. 850.000 Palästinenser wurden bereits 1948 vertrieben (die sog. Nakba-Katastrophe). Sehr viele kamen in den Libanon. Weitere ca. 750.000 wurden infolge des Sechstagekriegs 1967 ("Naksa") vertrieben, die meisten nach Jordanien.
Seit 2000 besucht jährlich im September die italienische Delegation "Sabra und Schatila nicht vergessen!", zusammengesetzt aus mehreren regionalen Aktivisten-Gruppen, die palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Die Initiative wurde von dem Journalisten Stefano Chiarini (1951-2007) ins Leben gerufen, die in Beirut zusammen mit Internationalisten aus aller Welt Solidaritätsaktivitäten für die Palästinenser organisiert: Besuche der Lager, Zusammenarbeit mit der palästinensischen NGO Beit Atfal Assumoud, Diskussionen mit der PLO, PFLP und libanesischen politischen Parteien, Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen. Ich war vor einigen Jahren auch dabei.
Die heute ca. 450.000 Palästinenser leben in zwölf Flüchtlingslagern, zusammengepfercht auf engstem Raum. Besonders in Schatila ist es schlimm. Die Flüchtlingskonglomerate dürfen nicht erweitert werden, d. h. die Häuser, oft ohne Fundament, können nur aufgestockt werden. Man bewegt sich zwischen engen Gassen, knapp über den Köpfen ein Gewirr von schlecht isolierten Stromleitungen.
Die Wasser- und Abwasserversorgung und die gesundheitliche Vorsorge sind prekär. Hinzu kommt, daß seit dem Syrien-Krieg in einigen der Lager auch syrische Flüchtlinge leben.
Die libanesische Regierung verweigert den Palästinensern seit ewig das Recht auf Berufsausübung, Hauseigentum usw. So können sie nur prekären und unterbezahlten Arbeiten nachgehen. Dazu kommt, daß das UNO-Flüchtlingswerk UNWRA seit der Aussetzung der Unterstützung durch die Trump-Regierung nur noch begrenzt helfen kann.
Aber wie freuen sich die Menschen, wenn sie Solidarität erfahren! Stolz zeigen sie die Schlüssel der Häuser aus Palästina, die ihre Großeltern aufbewahrt haben; ein Symbol für das von der UNO-Resolution 194 "garantierte", aber von Israel verweigerte Recht auf Rückkehr. Für mich der ergreifendste Augenblick: Eine Frau zeigt uns das Bild ihrer vier während des Massakers von 1982 ermordeten Kinder ...

Leonhard Schäfer, E-Mail


Klimastreikende genießen wenig Wohlwollen der Regierenden. Wen wundert's, daß Teile der Bevölkerung den Jugendlichen ebenso ablehnend bis feindlich begegnen. Meinung wird gemacht und meist nicht in Köpfen gedacht, was täglich die Straße beweist. Regierende üben sich in Doppelmoral. Genötigt haben sie ein Klimapaket geboren, was überwiegend ein faules Ei ist.
Wie Energiewende wird Konzernen die "Wende" vergoldet, mit Steuertricks profitabler gemacht. Schöne, große Worte, nichts dahinter, so wird Volkes Verstand vernebelt. Jeder zahlt in bestem Glauben aus seiner Tasche für alle "Wenden", die eher nichts wenden. Bürger glauben für Umwelt, Klima und Zukunft zu verzichten seit schon vielen Jahren, und was sind die Ergebnisse aller bisherigen Gipfel der Regierenden außer Spesen? Wenn sich Markus Söder für die Autoindustrie mehr Patriotismus wünscht, ist das vielsagend. Die Klimaleugner bringt es in Stimmung. Spott bis Haß richtet sich gegen Klimastreikende und Umweltverbände, die mit Vorliebe zu Zerstörern der Autoindustrie erklärt werden. Kein Umweltfreund will das, keiner will Autos verbieten und das eigne ebenso nicht. Wer malt warum dieses Feindbild?
Es genügt zu wissen, daß Umwelt-, Klima-, Naturschutz neben einigem anderen eine gesellschaftliche Aufgabe, Pflicht und Verantwortung ist. Also des Staates und unser aller. Konzerne, ob Auto, Rüstung, Pharma, Agrar, Lebensmittel, Energie, Gesundheit, Pflege u. a. privatisierte Konzerne, interessiert gesellschaftliches Wohl nur, soweit es ihr Geschäft, ihre Profite und den Markt nicht stört. Ansonsten gilt "Nach uns die Sintflut", und die kommt im übertragenen Sinne nicht nur in der Bibel. Wer Klimastreiks als Unsinn verlacht, hat von Marktwirtschaft nicht einmal das Elementarste verstanden - den Markt, der gnadenloser Wettbewerb und Konkurrenz und nichts anderes ist. Die Spötter und Feinde der Klimaschützer haben so oft und gern uns allen die Marktwirtschaft erklärt und immer gemeint, deutsche Konzerne müßten immer die Sieger sein. Sind Autokonzerne nicht ins Hintertreffen geraten, haben einiges verschlafen, sich ausgeruht und andere Konkurrenten vielleicht auch lange verlacht?
Wer Patriotismus für Autokonzerne fordert, der muß es auch für Rüstungs-, Pharma-, Agrar-, Lebensmittel- , Energie- oder Gesundheitskonzerne fordern. Für deren Wohl sollen das Volk, wir Steuerzahler, also patriotisch sein und denen die Lasten tragen? Wer dann die Sache zu Ende denkt, dürfte mit seinem Patriotismus an noch ganz andere Zukunftsträume gelangen. Das scheint vielen zu anstrengend.

Roland Winkler, Aue


Ganz nach dem alten DDR-Schlager "Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir ..." verkündete die hellseherische Kanzlerin im Rahmen der Anti-DDR-Jubelfeier am 9. November, daß die Angleichung der neuen Bundesländer an das Westniveau ein halbes Jahrhundert dauern könnte - ganz im Gegensatz zur blitzschnellen Annexion der DDR durch das westdeutsche Monopolkapital.

Günther Röska, Leipzig


Hört das denn nie auf? Gut, einer der beiden neuen Eigentümer der "Berliner Zeitung" hatte "Stasi"-Kontakte gehabt. Es wäre nicht notwendig, den abgetakelten Racheengel Marianne Birthler mit einem Historiker auf die Schiene zu setzen, um bereits Bekanntes mit einem moralischen Empörungs-Anstrich zu veredeln.
Die "Berliner Zeitung", die so stolz auf ihre über drei Jahrzehnte betriebene "Aufarbeitung" ist, müßte doch in der Lage sein, zwischen Verbrechen und opportunistischem Verhalten zu differenzieren. Ich denke an den Satz von Günter Gaus: "Jeder Mensch hat ein Recht auf Opportunismus." Wobei ich gar nicht weiß, ob die jetzt am Pranger stehenden Eigentümer sich überzeugt für einen Staat jenseits des kapitalistischen Ausbeutungsmechanismus eingesetzt haben. Wenn ja, um so besser!
Eine sich zur Aufarbeitung der Zeitgeschichte bekennende Zeitung hätte sich schon längst einem ganz anderen Aspekt des Themas widmen müssen. Der Auftrag des damaligen Justizministers Kinkel an seine "Gefolgschaft", das DDR-System zu delegitimieren, weil es "bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung hergeleitet hat" (Welch ein Kompliment!), wurde von den Worten des zeitweiligen Großinquisitors Gauck begleitet: "Wir konnten nicht zulassen, daß die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben." Diese mehr als perfide Gleichsetzung mit dem Mitautor der Nürnberger Rassegesetze hatte dramatische Folgen: Entlassungen von Tausenden Beschäftigten aus dem öffentlichen Dienst, Beschimpfungen, Demütigungen - auch mit der Konsequenz, daß Intellektuelle, Hochschullehrer, weltweit anerkannte Wissenschaftler, auch Kunstschaffende und hochgeschätzte Schauspieler in den Suizid getrieben wurden.
Tausende Mitglieder der NSDAP durften ab 1949 in der Bundesrepublik als Juristen auf Lehrstühlen, in der Rechtsprechung, der Verwaltung, in Sicherheitsorganen und in der Politik ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen, flankiert von gleichfalls braunbefleckten Journalisten. Zumindest ist mir vom ehemaligen Bundespräsidenten Gauck, auch als Chef seiner Zulassungsbehörde, keine im zeithistorischen Rückblick geäußerte Kritik bekannt.
Die beiden Chefredakteure der "Berliner Zeitung" und des "Berliner Kurier" wollen offenbar den vor allem aus dem Hause Springer auf sie gerichteten Kanonen ausweichen. Wie gesagt, jeder hat ein Recht auf Opportunismus. Aber eine Zeitung, die auf eine unabhängige, kritische und auch analytische Berichterstattung Wert legt, sollte sich nicht auf diese Art und Weise devot, ja geradezu lächerlich machen und sich nicht den ewig Gestrigen zu Füßen legen. Besser wäre es, sich auf die "ewig Morgigen" einzulassen!

Hans Schoenefeldt, Berlin

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2020/RF-265-02-20.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 265, 23. Jahrgang, Februar 2020
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2020

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