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ROTFUCHS/204: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 251 - Dezember 2018


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

21. Jahrgang, Nr. 251 - Dezember 2018



Aus dem Inhalt

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Die Zeichen stehen auf Sturm

Am 29. Oktober kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an, auf dem CDU-Parteitag Anfang Dezember nicht mehr für den Parteivorsitz zu kandidieren. Wann sie ihr Regierungsamt verliert, ist seither unbestimmt. Das besagt: Sie hat eine politische Krise ausgelöst. Die ist allerdings keine Personalfrage, sondern ein Resultat langfristiger Tendenzen.

Nach der Konterrevolution in der DDR und der daraus folgenden enormen Verschiebung des Kräfteverhältnisses der Klassen in der Bundesrepublik zugunsten des Kapitals wurde die Arbeiterbewegung durch die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel systematisch geschwächt. Lange vor dem Auftauchen der AfD verfolgten die drei Bundeskanzler Großmachtambitionen und nahmen soziale Zugeständnisse zurück, die nicht zuletzt wegen der Existenz der DDR und der anderen sozialistischen Länder Europas bis 1990 erkämpft worden waren. Im Ergebnis dieser Politik gehört die Bundesrepublik heute zu den Industrieländern mit der tiefsten Spaltung zwischen Arm und Reich.

Dem sozialen Krieg nach innen, für den als Symbol Hartz IV steht, entspricht die nach 1990 sprunghaft gestiegene Aggressivität nach außen. Seit 1990 geht von deutschem Boden wieder Krieg aus - ob mit direkter Beteiligung der Bundeswehr oder indirekt durch Bereitstellung zentraler Schaltstellen für die US-Streitkräfte.

Zugleich gelang es mit einer faktisch chauvinistischen und rassistischen Ideologie, Protest dagegen zurückzudrängen und ein weitgehendes Stillhalten der deutschen Bevölkerung zu erreichen, nie allerdings das Einverständnis einer Mehrheit.

Die Rede von der "westlichen Wertegemeinschaft" bedeutet, daß Kriegsgegner mindere Werte repräsentieren und insbesondere das Leben ihrer Bevölkerungen nichts wert ist. Die Behauptung, für Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen, schließt die Folterprogramme der CIA, bei denen auch die Bundesrepublik umfassende Hilfe leistete, ein sowie die Auslöschung ganzer Regionen weit weg von deutschen Grenzen. Das Wort "Untermensch" wird nicht benutzt, ist aber gemeint. Als die AfD mit ihrer Hetze gegen das "faule" Griechenland und später gegen Zuwanderer begann, erntete sie, was die Kriegsparteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne gesät hatten.

Die Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise ab 2007 war ein Rückschlag für den globalen Imperialismus. Angela Merkels Kanzlerschaft war von dieser Krise, die bis heute schwelt, geprägt. Sie hatte aber seit 2008 zu ihrem politischen Ziel erklärt, Deutschland "gestärkt" daraus hervorgehen zu lassen. Das ist ihr gelungen, allerdings zu einem hohen Preis. Die Ungleichgewichte innerhalb der EU haben sich in ihrer Amtszeit in einem Maße zugunsten des deutschen Kapitals verschoben, der das imperialistische Konstrukt in eine Existenzkrise gebracht hat. Der Vorsprung Deutschlands zu Frankreich ist z. B., gemessen am Umfang des Bruttoinlandsprodukts, von langjährig rund 600 Milliarden US-Dollar auf über eine Billion Dollar gestiegen, gleiches gilt für Großbritannien, das aus der EU strebt.

Nun kündigt sich die nächste ökonomische Erschütterung an, selbst bürgerliche Ökonomen nehmen wieder das Wort "Rezession" in den Mund. Am 3. November warnte Angela Merkel, daß sich die Lage der Weltwirtschaft "eintrübt"; im Klartext: Die Zeichen stehen auf Sturm. Jede Wirtschaftskrise bedeutet aber eine Zuspitzung der Widersprüche zwischen imperialistischen Staaten und in deren Innern. Der Kampf um die zukünftige Herrschaftsform ist der Hintergrund für Merkels Rückzug auf Raten und die dadurch akut gewordene politische Krise. Noch findet die Auseinandersetzung ausschließlich innerhalb der herrschenden Klasse statt. Der Ausgang dieses Ringens hängt davon ab, ob es die Arbeiterklasse der Bundesrepublik und ihre Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften, schaffen, die Kräfte, die angesichts der kommenden Krise eine andere Republik und eine radikal rechte Regierung anstreben, zu stoppen.

Arnold Schölzel

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Welche Folgen hätte die Kündigung des INF-Vertrags?

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Rede auf der "unteilbar"-Kundgebung am 13. Oktober in Berlin
Klare Kante gegen rechts!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde!

Seit Chemnitz gibt es keine Ausreden mehr! Wer angesichts des Schulterschlusses rechtsradikaler Kräfte noch von "berechtigtem Bürgerprotest" spricht, wer immer noch die AfD unterstützt, um "denen da oben eins auszuwischen", der muß wissen, was er tut! Der öffnet alten und neuen Nazis die Türen.

Und wer, wie Innenminister Horst Seehofer, Migration zur "Mutter aller politischen Probleme" erklärt oder "gar am liebsten selbst auf die Straße" gegangen wäre, der verläßt rhetorisch den demokratischen Sektor und macht sich zum Steigbügelhalter. Wissentlich!

Deshalb: Weil Arroganz, Rassismus und Rechtspopulismus tief in die Gesellschaft eindringen, ist es so wichtig, daß und wie wir heute hier stehen: als Demokratiebewegung und für Menschenrechte, Toleranz und Solidarität. Bunt, vielfältig und unteilbar!

Wir zeigen Flagge und organisieren den Widerstand:

  • gegen Morgenluft witternde Alt-Faschisten
  • gegen die smarten Jungs und Mädels der "Identitären Bewegung"
  • gegen die Heuchler der AfD, die freundlich in Talkshow-Kameras grinsen und in Bierzelten und Parlamenten hetzen
  • und gegen sogenannte Konservative, die immer weiter nach rechts rücken, um ein paar Wahlprozente zu ergattern.

Wir sagen laut und deutlich: Wir haben die Schnauze voll von euch, die ihr euch an Menschenrechten und Demokratie zu schaffen macht. Die ihr Biedermänner und Brandstifter in einem seid. Wir sind eure Gegner, und wir werden alles tun, euch das Handwerk zu legen!

Es ist unerträglich, wie sie mit Worten lügen.

  • Wenn sie "Demokratie" sagen, dann denken sie an deutschtümelnde Patrioten, die rechten Ideologen zujubeln.
  • Wenn sie "Leitkultur" rufen, dann meinen sie Geschichtsklitterung und die Abwertung anderer Kulturen.
  • Wenn sie vom "Volk" reden, dann phantasieren sie von einer homogenen Masse, die es nie gab und hoffentlich auch nie geben wird.
  • Und wenn sie neuerdings die "soziale Frage" stellen, dann meinen sie "Ausländer raus und Grenzen zu - damit für Deutsche mehr übrigbleibt".

Ja, die Rechte hat die soziale Frage als Feld ihrer Propaganda entdeckt. Die soziale Frage, so tönt der thüringische AfD-Hetzer Höcke, verlaufe nicht mehr zwischen oben und unten. Denn, Zitat: "Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen." Innen und außen meint: "Deutschtum" als Zugangsberechtigung zu sozialer Sicherung, der Rest guckt in die Röhre.

Das ist ein vergiftetes Angebot! Es wendet sich an diejenigen, die durch die Agenda-Politik und Hartz-Reformen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Auf diese Zumutung kann es nur eine Antwort geben: Bleibt uns vom Hals mit eurer völkischen Karikatur eines Sozialstaates!

Das hättet ihr gerne, daß wir die Ursache für Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Spaltungen bei denjenigen suchen, die selbst Opfer des Gegenwarts-Kapitalismus sind.

Die neue soziale Frage bleibt im Kern die alte. Sie wird auch heute entscheiden zwischen oben und unten, zwischen Reich und Arm, zwischen denen, die Geld, Eigentum und Macht besitzen und denen, die nichts von dem haben.

Oder glaubt denn wirklich jemand, daß die Flüchtlinge fairen Löhnen, sicheren Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit im Wege stehen? Oder daß wir Steuerflucht, explodierende Mieten und obszöne Managergehälter in den Griff bekommen, wenn wir die Grenzen schließen und die Menschen im Mittelmeer ersaufen lassen? Nein! Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen soziale Ungerechtigkeit. Und dazu braucht es keinen Nationalismus, sondern internationale Solidarität, starke Gewerkschaften und Druck aus der Zivilgesellschaft.

Unsere Botschaft lautet: "Klare Kante gegen rechts!" Klare Kante gegen alle, die auf der Flamme von sozialen Zukunftsängsten vieler Menschen ihre braune Suppe kochen, und gegen die, die sich als Anwälte der angeblich "kleinen Leute" tarnen, um ihre widerlichen Phantasien von Volk und Rasse zu vermarkten. Für euren Rassismus ist kein Platz in einer demokratischen Gesellschaft!

Aber ich sage auch: So wichtig die klare Kante gegen die Ideologen, Organisatoren und Galionsfiguren der rechten Bewegungen ist: Genauso wichtig ist ein Angebot an diejenigen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, die täglich vom sozialen Abstieg bedroht sind und die ihre Lebensbiographie entwertet und verraten sehen. Denen müssen wir die Türen öffnen.

Offene Tür bedeutet nicht, den rechten Gesinnungen entgegenzukommen. Offene Tür bedeutet die Einladung, gegen reaktionäre und für solidarische Lösungen sozialer Probleme zu kämpfen. Bei uns, in Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und örtlichen Initiativen.

Für Umverteilung, Geschlechtergerechtigkeit, ethnischen Pluralismus und sexuelle Toleranz. Wer wirklich etwas tun will für eine bessere Gesellschaft, der ist unter Rassisten und Nationalisten denkbar schlecht und bei uns denkbar gut aufgehoben.

Liebe Freundinnen und Freunde!
Ich stehe hier als Gewerkschafter, der für ein breites, unteilbares Bündnis wirbt. Die Gewerkschaften, meine IG Metall, sind im wahrsten Sinne des Wortes "bunte Haufen"! Mit Menschen aus aller Herren Länder, mit unterschiedlichen Herkünften, Kulturen und Lebensentwürfen. Das macht uns reich!

Eine IG Metall ohne die Kolleginnen und Kollegen mit migrantischem Hintergrund oder mit nicht-deutschem Paß ist eine Horrorvorstellung. Welch ein Verlust an Erfahrungen und Impulsen - und an Kampfkraft wäre das! So wünsche ich mir auch unsere Gesellschaft: Als bunter Haufen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Leidenschaften - und mit demokratischer unteilbarer Widerstandskraft!

Hans-Jürgen Urban
(Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall)

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Brasilien im Rückwärtsgang

Mit der Wahl von Jair Bolsonaro am 28. Oktober zum 42. Präsidenten Brasiliens wurde ein neues, düsteres Kapitel aufgeschlagen. Die Abstimmung stellte die Weichen für einen marktradikalen Autoritarismus und bedeutet einen kulturellen Dammbruch: 55 % der gültigen Stimmen entfielen auf den Anhänger der von 1964 bis 1985 währenden zivil-militärischen Diktatur, dessen rassistische, homophobe und frauenfeindliche Ausfälle Legion sind, auf einen Anstifter zu Haß und Gewalt, der Folter und politische Morde rechtfertigt. Neben Generälen vom alten Schlag weiß Bolsonaro rechte evangelikale Sekten mit Millionenanhang hinter sich. Mit Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT unterlag die Alternative zur Barbarei letztlich deutlich. Nur vier Jahre nach der Wahl der PT-Politikerin und früheren Widerstandskämpferin Dilma Rousseff - 2016 durch ein Komplott gestürzt und durch ihren konservativen Vize, Michel Temer, ersetzt - hat sich die politische Landschaft gründlich verändert. Das ist das Ergebnis eines von der inneren und der äußeren Reaktion betriebenen Rollbacks. Brasiliens Eliten befestigen ihre aus der Sklavenhaltergesellschaft überkommene Position, Südamerikas Vormacht wird engster Vasall des Weißen Hauses, multinationale Konzerne erhalten Zugriff auf gewaltige Ressourcen.

Die "braune Welle" stellt einen Reflex auf die tiefe Krise von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft dar. Sie legt offen, wie verbreitet der politische Analphabetismus und wie groß die moralisch-ethische Ignoranz insbesondere der weißen Mittelschichten ist. Wie schon 1964 folgen sie der autoritären Formel aus "Gott, Familie und Vaterland". Die Bolsonaro-Wähler mobilisierte die Angst vor der Kriminalität in den Metropolen und eine ahistorische, moralisierende Korruptionsdebatte der großen Medien. Gegen die 13 Jahre lang regierende Arbeiterpartei gerichtet, erzeugte sie eine allgemeine Ablehnung der traditionellen, oft in Skandale verwickelten Politikerkaste. Das unterstreicht auch die Zahl von 41 Millionen Bürgern, die trotz Wahlpflicht nicht oder ungültig abstimmten.

Die bürgerlichen Parteien wurden marginalisiert, fielen in die Grube, die sie sich mit der verhaßten Temer-Regierung selbst gegraben hatten. Die Linke konnte ihre Bastionen im Nordosten und Norden Brasiliens halten. Mit 57 Abgeordneten zieht die Arbeiterpartei als stärkste Fraktion ins neue Unterhaus ein. Neun der 26 Bundesstaaten werden ab der 2019 beginnenden Legislatur von Gouverneuren aus dem linken Lager regiert.

Ein Selbstläufer war Bolsonaros Sieg nicht. Er wurde durch Betrug und Manipulation erst ermöglicht. Der angebliche Rebell gegen das Establishment sitzt seit fast drei Jahrzehnten im Kongreß, sein ganzer Clan lebt von öffentlichen Ämtern. Gesponsert von Unternehmern, wurden von Bolsonaros PR-Spezialisten per Whatsapp millionenfach verleumderische "Fake news" über Haddad verbreitet. Nach Studien sollen bis zu 90 % der rechten Wähler diese für bare Münze genommen haben. Der frühere Präsident Lula da Silva sitzt seit April nach einer Prozeßfarce im Gefängnis. Dem eigentlichen und favorisierten PT-Kandidaten untersagte die parteiische Justiz den Wahlantritt. Richter Sérgio Moro, der ihn hinter Gitter brachte, wird nun unter dem Faschisten Bolsonaro Justizminister.

Schon vor Amtsantritt des neuen Präsidenten, der "eine noch nie dagewesene Säuberungswelle" angekündigt hat, herrscht ein Klima der Repression. Im Visier haben die Bolsonaristas dabei besonders das Bildungswesen. Das Ministerium für Arbeit soll abgeschafft, die Renten sollen beschnitten und kapitalisiert werden. Freie Fahrt erhalten Agrarkonzerne: Dem Umweltschutz droht ein Supergau. Der Finanzhai Paulo Guedes, Strippenzieher hinter Bolsonaro, hat eine gewaltige Privatisierungswelle angekündigt. Für dessen Wähler wird es ein böses Erwachen geben.

Peter Steiniger

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Großer Wahlerfolg für belgische Marxisten

Am 14. Oktober fanden in Belgien Kommunalwahlen statt. Dabei gelang der marxistischen Partei der Arbeit (PTB/PvdA) erstmals ein Durchbruch in den wichtigsten Städten Flanderns. In Brüssel und im französischsprachigen Wallonien baute sie ihre Erfolge aus. Besonders hervorzuheben sind die Ergebnisse in Brüssel mit 11,6 Prozent, Antwerpen mit 8,7 Prozent, den beiden wichtigsten Städten Walloniens, Lüttich mit 16,3 Prozent und Charleroi mit 15,7 Prozent, sowie Gent, der zweitgrößten Stadt Flanderns, mit 7,1 Prozent.

Am Abend des Wahltags erklärte der populäre PTB-Vorsitzende, Peter Mertens: "Ich bin ein glücklicher Parteipräsident, denn mit den bisher bekanntgewordenen Ergebnissen haben wir bereits unsere Ziele im ganzen Land erreicht. Zum ersten Mal waren wir nicht nur auf die Städte Lüttich und Antwerpen begrenzt, sondern sind zu einem Faktor in fast allen großen und mittleren Städten der Wallonie und der Region Brüssel sowie in Flandern geworden. Wir sind von 50 auf 157 gewählte lokale Abgeordnete gekommen."

In Antwerpen, dem Heimatort von Mertens, erhielt die PTB vier Sitze im Gemeinderat und 19 in den Bezirksräten. Genosse Mertens erklärte, dort habe "der schwierigste Kampf" stattgefunden. Antwerpen ist eine Hochburg der N-VA, der separatistischen, rechtskonservativen Flämischen Nationalistischen Partei unter Führung von Bart De Wever, der seit 2013 Bürgermeister der Stadt ist. Die N-VA, so Mertens, "veranstaltete die kostspieligste Kampagne aller Zeiten und hat ihre Positionen überraschend gut gehalten. Unter diesen Umständen sind wir selbstverständlich zufrieden, 8,7 Prozent erreicht zu haben."

Besonders hoch wertete Mertens das Erringen von Stadtratsmandaten in Gent (drei Sitze), Löwen (einer) und Hasselt (zwei) und von je einem Sitz in sechs weiteren Städten. Damit sei die Partei in der Lage, bei den Parlamentswahlen im Mai 2019 erstmals in ihrer Geschichte Mandate in Flandern für das Bundes- und das Regionalparlament zu gewinnen.

In der Region Brüssel, die aus 19 Gemeinden besteht, kam die PTB auf zehn bis 15 Prozent und erhöhte die Zahl ihrer Mandate von zwei auf 36 in sieben Gemeinden.

In Wallonien erreichte die PTB jeweils mehr als 15 Prozent in Lüt t ich (drittstärkste Partei), Charleroi (zweitstärkste) und La Louvière (zweitstärkste) sowie im gesamten "roten Gürtel" um Lüttich, mit 25 Prozent sowohl in Herstal als auch Seraing. Für ganz Wallonien stieg die Zahl der Sitze von 14 auf 78.

PTB-Sprecher Raoul Hedebouw nannte als Gründe für den Erfolg: "Die traditionellen Parteien haben im Wahlkampf viel darüber diskutiert, wer mit wem und wo koaliert. Im Unterschied dazu kümmerte sich die PTB um grundlegende Fragen: qualitativ hochwertiger Sozialwohnungsbau, kostenloser öffentlicher Nahverkehr und seine Bedeutung für die Ökologie."

Auch die Grünen erzielten am 14. Oktober gute Ergebnisse, während die Sozialdemokraten in Flandern erhebliche Verluste erlitten, in Brüssel und der Wallonie geringere. Sie blieben aber in vielen Städten die größte Partei. In Flandern siegten erneut Nationalisten und Neofaschisten: N-VA und Vlaams Belang kamen in der Stadt Antwerpen zusammen auf 45 Prozent der Stimmen.

Mertens erklärte: "In diesen schwierigen Zeiten ist unser Fortschritt Grund zum Optimismus. Wir glauben, daß es wichtig ist, den Samen des Widerstands gegen den Sturm zu säen, sowohl in der Nachbarschaft als auch in den Unternehmen." Er dankte den 14.000 PTB-Mitgliedern für die Arbeit im Wahlkampf. Die Partei sei erneut gewachsen und stärker geworden.

RF
Gestützt auf die Website der PTB

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NATO-Feind Nr. 1 oder Wer bedroht eigentlich wen?

Seit 1999 begann die NATO ihren politischen und militärischen Machtbereich massiv zu erweitern. (1999: Polen, Tschechien, Ungarn; 2004: Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, 2009: Albanien, Kroatien, 2017: Montenegro) Sie umfaßt gegenwärtig 29 Mitglieder. Weitere Staaten (Balkanstaaten, Georgien, Ukraine) sind für die Aufnahme in den NATO-Kriegspakt vorgesehen. Einstige Zusagen, die NATO nicht bis an die Grenzen Rußlands auszudehnen, waren und sind reine Makulatur. Von "Selbstverteidigung" als wichtigste Aufgabe (Art. 5 des NATO-Vertrages) ist spätestens seit der Aggression gegen Jugoslawien 1999 keine Rede mehr. Es geht und ging dem Militärpakt nie um Durchsetzung von Vorstellungen der "westlichen Demokratie" wie "bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung", "Rechtsstaatlichkeit", Achtung des Völkerrechts auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen usw. Hauptziel ist die Sicherung der Vorherrschaft des Imperialismus unter Führung der USA. Nach Ende des kalten Krieges wurden zwei Narrative für die Begründung der Existenzberechtigung erfunden: Terrorismus und eine angebliche Bedrohung durch Rußland. Als im Syrienkonflikt und in der Ukraine-Krise Rußland begann, seine Interessen als Staat offensiv zu vertreten und dem Westen politisch entgegentrat, wurde Moskau zum Hauptfeind der NATO erklärt. Die vorherrschende westliche Propaganda unterstellt Rußland Aggressivität und den Versuch, seinen Machtbereich auszudehnen.

Daß diese Behauptungen nicht stimmen, läßt sich an wenigen wirtschaftlichen und militärischen Parametern nachweisen. In Rußland lebten 2017 142,3 Millionen Einwohner. Die NATO-Mitgliedsstaaten haben über 928,8 Millionen Einwohner, mehr als das 6,5fache Rußlands. Das russische Bruttoinlandsprodukt betrug 2017 ca. 1527 Mrd. US-Dollar. Das der USA belief sich auf 19.390 Mrd. Dollar, das 12,7fache. Allein sechs NATO-Länder (USA, Großbritannien, Frankreich, BRD, Kanada, Italien) hatten zusammen ein Bruttoinlandsprodukt in Höhe von ca. 31 874 Mrd. Dollar, also mehr als 20mal soviel wie Rußland. Die russischen Militärausgaben beliefen sich 2017 auf 66,3 Mrd. US-Dollar, die der USA auf 610 Mrd. Dollar. Die o. g. NATO-Staaten zusammen gaben gigantische 809 Mrd. US-Dollar im gleichen Zeitraum für Rüstung aus, mehr als das 12fache der russischen Militärausgaben. Der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt aller NATO-Staaten betrug 2017 2,42 %. (Rußland 4,3 %). Die "aktiven Verteidigungskräfte" der gesamten NATO betrugen 2017 3,17 Millionen Soldaten. In Rußland sind es über ca. 1,2 Mio. Soldaten. Rechnerisch hat die NATO das 2,6fache an Soldaten.

Sieben Länder in der Welt verfügen über Unterseeboote, die ballistische Raketen mit Kernsprengköpfen abfeuern können. Die drei Staaten USA (14), Großbritannien (4) und Frankreich (4) besitzen zusammen 22 kernwaffentragende U-Boote, die im NATO-Dienst stehen. Rußland dagegen hat nur 12 U-Boote, die ballistische Raketen mit Atomsprengköpfen verschießen können.

Zum "gepflegten" Feindbild gehört auch die Behauptung, daß Rußland viele Auslandsstützpunkte habe, von denen eine Bedrohung ausgehe. Tatsächlich handelt es sich nur um 20 Stützpunkte, die sich in 10 Ländern (vornehmlich in ehemaligen Sowjetrepubliken) befinden. Nur drei Stützpunkte sind klassische Militärbasen, eine in Vietnam und zwei in Syrien. Allein die USA besitzen dagegen nach Schätzungen ca. 1000 Militärbasen im Ausland. Offiziell hat Washington mehr als 300.000 Soldaten im Ausland stationiert. Die USA (6450), Großbritannien (215) und Frankreich (300) verfügen über insgesamt 6965 Atomwaffen. Rußland besitzt 6850 Atomsprengköpfe.

Gegenwärtig modernisiert das Pentagon seine Atomstreitkräfte und Atomwaffen, um einen militärischen Vorteil zu erringen bzw. eine Erstschlagskapazität zu sichern. Dabei wird angestrebt, einen Gegenschlag (Zweitschlag) auszuschließen. Verbunden damit ist das Konzept, die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen durch neue atomare Sprengköpfe zu senken. Dafür investieren die USA 400 Mrd. US-Dollar bis 2026. Rußland ist dabei, sein Atomwaffenarsenal gleichfalls zu modernisieren, zumal die US-Administration bereits am 13. Juni 2002 einseitig aus dem unbefristeten ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty, 26. Mai 1972) zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme ausgestiegen ist. Der bilaterale INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) zwischen den USA und Rußland regelt die Vernichtung aller Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite. Er trat am 1. Juni 1988 in Kraft. Durch die Stationierung bodengestützter Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien unterlaufen die USA und die NATO diesen Vertrag. Diese Abschußvorrichtungen sind vermutlich so konzipiert, daß sie für neue mittelstreckenwaffenähnliche Systeme und für Tomahawk-Raketen genutzt werden können. Der amtierende Kriegsminister Rumäniens, Mihai Fifor, bestätigte Anfang August diesen Sachverhalt indirekt: "Wie könnte sich Präsident Putin jemals darüber freuen, daß in Rumänien auf dem Militärstützpunkt Deveselu ballistische Raketen stationiert sind?" Ballistische Raketen sind reine Angriffs- und keine Verteidigungswaffen.

Noch regelt der START-Vertrag ("Strategic Arms Reduction Treaty", Vertrag läuft 2021 aus) zwischen den USA und Rußland, daß die Atomsprengköpfe auf strategischen Trägersystemen (Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützte Langstreckenraketen und Langstreckenbomber) auf je 1550 Stück reduziert sind. Die Zahl der stationierten und nicht stationierten Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützten Raketen und Langstreckenbomber wird insgesamt für jedes Land auf 800 Stück begrenzt, wobei nicht mehr als 700 stationiert sein dürfen. Die Frage steht im Raum, wann die Vertragsseiten diesen Vertrag überarbeiten und verlängern. Beide Präsidenten, Trump und Putin, haben sich auf ihrem Treffen am 16. Juli in Helsinki auf Verhandlungen zum Vertrag verständigt.

Gegenwärtig haben wir es mit einem massiven Bestreben der USA und ihrer NATO-Partner zu tun, das strategische Gleichgewicht zu verändern. Die Infrastruktur der NATO wird immer näher an die russischen Grenzen gerückt. Dazu gehören die Schaffung neuer NATO-Strukturen und die Verlegung von Kampfverbänden nach Polen und in die baltischen Staaten. Immer häufigere und größere Kriegsmanöver - auch mit Nicht-NATO-Staaten wie Georgien und Ukraine - an Rußlands Grenzen stellen eine robuste Bedrohung dar.

Die NATO hat auf ihrer Tagung am 12. Juli beschlossen, neue, schneller einsetzbare Kampfverbände aufzubauen und die militärische Mobilität zu verbessern. Auf einer Sondersitzung der NATO-Tagung einigten sich die Mitgliedsländer darauf, die Militärausgaben aufzustocken. Grundlage hierfür bildet das Abkommen von Wales (2014), das bis 2024 eine Erhöhung der Kriegs- und Rüstungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung jedes Mitgliedstaates vorsieht.

Fassen wir alle Fakten zusammen, dann wird deutlich, daß nicht Rußland eine Bedrohung für die Welt und den Weltfrieden sein kann. Der "NATO-Feind Nr. 1" - Wladimir Putin - formulierte bereits 2015: "Nur jemand, der keinen gesunden Menschenverstand besitzt oder träumt, kann sich vorstellen, daß Rußland eines Tages die NATO angreifen könnte. Dieser Gedanke ist sinnlos und vollkommen unbegründet. Vielleicht ist jemand ja daran interessiert, diese Angst zu schüren." (die "Welt" am 7. Juni 2015)

Dr. Ulrich Sommerfeld

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Ein Aufruf an alle: Frieden und Freundschaft mit Rußland!

Der Feind steht im Osten und heißt Rußland. Die NATO hat dies einmal mehr mit ihrem Großmanöver "Trident Juncture" vom 25. Oktober bis zum 23. November in Norwegen betont. Insgesamt 50.000 Soldaten aus den NATO-Staaten sowie den Partnerländern Finnland und Schweden trainierten da die Abwehr eines Angriffs. Die Bundeswehr war bei der größten Kriegsübung seit Anfang der 90er Jahre mit ca. 8000 Soldaten zweitgrößter Truppensteller nach den USA. Es gehe um "glaubwürdige Abschreckung", war in der FAZ ganz im Landser-Jargon von der Front im kalten Norden zu lesen. "Die Soldaten sind froh, endlich zu zeigen, was sie können. Panzer, Kanonen, Amphibienfahrzeuge, Tanklaster, Werkstattcontainer, medizinische Einsatzversorgung, das alles wurde herangeschafft, fast alles ist in gutem Zustand. Angekommen sind auch die Winterkampfanzüge und die moderne Funktionswäsche." Die NATO-Staaten übten "unter heftigen klimatischen Bedingungen die rasche Reaktion auf einen Angriff aus dem hohen Norden. Darunter versteht sich nach Lage der Dinge Rußland, auch wenn das in den NATO-Papieren nicht ausdrücklich gesagt wird. ... Die Waldwege haben sich in Humusschlamm verwandelt, Schneeregen segelt zwischen Birken und Fichten zu Boden. In der Nacht haben sie wenig geschlafen ... Dennoch sieht man um sechs Uhr morgens fast 4000 zufriedene Männer und Frauen. Soldaten. Mittendrin ein General. Der hat 150 Kilometer nördlich von Oslo ebenfalls in einem der Zelte übernachtet und nennt das Ganze 'eine Sternstunde' seines Berufslebens. In drei Tagen sollen hoch im Norden die Roten angreifen. Darauf freuen sich hier die allermeisten, besonders die von der Bundeswehr."

Im "Vorwärts" erklärt der Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu, Sprecher der AG Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion, warum dieses NATO-Manöver "zwingend nötig ist".

Das Bundesverteidigungsministerium hat die Kosten mit 90 Millionen Euro beziffert, allein für Deutschland. "Doch dieses Geld ist gut angelegt", weiß der SPD-Parlamentarier. Die Bündnisverteidigung als "Herz der NATO" bleibe "eine leere Hülle", wenn Einsätze "nicht auch ab und zu geübt werden". Das Manöver sei auch "ein Prüfstein für den Zustand der Bundeswehr". Kritik an der Kriegsübung weist der Sozialdemokrat im Parteiorgan resolut zurück. "Seit Bestehen der NATO hat es immer große Manöver gegeben ... In den Jahren der sogenannten 'Friedensdividende' glaubte man, darauf verzichten zu können. Logistische Fähigkeiten wurden vernachlässigt, die Streitkräfte der Mitgliedsländer reduziert. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim kann sich die NATO das nicht mehr leisten."

Angesichts des Säbelrasselns und der Schlachteneuphorie kommt das Buch "Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen" zur richtigen Zeit. Der Sammelband ist ein Aufruf an alle von namhaften Politikern der SPD, der Grünen und der Partei Die Linke, aber auch der CDU/CSU und der FDP. Herausgeberin Adelheid Bahr, Ehefrau des 2015 verstorbenen Politikers Egon Bahr, und der Westend-Verlag haben hier mit Matthias Platzeck, Sigmar Gabriel, Antje Vollmer, Oskar Lafontaine, Peter Gauweiler und Wolfgang Kubicki sowie mit General a. D. Harald Kujat und den Publizisten Gabriele Krone-Schmalz, Peter Brandt, Daniela Dahn, Wolfgang Bittner und Albrecht Müller Stimmen der Vernunft im Umgang mit Rußland zusammengeführt.

Die Mehrheit der Deutschen will den Stahlhelm von FAZ und Felgentreu nicht aufsetzen. Die Schriftstellerin Daniela Dahn verweist in diesem Zusammenhang auf eine umfangreiche Studie des forsa-Instituts für Politik und Sozialforschung vom April 2018. Gute Beziehungen zu Rußland halten demnach 94 Prozent der Deutschen für wichtig. Bei den SPD-Mitgliedern waren es sogar 98 Prozent. "Da ist das Erbe von Willy Brandt und Egon Bahr noch lebendig", so Dahn. "Da liegen die Genossen noch vor den recht rußlandfreundlichen Ostdeutschen, die ihre einstige Besatzungsmacht offenbar nicht in so schlechter Erinnerung haben." 97 Prozent der Befragten befürworten eine von den USA emanzipierte Politik, die die russischen Interessen berücksichtigt. Von Rußland geht keine Gefahr aus, das empfinden 91 Prozent von ihnen. Daran habe auch die Krim nichts geändert, schreibt Dahn. Die Frage, ob im Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht der ansässigen Bevölkerung oder die Unverletzlichkeit der territorialen Souveränität Vorrang habe, sei für viele offen.

In einer seiner letzten Reden hatte Egon Bahr 2015 für eine Anerkennung der Realitäten plädiert. Ausgangspunkt westlicher Entrüstung über Rußland sei die "Annexion der Krim". Diese stelle auch nach seiner Auffassung eine "Verletzung internationaler Verträge dar, die nicht anerkannt werden kann". Eine solche Forderung habe es aus Moskau bislang aber auch nicht gegeben. Und Bahr ruft in Erinnerung, daß dies 1970 anders gewesen sei: "Bonn hat die völkerrechtliche Anerkennung der DDR abgelehnt. Brandt hat sie als Staat bezeichnet, der für uns nicht Ausland sein kann. Das bedeutete de facto die Respektierung der DDR als Staat. Diese Respektierung war 20 Jahre lang der völkerrechtliche Rahmen der gesamten Ostpolitik für viele Verträge und internationale Abkommen. Die Respektierung der russischen Krim wäre eine Analogie auch ohne zeitliche Begrenzung." Den Regime-Change-Apologeten und Demokratie-Exporteuren hält das Urgestein der sozialdemokratischen Entspannungspolitik entgegen: "Rußland wird allein bestimmen, welche Schritte es zur Demokratie geht. Es wird eine Demokratie à la Russe sein. Was kann der Westen anbieten: die monarchistischen Modelle in London oder Tokio? Oder die erfolgreiche Einparteienherrschaft in Singapur? Ich habe auch noch keine Erwägung gehört, Sanktionen gegen China oder Saudi-Arabien zu verhängen, weil sie unseren demokratischen Vorstellungen nicht entsprechen."

Viele Beiträge nehmen immer wieder Bezug zu Ausführungen Bahrs. Übrigens halten laut der bereits erwähnten forsa-Befragung 71 Prozent der Deutschen die Abkehr von der früheren Entspannungspolitik für falsch, darunter viele AfD-Anhänger. Daniela Dahn mahnt in diesem Zusammenhang zu Differenzierung und Selbstbewußtsein, was vielen Linken heute leider abgeht. Die "Neunationalen" hätten einen Teil ihrer fehlenden Programmatik von anderen Parteien abgeschrieben, auch von linken. "Das kann man bloßstellen und unbeirrt bei seinen Zielen bleiben, bekämpfen sollte man den kruden Kern." Übrigens sind es unter den Ostdeutschen 78 Prozent, die sich die Entspannung zurückwünschen, bei den SPD-Mitgliedern sind es sogar 89 Prozent. "Der Bruch von SPD-Außenminister Heiko Maas mit der etwas milderen Rußland-Linie seiner Vorgänger Steinmeier und Gabriel verärgert 81 Prozent der SPD-Mitglieder", so Dahn. Wandel durch Annäherung habe zu Entspannung geführt, nicht Wandel durch Abschreckung. "Rußland ist kein Gegensatz zu Europa, sondern sein Bestandteil", fährt sie fort und mahnt abschließend weitsichtig: "Dafür, daß zur deutschen Staatsräson die Sicherheit Israels gehört, gibt es unabweisbare Gründe. Sie beruhen auf historischer Verantwortung. Aus denselben Gründen gebietet es sich, auch die Freundschaft zu Rußland zur Staatsräson zu erheben."

Jeder einzelne Beitrag in dem Buch ist lesenswert, bei allen Differenzen, die es zu einzelnen ohne Zweifel gibt. Aus Platzgründen können sie hier nicht weiter gewürdigt werden. Das Buch in der Summe ist ein "Appell an die politischen Institutionen und die mediale Öffentlichkeit unseres Landes, sich zu besinnen, innezuhalten, eine Zwischenbilanz zu ziehen und einen Neustart zu wagen", wie Adelheid Bahr im Vorwort schreibt. Sie endet mit der Maxime: "Wir brauchen Frieden und Freundschaft mit Rußland. Eine neue Entspannungspolitik ist das Gebot der Stunde!" Man wünscht, sie und die Mehrheit der Deutschen mögen im Kanzleramt und am Werderschen Markt endlich Gehör finden.

Rüdiger Göbel
Berlin

Adelheid Bahr (Hg.): Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen.
Westend-Verlag, Frankfurt/M. 2018, 208 S., 18 Euro

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Die neue US-Strategie für Afghanistan

Gab es tatsächlich eine neue US-Afghanistan-Strategie, wie die Administration in Washington angekündigt hatte, oder waren es eher "Fake News", die US-Präsident Trump verbreitete? Wenn es eine neue Strategie gegeben hat, was beinhaltete sie?

Im Vorfeld ihrer Verkündung haben die Vereinigten Staaten mit mehr als 8000 Kilogramm Sprengstoff und elf Tonnen TNT-Äquivalent die größte nichtatomare Bombe, die den Spitznamen "Mother of all bombs" (MOAB) trug (eigentlich steht die Abkürzung für "Massive Ordnance Air Blast"), in Afghanistan eingesetzt, meldeten die Presseagenturen am 14. April 2017. Der als "Mutter aller Bomben" bezeichnete Sprengstoff wurde gegen 7 Uhr Ortszeit im Osten, in den Bergen von Tora Bora in der Provinz Nangrahar, wo die USA in den 80er Jahren für die Mujaheddin Höhlen gebaut hatten, gezündet. US-Präsident Donald Trump sprach von einem "sehr, sehr erfolgreichen Einsatz", meldeten die Presseagenturen AFP und Reuters. Es wurde von 36 Toten gesprochen. Nach Angaben lokaler Behörden wurden jedoch 94 Menschen zerfetzt, berichtete DPA. Ob Trump den Einsatz persönlich genehmigt hatte, bestätigte er jedoch nur indirekt. "Jeder weiß genau, was passiert. Also, ich autorisiere unser Militär. Wir haben ihnen volle Befugnis gegeben, und das ist es, was sie machen."

"Ich habe noch nie im Leben einen solchen Knall gehört", sagte Malik Mohammed, ein Stammesältester in Achin, der Deutschen Presse-Agentur. Riesige Flammen seien in der Gegend hochgeschlagen. Der russische Verteidigungspolitiker Franz Klinzewitsch äußerte der Agentur Interfax zufolge, der Bombeneinsatz sei nicht nötig gewesen, denn in letzter Zeit habe sich nichts grundlegend an der Situation in Afghanistan geändert. Der Afghanistan-Experte Omar Nessar von der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau sieht in dem Einsatz der riesigen USBombe eine Demonstration der Stärke gegenüber Rußland. Washington wolle Rußlands Einfluß in Afghanistan eindämmen, meinte er.

Das Vorgängermodell dieser Bombe war schon im Golfkrieg getestet worden. Da es Zweifel an deren militärischem Nutzen gab, wurde die modernisierte Version dann am Hindukusch getestet. Seit Beginn des Kriegs gegen Afghanistan am 7. Oktober 2001 ist das Land zum Testgelände für die neuesten Waffen der NATO geworden. Die deutschen gepanzerten Fahrzeuge Fuchs bzw. Marder, der Nachfolger des Typs Mirage des französischen Kampfflugzeugs und die US-Kampfdrohnen wurden alle in Afghanistan eingesetzt, getestet und für den Einsatz unter klimatisch ähnlichen Bedingungen anderswo weiterentwickelt.

Im ganzen Jahr 2016 hatte die US-Luftwaffe 1337 Bomben auf Afghanistan abgeworfen. Bis Ende Oktober 2017 waren es schon 3554 und Ende 2017 etwa dreimal so viele Bomben wie im Jahre 2016. Nach Angaben der UNO stieg in den ersten neun Monaten 2017 die Zahl der durch US-Luftangriffe getöteten Zivilisten im Vergleich zu 2016 um 52 %. Da die UNO nicht die Möglichkeit hat, außerhalb der größeren Städten die Opferzahl zu registrieren, muß davon ausgegangen werden, daß weitaus mehr Menschen getötet worden sind.

Während des Wahlkampfs hatte Donald Trump angekündigt, die Auslandseinsätze des US-Militärs schnell zu beenden. Als Präsident hat er aber den Krieg verschärft. Bei seiner groß angekündigten Rede zur "neuen Afghanistan-Strategie" vor Soldaten im Stützpunkt Fort Myer in Virginia "Wir werden angreifen" verkündete er, was er in Afghanistan vorhat. Er will den Kampf gegen den unter der Bezeichnung Taliban und Islamischer Staat (IS) subsumierten Widerstand ausweiten. Ziel sei es nun, den Krieg in Afghanistan zu gewinnen, verkündete er. Dazu werde er aber keine Abzugstermine und auch keine genaue Truppenstärke nennen, "um dem Feind keine Informationen zu geben". Es wurde von einer Aufstockung der Truppen um 3900 Soldaten gesprochen. Auch der Einsatz privater Söldner statt regulärer Soldaten wurde in Erwägung gezogen, damit aus Afghanistan in die USA zurückgebrachte Zinksärge mit den sterblichen Überresten Gefallener die Zweifel der US-Bürger am Sinn des Krieges nicht noch mehr vertiefen.

Auch andere NATO-Mitglieder sollen auf einen stärkeren Einsatz verpflichtet werden. Insgesamt haben 15 NATO-Länder ein zusätzliches Engagement in Aussicht gestellt. Deutschland stellt nach den Vereinigten Staaten und Italien das größte Truppenkontingent. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) plant eine deutliche Ausweitung des Bundeswehreinsatzes. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur vom 4. März 2018 soll die Zahl der Bundeswehrsoldaten im Rahmen der NATO-Ausbildungsmission "Resolute Support" von 980 auf bis zu 1300 erhöht werden. Das ist rund ein Drittel mehr. Nach Angaben von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wird die Zahl der NATO-Soldaten zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte im kommenden Jahr auf rund 16.000 steigen. Dies entspricht einem Plus von mehr als 3000 Kräften. Zu bedenken ist dabei, daß die NATO in den Hochphasen des Krieges bis 150.000 Soldaten in Afghanistan im Einsatz hatte und nicht in der Lage war, den Widerstand in die Knie zu zwingen. Im Gegenteil.

Mehr als 16 Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 sind die Islamisten stärker denn je. Sie kontrollieren 45 der 398 Distrikte des Landes völlig, 117 Distrikte sind zwischen Taliban und Regierungstruppen schwer umkämpft. Beobachter sprechen von einer Patt-Situation. Wie US-Präsident Trump nun mit 16.000 Soldaten den Krieg gewinnen will, bleibt sein Geheimnis. Bei einem Treffen in Kabul mit US-Außenminister Michael Pompeo sagte der afghanische Präsident Ashraf Ghani: "Die neue Afghanistan-Strategie der USA, die Präsident Donald Trump im vergangenen August vorgestellt hatte, funktioniert. Die USA haben ihre Truppen aufgestockt und ihre Luft- und Bodenoffensiven vor allem gegen die Taliban drastisch verschärft." Diese Eskalation des Krieges ist nicht neu, geschweige denn eine "neue Strategie".

Die afghanische Regierung soll mehr Hilfe erhalten, um mit der eigenen Armee gegen die Taliban zu kämpfen. Damit wird die Afghanisierung des Krieges, die von Barack Obama eingeleitet wurde, fortgesetzt. Gleichzeitig soll die Regierung in Kabul dazu gebracht werden, endlich stärker gegen Korruption und Mißwirtschaft vorzugehen. Da die Korruption wie ein Krebsgeschwür den ganzen Körper des afghanischen Staates befallen hat, ist die Lösung des Problems dann möglich, wenn man eine komplett neue Regierung schaffen würde. Alles andere ist nur Wunschdenken der westlichen Besatzer. Trump schloß auch Verhandlungen mit den Taliban nicht aus, um irgendwann zu einem Frieden zu kommen. Aber "wie schon der frühere FBI-Direktor Comey sagte: 'Mit Trump ist es, wie mit der Mafia zu verhandeln'", konstatierte die britische Zeitung "The Guardian" am 11. Juli. Glenn Kessler von der "Washington Post" wird als Star der Faktenchecker bezeichnet, gehört es doch zu seiner Aufgabe, u. a. alle Falschaussagen von Donald Trump zu dokumentieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: "Am 20. Juni [2018] hat er 77 falsche Aussagen gemacht." Der "Guardian" kommentierte Trumps Reise nach Großbritannien so: "Der Präsident der Vereinigten Staaten sollte eigentlich unser wichtigster Verbündeter sein, mit dessen Land wir eine besondere Beziehung beanspruchen und mit dem wir grundlegende demokratische Werte teilen. Wenn so ein Führer auf die Grundlagen dieser Allianz spuckt und aktiv Werte und Interessen fördert, die den unseren feindlich gegenüberstehen, dann besagt die schwierige Lehre der Geschichte, daß er nicht geehrt und nicht beschwichtigt werden sollte. Wir unterstützen all jene, die friedlich und mit Würde gegen die Anwesenheit eines Präsidenten protestieren, der ein schlechter und unzuverlässiger Verbündeter ist." Stefan Kornelius, derzeitiger Leiter des Ressorts Außenpolitik der "Süddeutschen Zeitung", wird noch deutlicher: "Einem marodierenden Söldnertrupp gleich zieht Donald Trump mit seiner Entourage durch Europa, zerstört Gewißheiten und Institutionen, verbrennt Freundschaften und eine 70 Jahre alte Ordnung. Zeiten des Umbruchs sind das, Zeiten der Ungewißheit und der Sorge, weil sich in atemberaubender Schnelligkeit eine alte Welt verabschiedet, ohne daß die neue zu erkennen wäre."

Selbst wenn die westlichen Verbündeten den US-Präsidenten zum Teufel wünschen, wie könnte er ein zuverlässiger Verhandlungspartner des Widerstandes, d. h. der Taliban, sein? Daher kann man davon ausgehen, daß jede Verhandlung zwischen Trump und den Taliban von vornherein zum Scheitern verurteilt sein wird.

Nach Trumps Vorstellungen sollten Nachbarstaaten wie Pakistan stärker unter Druck gesetzt werden, damit sie nicht weiter zum Rückzugsort für die Taliban und Terroristen werden, die über die Grenze aus Afghanistan kommen. Diese Forderung der US-Administration wird von niemandem ernst genommen. Sie wird seit Jahren wie eine tibetische Gebetsmühle wiederholt, ohne daß konkrete Maßnahmen erfolgen würden. Außerdem solle sich auch Indien endlich mehr für den Konflikt in seiner Nachbarschaft engagieren, forderte Trump. So eine Erwartung zeugt von absoluter Unkenntnis der Probleme in und um Afghanistan, besonders was die Beziehungen zwischen Pakistan und Indien betrifft und deren diametral entgegengesetzte strategische Interessen am Hindukusch.

Es muß deutlich betont werden, daß die "neue US-Strategie" für Afghanistan ein totgeborenes Kind ist, das von einem ahnungslosen US-Präsidenten in die Welt gesetzt wurde.

Der Krieg, ob von der NATO geführt oder afghanisiert, hat den Konflikt nicht gelöst. Die Greater-Middle-East-Strategie (GME) der NEOCONS, welche die US-Regierung während des G8-Gipfels von Sea Island im Juni 2004 als politische Agenda zur Umstrukturierung der Region Großraum Mittlerer Osten verkündet hatte, ist an den Bergen des Hindukusch zerschellt. Auch die Afghanisierung des Krieges unter Barack Obama ist im Sand verlaufen. Da Trumps Strategie keine Strategie, sondern eine Verstärkung der militärischen Eskalation ist, muß auch sie scheitern. Es ist längst an der Zeit, endlich den Frieden am Hindukusch zu afghanisieren. Dazu liegt seit langem ein von mir ausgearbeiteter 18-Punkte-Friedensplan vor. Das afghanische Volk will Frieden. Nach einem mehr als 700 Kilometer langen, vielbeachteten 40 Tage dauernden Protestmarsch - ein Novum in der neuen Geschichte Afghanistans - quer durch das kriegszerrissene Land ist eine Gruppe von Friedensaktivisten, die in der schwer umkämpften südafghanischen Provinz Helmand gestartet war, am 18. Juni 2018 in Kabul angekommen. Die Männer sangen im Chor "Wir wollen Frieden". Zahlreiche Anwohner der Hauptstadt begrüßten die Demonstranten und skandierten Friedensparolen. Die Teilnehmer forderten eine Verlängerung der Waffenruhe zwischen Regierung und Aufständischen, Gespräche und einen Zeitplan für den Abzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan. Wie verhaßt die ausländischen Truppen bei der afghanischen Bevölkerung sind, verdeutlicht ein Beispiel: Als 2008 Bundeswehrsoldaten während einer Patrouillenfahrt mit einem Wolf-Geländefahrzug eine 15 Meter tiefe Böschung hinabstürzten und ein Soldat dort für kurze Zeit bewußtlos lag, eilten Einheimische zur Unfallstelle. "Die haben den Unfall wie einen Sieg gefeiert", sagte der verletzte Soldat später.

Als der afghanische Präsident Ashraf Ghani am 12. Juni 2018 für die Feiertage am Ende des Fastenmonats Ramadan eine einseitige Waffenruhe angeordnet hatte, haben selbst der islamisch geprägte Widerstand, Taliban, Haqqani-Netzwerk und andere das Angebot sofort angenommen und ihrerseits die Kämpfe eingestellt. Im ganzen Land kam es zu Begegnungen und gemeinsamen Feierlichkeiten zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften, die sich umarmten und als Brüder bezeichneten. "Sie sind unsere Brüder", sagte eine Soldatin über die Taliban. "Taliban-Kämpfer und Regierungssoldaten lagen sich in Städten und Dörfern in den Armen, feierten drei Tage lang gemeinsam das Ende des heiligen Fastenmonats Ramadan."

Frieden ist möglich, ist er auch gewollt? Die Profiteure des Krieges - die NATO und die korrupte, vom Westen eingesetzte und abhängige afghanische Administration - müssen dazu gezwungen werden, den Willen des afghanischen Volkes zu respektieren und den Weg für einen Frieden am Hindukusch zu ebnen.

Dr. Matin Baraki

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Vor 35 Jahren: Kongreß am Rio Douro

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die nicht gelungene Integration

Das war's also. Einen Tag davor und einen danach haben die Medien wieder mal einen Blick nach Osten gerichtet. Diesmal außerhalb solcher "Höhepunkte" wie Chemnitz, Freiberg oder Hoyerswerda. Immer noch - nach 28 Jahren - zeigt man sich erstaunt, wenn jemand von dort über eine schöne Kindheit oder ein ganz normales Leben berichtet. Und fast gesetzmäßig kommt die Frage, warum man nicht in den Westen ging.

Woran mag es liegen, dieses Desinteresse, diese Vorbehalte, dieses Nichtverstehenwollen? Wodurch wurde das Bild geprägt, das der Osten vom Westen und der Westen vom Osten hatte und heute noch hat?

Was haben damals viele im Osten erwartet? Natürlich die versprochenen blühenden Landschaften, den Konsumrausch, die freien Grenzen, das Kennenlernen der Welt. Aber viele ahnten nicht oder wollten nicht sehen, wie bitter das zu erkaufen war. Der fast durchgehende Bruch der Lebensläufe wurde übertüncht durch die Erfüllung langgehegter Wünsche.

Die Treuhand schuf eine industrielle Wüste mit Folgen für fast jeden: Arbeitslosigkeit, wertlose Berufe, Abwanderung, verlassene Dörfer und Kleinstädte, zerbrochene Beziehungen. In 40 Jahren gewachsene Selbstverständlichkeiten wie die sichere Arbeit, die sorgenfreie Zukunft für die Kinder, die gleichwertigen Chancen in der Bildung, die finanziell freie medizinische Behandlung waren verdrängt durch all das Neue, was zu erleben war. Erstaunlich, wie weitgehend widerstandslos das hingenommen wurde und wie lange es dauerte, bis sich das Gedächtnis wieder meldete.

Und was hat die Meinung im Westen geprägt? Erst war es wohl die Begeisterung über die glücklichen Menschen hinter der "Mauer", als diese fiel. Dann sah man die kaputten Fassaden der Innenstädte und das riesige Potential der Käufer, den Absatzmarkt. In den Medien kamen die zu Wort, die den Enthusiasmus prägten, jene also, welche das vergangene Land vergessen wollten, die mit den dort bisher herrschenden politischen und ökonomischen Verhältnissen nicht übereinstimmten. Die Diskussionen über "Unrechtsstaat", "Stasi" und marode Wirtschaft setzten die Eckpunkte des Wissens über die DDR. Drei Daten blieben haften: 17. Juni 53, 13. August 61 und 9. November 89. Aufbauleistung, erfüllte Lebensläufe, Kultur und Kunst von Weltrang, wissenschaftliche Höchstleistungen hatten da keinen Platz. Das konnte es in so einem Staat nicht gegeben haben. Ich erinnere mich an eine Ausstellung in Weimar, wo man Werke von Künstlern der DDR auf unwürdigste Art darstellte. Danach verschwanden sie in den Kellern der Museen. Künstlerverbände und Akademien wurden aufgelöst. Was nicht der Vernichtung anheimfiel, kam in die Archive. Abgerissen wurden der Palast der Republik, zahllose Kulturbauten und erst recht Wohnhäuser, die heute fehlen. Nicht wenige bis dahin genutzte alte Schlösser und andere Bauten wurden verkauft und verfielen.

Dieser riesige Umbruch war auch mit einem totalen Eigentums- und Elitenwechsel verbunden. Nicht nur das politische Personal, auch die Justiz, die Wissenschaft, die Kultur verloren ihre großen Namen. Viele Künstler standen vor dem Nichts, selbst Museumsdirektoren, Chefärzte und Theaterleiter wurden kaltgestellt und ausgewechselt, zuvorderst die Leiter von Betrieben und Genossenschaften. Die Treuhand schuf völlig neue Besitzverhältnisse. Auch Wälder und Seen wurden privatisiert. 95 % des Eigentums im Osten fiel in westliche Hände. Noch heute sind über 80 % der Führungskräfte im Osten aus dem Westen. All dieser menschliche und materielle Zusammenbruch, dieses Beiseiteschieben und Entwerten von Lebensläufen verschwand hinter den Floskeln der Politik von Freiheit und neuem Wohlstand, hinter neuen Fassaden in den Städten und neuen Autobahnen, hinter dem Urlaub auf Mallorca und den Erfolgen einzelner, die sich ein Haus bauen konnten oder anderweitig Glück beim Ankommen in dem neuen Staat hatten. Heute spielen das Aufbauwerk in der DDR und die Leistungen ihrer Bürger kaum noch eine Rolle. Aus den Schulbüchern verbannt, in den Medien ignoriert, in den Geschichtsbüchern subjektiv im Interesse der Sieger dieses Epochenbruchs kommentiert, sollen 40 Jahre DDR-Geschichte vergessen werden. Auch Hunderte von Erinnerungsbüchern und Autobiographien fanden nur ein begrenztes mediales Echo.

Wie konnte das geschehen? Im Osten gab es nach dem Anschluß an die BRD keine Kraft, die willens und in der Lage war, diesem Prozeß entgegenzutreten. Die damalige PDS, die sich dagegenstemmte, wurde diskriminiert oder ignoriert, egal, ob in Talkshows oder im Bundestag. Fehler, Mängel, Ungerechtigkeiten, Abhängigkeiten, Verletzungen - all das hat es auch in der DDR gegeben. Doch sie wurden nur genutzt, um diesen Staat pauschal zu verurteilen. Ja, viele Ostdeutsche haben dazu geschwiegen, nicht wenige dabei auch mitgemacht aus ganz persönlichen Überlegungen. Man wollte ja Fuß fassen, sich ein neues Leben aufbauen. Und manchem ist das auch gelungen, vielen aber eben nicht.

Und so blieb oft das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein. Einen Kulminationspunkt erfuhr diese Stimmung, als durch die Flüchtlingswelle neue Konkurrenten im Kampf um die tägliche Existenz auftauchten und Angst um den bis dahin mühsam errungenen Lebensstandard um sich griff. Daran knüpften die nationalistischen Kräfte ihre Propaganda, und viele ließen sich genauso manipulieren und reinlegen wie vor 28 Jahren. Daraus erkläre ich mir den Zulauf, den die AfD vor allem im Osten Deutschlands hat.

Eine der Ursachen dieser "Nichtintegration" des Ostens liegt m. E. auch darin, daß die Partei Die Linke nach der Vereinigung mit der WASG ihre Politik an westdeutschen Leitlinien ausrichtete und damit zu einem nur noch wenig wirksamen Faktor bei der Einflußnahme auf die Lebensverhältnisse der Menschen wurde. Sie wird (vor allem im Osten) als zum politischen System zugehörig betrachtet. Die einmal vorhandene und wirksame Nähe zu den Sorgen und Forderungen der Bevölkerung ist verlorengegangen. Dieser Spagat, an verantwortlicher Stelle auf das Leben der Bürger und die Politik dieses Staates Einfluß zu nehmen und zugleich wirkungsvoll und überzeugend die unsoziale und gefährliche Politik dieser Regierung zu bekämpfen, ist die Herausforderung an die Politik der Partei Die Linke.

Franz Tallowitz
Saterland

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Vom unterwanderten Staat

Viele AfD-Wähler und Mitglieder sind im Staatsdienst: darunter auch 28 Bundestagsabgeordnete, 12 Pensionäre und 16 Aktive. Sie sind die zweitgrößte Gruppe nach den Selbständigen, gefolgt von Rechtsanwälten und Handwerkern. Im Bundestag verfügt sie über sieben Polizisten, fünf Soldaten, vier Richter und Staatsanwälte neben drei Verwaltungsbeamten, neun Lehrern und Hochschullehrern.

In den Landes- und Kommunalparlamenten sieht es ähnlich aus. Zum bayerischen Wahlkampf, wie schon in Schleswig-Holstein, stellte die AfD gezielt Kandidaten aus Justiz, Polizei und Bundeswehr in den Vordergrund. Inzwischen wurden aber einige bürgerliche Medien von Polizeischikanen in Dresden gegen das ZDF (auf Geheiß eines LKA-Pegida-Anhängers), einem Justizbeamten als Denunzianten und durch die Parteinahme des mitterweile geschaßten BfV-Chefs Maaßen im Einklang mit Ministerpräsident Kretschmer für "zu Recht empörte Bürger" gegen "linksextreme Falschinformationskampagnen" heilsam vor den Kopf gestoßen. In Folge gab es nun TV- und Zeitungsberichte über rechte Umtriebe in der Staatsmacht. Wie Maaßen geriet auch deren offensichtlich mangelnde Bereitschaft, gegen Hetzjagden wie in Chemnitz oder Nazi-Randale wie in Dortmund (dort verbunden mit Judenhaß) entschlossen einzuschreiten, in den Fokus.

Eigentlich sollte das nichts Neues sein. Seit den "Kommunistenprozessen" nach 1848 diente die deutsche Staatsmacht den Kapitalinteressen für Monarchie, Bourgeoisie und Faschismus zur verläßlichen Unterdrückung der Freiheitsrechte der arbeitenden Bevölkerung. Reichswehr, Justiz und Polizei der Weimarer Republik wüteten wie Noske und Zörgiebel gegen die Arbeiter, aufgrund von "Notverordnungen", legten Karteien "staatsfeindlicher Elemente", Homosexueller, "notorisch Arbeitsscheuer", "ostjüdischer Migranten" und "Zigeuner", "Idioten und Irrer" an. Die Faschisten nutzten diese "Vorarbeiten" 1933 mit ihren Gesetzen "zum Schutz von Volk und Reich" zur Vernichtung aller Gegner und mißliebigen Menschen.

Nach 1950 wurden in der BRD mit denselben Daten und mit bewährtem Personal Kommunisten, Homosexuelle und "Asoziale" weiter verfolgt. Alles "nach Recht und Gesetz"! An der von den jeweiligen Regierungen gewünschten willigen Legislative fehlte es nicht. Auch nicht an Beamten, dies "rechtsstaatlich" pflichtgetreu umzusetzen. Bei deren Vereidigung auf Adolf Hitler fehlten nur sehr wenige, die wegen ihres früheren Einschreitens gegen Nazis oder wegen "undeutscher Abstammung" entlassen worden waren.

Bis 1918 waren sie "kaisertreu", 1918 bis 1933 je nach Herrschaftslage auch einige in der SPD, 1933 bis 1945 in der NSDAP. Seit 1949 sind sie willfährige Diener einer von allen Landes- und Bundesregierungen ständig verschärften repressiven Gesetzgebung. Sie haben ihre ständischen Lobbyisten wie die Gewerkschaft der Polizei, und manche engagieren sich in bürgerlichen Parteien, kaum bei den Grünen oder gar Linken, zunehmend jedoch in der AfD.

Heute leben wir in einem krisenhaften wirtschaftlichen und politischen Umbruch mit zerstörerischen Konkurrenzkämpfen, Wirtschaftskriminalität, zügelloser Bereicherung, Korruption, Sozialabbau, Wohnungsnot, Zunahme prekärer Arbeit, Bedrohungen des kleinbürgerlichen Wohlstands, Umweltgefahren, Entsolidarisierung und Brutalisierung, Verbrechen aller Art. Imperialistische Kriege treiben viele ihrer Opfer als Flüchtlinge auch zu uns. Die politische Bewältigung dieser Krise durch Handlanger des Kapitals scheint es erforderlich zu machen, auf autoritäre Methoden der Herrschaftssicherung zu setzen. Propagandistisch verkauft wird das als "mehr Sicherheit" vor Kriminellen, einer "Migrantenflut" mit "islamistischen Terroristen" und vor "linksextremistischen Gewalttätern". Erweiterte Ermächtigungen der Staatsmacht durch Gesetze mit neuen Straftatbeständen, die an die Repressionen von 1914 bis 1945 erinnern, sollen her: Schutzhaft als "Präventivhaft" ohne tatsächlich begangene Straftaten für von Polizei und Geheimdiensten als "Gefährder" Angesehene, schwerste Strafen für mangelnden "Respekt" vor Beamten, Totalüberwachung aller Bürger im öffentlichen Raum und im Privatbereich, Vorratsdatenspeicherung für Fahndungszwecke, "Kontaktpflege-Apps" zur Informationsgewinnung, koordinierte Einsätze von Polizei, Geheimdiensten, Bundeswehr und EU-Sondereinheiten, wie schon in München geschehen. Gefordert wird u. a. die Einschränkung der Freizügigkeit und der Demonstrationsfreiheit, der Gebrauch schwerer Waffen, von Reizgasen, Elektro-Tasern und Drohnen sowie europaweite öffentliche Fahndungen. Solche Forderungen kommen auch von der Polizei-Lobby "zum Schutz vor zunehmenden Übergriffen bei der Dienstausübung".

So ganz in Maaßens Sinn erstellte Österreichs Innenminister eine Liste mit der Anweisung, "polizeifeindliche Medien kurzzuhalten". Und sein italienischer Spießgeselle eleminierte das Asylrecht auch für nicht straffällige "sozial gefährliche" Flüchtlinge.

Macron hob den Ausnahmezustand auf, nachdem er Regelungen daraus im Polizeirecht eingeführt hatte, was auch Erdogan plant. Bei nicht auszuschließenden Regierungskoalitionen rechter bürgerlicher Parteien mit einer wachsenden AfD wäre ein zügelloser Gebrauch neuer restriktiver Maßnahmen zu erwarten, ergänzt durch eine entsprechende Gesetzgebung wie schon in Ungarn, Polen, Italien und Österreich. Die Polizei würde sie durchsetzen, und seitens der Justiz wäre mit wenigen Ausnahmen auch kein Widerstand zu erwarten. Immer wieder haben Polizisten und Geheimdienste eigenmächtig Rechtsbrüche begangen, z. B. bei Bespitzelungen, Razzien, Verhängung von Vorbeugehaft, Mißhandlungen auch gewaltloser Demonstranten, wehrloser Passanten und Anwohner, Gefangener in Zellen. Und das meist ohne Konsequenzen: Fast alle Verfahren wurden trotz Zeugenaussagen und Videobeweisen eingestellt. Statt dessen wurden aus offizieller Sicht "unzulängliche" Gesetze "gerichtsfest nachgebessert". Demokratiefeindliche Polizeigesetze (siehe RF 249, S. 12) müssen verhindert werden!

Jobst-Heinrich Müller

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Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge!

Zwei Kampfjets der Bundeswehr donnern im Tiefflug über unser Haus. Mein Enkel kommt schreiend und voller Angst zu mir gerannt: "Opa, die Bombe fällt." Ein erschreckendes Ereignis und zugleich ein Grund darüber nachzudenken, wen oder was die beiden da oben eigentlich schützen. Politiker sagen, es gehe um den Schutz "westlicher Werte". Doch wie stellen sich diese "Werte" im Kapitalismus eigentlich dar?

Schauen wir zurück in die vorkapitalistische Zeit. Da wurden die "Werte des Abendlandes" u. a. durch die Kirchen und deren Missionare verbreitet. Mit Unterstützung ihrer bewaffneten Legionäre handelte man nach dem Motto: "Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein." Der christliche Glaube und die Macht der Kirche sollte so in den Ländern Afrikas, Asiens und Amerikas durchgesetzt werden. Die daraus resultierenden Konflikte forderten unzählige Opfer. In der Gegenwart trägt die Missionsarbeit der kirchlichen Glaubensrichtungen dort vorwiegend sozialen und humanitären Charakter. Papst Franziskus weiß, wovon er spricht, wenn er sagt: "Das globale Wirtschaftssystem führt zur Barbarei, es braucht den Krieg, und es stellt das Geld und nicht den Menschen in den Mittelpunkt."

Heute gibt es erneut Missionare, solche in Uniform und schwer bewaffnet. Welche Mission haben diese, und in wessen Auftrag handeln sie? Welches Recht hat die Bundeswehr, in anderen Ländern Krieg zu führen? Welches Recht haben die NATO-Armeen, an den Grenzen zu Rußland aufzumarschieren und unter dem Vorwand der Verteidigung der "westlichen Werte" einen Angriff vorzubereiten?

Widerstand gegen Kriege, Umweltzerstörung und Repressalien des Machtapparates wird allerorts mit zunehmender Brutalität bekämpft. Es soll vergessen sein, daß Milliarden Menschen keine Arbeit haben, ohne Bildung und medizinische Versorgung leben, über 300 Millionen Kinder keine Schule besuchen und Millionen am Verhungern sind. Die Meere sind zu Müllkippen geworden, und Wohlstandsmüll verpestet Boden und Luft der afrikanischen Länder.

"Uns hier in Deutschland geht es doch gut", sagte mir kürzlich ein Bekannter. Erschreckend die Gleichgültigkeit, die Kälte, das scheinbare oder tatsächliche Unwissen, die es den Politikern leichtmachen, ihre "westlichen Werte" hochzuhalten. Zuwanderung, Flüchtlinge, Fachkräftemangel - Erscheinungen, die ihre Ursache im kapitalistischen System haben. Erinnern wir uns nur an den "Fachkräftemangel" in Westdeutschland, der durch gezielte ideologische Einflußnahme und Abwerbung von gut ausgebildeten Fachkräften aus der DDR ausgeglichen werden sollte - bis zur dann im August 1961 erfolgten Grenzschließung. Die Ausbildungskosten trug die DDR, die Konzerne in der BRD konnten Kasse machen. Parallelen zu heute sind nicht zu übersehen. Der Staat fördert den Zuzug von Fachkräften aus den armen Ländern. Wenn nötig, werden schnell mal neue Gesetze hierfür geschaffen. Zu wenige wenden sich gegen diese Maßnahmen, die weiteres Elend in den betroffenen Ländern hervorrufen. Bundesinnenminister Seehofer bezeichnet die Migration als "Mutter aller politischen Probleme in Deutschland". Damit verschweigt er, daß diese vom Kapitalismus selbst hervorgebracht werden, einem System, welches für Kriege, weltweites Elend und Flüchtlingsströme verantwortlich ist. Die Profitgier der Konzerne und Banken setzt sich über alles Menschliche hinweg und ist zum Antrieb unmenschlichen Handelns geworden. Die Regierung ist deren ausführendes, willfähriges Organ, wie allein die Tatsache belegt, daß der Bundessicherheitsrat Rüstungsexporte an die im Jemen Krieg führenden Länder genehmigte, obwohl im Koalitionsvertrag ein Exportstop dafür vereinbart worden war. Wer also hat die tatsächliche Macht? Es sind die Konzerne, die ihre Interessen mit Hilfe des Staates und seiner Polizei durchsetzen (wie etwa im Hambacher Forst). Oder denken wir daran, daß unter Führung der USA ein globales System militärischer Kontrolle und Aggression aufgebaut wurde, an dem auch Deutschland in vorderster Reihe beteiligt ist.

Die immer hemmungslosere Ausbeutung des afrikanischen Kontinents durch hochentwickelte westliche Staaten bringt Armut und Elend, sie führt zu Umweltkatastrophen, Krankheiten und Krisen. Viele verlassen ihre Länder, weil es ihnen besser zu sein scheint, den gefahrvollen Weg nach Europa zu wählen, als weiter im Elend zu vegetieren. Und Deutschland selbst? Der Siemens-Konzern will den auch mit deutscher "Hilfe" zerstörten Irak für 13 Milliarden wieder mit aufbauen. Dafür werden hierzulande mehrere Werke geschlossen. Tariflöhne verschwinden, immer mehr Geringverdiener und "Aufstocker" schaffen mit ihrer Arbeitskraft die Profite der Unternehmen. Sie verlieren gemeinsam mit den Arbeitslosen und den zunehmend verarmenden Bevölkerungsschichten jegliche Hoffnung auf ein besseres Leben, jetzt oder im Alter. In der Chemnitzer "Freien Presse" ist zu lesen, daß die Kita-Gebühren erneut angehoben werden sollen. Gleichzeitig stellt Sachsens Regierung für ein ominöses Denkmal in Chemnitz (in Medien als "Stasi"-Gefängnis Kaßberg bezeichnet) zwei Millionen Euro zur Verfügung. Menschen arbeiten bis zum Burnout, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Und nicht zu vergessen: Die Bürokratie in den Ämtern läuft zur Höchstform auf. Das und vieles andere geht an den Bürgern nicht spurlos vorbei. Wut und Unzufriedenheit entladen sich, nicht nur in Chemnitz, im Protest, den rechte Kräfte nutzen. Was können wir tun, um diese Entwicklung zu stoppen?

Dietmar Hänel
Flöha

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Wahl-"Analysen" analysiert

Bürgerliche Wahlen haben - neben beabsichtigter Wählerbetörung vor der Wahl - immer auch einen ungewollt komischen Aspekt. Der tritt vor allem zutage, wenn im Anschluß an die Abstimmung die Vertreter der gewählten Parteien ihre Einschätzung zum besten geben, ähnlich wie Fußballer direkt nach Abpfiff entweder niedergeschlagene oder euphorisierte vorgestanzte Sprechblasen in Kameras und Mikrofone pusten.

Vor allem darf auf keinen Fall das Nullwort "Analyse" fehlen, vorzugsweise vervollständigt zu dem Satz: "Wir werden das Ergebnis gründlich und in Ruhe analysieren."

Die journalistischen Hofschranzen, die in devoter Untertanengeste den bislang (oder nächsten) Mächtigen die Fragen stellen dürfen, machen dazu gewichtige und ernste Mienen, geben sich den Anschein, als ob sie die inhaltsleeren Verlautbarungen der gewählten oder abgewählten Machthaber für Offenbarungen erster Güte halten, und lassen sich freiwillig und gerne von den politischen Profis einseifen - ganz so wie das Wahlvolk selbst, zu dem die Hofberichterstatter ja auch gehören.

Kurz nach Schließung der Wahllokale und Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen tritt Andrea Nahles vor die Kameras, Vorsitzende einer Kleinpartei mit einer früher einmal größeren Rolle in Deutschland. In ihrem ca. dreiminütigen Statement kommt das Wort "Analyse" und "analysieren" in allen möglichen Kombinationen vor. Die sichtlich überforderte Vorsitzende gibt sich Mühe, mit Politsprech-Versatzstücken schnell die Zeit über die Runden zu bringen und dabei möglichst nichts zu sagen. Soweit alles also normaler demokratischer Wahlzirkus. Während Frau Nahles noch "Analysen" ankündigt, sind diese für die Vertreter der politischen Geschmackstester von der journalistischen Zunft bereits Realität: Dasselbe Statement wird im Radio von der Nachrichtensprecherin wie folgt aufgegriffen: "... analysierte Andrea Nahles".

So schließt sich der Kreis als Ausdruck der Verachtung, die viele Politiker wie Journalisten mittlerweile für das ohnehin für dumm gehaltene Publikum haben. Und während die Öffentlichkeit Befindlichkeiten der Machthaber und die kaffeesatzmäßig erforschten Konstellationen möglicher künftiger Regierungskoalitionen so kennerisch wie illusionslos begutachtet und kommentiert, läuft die eine Sache, die weder zur Wahl noch zur Debatte steht, unverändert und effektiv wie eh und je weiter: die hocheffiziente Verwaltung des Kapitalstandortes BRD zugunsten der Eliten, der Konzerne und der Oligarchen, der Ausbau seiner imperialistischen Ausrichtung und Ausrüstung und die zunehmend brutalere Sortierung seiner Untertanen in für das Kapitalwachstum nützlich bzw. nutzlos.

Kay Strathus
Düsseldorf

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Nazi-Verbrecher im Bundeskanzleramt

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Zur Erinnerung an Libertas Schulze-Boysen

Es ist der 31. August des Jahres 1942. Schnellen Schritts geht in Berlin ein Gefreiter auf das Haus in der Altenburger Allee 19 zu, klingelt an der Wohnung der Schulze-Boysens. Ein Glück, Libertas ist zu Hause. Große Sorge hat Horst Heilmann hergeführt zu den Freunden. Ein vereinbarter Anruf von Harro ist ausgeblieben. Ganz ungewöhnlich. Beunruhigt wählt Libertas die Nummer ihres Mannes im Luftfahrtministerium. Eine plötzliche Dienstreise, sagt eine fremde Stimme, eine länger währende. Eine Dienstreise? Angst greift zum Herzen. Gestapo! Die beiden täuschen sich nicht.

Als Horst geht, trägt er einen Koffer; belastendes Material, wichtige Papiere will er in Sicherheit bringen. Der Neunzehnjährige ist bei der "Funküberwachung Ost" beim Oberkommando des Heeres eingesetzt.

Die Gefährten, denen Libertas die schlimme Nachricht von Harros Verschwinden bringt, raten ihr unterzutauchen. Es ist zu spät. Als sie am 3. September zu Freunden fahren will, wird sie auf dem Anhalter Bahnhof verhaftet. Das Ende, sie weiß es, kündigt sich an, unerbittlich, unentrinnbar.

Schlag auf Schlag er folgen die Verhaftungen von Mitgliedern der Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack. Bis Anfang 1943 über 130. KLK an PTX - lange hat die Gestapo gebraucht, diesen Code zu brechen, die Funker zu ermitteln. KLK an PTX - Hunderte Funksprüche, vorwiegend militärischen Charakters, waren aus Berlin nach Moskau gegangen.

Libertas Schulze-Boysen hatte in der Gruppe Kurierdienste übernommen, neue Kämpfer gewonnen, an Flugschriften mitgearbeitet und an deren Vertrieb. Sie wußte auch von der Kundschaftertätigkeit ihres Mannes, unterstützte ihn dabei.

Das Mädchen aus "bestem Hause" mit dem schönen Vornamen Freiheit war an der Seite ihres Harro antifaschistische Widerstandskämpferin geworden. Der Schritt von der inneren Ablehnung des Faschismus zum aktiven Widerstand hieß nicht nur Verzicht auf ein ungetrübtes Glück zu zweit. Der Weg, den sie mutig wählte, war gefährlich, er konnte in den Tod führen.

Die Widerstandsorganisation um Harro Schulze-Boysen und Dr. Arvid Harnack war eine der bedeutendsten in Deutschland in den ersten Jahren des Krieges. Männer und Frauen, unabhängig vom politischen, weltanschaulichen, religiösen Bekenntnis, unterschiedlicher Berufe und Herkunft gehörten ihr an. Arbeiter, Wissenschaftler, Offiziere, Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Diplomaten ...

Libertas Haas-Heye, die Tochter eines Professors und mütterlicherseits Enkelin des Fürsten zu Eulenburg und Hertefeld lernt Harro Schulze-Boysen im Sommer 1934 kennen. Auch er, Absolvent der Verkehrsfliegerschule in Warnemünde, stammt aus guter Familie. Der Verwandte des kaiserlichen Großadmirals von Tirpitz, Sohn eines Fregattenkapitäns, ist im Schloß Liebenberg durchaus willkommen. Libertas ist häufig auf dem großväterlichen Gut in der Schorfheide, wo auch die Mutter lebt.

Juli 1936: Hochzeit auf Liebenberg. Harro ist 27 Jahre alt, die Braut, von bezaubernder Schönheit, noch nicht 23. Als ihr Trauzeuge ist der Gutsnachbar von Karinhall zum glanzvollen Fest gebeten worden: Hermann Göring. Kein seltener Gast der Eulenburgs. So fügt es sich, daß sich Schulze-Boysen als Protegé Görings die Türen zu dessen Luftfahrtministerium öffnen. Der spätere Oberleutnant arbeitet an wichtiger Stelle im Luftwaffenführungsstab - und als Kundschafter für die Sowjetunion.

Libertas hatte in Deutschland, der Schweiz, in England eine erstklassige Bildung genossen. Das junge Mädchen ist politischen und sozialen Problemen ihrer Zeit gegenüber aufgeschlossen. Dem Müßiggang mochte sie sich nicht verschreiben, in den gutsherrlichen Tag nicht hineinleben. Sie arbeitet als Presseassistentin bei einer Filmgesellschaft. Bleibt auch nach ihrer Heirat im Beruf. Als Journalistin für eine Tageszeitung, dann in der Kulturfilmzentrale. Dort bearbeitet sie u. a. die Gebiete Kunst und Völkerkunde, macht Übersetzungen, pflegt ihre Neigung zur Dramaturgie. Vor allem aber nutzt sie ihre Tätigkeit, um dokumentarisches Material über Nazi-Verbrechen in den okkupierten Gebieten für die illegale Arbeit zu beschaffen.

Der 22. Dezember 1942 ist ein kalter, trüber Tag. Früh ist das Licht der Dämmerung gewichen. In den Todeszellen von Plötzensee warten Libertas, ihr Harro, Arvid Harnack, Horst Heilmann und sieben weitere Gefährten. Die einst so lebensfrohe junge Frau, allem Schönen zugetan, gefesselt, in Holzpantinen, das Haar geschoren. Dem Tode schon ganz nahe, schreibt sie ihrer "unbeschreiblich geliebten Mutti": "... Die Stunde schlägt: Zuerst geht Harro, und ich denke an ihn, dann geht Horst, und ich denke an ihn. Und an mich wird Elisabethchen denken, die Liebe ..."

Keine Wehmut, kein Wort der Klage, kein Aufruhr der Gefühle. Viel Wärme aber und Charakterstärke im Trost für die Mutter, der unendliches Leid widerfährt: "... Alle Ströme meines bunten Lebens fließen zusammen, und alle Wünsche werden erfüllt: Ich bleibe jung in Eurem Gedächtnis. Ich brauche mich von meinem Harro nicht mehr zu trennen. Ich brauche nicht mehr zu leiden. Ich darf sterben, wie Christus starb: für die Menschen."

Die Aufpasser, die die Verurteilten bewachen, bekommen für jedes Opfer acht Zigaretten "Sonderzuteilung". Viele Zigaretten sind in Plötzensee sonderverteilt worden. Denn die Zahl der Morde, die hier geschahen, geht in die Tausende.

Am 20. November 1913, vor 105 Jahren, ist Libertas Schulze-Boysen in Paris geboren worden. Sie war gerade 29, als sie ermordet wurde.

Der Stunde Ernst will fragen:
Hat es sich auch gelohnt?
An dir ist's nun zu sagen:
Doch! Es war die rechte Front.

Libertas hat dieses Gedicht ihres zum Tode verurteilten Mannes nicht mehr gekannt. Er mag auch an seine Frau gedacht haben, denn er wußte, sie würde antworten wie er.

R. K.
(RF-Archiv)

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Ernst Bloch: Der Student Marx

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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10 Voraussagen von Karl Marx fürs 21. Jahrhundert

Jedesmal, wenn die Alarmglocken einer Wirtschaftskrise läuten, schnellen die Verkäufe der Bücher von Karl Marx in die Höhe. Wenige haben wie dieser deutsche Denker des 19. Jahrhunderts die Funktionsweise des Kapitalismus und dessen Folgen für die Menschheit verstanden.

Obwohl die herrschende imperialistische Medienindustrie mit allen Mitteln versucht hat, die Analysen von Marx zu widerlegen und den Tod der Ideen zu verordnen, denen er sein Leben widmete, so hat der Marxismus doch allen Prüfungen der Zeit standgehalten und seine Gültigkeit bestätigt, nicht nur als Methode, um die Welt zu verstehen, sondern als Werkzeug, sie zu verändern.

Nachdem zwei Jahrhunderte nach der Geburt von Karl Marx vergangen sind, präsentieren wir hier zehn Vorhersagen von Marx, die den Rhythmus des 21. Jahrhunderts prägen.

1. Die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals
In "Das Kapital" seinem größten Werk, definiert Marx die Methode zur Reproduktion der Reichtümer im Kapitalismus und sagte deren Tendenz voraus, sich zu konzentrieren und zu zentralisieren.

Wenn der erste Aspekt sich auf die Anhäufung des Mehrwerts bezieht - das, was die Arbeiter zusätzlich erwirtschaften und was der Besitzer sich aneignet -, so betrifft der zweite Punkt den Anstieg des Kapitalvolumens als Folge des Zusammenschlusses verschiedener Kapitale zu einem, fast immer als Ergebnis von Insolvenzen oder Wirtschaftskrisen.

Die Ergebnisse dieser Analyse sind verheerend für die Propagandisten einer angeblichen Fähigkeit der "blinden Hand des Marktes", die Reichtümer zu verteilen.

Wie Marx vorhersagte, ist eine der Charakteristiken des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts der wachsende Unterschied zwischen Reichen und Armen. Nach dem letzten Oxfam-Bericht landeten 82 Prozent der weltweit im Jahr 2017 geschaffenen Reichtümer in den Taschen des reichsten einen Prozents der Bevölkerung, während die 50 Prozent Ärmsten - 3,7 Milliarden Menschen - nichts von besagtem Wachstum erhalten haben.

2. Die Instabilität des Kapitalismus und die zyklischen Krisen
Der deutsche Philosoph war einer der ersten, der verstanden hat, daß die Wirtschaftskrisen nicht auf einem Fehler des kapitalistischen Systems beruhen, sondern zu seinen ureigenen Merkmalen gehören. Auch heute noch versucht man, dies zu leugnen.

Seit dem Börsencrash von 1929 bis zu den Krisen der Jahre 2007 und 2008 kann man jedoch eine klare Linie des Verhaltens ausmachen, die den von Marx beschriebenen Regeln folgt. Deshalb greifen selbst Magnaten der Wall Street auf der Suche nach Antworten auf sein "Kapital" zurück.

3. Der Klassenkampf
Eine der vielleicht revolutionärsten Ideen des Marxismus war sein Verständnis, daß "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen ist", wie man in dem 1848 von Marx und Engels verfaßten "Kommunistischen Manifest" nachlesen kann. Diese These führte zu einer Krise des liberalen Denkens. Für Marx ist der kapitalistische Staat ein weiteres Werkzeug der herrschenden Klasse, um alle anderen zu beherrschen, während sie gleichzeitig ihre Reichtümer und ihre eigene Klasse reproduziert.

Eineinhalb Jahrhunderte später werden noch immer die sozialen Kämpfe zwischen dem einen Prozent, das die Fäden der Macht in Händen hat, und den übrigen 99 Prozent geführt.

4. Die industrielle Reservearmee
Der Kapitalist muß laut Marx die Löhne niedrig halten, um seinen Profit zu maximieren. Das ist immer dann zu erreichen, wenn Arbeiter darauf warten, den Arbeitsplatz derjenigen einzunehmen, die sich weigern, Bedingungen ihrer Ausbeutung zu akzeptieren. Das nannte er die "industrielle Reservearmee".

Auch wenn die sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfe seit dem 19. Jahrhundert bis heute vor allem in den entwickelten Ländern Teile dieses Szenarios verändert haben, so ist doch das Streben nach niedrigen Löhnen eine Konstante kapitalistischer Produktion. Während des 20. Jahrhunderts wanderten große Unternehmen aus Europa und den USA nach Asien aus - auf der Suche nach qualifizierter Arbeitskraft, die geringeren Verdienst in Kauf nahm. Auch wenn manche Regierungen versuchen, diesen Prozeß als einen vermeintlichen Arbeitsplatzverlust hinzustellen, wie dies etwa Trump tut, so ist es doch so, daß diese Unternehmen ihre hohen Wachstumsraten gerade wegen der Ausbeutung billiger Arbeitskraft aufrechterhalten konnten.

Was die Löhne betrifft, so zeigen aktuelle Studien, daß deren reale Kaufkraft in den westlichen Ländern seit dreißig Jahren stetig sinkt. Die Kluft zwischen den Einkommen der Geschäftsführer und denen ihrer einfachen Angestellten vertieft sich weiter.

Wie aus einem kürzlich in der britischen Zeitschrift "The Economist" erschienenen Artikel hervorgeht, ist der Lohn der obersten Führungskräfte signifikant angestiegen (und das, während der Lohn der Arbeiter in Ländern wie den USA in den letzten zwei Jahrzehnten stagnierte): Wenn sie früher 40mal mehr als die einfachen Angestellten erhielten, so bekommen sie jetzt 110mal mehr als diese.

5. Die negative Rolle des Finanzkapitals
Auch wenn Marx die dem Prozeß der Kapitalanhäufung innewohnenden Mechanismen der Ausbeutung genau beschreibt, so gilt seine stärkste Kritik dem Finanzkapital, der Art von Kapital, die keinen direkten materiellen Bezugspunkt zur Wirtschaft hat, sondern "fiktiv" ist wie z. B. ein Schuldschein oder eine Schuldverschreibung.

In seiner Epoche konnte man sich nicht einmal vorstellen, welches Entwicklungsniveau dieser Wirtschaftssektor in der Moderne einnehmen würde, wo dank der Nutzung der Computer die Durchführung von Finanztransaktionen in Lichtgeschwindigkeit vonstatten geht. Die Spekulation und die Erarbeitung von komplexen Finanzmechanismen - wie die sogenannten Subprimes (private Hypothekendarlehen mit geringer Bonität), die die Krise von 2007/2008 auslösten -, stellen eine traurige Bestätigung der Besorgnisse von Marx dar.

6. Die Schaffung falscher Bedürfnisse
Das 19. Jahrhundert kannte noch nicht die Lawine an Werbepropaganda in Radio und Fernsehen und noch weniger die modernen Mechanismen, Werbebotschaften individuell im Internet zu verbreiten, aber Marx warnte bereits vor der Fähigkeit des kapitalistischen Systems, Entfremdung und falsche Bedürfnisse unter den Menschen zu schaffen.

Marx sagte in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844" voraus, "daß die Ausdehnung der Produkte und der Bedürfnisse zum erfinderischen und stets kalkulierenden Sklaven unmenschlicher, raffinierter, unnatürlicher und eingebildeter Gelüste wird" (MEW, 40/547).

In der Welt von heute sind z. B. Smartphones nach ein paar Monaten veraltet, und die Werbung suggeriert den Nutzern die Notwendigkeit, unbedingt das nächste Modell zu kaufen. Währenddessen kommen die elektrischen Haushaltsgeräte mit eingebauten Mängeln auf den Markt, damit sie nach wenigen Jahren kaputtgehen und ersetzt werden müssen.

7. Die Globalisierung
"Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen", heißt es im "Kommunistischen Manifest" (MEW, 4/465).

Sein Porträt der Globalisierung der Märkte, verbunden mit dem Aufzwingen einer bestimmten Konsumkultur, könnte nicht genauer sein.

8. Die Vorrangstellung der Monopole
Diese Tendenz wird gleichzeitig von der Schaffung transnationaler Monopole begleitet. Wenn auch die klassische liberale Wirtschaftstheorie davon ausging, daß der Wettbewerb eine Vielzahl von Eigentümern mit sich bringen werde, ging Marx einen Schritt weiter und erkannte die Tendenz des Marktes, dem Gesetz des Stärkeren entsprechend zu fusionieren. Große Konglomerate von Kommunikationsmedien, Telefon- und Erdölgesellschaften sind einige der aktuellen Beispiele des von Marx beschriebenen Prozesses.

9. Die selbstmörderische Tendenz des Kapitalismus
"Alle festen eingerosteten Verhältnisse werden aufgelöst", heißt es in einer der weitsichtigen Reflexionen über den Kapitalismus im "Kommunistischen Manifest".

Marx und Engels verstanden die kreative und gleichzeitig selbstzerstörerische Natur des Kapitalismus, der in seinem Streben nach Produktivität um jeden Preis einen unmenschlichen Rhythmus der Produktion und des Konsums erzwingt. Es ist genau diese Tendenz, die unseren Planeten heute an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat.

Der Einfluß des Menschen auf den Anstieg der globalen Temperatur ist eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache, auch wenn einige, wie etwa der derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten, dies weiter abstreiten.

10. Die Fähigkeit der Ausgebeuteten zur Revolution
Den größten Einfluß auf die Geschichte hatte aber nicht Marx' tiefgreifende Analyse der Widersprüche des Kapitalismus, sondern sein Aufruf, eine neue Art von Gesellschaft zu schaffen: den Kommunismus.

Seine Botschaft, daß die ausgebeuteten Klassen in der Lage seien, sich von Unterdrückung und Ungleichheit zu befreien, veränderte das 20. Jahrhundert für immer und inspirierte die Revolutionen in Rußland, China, Vietnam, Kuba und in anderen Ländern. Sein Aufruf an die Einheit der ausgebeuteten Klassen hat auch im 21. Jahrhundert volle Gültigkeit.

Sergio Alejandro Gómez
(Red. bearbeitet aus "Granma" 6/2018)

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Warum steigt das BIP? Es müßte doch sinken ...

BIP ist das Kürzel für Bruttoinlandsprodukt; es ergibt sich aus der Summe der - in jeweiligen Ländern - jährlich erzeugten Güter, formell aus der Summe der Preise dieser Güter (soweit sie wirklich in den Verkauf gelangt sein sollten). Ist es genau? Na ja. Der Tendenz nach schon. (Überhaupt: Ist noch richtig, das BIP national zu errechnen, wo doch Kapital "globalisiert"? Und auch Wertbildung bei "komplizierter Arbeit" ... modifiziert, d. h. ein Mehrfaches einfacher Wertbildung sein kann. Das BIP hochspezialisierter Kapitalismen fällt immer höher aus, als eigentlich der Summe ihrer Arbeiter entspräche.) Jürgen Kuczynski witzelte einmal darüber, daß in der BRD auch Krankenhaus-Leistungen in das BIP aufgenommen würden. Aber lassen wir das; wenn Verstöße gegen das eigentlich Gemeinte allgemein sind, ist eine gewisse gewollte Aufblähung des BIP wiederum auch allgemein.

Das BIP wird also in einer Summe Preise vermittelt. Und was Preise sind, wissen wir: als Preis (laut Marx) zunächst der ideelle Ausdruck der in der produktiven Arbeit, also Sachgüter erzeugenden Arbeit aufgewandten Arbeitszeit, der nun, um eine gegenständliche Form anzunehmen, umzusetzen wäre in die Geldform. Gemeint ist immer Arbeit im abstrakten Sinne, absehend von der konkreten Form der Güter. Wir sagen deshalb Waren zu ihnen, d. h. Produkte mit Wertausdruck. Das BIP ist nichts als die Erfassung des Volumens an gesellschaftlich geleisteter Arbeitszeit in produktiver, d. h. Güter erzeugender Art und deren Ausdruck in einer Geldmenge.

Nun steigt dieses BIP ständig, länderweit werden immer neue Rekorde gebrochen; das BIP in Deutschland nähert sich der 4-Billionen-Euro-Marke bzw. hat sie schon geknackt, die USA liegen bei einer gut fünffachen Größe des deutschen BIP, China wird/soll das BIP der USA in zwei, drei Jahren überschreiten.

Steigt also das BIP, weil die Menge der wertbildenden Arbeit/Arbeiter steigt? Mitnichten! Die Menge der produktiv Arbeitenden, also für die Wertbildung in Betracht kommenden Arbeiter sinkt. In allen industriell entwickelten Ländern ist das so. Warum? Weil nicht nur ein Mehr an Gütern mit einem Mehr an Arbeitern erzielt werden kann, sondern bei steigender Produktivkraft der Arbeit dieses Mehr auch mit weniger Arbeitern. D. h., die organische Zusammensetzung der Arbeit - sie beginnt mit der Industrialisierung der Arbeit - führt dazu, daß Arbeiter aus der produktiven Form der Arbeit ausscheiden und in nichtproduzierende Bereiche der Arbeit überwechseln. Extensive und intensive Entwicklung der Arbeit/Arbeiter ergänzen einander, wobei historisch zunächst das extensive Modell überwiegt, bei höherer Entwicklung der Produktivkräfte ist es umgekehrt, d. h., dann überwiegt das intensive Modell. Die Produktivkraft wirkt in zwiefacher Hinsicht: Die Zahl der Arbeiter sinkt, aber zugleich steigt das Volumen an Waren. Nicht aber, ich wiederhole, steigt das Wertvolumen dieser wachsenden Menge. Das BIP, das nur die Wertbildung erfaßt - erfassen soll, sinkt historisch gesehen, aber die Gesellschaft wird in Waren reicher!

Doch Realität ist, daß das BIP, das im Preis der erzeugten Güter den Wert/die Wertbildung erfaßt, erfassen soll, steigt!

Will man sich überhaupt noch ein reales Bild von den Vorgängen in der Arbeit machen, müßte man sich ihrer in der natürlichen Form bewußt werden, also Produktionsarbeiter zählen, ihre Arbeitszeit mit der Uhr erfassen. Nur noch in der von Preis und Geld absehenden Form, also nur noch in der "naturalen" Form werden wir uns der wahren Bewegung/Veränderung in der Arbeit bewußt. Per Preis- wie Geldsumme aber geht das nicht mehr. Preissumme und Geldsumme vermitteln ein umgekehrtes Verhältnis von der Realität. Wenn nicht mehr das des Wertes/der Arbeitszeit ... welches denn? Es muß ein real, d. h. sachlich steigendes sein, wenn es nicht ein rein nominelles Verhältnis der Preise ist. D. h., wenn es sich nicht um den inflationären Anstieg der Preise handelt - den es natürlich auch gibt (es ist ja bekannt, daß der Anstieg des BIP berechnet wird nach Abzug der Inflationsrate, es geht also beim BIP, wie es nach Abzug dieser Rate ermittelt ist, um einen sachlichen Anstieg).

Wenn es nicht der einer der Wertbildung ist, kann es nur noch der stoffliche Anstieg sein, d. h. der einer der Mehrproduktion von Waren bei steigender Arbeitsproduktivität! Er steigt auch bei einer geringer werdenden Zahl von Arbeitern. Eine Voraussetzung allerdings muß gegeben sein, damit der steigende Aspekt bei steigender Produktivkraft zur Geltung kommt: Preise dürfen nicht sinken, wenn die Arbeitsproduktivität steigt. Dann ergibt sich mit der Mehrmenge an produzierten Waren eine Mehrsumme an Preisen, und umgesetzt in Geld eine Mehr-Summen-Bildung des Geldes. Damit hat aber der stoffliche Anstieg den energetischen Abstieg bei der Summenbildung der Preise abgelöst! Und das BIP kann ... steigen, obwohl es eigentlich sinken müßte.

Ist das eine neue Erkenntnis von mir? Nein. In der Zeitschrift des DDR-Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft, IPW Nr. 12 von 1973, ist ein Beitrag von Prof. Dr. Alfred Lemmnitz aufgenommen; er befaßt sich mit den Ursachen des Permanentwerdens der Inflation im Kapitalismus, insbesondere nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Darin heißt es: "Mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität wächst bei gleichem Arbeitsaufwand in gleicher Zeit (!, also gleichem Wert J.), die Menge der erzeugten Waren. Bei freier Konkurrenz würde der Preis der einzelnen Ware sinken. Durch das Monopol wird jedoch die Senkung des Marktwertes (besser: Preises, J.) verhindert. ... Diese durch den Monopolpreis erhöhte Preissumme der Waren erfordert eine Erhöhung des Geldumlaufs. Die monopolistische Preisgestaltung wirkt daher als relative Geldentwertung, da die Waren zu Preisen über dem Marktwert (über dem gesunkenen Wert, dem keine Marktpreissenkung entspricht, J.) verkauft werden" (ebd. S. 11). (Ohne direkt vom BIP zu sprechen, nennt Lemmnitz den Mechanismus, der zum Anstieg der Preissummen- wie Geldsummen-Bildung führt: Bindung der Preis- wie Geldbildung an den stofflichen Anstieg. Allerdings noch auf Basis steigender Produktivität bei gleichviel beschäftigten Arbeitern, noch nicht auch unter der Bedingung von weniger, also Freisetzung von Arbeitern. Auf dieser Basis ist steigende stoffliche Produktion ja auch möglich. Dann erklärt er den Prozeß auch erst als Geldentwertung, statt schon den Bruch der Preise und des Geldes mit dem Wert [noch nicht auch der Preis- und Geldform an sich!] zu erkennen.)

Lassen wir die Monopole mal beiseite, früher oder später folgen alle ­... Warenproduzenten. Leider wurde diese Erkenntnis (in der marxistischen ökonomischen Schule) nicht zu einem Wendepunkt in der Theorie der kapitalistischen Ökonomie erhoben - damals nicht ...

Halten wir fest: Das BIP steigt, wenn die Summe der wertbildenden Arbeit/Arbeiter steigt - diese extensive Erweiterung der Wertbildung haben alle industriell entwickelten Staaten historisch hinter sich gebracht, sie sind zur vorwiegend intensiven Form der Entwicklung der Arbeit/Arbeiter übergegangen, und verzeichnen daher auch eine anteilig abnehmende Kurve der produktiven Arbeit an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Dem müßte eigentlich, ginge es beim BIP genau, dem Wertgesetz nach zu, ein Rückgang der Preissummen-Bildung und damit des BIP entsprechen.

Was bei einem sinkenden BIP allerdings steigen müßte, wäre die Kaufkraft des BIP (oder Geldes), d. h. die Umsetzung des Geldes in Mengen an Waren. Weil/Wenn Waren immer billiger würden, kann/könnte man für dieselbe Menge Geldes immer mehr Waren kaufen. Jetzt, nach der kapitalistischen Wende, aber kann man nur mehr Waren kaufen, wenn man mehr Geld bildet/verdient. Es ist die Geldbildung eine extensive geworden. Aber nicht auf eigener Basis, einer bloßen Geldbildung gegenüber den Waren (diese offen inflationäre Form ist nur ergänzend - und bedarf einer eigenen Erklärung), sondern auf Basis der Waren - und zunächst gegenüber dem Geld, d. h. nur erst als Summe der Preise gebildet (das Geld muß dann folgen).

Wenn also unter dieser Bedingung allgemeiner Abnahme der produktiven Arbeit an der Gesamtarbeit das BIP steigt (!), dann kann nur ein Übergang von der abstrakten zur konkreten Seite der Arbeit bei der Summenbildung der Preise/des Geldes vorliegen - sonst handelte es sich um einen rein inflationären Anstieg der Preise, und der wird nur verursacht durch Geldmengenbildung gegenüber/entgegen der Bildung der Preise wie des Geldes durch Arbeit. Er hat mit dem Anstieg der Produktivkraft der allgemeinen Arbeit nichts zu tun. Einem sich aufblähenden äußeren Verhältnis des Geldes zu den Waren müßte immer das innere, substantielle Verhältnis der Waren zu ihrem Wert gegenüberstehen; nominelles Steigen der Preise und substantielles Sinken des Preise müßten einander die Klinge kreuzen, das Bild der Preise wäre nie ein einheitliches. Aber es ist bei den Waren (!) etwas Einheitliches entstanden: Die Summen der Preise steigen mit den Mengen an Waren.

An der - kapitalistischen - Warenproduktion hat sich also etwas Grundlegendes geändert; eine Evolution (weil noch im Kapitalismus befindlich) hat stattgefunden - die als eine Ankündigung einer Revolution verstanden werden kann (!). Es ist nicht mehr so, wie es einer ersten Praxis des Kapitalismus entsprach und wie es noch von Marx im "Kapital" dargelegt worden ist. Die Preise sinken nicht mehr mit den Werten, sondern die Preissummen steigen mit den Warenmengen. Im Rahmen schon des Kapitalismus hat eine evolutionäre Wende stattgefunden, die im Grunde eine revolutionäre ist: eine Art Übergang von der direkten, offenen, klaren Wertökonomie zunächst hin zu einer neuen, größeren Rolle (der Menge) des Gebrauchswertes ... in der Wertökonomie. Mit steigenden Volumen lassen sich wohl die Gesetze des Kapitals besser durchsetzen als mit sinkenden Volumen - das kann es auch sein. Aber wenn wir gar weiterdenken? Dann haben wir es mit einer vorbereitenden Form für eine Gesellschaft zu tun, wo nur noch Gebrauchswerte in die Konsumtionssphären (individuelle und betriebliche) gelangen, das Wachstum also eindeutig als ein stoffliches erscheint. Im - heutigen - Kapitalismus befindlich, brauchten wir im Grunde nur die die Sachlage verdoppelnde Preis- und Geldform wegzudenken, ... und wir haben eine Zukunft begriffen.

Hermann Jacobs
Berlin

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Unser Verhältnis zur Geschichte
Sendung des Deutschlandsenders vom 2. Januar 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Dolchstoßlegende

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Beisetzung der Revolutionsopfer 1918

Auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain sind neben den 255 Toten der Märzkämpfe 1848 auch 29 Opfer der Novemberrevolution 1918 im November und Dezember beigesetzt worden. Links neben dem Eingang des Friedhofs befinden sich vor den Gräbern drei Grabplatten. Die mittlere der drei Grabplatten trägt die Namen von 32 Getöteten der Kämpfe im November und Dezember 1918. Neuere Recherchen haben aber ergeben, daß hier nur 29 Opfer beigesetzt wurden. Auf der linken Grabplatte wird Karl Liebknecht mit den Worten zitiert: "Gründet fest die Herrschaft der Arbeiterklasse. Seid entschlossen gegen jeden, der sich widersetzt."

Auf der rechten Seite sind Worte von Walter Ulbricht zu lesen: "Die Vorhut der Arbeiterklasse hat in der Novemberevolution heroisch gekämpft." Das stimmt natürlich, ist aber trotzdem manchem ein Dorn im Auge. Die Gedenkplatten stammen aus der DDR-Zeit, genauso wie die Bronzefigur des "Roten Matrosen" von Hans Kies, die 1961 eingeweiht wurde.

Am 9. November 1918 hatte die von Kiel ausgehende revolutionäre Bewegung auch Berlin erreicht. Am Morgen begann in den Berliner Großbetrieben der Generalstreik. Aus den Betrieben zogen Demonstrationszüge zu den Kasernen. Gegen Mittag erreichten rund 2000 unbewaffnete Demonstranten die Garde-Füsilier-Kaserne in der Chausseestraße. Beim Eindringen in die Kaserne tötete ein konterrevolutionärer kaiserlicher Offizier durch Pistolenschüsse drei Arbeiter der Schwartzkopffwerke: den Werkzeugmacher Erich Habersaath, den Mechaniker Richard Glathe und den Monteur Franz Schwengler.

In den Mittagsstunden des 9. November 1918 erklärte Reichskanzler Prinz Max von Baden, ohne dazu autorisiert zu sein, daß der Kaiser dem Thron entsagt habe, und ernannte den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichskanzler. Philipp Scheidemann, gemeinsam mit Ebert Vorsitzender der SPD, proklamierte vom Reichstag aus die deutsche Republik.

Am Nachmittag des 9. November 1918 versammelten sich Zehntausende Berliner auf dem Platz vor dem Schloß und im Lustgarten. Ein Zug von Arbeitern und Soldaten mit Karl Liebknecht an der Spitze erreichte den Platz. Auf einem Kraftwagen stehend, erklärte Karl Liebknecht: "Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen ... In diesem Augenblick proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland." Vom Balkon des Schlosses aus rief Karl Liebknecht dann den Versammelten zu: "Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelte, ist gebrochen. Wenn auch das Alte niedergerissen ist, dürfen wir nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit."

Die Beisetzung von sieben Opfern der Kämpfe vom 9. bis 11. November erfolgte am 20. November 1918 im Friedrichshain. Rund 30.000 Menschen versammelten sich an diesem Tag auf dem Tempelhofer Feld. Sieben der fünfzehn Revolutionsopfer der ersten Novembertage waren hier aufgebahrt. Die Regierung, der Rat der Volksbeauftragten, mit Friedrich Ebert und Hugo Haase an der Spitze, war vollständig vertreten. Die Führung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) ließ einen Kranz überbringen mit der Widmung "Den tapferen Kämpfern der Revolution. Ihr Andenken wird ewig leben". Die Schleife eines Kranzes der türkischen Kolonie in Berlin trug die Inschrift "An die Helden der Freiheit".

Es sprachen Richard Müller und Brutus Molkenbuhr, die Vorsitzenden des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, Hugo Haase, der Vorsitzende der USPD, der preußische Innenminister Paul Hirsch und der Stadtverordnete Kurt Rosenfeld. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg waren anwesend, durften hier aber nicht sprechen.

Nach den Reden setzte sich der Zug in Richtung Friedrichshain in Bewegung. Tausende säumten die Straßen. Nach einem Marsch von dreieinhalb Stunden erreichte der Trauerzug den Märzfriedhof. Die Toten wurden in Gemeinschaftsgräbern beigesetzt. Gedenkworte am offenen Grab sprachen Emil Barth (USPD), Mitglied des Rates der Volksbeauftragten, und Luise Zietz von der USPD. Karl Liebknecht war weiterhin unerwünscht. Aber er warnte die Trauernden, daß die Errungenschaften der Revolution noch nicht auf sicherem Boden stünden und vielleicht schon zunichte gemacht worden seien. "Täuschen wir uns nicht", sagte er. "Auch die politische Macht des Proletariats, soweit sie ihm am 9. November zugefallen war, ist heute schon zum größten Teil zerronnen und zerrinnt von Stunde zu Stunde weiter."

Zusammen mit Erich Habersaath, Richard Glathe und Franz Schwengler wurden vier Getötete beigesetzt, die am 9., 10. und 11. November zum Teil zufällig den Kugeln der Konterrevolutionäre zum Opfer gefallen waren, beigesetzt. Am 6. Dezember starben vierzehn friedliche Demonstranten in der Chausseestraße, Ecke Invalidenstraße, im Kugelhagel der Gardefüsiliere. Bei dem brutalen Überfall wurden auch Unbeteiligte getötet. Mehr als 30 Menschen wurden schwer verletzt. Am 21. Dezember fand auf dem Friedhof im Friedrichshain die Beisetzung der Ermordeten statt. Karl Liebknecht hielt eine der Trauerreden und sagte, die vierzehn Särge seien "vierzehn Anklagen gegen die jetzigen Gewalthaber und vierzehn Aufrufe an das deutsche Proletariat, nicht zu wanken und zu weichen, bis das leuchtende Ziel der Revolution erreicht" sei.

Während der sozialdemokratische "Vorwärts" am 21. November 1918 noch geschrieben hatte, "Berlin ehrt die Opfer der Revolution", lautete die verfälschende Überschrift am 22. Dezember: "Die Beisetzung der Spartakusopfer". Das entsprach jedoch ebensowenig den Tatsachen wie später die Legende vom Spartakusaufstand im Januar 1919.

Bei der Abwehr des Überfalls konterrevolutionärer Truppen am 24. Dezember 1918 auf die im Schloß und im Marstall stationierte Volksmarinedivision verloren sieben Matrosen ihr Leben. Die Volksmarinedivision war im Auftrag der Regierung Ebert-Haase am 11. November 1918 in Berlin aus vorwiegend der Berliner Arbeiterschaft entstammenden revolutionär gesinnten Matrosen gebildet worden. Den Kern bildeten 300 Matrosen, die an den bewaffneten Aufständen an der Nord- und Ostseeküste Anfang November 1918 teilgenommen hatten.

Am 24. Dezember - die meisten Matrosen waren wegen der Weihnachtsfeiertage abwesend - rückten auf Befehl der Ebert-Regierung etwa 2000 konterrevolutionäre Soldaten unter dem Kommando von Generalleutnant Lequis mit Kanonen und Maschinengewehren gegen die rund 100 Matrosen vor, die Schloß und Marstall bewachten. Die Matrosen wurden aufgefordert, innerhalb von zehn Minuten das Schloß zu räumen. Unmittelbar nach Ablauf des Ultimatums beschossen die Truppen Marstall und Schloß mit Artillerie. Doch trotz zahlenmäßiger Übermacht und der schweren Bewaffnung der konterrevolutionären Truppen konnten sich die Matrosen halten. Nach einiger Zeit kamen ihnen bewaffnete Arbeiter, Angehörige der Republikanischen Soldatenwehr und Männer der Sicherheitswehr des Polizeipräsidenten Eichhorn zu Hilfe. Matrosentrupps setzten die schweren Geschütze außer Gefecht und entwaffneten die konterevolutionären Offiziere. Der Überfall mußte nach mehreren Stunden erfolglos abgebrochen werden. Die Berliner Arbeiter und Soldaten zwangen die Belagerer zum Rückzug.

Am Sonntag, dem 29. Dezember 1918, wurden die Opfer dieses Überfalls in einer mächtigen Demonstration unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zum Friedhof der Märzgefallenen gebracht und dort beigesetzt. Die Demonstranten führten Schilder mit. "Als Massenmörder klagen wir an: Ebert, Landsberg und Scheidemann!", und die Rufe "Nieder mit Ebert und Scheidemann!" brachen nicht ab.

Auf dem Friedhof sprachen an den offenen Gräbern Karl Liebknecht, ein Vertreter der Matrosen aus Wilhelmshaven, mehrere Leiter der teilnehmenden Delegationen und Emil Barth. Liebknecht klagte die Ebert-Regierung als Schuldige des Blutbades an und rief dazu auf, nicht eher zu ruhen, bis die Konterrevolution besiegt sei.

Dr. Kurt Laser
Berlin

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GEDANKEN ZUR ZEIT

Prognose ungewiß oder Das Ende einer Illusion

Im Lehrbuch zweier US-amerikanischer Psychiater namens Redlich und Freeman finde ich die These: "Wenn uns alle das menschliche Verhalten bestimmenden Determinanten bekannt wären, könnten wir das Verhalten eines Menschen mit absoluter Sicherheit voraussagen." Dieser Satz ist so unbändig richtig wie das spaßige Verslein: "Es wär alles nicht so schwer, wenn es etwas leichter wär" und ist zugleich bar jeglichen Erkenntniswertes; denn das ist ja gerade die Crux, daß uns eben nicht alle diese Faktoren bekannt sind, so daß wir uns bei der Kalkulation, wie ein Mensch sich in einer konkreten Situation entscheiden und verhalten wird, auf allgemeine Erfahrungswerte, vergleichende Beobachtungen, Selbstauskünfte des Menschen und Auskünfte Dritter beschränken müssen, also auf das, was man gemeinhin als Menschenkenntnis bezeichnet und was allenfalls ungefähre Wahrscheinlichkeitsaussagen erlaubt. Darum forscht die Psychologie mit mehr oder weniger Erfolg unentwegt nach Gesetzen, gemäß denen menschliches Erleben und Verhalten sich gestaltet, und hat dank Sigmund Freud und anderer Autoren deren etliche (wie z. B. Abwehr, Verdrängung, Verleugnung, Übertragung usw.) auch tatsächlich erkannt, was zweifellos zu einem genaueren und tieferen Verständnis der menschlichen Psyche geführt hat. Und doch: wo es um lebenswichtige Entscheidungen in sogenannten Grenzsituationen geht, in denen innerste Wertvorstellungen auf dem Spiele stehen, sind unsere Prognosen ungewiß, stoßen wir auf ein letztes, unaufdeckbares Geheimnis, welche das Wesen der Person ausmacht.

Was für die Bewertung einzelner Menschen gilt, das gilt nun erst recht für die Beurteilung größerer oder kleinerer Menschengruppen: Familien, Sippen, Volksstämme, ganze Völker und Nationen und schließlich die Menschheit insgesamt. Allzu viele Determinanten oder Faktoren wirken in schier unübersehbarer Vielfalt aufeinander ein. Unzählige Faktoren sind an diesem Kräftespiel beteiligt: Instinkte, Triebe, unbewußte Motive, Emotionen, Affekte, Ressentiments aller Art, Wünsche, Ängste, Bedürfnisse und Fähigkeiten, Hoffnungen und Erwartungen ebenso wie bewußte Interessen und Tendenzen, Absichten und Pläne, Ideen und jähe Impulse. In inneren und äußeren Konfliktsituationen setzen die stärkeren Kräfte sich jeweils durch, entscheiden die Handelnden, einzelne Personen oder ganze Völker sich schließlich für jene Optionen, die die größere Sinn- und Wertfülle versprechen.

Niemand kann bekanntlich in einen anderen hineinsehen, und so bleibt der Mensch, sei es der einzelne oder das Kollektiv, dem Menschen ein ewig unbekanntes Wesen.

Veranschaulichen wir uns die Unmöglichkeit der Vorhersagbarkeit einmal an einem konkreten Modell, nämlich an dem Lottospiel "Sechs aus neunundvierzig", und blicken wir dabei auf die gläserne Trommel, in der die numerierten Kugeln gemischt werden. Was sehen wir da? Einen verwirrenden Wirbel tanzender, kreiselnder Kugeln, die aufeinanderprallen und einander in unberechenbarer Weise bald in die eine, bald in die andere Richtung stoßen. Unmöglich, mit den Augen den Weg auch nur einer einzigen dieser Kugeln zu verfolgen, geschweige denn zu sagen, ob sie herausgefischt und fallen wird oder nicht.

Aber wenn schon dies nicht möglich ist, was ist dann, wenn wir auf das Ganze des Weltgeschehens blicken, in dem alles mit allem vernetzt ist und in das auch die Geschichte der gesamten Menschheit und ihre Entwicklung verwoben ist? Wenn wir dabei sowohl die Sphäre der unbelebten Materie, der Biosphäre und der auf diesen Schichten aufruhenden Sphäre des ideellen Seins ins Auge fassen, in denen Milliarden und aber Milliarden von Determinanten am Werk sind? Ist es dann nicht geradezu tollkühn, eine mit naturgesetzlicher Notwendigkeit sich entwickelnde menschliche Gesellschaft zu postulieren und gar deren Wandlung mit absoluter Sicherheit voraussagen zu wollen? Gewiß ist nach dem Satz vom zureichenden Grunde alles, was auf Erden ist oder geschieht, hinreichend begründet und eindeutig determiniert, aber das heißt noch lange nicht, daß es auch voraussehbar oder planbar wäre. Was also die Prognose einer utopischen gewalt- und unterdrückungsfreien Gesellschaft betrifft, so vermute ich, daß hier der Wunsch der Vater des Gedankens ist, denn empirisch erwiesen ist derlei mitnichten.

Im sozialen Miteinander, Gegeneinander und Durcheinander beherrscht (wie in der Mischtrommel der tanzenden Kugeln) nicht lineare Kausalität, sondern Komplexität das Bild. Einflüsse, Strömungen, Trends aller Art begleiten, durchkreuzen, verstärken, schwächen, neutralisieren einander in unberechenbarer Vielfalt. Dies eben ist der Grund, weshalb plausible, ja logisch stringent scheinende Theorien, wie alle Erfahrung lehrt, in der Praxis, der rauhen Wirklichkeit so oft kläglich scheitern.

In der Theorie, auf dem Reißbrett, läßt sich wohl ein Szenario zeichnen, in dem alle störenden Faktoren beseitigt und alle Bedingungen geschaffen sind, die für das reale Eintreten einer beabsichtigten Wirkung notwendig und hinreichend sind. Aber die Wahrheit, das reale Geschehen, das Faktum richtet sich nun einmal nicht nach uns und unseren Wünschen, sondern wir müssen uns nach ihr und ihm richten.

Was ist, läßt sich nicht hinwegzweifeln, was nicht ist, nicht herbeiglauben. Was wir sehen, sind nicht immer Klassenkämpfe, sondern auch Völkerkriege, Religionskriege, Eroberungs- oder Kolonialkriege, Machtkämpfe rivalisierender Despoten, die ihre Völker ins Verderben stürzen, Völkermorde und Völkerwanderungen, Aufstieg und Untergang großer Kulturgesellschaften. Denn "das Getrennte zu vereinen und das Geeinte zu trennen, ist das Wirken der Natur" (Goethe), und der Mensch ist sowohl ein Kultur- als auch ein Naturwesen, ist zwar, anders als ein passiv daliegender Kieselstein, eine Determinante seiner selbst (darin besteht seine Autonomie), aber eben nicht die einzige Determinante, sondern weithin mitdeterminiert von allen nur denkbaren auf ihn einwirkenden Mächten, seien es Naturkräfte oder Einflüsse von seiten seiner Mitmenschen.

So bleibt es denn dabei: Im Leben herrschen keine Laborbedingungen. Wir sind keine Doctores Allwissend, können nicht einmal (trotz immer zahlreicher werdender Meßdaten) das Wetter sicher voraussagen, und die Beschränktheit unserer Fähigkeit zur Voraussicht ist evident. So schmerzlich es auch für den "gläubigen Marxisten" sein mag - von der Vorstellung eines mit Sicherheit zu erwartenden Himmels auf Erden wird er sich verabschieden müssen, schon um nicht der Versuchung zu erliegen, die Hände in den Schoß zu legen, weil die Utopie ihm ja ohnehin verheißen ist. Nein, nein! Das Machbare (und das ist nicht wenig) muß getan werden. Denn "Es gibt" (so Jean-Paul Sartre in seinem Essay "Ist der Existentialismus ein Humanismus?") "nur Hoffnung im Handeln, und die Tat ist das einzige, was dem Menschen zu leben erlaubt." Der Rest ist Schicksal und muß ertragen werden.

Starres Festhalten an Dogmen lähmt und versperrt den Blick in die Zukunft. Also muß der rationale Diskurs ergebnisoffen bleiben, wie die Gesellschaft offen bleiben muß für Veränderung. Und schließlich: Sollten wir, die wir den Boden bereiten wollen für Freundlichkeit (Brecht), der Übermacht der Reaktion erliegen und scheitern, so wäre dies wie der Tod Salvador Allendes weder unmoralisch noch ehrenrührig. Und sollten wir allesamt in dem einen oder anderen Punkt irren, so gilt auch für uns der Satz: "Irren ist menschlich."

Theodor Weißenborn

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Die Partei des Lebens

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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BUCHTIPS
Werner Großmann: Der Überzeugungstäter

"Man wird nicht als Soldat geboren" hieß ein Roman über die Schlacht von Stalingrad, und Konstantin Simonow schildert darin, daß keiner der Soldaten freiwillig und begeistert ins Gefecht gezogen ist - durch den Überfall des faschistischen Deutschland auf die Sowjetunion waren sie dazu gezwungen worden.

Werner Großmann zog auch nicht freiwillig in den kalten Krieg. Die Umstände sorgten dafür, daß der gelernte Maurer Kundschafter wurde. 1986 übernahm er von Markus Wolf den Auslandsnachrichtendienst der DDR. In einem Gespräch mit Peter Böhm berichtet Großmann über sein Leben, seine Arbeit und sein schwieriges Verhältnis zu Erich Mielke, zu Erich Honecker und zum Parteiapparat.

Edition Ost im Verlag Das Neue Berlin,
Berlin 2017, 256 S., Abb., 16,99 €


Noam Chomsky / C. J. Polychroniou: Zuversicht in Zeiten des Zerfalls

Warum wir trotz Terror, Trump und Turbokapitalismus optimistisch bleiben sollten

Noam Chomsky gilt als einer der einflußreichsten Intellektuellen der US-amerikanischen Linken. C. J. Polychroniou hat mit dem emeritierten Professor für Linguistik und Philosophie eine Reihe von Interviews über den heutigen Zustand der Welt geführt.

Drohende Umweltkatastrophen durch die zunehmende globale Erwärmung und einen möglichen Atomkrieg hält Chomsky für die beiden größten Probleme, denen die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegenübersteht. Vor diesem Hintergrund äußert er sich zu dem weltweiten Erstarken des Neoliberalismus, zur Rolle der Religionen in der Politik, zum sogenannten Antiterrorkrieg, zur "Flüchtlingskrise" in Europa, zur "Black lives matter"-Bewegung in den USA und nicht zuletzt zur Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten und seiner Politik.

Mit seinem scharfen Auge für die Details der Weltpolitik erweist sich Chomsky in diesen Gesprächen als sachkundiger und zutiefst menschlicher Fürsprecher einer besseren und gerechteren Zukunft. Angesichts des Zerfalls der Weltordnung haben wir seiner Ansicht nach nur zwei Möglichkeiten: aufgeben und in der düsteren Annahme verharren, daß das Schlimmste ohnehin passieren wird. Oder optimistisch bleiben, Widerstand leisten, die durchaus existierenden Chancen auf einen radikalen Wandel nutzen und unverdrossen dazu beizutragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Unrast-Verlag, Münster 2018, 216 S., 16 €


Christian Hermann (Hg.): Nationalkomitee "Freies Deutschland". Frontstelle Goßens 1944-1945

Berichte und Flugblätter

Vor 75 Jahren, am 12./13. Juli 1943, gründeten deutsche Kommunisten und kriegsgefangene Angehörige der deutschen Wehrmacht das Nationalkomitee "Freies Deutschland". Dessen politisches Ziel bestand im Sturz Adolf Hitlers und der sofortigen Beendigung des Krieges, um so die sich namentlich seit Stalingrad abzeichnende militärische Niederlage im letzten Moment abzuwenden und weitere Opfer auf beiden Seiten möglichst zu vermeiden. Dieses Ziel haben das Komitee, der sich ihm im Herbst desselben Jahres anschließende "Bund Deutscher Offiziere" sowie die von beiden Organisationen geführte Bewegung "Freies Deutschland" letztlich verfehlt.

Während die Aufmerksamkeit der Historiker bisher überwiegend auf die Führung der Bewegung "Freies Deutschland" und die Verlautbarungen ihrer Moskauer Zentrale gerichtet war, haben die Aktivitäten in den Kriegsgefangenenlagern, an den Front- und Zentralschulen oder die vielen propagandistischen Unternehmungen im Zeichen der schwarz-weiß-roten Fahne vor allem in Westdeutschland nur marginales Interesse gefunden.

Mit der Publikation der Flugblätter und der Berichte der von Hans Goßens geleiteten Frontstelle des Nationalkomitees "Freies Deutschland" liegt nunmehr eine vorbildlich erschlossene und musterhaft edierte Quellendokumentation vor, die gestattet, das Handeln des Nationalkomitees und des Offiziersbundes zu prüfen, um näher als bisher an die historische Wahrheit heranzukommen.

Gerald Diesener, der Verleger dieses reich illustrierten, trotz der Materialfülle übersichtlich gestalteten Buches, schreibt in seinem Geleitwort: Vor 75 Jahren rief das Nationalkomitee "Freies Deutschland" der kämpfenden Wehrmacht und dem deutschen Volk zu: "Der Kampf für ein freies Deutschland erfordert Mut, Tatkraft und Entschlossenheit. Vor allem Mut. Die Zeit drängt. Rasches Handeln tut not. Wer aus Furcht, Kleinmut oder blindem Gehorsam weiter mit Hitler geht, handelt feige und hilft, Deutschland in die nationale Katastrophe zu treiben. Wer aber das Gebot der Nation höher stellt als den Befehl des 'Führers' und Leben und Ehre für sein Volk einsetzt, handelt mutig und hilft, das Vaterland vor seiner tiefsten Schmach zu erretten."

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dem tiefen Respekt für alle Mitkämpfer der Bewegung "Freies Deutschland", die sich zu Recht auf das Wort Huttens berufen konnten: "Ich hab's gewagt."

Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2018, 384 S., 29 €

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Regiert Erdogan in Deutschland mit?

Der kleine Westend-Verlag hat ein großes Buch zu einem brisanten Thema der deutschen und europäischen Politik vorgelegt. Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, ist eine ausgezeichnete Kennerin und Beobachterin ihres Herkunftslandes Türkei. Sie hat dort Gerichtsprozesse gegen die demokratische Opposition des Landes genau verfolgt. In ihrem Buch informiert sie u. a. über die Komplizenschaft der Bundesregierung mit dem islamistischen Regime von Recep Tayyip Erdogan. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Verhältnis zwischen der BRD und der Türkei, wobei hier von einer zunehmenden Unterwürfigkeit der politischen Elite der BRD, insbesondere der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, gegenüber dem autokratisch regierenden Präsidenten Erdogan berichtet wird.

Die Autorin geht kurz auf die Auseinandersetzung um den Fall des Satirikers Böhmermann wegen seines Schmähgedichts gegen Erdogan und seine innenpolitischen Folgen ein. Darüber hinaus behandelt sie den im Jahr 2013 geführten Prozeß gegen den türkischen Pianisten und Komponisten Fazil Say. Obwohl Fazil Say in Deutschland häufig mit Konzerten auftrat, schwieg die Bundesregierung zu seinem Fall, als ob nichts passiert wäre. "Sie ließ die Künstler wie Fazil Say, der sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen [...] begreift, im Stich." Dagdelen behandelt auch ausführlich die Schauprozesse des Erdogan-Regimes gegen unabhängige türkische Journalisten und Oppositionelle. Der deutschen Regierung geht es nicht nur um den BRD-Türkei-Flüchtlings-Deal, sondern hauptsächlich um handfeste wirtschaftliche und vor allem geostrategische Interessen am Bosporus. Die Autorin weist auf die weitgehend unbeachteten, jedoch von Erdogan längst okkupierten Moschee-Gemeinden in Deutschland hin. Deren Staatsbeamte und Agenten dürfen ungehindert bundesweit schalten und walten, Menschen aufhetzen und islamisch-fundamentalistisch indoktrinieren. Seit der Regierungsübernahme von Erdogans Partei Adalet ve Kalkιnma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), hat die islamistische Muslimbruderschaft in der Türkei an großem Einfluß gewonnen. Die AKP treibt in Deutschland ungehindert ihr Unwesen. Auf eine diesbezügliche parlamentarische Anfrage von Sevim Dagdelen wurde eine Stellungnahme dazu von der Bundesregierung "aus Gründen des Staatswohls" abgelehnt. Ihr ist daran gelegen, möglichst alles totzuschweigen, was die türkischen Islamisten in Deutschland treiben.

Dagdelen geht ausführlich auch auf den Völkermord an den türkischen Armeniern ein und weist auf die Beihilfe deutscher Militärs und Politiker hin. "Die historische Wahrheit läßt aber eine Festlegung der Rolle des Kaiserreiches auf bloß eine unterlassene Hilfeleistung nicht zu." Es war damals nur Karl Liebknecht, der im Januar 1916 im Reichstag nachfragte und deswegen von den anderen Abgeordneten niedergeschrien wurde. Im nachhinein stellte Liebknecht fest: "Die türkische Regierung hat ein furchtbares Gemetzel unter den Armeniern angerichtet; alle Welt weiß davon - und in aller Welt macht man Deutschland verantwortlich, weil in Konstantinopel die deutschen Offiziere die Regierung kommandieren." Sevim Dagdelen erinnert daran, daß eine solche Kumpanei bis zum heutigen Tag nahtlos fortgesetzt wird. Die Distanzierung Angela Merkels von der Armenien-Resolution belegt dies exemplarisch. Seit der Debatte zu diesem Dokument am 31. Mai 2016 im Bundestag werden elf türkischstämmige Abgeordnete von Erdogan-Anhängern in der BRD bedroht und stehen deswegen unter Polizeischutz. Faktisch regiert Erdogan in der BRD mit. Die Autorin unterbreitet am Ende ihres Buches einen 10-Punkte-Plan, der als Grundlage für die Unterstützung der Oppositionellen in der Türkei und der verfolgten Kurden dienen könnte.

Sevim Dagdelen spricht von einer moralischen Bankrotterklärung der deutschen Regierung unter Merkel und Steinmeier, die nur an die Durchsetzung deutscher Interessen denke. Aber eine Außenpolitik, die allein auf den Deal zur Flüchtlingsabwehr gerichtet sei, werde auf Dauer nicht funktionieren und unweigerlich scheitern.

Dr. Matin Baraki

Sevim Dagdelen: Der Fall Erdogan.
Westend-Verlag, Frankfurt a. M. 2016, 220 Seiten, 18 €

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Neue grimmige Abrechnung

Der Wolf, der die Geißlein gefressen hatte, wurde von den schweren, im Bauch eingenähten Wackersteinen in den Brunnen gezogen.
Gretel schob die Hexe in den Ofen, das böse Weib verbrannte.
Des Fischers Frau mußte am Ende zurück in die alte Kate.
Schneewittchens Stiefmutter tanzte sich in glühenden Pantoffeln zu Tode.
Rumpelstilzchen stieß wütend seinen Leib in den Boden und riß sich selbst auseinander.

Grausig, grausig, liebe Grimms, was ihr da gesammelt und aufgeschrieben habt, hart wurde bei euch abgerechnet.
Hätten nicht alle Bösewichte in einem Erziehungscamp in Amerika oder Australien durch harte Arbeit, feste Regeln und karge Kost gebessert werden sollen?

Ach, da bringe ich wohl etwas durcheinander, das macht man mit hoffnungslos verkorksten Jugendlichen, verbraucht Steuergelder und erzielt hohe Einschaltquoten im Fernsehen. Die Bösewichte aber in den Märchen lassen sich kostengünstig durch geringe Textänderung bessern.

Rumpelstilzchen könnte als achter Zwerg zu Schneewittchen gekommen sein, wäre jeden Tag mit den Zwergen zur Arbeit gegangen und hätte sich in das schöne Fräulein verliebt. Schon würde er auf das Kind der Königstochter verzichtet haben und brauchte, falls das ein "Schreikind" geworden wäre, sich nicht für Gesetzesänderungen bezüglich Kinderlärmbelästigung zu interessieren.

Schneewittchens Stiefmutter wäre mit des Fischers Frau ausgetauscht worden, ihr hätte die Zeit gefehlt, den Spiegel nach ihrer Schönheit zu befragen, weil sie mit Mietspiegelvergleichen und der ständigen Umzieherei genug zu tun gehabt hätte.
Die dumme Fischersfrau dagegen wäre zufrieden gewesen mit Schneewittchens elterlichem Wohnsitz, hätte die "Bild"-Zeitung beblättert und bei RTL den "Superstar" gewählt.
Die böse Hexe aber wäre von der Agentur für Arbeit mit Harz IV versorgt worden. Nach der Umschulung zur Kräuterfrau hätte sie sich selbständig gemacht. Sie wäre nicht mehr hinter Hänsel her gewesen und hätte den Krankenkassen hohe Apothekerrechnungen erspart.
Der Wolf, der die Geißlein gefressen hat, wäre von einem Gericht verurteilt worden, auf Bewährung versteht sich, weil das seine erste Straftat war.
Natürlich wäre er rückfällig geworden und hätte auch noch Rotkäppchen mitsamt der Großmutter gefressen. Da wäre es ernst geworden. Man hätte ihn nach Bayern in die Gegend abgeschoben, in der vor einiger Zeit Bruno der Bär erschossen wurde.
Aber keine Sorge, so ein schlauer Wolf kommt zurecht. Er hat sich eine Frau gesucht, mit den Jägern Has' und Igel gespielt und geheult: Ich bin schon da, bin wieder da!
Da noch nichts anderes in der Zeitung zu lesen war, ist er weder gestorben noch abgeschossen und lebt da wohl noch heute.

Edda Winkel

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Heinrich Fink: Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde

Am 3. April 1990 wurde Professor Dr. Heinrich Fink bei der Rektorwahl an der Humboldt-Universität Berlin als einer von vier Kandidaten mit 72 % der Stimmen von 504 Delegierten gewählt. Doch in dieser Funktion blieb er nicht lange. Gut anderthalb Jahre später, am 25. November 1991, erhielt er vom Berliner Senator für Wissenschaft nach Beschuldigungen über eine vermutete, aber nie bewiesene Mitarbeit bei der Staatssicherheit der DDR die Kündigung. Dieses Vorgehen hatte mit Rechtsstaatlichkeit nur insofern zu tun, als sie deren Grundsätze mißachtete.

Rektor Fink widersprach der Amtshandlung des Senators, woraufhin das Arbeitsgericht die Kündigung auf hob und er weiterhin das Amt des Rektors ausüben konnte. Der Senator legte Widerspruch gegen diese Entscheidung ein, was ihr aufschiebende Wirkung verlieh. Das war eine der ersten Auseinandersetzungen des Berliner Senats mit dem nach Demokratisierung und Gerechtigkeit strebenden Großteil der Universitätsangehörigen und der studentischen Mehrheit.

Zu einer bemerkenswerten oppositionellen Stimmung an der Universität trugen damals ebenso Herabwürdigungen und eine Reihe fadenscheinig begründeter Entlassungen international bekannter Spezialisten bei. Am 22. Juni 1991 erhielt u. a. der Urologe Prof. Dr. Peter Althaus, Direktor der Klinik und Poliklinik der Charité, seine fristlose Kündigung. Der neue Dekan, Harald Mau, hatte Prof. Althaus weder von seinem Antrag auf Überprüfung der "Stasi"-Akten informiert, noch ihn zu seiner vermeintlichen Geheimdienstmitarbeit befragt. Der Rektor der Humboldt-Universität wurde einfach übergangen. Die Presse indes entfachte eine Kampagne gegen die Charité, die Teil der Universität blieb. So konnte man im "Spiegel" lesen, daß sich Mediziner an Menschenversuchen beteiligt hätten. Andere Blätter wußten von "Stasi-Spitzeln" in ihrer Leitung. Gegen den "roten Filz", d. h. gegen die in der DDR führende SED und ihre Mitglieder, wurde Stimmung gemacht.

Die Unzufriedenheit der Mitarbeiter stieg, Proteste der Bevölkerung häuf ten sich. Während einer dieser Veranstaltungen trat Joachim Gauck auf. Seinen Beitrag begann er mit den Worten, daß er schon lange die "Stätte der Begünstigten", wie er die Charité nannte, aufsuchen wollte. Er prägte auch den Satz, die Bürger hätten ein Recht darauf, daß sie in Krankenhäusern, Rathäusern und Chefetagen nicht auf Leute träfen, die sich mit der "Stasi" gemein gemacht hätten. Aus der Vielzahl der Vorgänge der Schaffung freier Stellen für Interessenten aus der alten BRD entstand ein erbitterter Konkurrenzkampf, in dem die ostdeutschen Bewerber in vielen Fällen von vornherein die schlechteren Karten hatten. Eine Bürgerinitiative, die sich montags auf dem Alexanderplatz an der Weltuhr traf, rief zum öffentlichen Protest gegen die Entlassungen und Diffamierungen in der Charité auf.

Daniela Dahn stellt im Vorwort fest: "Demokratisierung war nicht das, was die Regierenden im Sinne hatten. Und so wurde nicht auf-, sondern flächendeckend abgeräumt." Weiter heißt es: "Unter dem Vorwand, politische Altlasten zu entsorgen, wurden einträgliche Posten mehrheitlich an zweitrangige Westimporte vergeben. Zwielichtige Gestalten lebten ihre unverhofft gewonnene Macht in Orgien persönlicher Demütigungen aus", wofür das arrogante Auftreten des Professors für Wirtschaftswissenschaften Wilhelm Krelle ein Beispiel ist. Als neuer Dekan, ehemaliger Generalstabsoffizier der Waffen-SS, verkündete er selbstherrlich: "Kein Marxist wird seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen, solange ich hier das Sagen habe." Allein in der von ihm geleiteten Fakultät durften im Zuge der Abwicklung von 180 Hochschullehrern nicht mehr als zehn bleiben.

In den neu eingerichteten Studentenklubs redete man 1990 täglich über den "Umbruch in Deutschland". Brechts Tochter Hanne Hiob hatte dessen Gedicht "Der anachronistische Zug" mit Unterstützung des Berliner Ensembles inszeniert und auf die Straße gebracht. Am 18. November 1991 starteten die Darsteller mit 50 ausgemusterten Militärfahrzeugen, alten Luxuskarossen und Motorrädern in Bonn und kamen am 2. Dezember in Berlin an. Als Rektor der Universität übernahm Prof. Fink die Verantwortung und stellte dem "Anachronistischen Zug" den ganzen Innenhof zur Verfügung, um diesen zeitweilig zu einer Mahn- und Nachdenkstätte deutscher Unfriedensgeschichte zu machen. Das in der Uni angebrachte Marx-Zitat: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt darauf an, sie zu verändern." wurde schnell zum "Stein des Anstoßes".

Nachdem die Karl-Marx-Büste schon längst auf einen Platz in der Kunstsammlung der Universität entsorgt wurde, gab es heftige Debatten darüber, ob nach der "Wende" diese angeblich "indoktrinierende Losung" weiterhin an ihrem bisherigen Platz bleiben durfte. Eine Endlos-Debatte über die Erhaltung der denkmalgeschützten Marmorwand und ihrer Losung führte schließlich zu einem Wettbewerb der Umgestaltung des Foyers. Die Engländerin Ceal Floyer gewann die Ausschreibung. Ihre Kunstinstallation trägt den Titel "Vorsicht Stufe". Übrigens: "Stuve" hieß beim Neuanfang die erste Studentenvertretung an der Humboldt-Universität. Prof. Fink erinnert sich gern daran und erklärt: "Es waren zwei Jahre des kritischen Engagements der Studenten um ihre Rechte."

Am 29. Juli 1990 fand der Festakt zur Übergabe der Friedrich Engels-Kaserne an die Humboldt-Universität statt. Die Schlüsselübergabe sollte zu einem glaubhaften "Akt der Umwidmung eines Militärobjektes zu einem Haus der Wissenschaft werden". Die Veranstaltung auf dem Kasernenhof war aber eine Täuschung der Öffentlichkeit. Die Humboldt-Universität blieb bei der Vergabe der Nutzungsrechte für dieses Objekt unberücksichtigt.

Informativ sind die Aussagen zu Rudolf Bahro. Der in der DDR Verurteilte reiste nach seiner Amnestie in die BRD aus; 1989 kehrte er in die DDR zurück. Mit Wirkung vom 15. September 1990 wurde er von der DDR-Regierung zum außerordentlichen Professor für Sozialökologie berufen. Rudolf Bahro war der Ansicht, daß die Humboldt-Universität sich nicht einfach an den Westen anpassen dürfe, daß Hochschullehrer und Studenten Erfahrungen aus den 40 Jahren DDR in internationaler Solidarität sowie in Friedens- und Umweltfragen einzubringen hätten und daß sie sich der Bewegung gegen Krieg und Zerstörung der natürlichen Umwelt anschließen sollte. Das von ihm 1990 gegründete Institut für Sozialökologie sowie seine Vorlesungen und Seminare hatten ungewöhnlichen Zulauf. Im November 1993, Prof. Heinrich Fink war inzwischen als Rektor entlassen, erhielt Rudolf Bahro Post von der Humboldt-Universität mit dem Inhalt, daß bezüglich der "wissenschaftlichen Qualifikation und der Arbeitsweise seines Instituts erhebliche Bedenken" bestünden. Letztlich wurde das Institut Mitte der 90er Jahre geschlossen.

Zunehmend wich dem hoffnungsvollen Beginnen die Ernüchterung. Viele hatten die Illusion, daß es mit dem größer gewordenen Land möglich sein würde, Erneuerung und Demokratisierung in Gesamtdeutschland zum Durchbruch zu verhelfen. Statt dessen fand flächendeckend die Übertragung der Strukturen des kapitalistischen Westens auf Ostdeutschland statt.

Ehrenfried Pößneck
Leipzig


Heinrich Fink: Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde. Vorwort: Daniela Dahn.
Ossietzky-Verlag, 2. Auflage 2013, 128 S., 12,50 €, ISBN 978-3-9808137-0-9

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Provokateure und Täter in zwei Jahrtausenden

Baden erstreckt sich von Basel aus Richtung Norden am Rhein entlang und vollführt dann bei Mannheim wie eine spiegelverkehrte Sieben einen scharfen Knick nach Osten bis kurz vor Würzburg. Dieser östlichste Teil, zu Tauberfranken gehörig, wird im Volksmund gerne "Badisch Sibirien" genannt - zum einen, weil er eben im Osten liegt, zum anderen, weil er erheblich dünner besiedelt ist als der Rest.

Immerhin loderte hier, um Boxberg herum, im sechzehnten Jahrhundert ein Glutnest der Bauernkriege, an die sich in den 70er Jahren die Bevölkerung erinnerte - im Widerstand gegen Pläne der Filbinger-Landesregierung, auf gutem Ackerland einen NATO-Flugplatz zu errichten. Noch heute existiert dort eine landwirtschaftliche Genossenschaft, die sich "Bundschuh" nennt nach dem traditionellen Kleidungsstück der Leibeigenen.

Auf seinem Weg macht der Wanderer Halt im Römermuseum Osterburken. Hier lief der römische Limes entlang, der Schutzwall der damaligen Imperatoren gegen die "Barbaren" aus dem Norden - Goten, Sachsen, Friesen, Chatten, Sugamber und zahlreiche andere Stämme, die Gaius Julius Cäsar nicht auseinanderhalten konnte. Obwohl sie nicht viel untereinander gemein hatten, warf er sie in seinem schlichten Weltbild zusammen und beschrieb sie mit dem Kunstwort "Germanen".

Im Römermuseum jedenfalls erfährt der Wanderer Erstaunliches. Während ihm von allen Seiten jahrzehntelang eingetrichtert wurde, daß die kleine Gemeinschaft der ersten Christen von den bösen Römern im Kolosseum den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde, weil die neue Religion dem Jupiter-Kult zuwiderlief, scheint es historisch anders gewesen zu sein.

Das römische Reich, so belegt es Osterburken, war eine relativ tolerante Gesellschaft, was die Religionen betraf. Verschiedene Glaubensrichtungen existierten nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu bekriegen. Die Christen allerdings waren bereits damals unduldsam und wollten keine andere Religion gelten lassen. Sie agierten so penetrant, daß sich die römischen Herrscher gezwungen sahen, den Unfrieden zu stoppen.

Auf seinem weiteren Weg nach Westen stößt der Wanderer erneut auf den Neckar. Im traditionell konservativen Mosbach stellt das dortige Heimatmuseum ein Exemplar des "Mosbacher Volksblatts" vom November 1931 aus: "So wird im dritten Reich regiert - Wer nicht pariert, wird erschossen". Diese Aufmacherzeile auf der Titelseite widerlegt ein weiteres Mal die spätere Schutzbehauptung vieler Untätiger, sie hätten den Faschismus nicht haben kommen sehen.

Und daß dieser direkt vor den Toren Mosbachs seine Fratze zeigte, war spätestens ab 1944 für jedermann offensichtlich: Im Konzentrationslager Neckarelz, einer Außenstelle des elsässischen KZs Natzweiler-Struthof, mußten Tausende Häftlinge und Zwangsarbeiter die Stollen bei Obrigheim ausbauen, da dort kriegswichtige Flugzeugmotoren hergestellt werden sollten, Motoren von Daimler-Benz. Die KZ-Häftlinge wurden in der umfunktionierten Schule von Neckarelz zusammengepfercht und starben wie die Fliegen, wenn sie nicht wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Sabotage ermordet wurden. Etliche weitere Lager wurden errichtet, weil die SS und Daimler-Benz immer mehr Menschenmaterial anforderten.

Am 28. März 1945 schließlich wurden angesichts der herannahenden Front die noch Lebenden auf einen Todesmarsch geschickt, auf dem mindestens 640 Häftlinge starben. Eine Gruppe Frauen, die per Güterwaggon auf Transport geschickt wurde, starb qualvoll in ihrem Eisenbahnwagen, den die SS in Brand gesetzt hatte.

Erst 1985 begann die Aufarbeitung der Geschichte, dies jedoch unter großem Einsatz von Ehrenamtlichen, Schülern und Einheimischen und unterstützt von der Stadt Mosbach. Eine heutige Dauerausstellung ist höchst informativ. Im Gegensatz zu etlichen anderen Gedenkstätten in Westdeutschland wurden und werden hier auch die Täter mit Rang und Namen genannt. Der Verein KZ-Gedenkstätte Neckarelz e.V. löckt erfreulicherweise gegen den Stachel westdeutschen Verschweigens.

Hans Dölzer †


Unser Autor Hans Dölzer, Jahrgang 1955, wuchs in der nordhessischen Provinz auf. Er arbeitete als Buchbinder, Taxifahrer, Reifenmonteur, Fahrlehrer, Grafiker, Busfahrer, Dozent, Fachkraft für Arbeitssicherheit und schließlich als Journalist und Schriftsteller.

Viel zu früh ist er am 15. Oktober gestorben.

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Im Kampf um gerechte Renten nicht aufgeben!

Bundessozialminister Hubertus Heil verkündete im Juli, daß eine sichere Altersversorgung, ohne Generationen gegeneinander auszuspielen, ein Kernversprechen des Sozialstaates sei. Das Alter solle nicht von Sorgen um die Rente bestimmt sein.

Da fragen sich doch die in Ostdeutschland lebenden Rentner, warum ihnen zu großen Teilen eine "sichere Altersversorgung" versagt wird. Viele Berufsgruppen aus der DDR, darunter die der Ingenieure, bleiben, trotz aller rechtlichen Bemühungen bei der Rentenberechnung, unterbewertet (Nichtanerkennung der Altersversorgung der Intelligenz, sogenannte Intelligenzrente). Die gesetzliche Grundlage für die Rentenzahlung ist das AAÜG - das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- oder Sonderversorgungssystemen der DDR. Es wurde als Artikel 3 des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG, Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung) am 25. Juni 1991 im BGBl, Seite 1606, verkündet. Damit wurde das SGB 6 auf das "Beitrittsgebiet" ausgedehnt.

Sehr bald stellten sich bei der Anwendung gesetzliche Unzulänglichkeiten und finanzielle Belastungen des Staates heraus, die das BSG im Jahr 2002 veranlaßten, mehrere Entscheidungen zu treffen, welche den eingetretenen Zustand umkehren sollten. Es entstand eine neue Begriffswelt der "Volkseigenen Produktionsbetriebe", des "Stichtages 30. Juni 1990" und anderer Absonderlichkeiten, die sich die Sozialgerichte in gehorsamer Bürokratenmanier bis heute zunutze machen, um Rentenansprüche von Rentnern aus der DDR abzuwehren oder zu minimieren. So erging es auch mehreren Klägern aus dem ehemaligen VEB Elektronik Gera. Ihre Klagen auf Gewährung der "Intelligenzrente" wurde vom Thüringer Sozialgericht Erfurt, vom Sozialgericht Altenburg und vom Landessozialgericht München abgewiesen. Mit Ausnahme des LSG München ließen die Gerichte keine Revision zum BSG zu. Die Abweisung der Klage erfolgte mit der Begründung, daß der VEB Elektronik Gera bereits drei Tage vor dem gesetzlich festgelegten Stichtag, dem 30. Juni 1990, abgewickelt und in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt worden sei.

Das nunmehr angerufene Bundessozialgericht Kassel teilte aber nicht die Auffassung des LSG München, daß die Arbeitsverhältnisse der Ingenieure des VEB Elektronik Gera bereits vor dem Stichtag am 27. Juni 1990 an die Kapitalgesellschaft Electronicon GmbH übergegangen sind, und sah juristische Fehler in der Urteilsbegründung. Es verwies den Fall an das LSG München zurück. In einem Interview zu diesem Fall, welches Karl-Heinz Bornschein, Koordinator der 500 betroffenen Ingenieure aus Gera, am 4. Mai mit dem Vorsitzenden Richter am BSG Kassel, Herrn Dr. Josef Berchthold, führte, ergeben sich interessante Aspekte für den Kampf um die "Intelligenzrente".

1. Die Auslegung bestehender Gesetze ist eben nicht "par ordre du mufti" (ohne Einbeziehung der Betroffenen) machbar. Im konkreten Fall geht es um die Anwendung des Gesetzes über die Spaltung der von der Treuhand verwalteten Unternehmen, welches ca. ein halbes Jahr vor dem AAÜG in Kraft trat. Dessen rückwirkende Anwendung auf Gesetze der DDR ist deshalb unzulässig.

2. Die Art und Weise der juristischen Behandlung dieses Falles zeigt, daß "... die Zukunft weitere spannende Fragen, nicht nur bei dieser Fallkonstellation, bringt, und noch weitere hochinteressante Fragestellungen auf dem Gebiet des Überführungsrechtes zu klären sein werden". (Dr. J. Berchthold im Interview)

3. Trotz aller Mißerfolge im Kampf um eine gerechte Rente kann Ausdauer, Hartnäckigkeit und Solidarität letztlich zu einem Erfolg führen!

Heinz Scharf
Neuenhagen

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Zum FDJ-Verbot in Westdeutschland (1951)

Es ist erfreulich, daß Ralph Dobrawa im August-RF das Buch von Josef Foschepoth "Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Krieg" besprochen hat. Ich möchte auf einen weiteren verfassungswidrigen Beschluß der Adenauer-Regierung hinweisen - das Verbot der Freien Deutschen Jugend von 1951, über das bis heute meist geschwiegen wird.

Ich zitiere aus dem Protokoll zur Bundestagssitzung vom 9. Juli 1951, die sich auf Antrag der KPD-Fraktion mit dem Verbotsurteil und dessen Verfassungswidrigkeit befaßte.

In der Begründung des Antrags erklärte die KPD-Abgeordnete Grete Thiele: "Das Verbot der FDJ ist verfassungswidrig, weil die Bundesregierung nicht befugt ist, in die Zuständigkeit der Rechtsprechung einzugreifen, soweit diese durch Gesetz begründet ist. Das ergibt sich aus dem im Grundgesetz verankerten Prinzip der Dreiteilung der Gewalten und aus der Bestimmung, daß die Gerichte unabhängig sind, d. h. daß die Staatsorgane sich nicht in die Rechtsprechung einmischen dürfen. Es ist aber eindeutig bestimmt, daß die Feststellung, ob eine Vereinigung nach Art. 9 des Grundgesetzes verboten ist, dem Gericht, nämlich dem Bundesverfassungsgericht, vorbehalten ist. Das ergibt sich aus Art. 18 Satz 2 des Grundgesetzes. (Zuruf von der Mitte: Irrtum!)

Ich muß ebenso wie mein Kollege Fisch darauf hinweisen, daß es der Bundesjustizminister Dr. Dehler war, der die Aufnahme dieser Bestimmung mit der Begründung gefordert hat, daß der ganze Artikel ohne den Satz 2 wertlos sei und in den Polizeistaat gehöre. Dr. Dehler führte dazu aus, daß jede Polizeibehörde die Grundrechte außer Kraft setzen könne, wenn nicht die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die Entscheidung über die Grundrechtsverwirkung begründet werde. Daraufhin stimmten der Hauptausschuß und das Plenum des Parlamentarischen Rates der jetzigen Formulierung zu, die wie folgt lautet: 'Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.'

In der Begründung zum Verbot der FDJ wird die FDJ als eine Vereinigung bezeichnet, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte. Ich frage Sie, meine Herren und Damen: Ist es gegen die verfassungsmäßige Ordnung, wenn eine Jugendorganisation für Frieden und Völkerverständigung kämpft? (Lachen.)

Ist es gegen die verfassungsmäßige Ordnung, wenn eine Jugendorganisation nach ihrem Programm ihre ganze Tätigkeit auf die Verwirklichung der vier Grundrechte richtet, die wie folgt lauten: politische Freiheit für die Jugend, Wahlrecht ab 18 Jahre, Recht auf Bildung, Recht auf Arbeit und Arbeitsschutz und Recht auf kulturelle Betätigung? Wenn das, meine Herren und Damen, gegen die verfassungsmäßige Ordnung ist - das ist nämlich die Tätigkeit der FDJ (anhaltende lebhafte Zurufe), dann haben Sie allerdings recht mit Ihrem Verbot. (Abg. Strauß: Jeden Tag ein neuer Witz!) Die Vorgeschichte des Verbots verdient aber auch beachtet zu werden. Bereits Monate vorher, beginnend im Oktober vorigen Jahres, wurden zur Verhinderung des "Tages der Hunderttausend" willkürlich Mitglieder der FDJ aus dem Ruhrgebiet aus ihren Wohnungen, aus ihren Betrieben heraus verhaftet. (Bravo-Rufe in der Mitte.)

Seit Monaten werden Kulturveranstaltungen der FDJ provozierend durch die Polizei gestört und aufgelöst (fortgesetzte lebhafte Zurufe), und wahllos wird auf Frauen, Kinder und Jugendliche eingeschlagen, damit daraus ein Widerstand der FDJ gegen die Staatsgewalt konstruiert werden kann. Meine Herren und Damen, dieses Zeichen der Demokratie, dieses Zeichen Ihrer Demokratie, Herr Dr. Lehr, den Gummiknüppel, den habe ich selbst dermaßen zu spüren bekommen, daß ich in den Krankenwagen gelegt werden mußte. (Anhaltende Zurufe von der KPD - Gegenrufe von der Mitte und rechts.)

Und so war es auch bei der Kundgebung der jungen deutschen Patrioten hier in der Nähe des Petersberges, hier vor der westdeutschen Zwingburg, als die Polizei eingegriffen hat. Das sollte nämlich der äußere Anlaß zum Verbot der FDJ werden, wie es der Innenminister Dr. Lehr hier im Bundestag sehr deutlich und für meine Begriffe, Herr Dr. Lehr, zynisch und brutal gesagt hat. (Zuruf von der KPD: Er grinst noch dazu! - Fortgesetzte lebhafte Zurufe.)

Meine Herren und Damen, warum aber wurde die Verfassung gebrochen, und warum wurde dieses Verbot ausgesprochen? Damit hier ein Polizeistaat nach Herrn Dr. Lehr, nach Herrn Dr. Dehler geschaffen wurde, weil die im Grundgesetz verankerten sehr bescheidenen Rechte für das Volk Hindernisse sind für die Verwirklichung der Kriegspläne und für die Aufstellung einer deutschen Wehrmacht, von Ihnen schamhaft "Sicherheitsbeitrag" genannt. Hunderttausende junger Menschen in Westdeutschland sagen heute nicht mehr nur "Ohne uns" dazu, sondern sie sind bereit, ihr eigenes Leben, ihre Zukunft und unsere deutsche Heimat aktiv gegen die Kriegshetzer zu verteidigen. Die Freie Deutsche Jugend steht an der Spitze des besten Teils der deutschen Jugend im Kampf für die Erhaltung des Friedens (fortgesetzte lebhafte Zurufe - große Unruhe) und für die Wahrung der demokratischen Rechte entsprechend ihrem Programm. (...)

Unaufhörlich ist der Zustrom aus allen Teilen der westdeutschen Jugend, die sich zur FDJ, ihren Zielen und ihrem Freiheitskampf bekennen und zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten nach Berlin fahren und damit den Willen der westdeutschen Jugend für Völkerverständigung und Frieden unter Beweis stellen werden. Darum wurde das Verbot ausgesprochen, weil die Regierung und alle Kriegstreiber diese Jugend fürchten und sie in ihrem Friedenskampf behindern wollen. Die westdeutsche Jugend aber will keinen Krieg, und darum wird Ihnen dieses Verbot nichts nützen. Im Gegenteil, immer mehr junge Menschen werden den Charakter dieses Staates erkennen. (Sehr gut! bei der KPD.) (...)"

Die CDU beantragte schließlich den "Übergang zur Tagesordnung", die SPD-Fraktion war wieder einmal restlos einverstanden.

Johann Weber

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Die juristische Verfolgung von Mitgliedern der FDJ

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wasserfrauen

Ich will über ein Buch schreiben, das von besonderer Bedeutung ist. Florence Hervé hat es verfaßt, Thomas A. Schmidt lieferte die Fotos. Beides, Text und Bilder, machen es zu einem Werk ganz eigener Art. Es handelt von Frauenpersönlichkeiten, die sich für eine ausreichende Versorgung aller Menschen mit Wasser einsetzen - und Wasser ist lebensnotwendig!

Die Autorin stellt engagierte "Wasserfrauen" aus verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Berufen vor, die zeigen, wie globale Verantwortung wahrgenommen, persönliche Probleme gelöst und Antworten auf wesentliche Lebensfragen gefunden werden. Wunderschöne Fotos über Seen, Flüsse und Landschaften ergänzen die Porträts, welche die Fähigkeiten, die schöpferischen Leistungen von Frauen und ihre Kraft, sich gegen Widerstände durchzusetzen, dokumentieren. Sie alle eint der Kampf für eine progressive gesellschaftliche Entwicklung. Noch sind Frauen bei Entscheidungen "auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene unterrepräsentiert und werden mit ihrem Wissen kaum beteiligt. Technische und wirtschaftliche Aspekte gelten als Männersache." So geht es der Autorin darum, solche Frauen vorzustellen, die als Stadtplanerin, Ingenieurin für Wasserbau, Deichgräfin, Landschaftspflegerin, Biologin, Völkerrechtlerin für Wasserrecht, Umweltwissenschaftlerin, Gondoliera, Iglu-Architektin und Schifferin unbeirrbar für ein lebenswertes Leben für alle eintreten.

Unterschiedlichste Wirkungsmöglichkeiten von Frauen werden dokumentiert. Durch Deichrückverlegung gaben Stadtplanerin und Biologin der Elbe 400 Hektar zurück, um Schutz vor Hochwasser zu erreichen. In den Niederlanden setzt sich eine Wasserfrau dafür ein, Städte an die Folgen des Klimawandels mit technischer Infrastruktur anzupassen. Aufregend und bemerkenswert: Die Gondoliera hat 1000 Jahre alleiniger Vorherrschaft der Männer gebrochen. Die Mutter von drei Kindern ist leider bisher die einzige in diesem Beruf. Wasser ist eine Ursache für Konflikte und eine Waffe in Konflikten, wie die Expertin für internationales Wasserrecht und -konflikte belegt. Sie verweist auf die Nutzung der Staudämme durch den IS im Norden Syriens und des Irak. In Istanbul kämpft die Umweltwissenschaftlerin für ein Menschenrecht auf Wasser. Sie möchte eine andere Wasserverwaltung, welche die Menschen und nicht die Profite in den Mittelpunkt stellt. "Die Privatisierung von Wasser in der Türkei - unter anderem ein Ergebnis neoliberaler Politik - steht im Gegensatz zu den Interessen der einfachen Menschen." Birsen Argun aus Südanatolien kämpft gegen einen Staudamm, der die Weltkulturstadt Hasankeyf fluten würde.

Einfach ist der Beruf von Wasserfrauen nicht. Die einzige Schifferin im Nationalpark Grande Brière und der Schilfrohrlandschaft zwischen der Loire und der Vilaine erhielt Drohungen, weil diese Arbeit ausschließlich als Männersache angesehen wurde. "Die Sumpflandschaft ist ein Männer- und Machogebiet", sagt sie. Drei Jahre hat sie um Anerkennung kämpfen müssen. Interessant sind die vorgestellten Künstlerinnen. Ob als Opernintendantin, die sich vom Bodensee inspirieren läßt, oder als Tänzerin und Musikerin, die aus dem Wasser ihre künstlerischen Anregungen erhält, die Fotografin, für die Wasser und Schnee die Konstanten ihres Lebens sind, oder die Künstlerinnen, die ihr Arbeitsgebiet 200 Kilometer nördlich des Polarkreises gefunden haben, beeindrucken mit ihrem Engagement für das Wasser und den Erhalt dieser lebenswichtigen Ressource.

Die porträtierten Frauen stehen für viele Aktivistinnen, die den Erhalt des Wasserreservoirs beruflich fördern und damit Verantwortung für sauberes Wasser übernehmen. Es sollte für alle Menschen dieser Erde dasein. Sie zeigen praktisch und theoretisch, wo und wie und durch wen gegen dieses elementare Menschenrecht verstoßen wird.

Die französische Autorin und promovierte Germanistin Florence Hervé und ihr Partner, der Rechtsanwalt für Gewerkschaften und Fotograf Thomas A. Schmidt, schufen mit dieser mit großem Aufwand erarbeiteten Dokumentation den Wasserfrauen ein bleibendes Denkmal.

Die Lektüre des Buches verspricht den Interessierten wichtige Informationen und ästhetischen Genuß. Sie fordert Respekt für die Tätigkeit der Wasserfrauen.

Prof. Dr. Helga E. Hörz
Berlin

Florence Hervé/Thomas A. Schmidt: Wasserfrauen.
AvivA-Verlag, Berlin 2017, 192 Seiten, 29 €

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DDR-Rodlerinnen ist Unrecht widerfahren

Seit der ungerechtfertigten Disqualifikation der DDR-Rodlerinnen bei den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble sind während der Olympischen Winterspiele in Pyeongschang am 13.2.2018 genau 50 Jahre vergangen.

Bekanntlich hat die Internationale Rodelföderation (FIL) und auch das IOC die Chance einer Rehabilitierung der Sportlerinnen anläßlich dieses Jubiläums vertan. Im Vorfeld und nach den Olympischen Winterspielen 2018 gab es aufgrund neuer erdrückender Beweise zur Unschuld der Frauen eine Reihe von Initiativen, die Sportlerinnen vom Vorwurf des Betrugs zu entlasten. Es ging schon lange nicht mehr um die Rückgabe der Medaillen.

Die "Welt" und die "Sächsische Zeitung" haben sich noch einmal ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Selbst das dem IOC nahestehende "Journal of Olympic History" hat in seiner ersten Ausgabe 2018 die Rehabilitierungen der DDR-Sportlerinnen als überfällig bezeichnet. Auch der "Sport-Senior" hat in seiner 99. Ausgabe die FIL aufgefordert, endlich die Sportlerinnen von dem Vorwurf des Betrugs zu befreien.

Die FIL hat mit der fadenscheinigen Begründung fehlender Zeitzeugen und der Angst, die Medien könnten die Inkompetenz der Föderation während des Rodelskandals belegen, erneut die Chance vertan, Gerechtigkeit herzustellen.

Dem Vorfall und Ereignis angemessen hat sich die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbundes Veronika Rücker anläßlich des Wiedersehenstreffens der Medaillengewinner der Olympischen Winterspiele von Grenoble und der Olympischen Spiele von Mexiko 1968 in ihrem Grußwort geäußert. Indem sie die Geschichte als abenteuerlich und stark nach kaltem Krieg riechend bezeichnete, sagte sie wörtlich: "Wir sind der festen Überzeugung, daß Ortrun Enderlein und ihren Mannschaftskolleginnen damals Unrecht widerfahren ist. Aus unserer Sicht hätte sie eine Medaille gewonnen."

Mit den Worten "im Sinne des Sports und der Werte wie Fairneß und Teamgeist" wurde Ortrun Enderlein vom Präsidenten des DOSB, Alfons Hörmann, zu diesem Treffen eingeladen. Trotz eindeutiger Beweise bemerkte Hörmann einschränkend in seiner Einladung: "Leider ist der Vorgang aus heutiger Sicht für uns als DOSB nicht mehr objektiv zu bewerten. Dennoch sehen wir uns hier in der Verantwortung und wollen dieser bestmöglich gerecht werden."

Ortrun Enderlein ist dieser Einladung nicht nachgekommen. Sie erklärte u. a.: "Solange eine vollständige öffentliche Rehabilitation nicht erfolgt ist, sehe ich mich außerstande, Ihrer wenn auch gutgemeinten Einladung Folge zu leisten."

Bei vollem Verständnis für die Haltung von Ortrun wurde vielleicht durch ihre Abwesenheit die Chance vertan, daß sich die Öffentlichkeit und die Medien erneut mit den Vorgängen in Grenoble 1968 stärker auseinandersetzen. Schließlich war es ein kleiner Schritt in Richtung Gerechtigkeit.

Wenn auch die Rodelföderation nach wie vor für die Entlastung vom Vorwurf des Betrugs zuständig ist, kann auch der DOSB seinen Beitrag leisten, indem er die Worte von Veronika Rücker auf dem Wiedersehenstreffen befolgt: "Wir setzen uns intensiv mit der Geschichte auseinander und werden auch Sorge dafür tragen, daß die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät."

Dr. Thomas Köhler
Berlin

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Hundert Fliegen im Zug und ein Taschenhuhn

Ein Herr in einem auffallenden Outfit trat auf mich zu. Beatlefrisur, Oberlippenbart, kurzärmelige Bluse, die mit einem Schnürsenkel kreuzweise gebunden halb geschlossen war, kurze Hose - damals, 1950, total unüblicher Aufzug. Ich befand mich auf der Überfahrt nach Hiddensee auf dem Dampfer "Insel Hiddensee". Viele Stralsunder nutzten die Tagesfahrtangebote, zum Ausspannen, zur Vogelbeobachtung, zum Wandern über die Triften zum Leuchtturm, zur Bernsteinsuche, zum Heidekrautpflücken, zum Sanddornernten im Herbst. Stralsund hatte keinen schönen Strand, und die Überfahrt allein schon war es wert. Kostete damals drei Mark hin und zurück.

"Wollen Sie mal Kormorane sehen?" Ja, ich wollte Kormorane sehen und fragte zurück: "Sind Sie Ornithologe?" Er hatte einen großen Feldstecher um den Hals.

Das Schiff hielt kurz zum Aussteigen in Vitte an, bevor es nach Kloster weiterfuhr, und der Herr verließ den Dampfer. Während einer kurzen Unterhaltung hatte er sich als Direktor des Parasitologischen Instituts der Universität Leipzig vorgestellt und mir gesagt, wenn ich mal Rat oder Hilfe bräuchte, könne ich mich jederzeit an ihn wenden.

Ich lebte seinerzeit noch im Elternhaus. Spannungen und harte Auseinandersetzungen diktierten den Alltag. Eigene Wohnungen bekamen in den Jahren damals nur Familien mit mehreren Kindern. Natürlich war das in die Unterhaltung mit eingeflossen. Obendrein wurde ich Monate später schwanger, was die Situation zu Hause verschärfte.

Und so fand ich mich dann im April des nächsten Jahres als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin des Parasitologischen Instituts in Leipzig wieder. Unterkunft hatte ich in der großen Wohnung des Direktors und genoß auch den Familienanschluß.

Mein Direktor und Chef war mit 32 Jahren der jüngste Professor der DDR.

Doch was gehörte zu meinen Tätigkeiten? Zuallererst das Züchten von Fliegen. Dazu kam, daß ich, ein junges Mädchen, ohne jede Menschenkenntnis und Lebenserfahrung als Kaderleiterin des Instituts eingesetzt wurde.

Die Ehefrau des Direktors studierte in Babelsberg an einer Schule, die Volksrichter ausbildete, und so wurde ich verpflichtet, die drei Kinder dieser Familie zu beaufsichtigen, eine ältere Frau versah den Haushalt.

So ganz nebenbei erwartete ich ein Kind.

Die Fliegenzucht. Im Keller des Instituts befanden sich große Glaskästen, in denen zum einen die gewöhnliche Stubenfliege und zum anderen die kleine Frucht- oder Obstfliege für Versuche gezüchtet wurden. Die Abteilung F8 war damals mit der Entwicklung des Insektizides DDT beauftragt und forderte für ihre Arbeit je nachdem zwischen 100 und 300 Fliegen dieser Arten an. Die Glaskästen hatten seitwärts eine trichterartige Öffnung, an die eine Art Einweckglas gehalten wurde, und eine Lampe, so daß die Tiere dort hinein ins Helle flogen, denn der Raum selbst war dunkel. Nun hatte sich herausgestellt, daß die Stubenfliegen im Verlaufe der Zeit resistent wurden. In Chemnitz forschten die FEWA-Werke an dem Fliegenvernichtungsmittel MUX, und ich wurde nach Chemnitz geschickt, um 300 Fliegen in 6 Gläsern zu je 50 Stück zu holen. Die Gläser waren in einer Tasche, und ich befürchtete während der Reise, daß mir ein Mißgeschick passieren könnte. Der Zug nach Leipzig war voll, man drängelte sich sehr, und meine dickbauchige Tasche war ständig im Wege. Damals gab es noch einzelne Abteile in den Waggons, und als dann in dem zuvor fliegenleeren Raum plötzlich viele herumschwirrten und die Reisenden die lästigen Tiere abwehrten, um sich schlugen und schimpften "Wo gommen denn die vielen Fliechen her?" ahnte ich, daß wohl einige Gläser durch das Gedränge aufgegangen waren. Mit Sicherheit hatte ich einen roten Kopf und einen schuldbewußten Blick, aber das fiel keinem auf. Wer zog schon die Möglichkeit in Betracht, daß ein so junges Ding, offensichtlich schwanger, mit Fliegen reiste.

Es waren nur zwei Gläser, deren Deckel verrutscht waren, aber hundert Fliegen in einem Eisenbahnabteil waren hundert zuviel.

Später erhielt ich, Ende Mai, noch einen zweiten Sonderauftrag.

In Treseburg im Harz war die Schwiegermutter des Professors verstorben, und ich sollte den Haushalt auflösen und das Huhn, das zum Haushalt gehörte, mitbringen. Es wurde als Wirtstier für Lausfliegen benötigt. Da aber irgendeine Epidemie unter Hühnern ausgebrochen war, durften Hühner nicht ihre Ställe verlassen, nicht verkauft werden oder den Ort wechseln. Man hatte mir eine Aktentasche mitgegeben, das war alles, und das Viech sollte ich unbedingt mitbringen. Nach zwei Tagen also, Huhn in Tasche, bestieg ich das Zügle. Wie der Teufel so will, setzte sich auf die Bank mir gegenüber ein älterer Eisenbahner. Ach Du lieber Gott. Ich preßte die Tasche an meinen Körper und rutschte auf der Holzbank hin und her, ständig hustend oder mich räuspernd, denn das Huhn gab des öfteren gackernde Laute von sich. Der Eisenbahner guckte, gab mir dann gute Ratschläge gegen den Husten. "Nehmen Sie mal Buchenteer, junge Frau, Sie hören ja gar nicht auf zu husten. Läßt Ihr Mann Sie so krank allein reisen? Lindenblüte und Honig ist auch gut. Sie gehören ins Bett. Na, meine Frau dürften Sie nicht sein, aber das ist die heutige Jugend."

Als er ausstieg, war ich heilfroh und fuhr ohne Zwischenfälle nach Hause, das Tier war dann auch ruhig, und ich lüftete ab und zu den ledernen Käfig, in Sorge, der Insasse könne ersticken.

Erst in der Wohnung machten wir die Tasche auf und fanden den Grund des leisen und langen Gegackers: ein Ei.

Beate Bölsche
Beetzsee

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Zum 70. Jahrestag der Gründung der Pionierorganisation
Und das war im Dezember ...

Am 13. Dezember 1948, nur vier Jahre nach Beendigung des 2. Weltkriegs, wurde im Osten Deutschlands die Organisation der Jungen Pioniere gegründet. Ihre Aufgabe war es, den Kindern sinnvolle Freizeitaktivitäten anzubieten und mitzuhelfen, sie im demokratischen, humanistischen Sinne zu bilden und zu erziehen.

Zunächst als Pionier, später als Freundschaftspionierleiter und danach als Funktionär war ich mehrere Jahrzehnte mit der Pionierorganisation verbunden, konnte in ihr tätig sein und ihre Vorhaben mitgestalten. Mit den Kindern zu arbeiten, war eine wichtige Schule in meinem politischen Leben.

An den Tag ihrer Gründung erinnere ich mich noch sehr genau. Aufgeregt war ich auf dem Weg in den Berliner Friedrichstadtpalast. Nach einer Rede, von der ich als Neunjährige kaum etwas verstand, und einem Kulturprogramm wurde uns das blaue Halstuch als symbolischer Teil der FDJ-Fahne umgelegt. Der Pioniergruß lautete: "Für Frieden und Völkerfreundschaft - Seid bereit!" Die fest zusammengefügten Finger der rechten Hand wurden über dem Kopf erhoben und sollten die Freundschaft und Solidarität der Kinder auf allen fünf Erdteilen symbolisieren und dokumentieren, daß die Interessen der Kinder der Welt über den eigenen stehen.

Es entstanden Pioniergruppen und Pionierfreundschaften, die zumeist identisch mit der Klasse bzw. der Schule waren. Mit der Bildung der Bezirke konstituierten sich Kreis- und Bezirksleitungen sowie die Zentralleitung der Pionierorganisation, deren Vorsitzende vielerorts Antifaschisten, Widerstandskämpfer, Parteiveteranen und Spanienkämpfer waren, die gegen Faschismus und Krieg, für ein besseres Deutschland gekämpft hatten.

Sowohl in der Verfassung der DDR, dem Kinder- und Jugendgesetz als auch im Einheitlichen Bildungs- und Erziehungsgesetz sowie in anderen staatlichen Beschlüssen waren die Rechte und der Schutz der Kinder verankert. Der Erziehungsauftrag lautete, eine sinnvolle Freizeitgestaltung für und mit den Kindern zu organisieren, die dazu beitrug, gemeinsam mit der Schule, dem Elternhaus und später mit den Patenbrigaden allseitig entwickelte Persönlichkeiten zu bilden, sie auf ein Leben in der sozialistischen Gesellschaft vorzubereiten.

Anläßlich des 1. Pioniertreffens 1952 in Dresden erhielt die Pionierorganisation das Recht, den verpflichtenden Namen "Ernst Thälmann" zu tragen. Mit dem Pioniergruß "Für Frieden und Sozialismus - Seid bereit!" grüßten die Pioniere das erste Mal zum 3. Pioniertreffen 1958 in Halle. Zum 25. Jahrestag der Gründung der Pionierorganisation 1973 wurden das rote Halstuch als ein Teil der Arbeiterfahne und die Gesetze der Thälmann-Pioniere eingeführt. Von nun an waren die Schüler der 1. bis 3. Klassen Jungpioniere mit dem blauen Halstuch, die Kinder der Klassen 4 bis 7 Thälmann-Pioniere mit dem roten Halstuch.

Gebote der Jungpioniere, Gelöbnis oder Pioniergesetze - überall waren unsere humanistischen Werte präsent, die es galt, den Kindern erlebbar zu machen und ihnen zu helfen, sie zu verinnerlichen.

Ich erinnere an das Versprechen, vorbildlich zu lernen, das dazu anregte, Lernzirkel und andere Formen der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung beim Lernen zu bilden.

Mit solchen Initiativen wie dem Sammeln von Bausteinen für den Rostocker Hafen, Altstoffsammlungen und vielem anderen leisteten die Kinder ihren kleinen Beitrag zur Entwicklung unserer Volkswirtschaft. In Anlehnung an das sowjetische Vorbild "Timur und sein Trupp" verpflichteten sich die Pioniere, älteren Menschen zur Seite zu stehen, sie zu unterstützen und bei deren Tagesarbeit zu helfen, was sehr dazu beitrug, daß Kinder lernten, das Alter zu achten und zu ehren.

Wer als Pionier an Solidaritätsaktionen für Ethel und Julius Rosenberg, Angela Davis oder Luis Corvalán teilnahm, erinnert sich noch heute gern daran. Oder denken wir an das Gebot: Junge Pioniere halten ihren Körper sauber und gesund. Wer war nicht begeistert von der "Kleinen Friedensfahrt", den Schulsportfesten und Spartakiaden, dem Manöver "Schneeflocke" oder dem Wettstreit um den "Goldenen Schneemann"!

Wir erinnern uns an die vielfältigen Arbeitsgemeinschaften in den Schulen, Pionierhäusern und Pionierpalästen, in denen die Kinder ihren Interessen nachgehen konnten, sowie an die erlebnisreichen Ferientage in den Betriebs- und Pionierlagern. 12 Mark der DDR bezahlten die Eltern für einen 14tägigen Aufenthalt ihres Kindes.

Im Bezirk Frankfurt (Oder) gab es drei Zentrale Pionierlager mit einer jeweiligen Kapazität von 1000 Plätzen. Jedes Jahr, wenn der legendäre sowjetische Reitergeneral Budjonny in Bad Saarow zu Kur weilte, konnten wir ihn auch bei uns begrüßen. Ein Abstecher in unser Pionierlager war für ihn ein Muß. Günter Simon, der unweit unseres Pionierlagers in Bad Saarow wohnte und die Rolle Ernst Thälmanns im zweiteiligen Thälmann-Film von Kurt Maetzig spielte, kam oft gemeinsam mit Rosa und Irma Thälmann zu uns und sprach mit den Kindern über das Leben und den Kampf von "Teddy". Unvergessen bleiben die Lagerfeuer, an denen wir mit Teilnehmern ausländischer Kinderdelegationen zusammensaßen, miteinander sprachen und Lieder sangen. Freundschaftlich und solidarisch nahmen wir Arbeiterkinder aus der BRD bei uns auf, deren Aufenthalt durch die DDR finanziert wurde. Zur "gesamtdeutschen" Geschichte gehört auch, daß Organisatorinnen und Organisatoren solcher Kinderferienaktionen in Westdeutschland gerichtlich verfolgt und inhaftiert wurden.

Nach 1990 erfuhren wir, und mancher von uns ganz persönlich, daß das, was uns lieb und teuer war, in den Schmutz getreten wurde. Begriffe wie Kinderarmut, Kinderkriminalität, Bildungsnotstand, geistige und körperliche Verkümmerung der Kinder, Straßenkinder kannten wir nicht. Heute prägen Schlagzeilen wie "Kinder- und Jugendobjekte auf der Streichliste", "Schülerstreiks für gleiche Bildung", "Freizeit muß von den Eltern finanziert werden", "Berliner Kinder im Alkoholrausch" das mediale Bild.

Es ist die Verantwortung der Älteren, unsere Erfahrungen und unser Wissen an Enkel und Urenkel und überall dort, wo es möglich ist, weiterzugeben, um Halb- und Unwahrheiten in der Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der DDR entgegenzuwirken.

Heidi Richter
Berlin

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Trompetenruf zum Kriege wider die Reichen (Teil 2)

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Ich habe gute Freunde. Schön, aber das Leben wird dadurch auch unbequemer, weil ehrlicher. "Aber nu", sagte der alte Jidd zu mir, als ich auf einer Schwelle stand und nicht wußte, ob ich den geweihten Raum vor mir betreten oder auf dem Absatz kehrtmachen sollte. "Aber nu" bewahrte mich vor einigen Konflikten und Verlusten, die mein Leben ärmer gemacht hätten.

Einer meiner guten Freunde mailte mir gerade: "Wundere dich nicht, daß mit dem Reifen auch das Welken einhergeht" - nach diesem deutlichen Hinweis auf mein Alter und Benehmen folgt seine Erklärung: "Das hat man mich an der großartigen Karl-Marx-Universität während meines Studiums der Landwirtschaftswissenschaften gelehrt, bevor ich wegen diverser politischer 'Verfehlungen' 1961 den Wissenschaften entrissen wurde. Demzufolge - schreib und schreib, und schiele nicht auf die Lebensuhr!"

Es wird Weihnachten. Weihnachten wird es, weil ich das will. Wie oft haben wir uns vorgenommen, dieses jährliche Ereignis zu renovieren, den Familientisch zu schmälern, weniger Geld auszugeben für Geschenke, um schließlich dankbar an den Punkt zu gelangen, wo man die Beine lang macht und die Besuche kurz.

Es ist fast genauso gekommen. Nicht ganz. Mir fällt ein, daß wir immer früh starten konnten, weil wir jedes Mal lange vorher eine lange Liste möglicher Geschenke verfertigt haben und also wußten, für welches der Familienmitglieder, eingeboren oder neuverliebt, wir in die Buchläden gelangen mußten, ein Start, der sich auch für Schmuck aus China, Parfüm aus dem Intershop und Kuscheltieren aus Sonneberg lohnte. Damals gab es monatlich ein kleines Druckwerk mit den Daten für das Erscheinen der neuen Bücher. Wir konnten im Buchladen lange voraus unseren Wunsch anmelden, was oft nicht gleich zum Erwerb von der ersten Auflage führte. Nun ja, in der DDR gab es für fast jedes Buch Nachauflagen.

Aber es gibt im Leben Wichtigeres. Nun haben wir, die ganz normalen Bürger, mit unseren Einwänden und unserem Genöle die Bundeskanzlerin an den Rand der Heimreise gedrängt. Daß sie es sich am nächsten Montag anders überlegt, dafür gibt es keine Beispiele. Allerdings nützt uns ihre Tugend in diesem Zusammenhang wenig: Wer da hinterm Vorhang oder mit einem großen Sprung nach vorne als Nachfolger lugt oder hampelt, den kennen wir entweder zur Genüge oder zuwenig.

Aber es wird ja Weihnachten. Es duftet, knistert, breitet sich aus. Die Bilder der Erinnerung an unsere Traditionen und Genüsse sind Anekdoten geworden, die sich beleben. Weihnachten umgibt uns, weil ich es so will. Freunde sorgen, daß wir uns nicht nur erinnern. Wir begegnen uns neu, weil uns das Leben unterwegs Aufgaben zuteilt, die wir gemeinsam oder überhaupt nicht lösen können.

Gucken uns die Politiker jetzt, uns, das dumme Volk, mit großen Augen an? Wollen sie uns sagen: Ihr habt falsch abgelehnt und falsch zugestimmt, also wie sollten wir denn die richtigen Entscheidungen treffen, wenn ihr uns dauernd mit euren abseitigen Hauptforderungen in die Arme gefallen seid? Letztlich, um uns aufzuhalten, uns immer wieder in die Folgen eurer Meinungen zu stürzen.

Ja, wir haben versucht, uns einzumischen, wenigstens unseren Vorschlag einzubringen. Zufrieden sind wir mit den Ergebnissen, falls es sie gegeben hat, nicht.

Ich wollte für Weihnachten diesmal überquellende Einfälle, Wünsche und Erinnerungen auf ein erträgliches Maß bringen. Die Familie sollte sich einfinden, aber nicht jedes Thema zulassen, das bisher nicht ausreichend zur Sprache gekommen ist. Ich kenne uns. Wir werden mitten in der Ente auf die Regierungskrise kommen und von dort auf die gelbliche Frisur eines bestimmten mächtigen Machos, dem jede Entgleisung zum weiteren Mißbrauch seiner Macht dient.

Manchmal ist es ja nur das eigenen Regeln folgende normale Leben, das uns unterbricht und große Reaktionen erzwingt, die das Leben verändern. Als mir das widerfuhr, habe ich erst verstanden, wie sinnvoll wir früher den Alltag im Einvernehmen geordnet haben.

Der Stuhl mir gegenüber wird wieder leer bleiben. Das bleibt traurig.

Und was ist Glück? Wenn auf diesem Stuhl mir gegenüber ein besonders dickes Sitzkissen liegt, damit die liebenswürdige kleine Person in der dritten Generation an ihren besonderen Teller reicht - und wir werden, weil die knapp Zweijährige es liebt, rund um die Bescherung ihre liebsten Lieder spielen. Da tanzt sie durchs Zimmer, und auch das hilft dabei, daß wir nicht nur über Politik reden, über Verluste, Ängste und Bedrängungen. Wir wollen aber auch große Momente hochleben lassen, wenn es sie denn in diesem, sich verabschiedenden Jahr gegeben hat. Immer zu wenige, aber es gab sie. Unter unseren Fenstern sind jüngst 240.000 Menschen in Richtung Potsdamer Platz mit Bildern, Sprüchen und internationalen Liedern unterwegs gewesen. Berliner, gerade erst - oder aus dem Kaukasus oder Neukölln. Alte Leute und junge, die ab jetzt dazugehören wollen. Wir standen auf dem Balkon, Tränen und Lachen. Zeit für gute Vorsätze. Es wird nicht alles gelingen, manches vielleicht gar nicht erst angefaßt. Was wir gesehen haben, war ein Wirklichkeit gewordener lauter Widerspruch und eine deutliche Forderung nach nötigen Veränderungen.

Auch das gehört zu Weihnachten: ein Blick voraus und einer auf das Ereignis vor zweitausend Jahren, jenes an der Krippe, das sei als mahnendes Beispiel für ungeahnte Folgen auch erlaubt.

Liebe Leser des "RotFuchs", liebe Zeitgenossen,
ich habe mir nie überlegt, was ich zu sagen hätte, wenn ich an dieser Stelle ein vorerst letztes Mal mit euch rede. Am Anfang hatte ich keine Konzeption, außer dem unvergessenen Klaus Steiniger zuzustimmen, daß sich damals in seinem Blatt zu viel harte Männersprache in den politischen Themen breitgemacht hatte und ihm ein weiblicher Beitrag sehr recht käme. Schon nach den ersten Kolumnen gab es ein starkes Echo. Ich war dankbar, denn ich empfing sowohl Ermutigung als auch kritische Hinweise.

Das war für mich ein großes Geschenk. Ich hatte das so nicht erwartet und bin immer noch dankbar für den geistigen Austausch, der sich daraus ergab und nach vorn wies, in kommende Arbeit.

Ich möchte mich also vorerst von euch verabschieden. Wenn wir uns wieder begegnen, werden wir neue Gedanken auspacken und Pläne schmieden. Um die Welt zu verändern? Das können wir nicht. Aber versuchen, versuchen werden wir es immer wieder.

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Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.


Hirouyuki Iwaki (1932-2006)

Dirigent, Leiter des NHK-Orchesters Tokio, Japan

Stets freue ich mich auf Gastdirigate in der Deutschen Demokratischen Republik, denn die Zusammenarbeit mit Ihren hervorragenden Klangkörpern ist jedesmal beglückend. Sie haben eine hohe Orchesterkultur. Gerade im Gewandhaus spürt man, wie die Traditionen eines Mendelssohn Bartholdy von einer Generation zur anderen "weitergereicht" werden. Mendelssohn begründete die Leipziger Musikhochschule, und immer wieder kommen Orchestermusiker aus dieser Institution, in der die besten Mitglieder des Orchesters Lehrer sind. Das ist ein Beweis für eine sehr organisch aufgebaute Nachwuchspf lege. Wenn ich an die DDR denke, so möchte ich noch erwähnen, daß Ihr Instrumentenbau bei uns einen guten Ruf hat. Viele Kontrabässe aus Markneukirchen erklingen zum Beispiel in unseren Orchestern, so aus der Werkstatt Rubner. Ich nahm mehrfach Instrumente mit, eine Tuba - ein nicht unkompliziertes Transport-Experiment! - auch eine Oboe für Musiker im NHK-Orchester. Und die Qualitäten sind großartig.


Prof. Otmar Suitner (1922-2010)

Dirigent, Österreich

Berlin als Hauptstadt der DDR bot mir in all den Jahren meines Wirkens an der Deutschen Staatsoper eine Fülle wunderschöner Aufgaben auf dem Gebiet der Mozart-, Wagner- und Strauss-Pflege, aber auch die Möglichkeit, mich intensiv mit einem international anerkannten Komponisten wie Paul Dessau, zuletzt mit der Uraufführung seines "Einstein" zu beschäftigen. Gerade heute, wo sich die Beziehungen zwischen meiner österreichischen Heimat und Ihrem Lande so erfreulich gestalten, empfinde ich mein Wirken in der Musikstadt Berlin als nützlich und fruchtbar. Es läßt sich im kulturellen Klima der DDR künstlerisch gut arbeiten. Es ist ein Land begabter Sänger und Musiker; es verfügt über eine vortreffliche Schallplattenproduktion - kurz, ein Wirkungskreis, dem ich mich verbunden fühle.


Luigi Nono (1924-1990)

Komponist, Italien

Es gibt in der DDR zahlreiche Chöre und Orchester in den Städten, aber auch an den Universitäten, die sich der Musikpflege widmen. So hat die Karl-Marx-Universität in Leipzig einen Chor der Studenten der Naturwissenschaften, der mit Orchester unter der Stabführung von Max Pommer auftritt und Werke von Bach bis Schönberg und Dessau zu Gehör bringt. Das ist nur ein Beispiel für die hohe Qualität, dem man auch in Italien nicht nur an den Universitäten nacheifern sollte. Andere Jugendliche spielen neben ihrer Arbeit im Orchester oder in Gruppen zur Pflege der Musik des Barocks und der Renaissance. Sie werden von Musikwissenschaftlern organisiert und geleitet. Das sind sorgfältig vorbereitete und einstudierte Musikveranstaltungen, die sich großer Beliebtheit erfreuen, doch über die wir kaum informiert sind.


Krzysztof Penderecki

Komponist, Polen

Ich bin oft in der DDR, vor allem, um eigene Stücke zu dirigieren. So habe ich sehr gute Erfahrungen mit Orchestern Ihres Landes gemacht, zum Beispiel dem Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester und der Dresdner Staatskapelle. Ich arbeite viel mit diesen Klangkörpern und kann sagen, daß ich nirgends einen Widerstand spüre, der bei dem Charakter meiner Kompositionen durchaus verständlich wäre: Im Gegenteil, man kommt mir stets entgegen. Ganz besonders freue ich mich über die Inszenierung meiner Oper "Die Teufel von Loudun" an der Berliner Staatsoper. Diese Aufführung ist eine der besten dieses Werkes überhaupt, vielleicht die beste. Ich wünsche der DDR und ihrer Bevölkerung weitere Erfolge und freue mich auf künftige Begegnungen.


Prof. Mordecai Bauman (1912-2007)

Sänger, Gesangspädagoge, USA

Ich kam zur Hanns-Eisler-Ehrung 1978 erstmals in die DDR, und ich bin froh darüber, hier zu sein, wo sein Name lebt. 1935 lernte ich Hanns Eisler kennen, sang als junger Bariton seine Lieder bei seiner USA-Tournee zugunsten der Kinder von Verfolgten des Naziregimes. Ich habe erstmals diese neue Art von Musik gehört und interpretiert. Das hat mein Leben verändert. Bei der Arbeit an den Eisler-Songs in unmittelbarem Kontakt mit dem Komponisten habe ich viel gelernt - und nicht nur künstlerisch. Ich blieb der Musik Hanns Eislers eng verbunden. Mehrfach habe ich seine Lieder als erster in den USA gesungen, so zum Beispiel das Solidaritätslied. Auch das berühmte Lied der KZ-Häftlinge "Die Moorsoldaten" habe ich im Arrangement von Eisler in Amerika bekanntgemacht und es mitunter im riesigen Madison Square Garden in New York gesungen.

Während des zweiten Weltkrieges war ich dann Soldat. Ich tat, was ich konnte, für die Befreiung der "Moorsoldaten" und aller anderen vom Faschismus Gepeinigten.

Hanns Eisler hat mir, als er kurze Zeit in Mexiko war, einmal gesagt, er wolle zurück nach Berlin, in ein neues Deutschland, und hinzugefügt: "Du wirst als mein Gast nach Berlin kommen." Nun also begegnete ich als 66jähriger in Begleitung meiner Frau in Eislers Heimat vielem von dem, was ich 43 Jahre zuvor in meiner Heimat durch die Zusammenarbeit mit Hanns erstmals kennengelernt hatte. Und wenn auch der Meister nicht mehr lebt - ich traf seine Familie und die Menschen, die ein Hanns-Eisler-Archiv aufgebaut haben, um seine Musik und seine Ideen zu pflegen. Ich sprach mit Lehrern und Studenten der Hochschule für Musik "Hanns Eisler", mit vielen anderen DDR-Bürgern, denen die Musik und die Prinzipien Eislers sehr teuer geblieben sind.

Überdies traf ich mit dem sowjetischen Musiker Grigori Schneerson zusammen. Wir hatten sogar schon vor Jahrzehnten korrespondiert, uns aber aus dem Blick verloren. Nun schloß diese Begegnung auch die mit dem für mich immer legendären alten Ernst Busch mit ein. Bald summten und sangen wir drei, aus drei Ländern, gemeinsam manches Lied aus den alten Zeiten - Lieder, die noch heute aktuell sind.

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LESERBRIEFE

Am 28. September trafen sich rund einhundert Unterstützer der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen!" - Frauen, Männer, Junge, Ältere, Atheisten, Christen, Sozialisten, Kommunisten, Grüne, Sozialdemokraten, Pazifisten - in der Potsdamer Urania. Sie kamen aus Potsdam, Brandenburg/Havel, Teltow, Kleinmachnow, Eberswalde ... Sie alle einte der Wille, die Idee zu einer großen Sammlungsbewegung werden zu lassen. Die häufigste Begründung für die Teilnahme an der Veranstaltung lautete: "Ich stehe auf für Frieden und soziale Gerechtigkeit."
Die beiden Moderatoren - Harald Neuber und Constantin Braun - informierten über den Gründungsaufruf, den Stand der Bewegung, Strukturaufbau und Vernetzung, Basisverbundenheit und geplante Aktionen. In der anschließenden sehr lebhaften, anregenden und sachlichen Diskussion wurden Vorschläge zur Stärkung der Bewegung und zum eigenen Mittun unterbreitet.
Nach dem offiziellen Abschluß des Treffens kamen zwanglos mehrere Gruppen zusammen, um sich kennenzulernen und weitere gemeinsame Vorhaben zu besprechen. So bot z. B. Pfarrerin Rugenstein die Französische Kirche als Veranstaltungsort an, andere empfahlen den Bürgertreff in der Waldstadt als Treffpunkt. Man verständigte sich dazu, eine Landesarbeitsgemeinschaft Frieden zu gründen. Diese und weitere Vorschläge zeugen davon, daß die Teilnehmer verstanden haben: Es ist Zeit, aufzustehen.

Horst Jäkel, Potsdam


Der Gründungsaufruf der Sammlungsbewegung "Aufstehen!" ist zu begrüßen. Wir sollten ihn zur Kenntnis nehmen, diskutieren und uns letztlich beteiligen. Es ist heute dringender denn je notwendig, alle linksgerichteten, antikapitalistischen und friedliebenden Kräfte zu einem einheitlichen Handeln zusammenzuführen. Erkennbar wird im Aufruf die Stoßrichtung, mit massivem außerparlamentarischem Druck auf die Legislative einzuwirken, um die Politik gerechter und friedlicher zu machen. Insofern kann sich jeder, der diese Ziele sein eigen nennt, dort, wo er politisch oder gesellschaftlich aktiv ist, mit ganzer Kraft für die Grundsätze der Sammlungsbewegung einsetzen.
Auch ich unterstütze diesen Aufruf. Er trägt unverkennbar die Handschrift des linken Sozialdemokraten Oskar Lafontaine, den ich schätze.
Man darf aber nicht bei kosmetischen Korrekturen am heute vorherrschenden Wirtschaftssystem stehen bleiben, weil die rücksichtslose Jagd nach Maximalprofit, der nur mit gnadenlosem Konkurrenzkampf erreichbar ist, immer wieder Unmenschlichkeit in allen Richtungen gebiert. Man muß letztlich auf den entscheidenden Punkt, die Eigentumsfrage, zurückkommen.
Zudem sollte man auch auf die Schattenseiten der "Friedens- und Entspannungspolitik" Willy Brandts und Egon Bahrs verweisen. Bundeskanzler Brandt unterzeichnete am 28. Januar 1972 den "Radikalenerlaß", mit dem, aus bloßen Ansichten und Verhaltensweisen abgeleitet, eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst untersagt wurde. Man grenzte damit Menschen aus, die eine wirkliche Veränderung der Politik im Interesse der Ausgebeuteten anstrebten.
Egon Bahr war Leiter des Presse- und Informationsamtes unter dem Bürgermeister der selbständigen politischen Einheit Westberlin Willy Brandt, als er 1963 in einem Vortrag an der Evangelischen Akademie Tutzing die Notwendigkeit der Politik des "Wandels durch Annäherung" durch die bundesdeutsche Regierung erläuterte. Sie ergab sich daraus, daß die Politik der Konfrontation nicht zur Beseitigung des Sozialismus geführt hatte. Er meinte: "Unsere Welt ist die bessere." DDR-Außenminister Otto Winzer charakterisierte diese Politik treffend als "Konterrevolution auf Filzlatschen", weil sie den Sturz einer Gesellschaftsordnung zum Ziel hatte, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt und Frieden zur Staatsdoktrin erhoben worden war.

Bernd Gnant, Geithain


Zu: "Aufgaben einer Sammlungsbewegung" (RF 249, Seite 19)

Schon den ersten Zwischentitel "Der Staat muß endlich wieder Anwalt des Gemeinwesens werden" halte ich für irreführend, denn "der Staat" sind nicht irgendwelche anonymen Institutionen, sondern die Staatsbürger. Worin unterscheiden die sich vom "Gemeinwesen"? Eine derartige Forderung transportiert und akzeptiert Untertanengeist sowie Macht- und Einflußlosigkeit von Beherrschten, für die der Staat immer noch aus Herrscherhaus und dessen Territorium zu bestehen hat. Wer derart offensichtlich resigniert, statt die zu Sammelnden mit durchführbaren strategischen und taktischen Plänen/Aktionen/Aktivitäten anzusprechen, hat schon verloren.
Was ist der Inhalt solcher Aussagen, an wen wenden sie sich? Was muß wer? Etwa jeder Staatsbürger zu sozialem Engagement verpflichtet werden? Oder nur seine Stimme abgeben (also das Maul halten)? Angesprochen wird nur "der Staat" als Phantom, das irgend etwas "muß" ­... Die Forderung nach Änderung der Regierungspolitik zugunsten der Bevölkerung darf nicht durch unreflektierte Nutzung des Herrschaftsvokabulars verschleiert werden. Sie ist klar und eindeutig zu formulieren.
Durchzusetzen ist sie jedoch nicht, solange Berufspolitiker aller Parteien als extrem privilegierte Kaste "Beraterhonorare" und überhöhte "Aufwandsentschädigungen" kassieren, nach relativ kurzer "Berufstätigkeit" als Aufsichtsräte von Konzernen etc. geringfügig beschäftigt, aber gut besoldet werden und nebenbei ihre nicht zu knapp bemessene Pension beziehen. Sie müßten ja verrückt sein, würden sie für ihre Wähler und daher gegen freigebige Konzerne, Banken und Spekulanten arbeiten.

Otto Kustka, Österreich


Die Unterzeichner des Artikels "Aufgaben einer Sammlungsbewegung" schreiben: "Ohne ein klares Verhältnis zur Frage von Krieg und Frieden wird es kein Wiedererstarken einer europäischen Linken geben. Hier herrschte in der letzten Zeit viel Unklarheit. Der Kampf für die Menschenrechte, ursprünglich ein pazifistisches Postulat, wird zunehmend willkürlich zur kriegsbegründenden Moral pervertiert."
Das sind genau die Worte, die auch ich unterschreiben kann und die so wichtig sind. Aber wer hat diesen Aufruf unterzeichnet? Da lese ich unter anderem den Namen Antje Vollmer. Und auch Ludger Volmer ist dabei.
Sind das nicht einige der Hauptverantwortlichen für den NATO-Krieg gegen Jugoslawien? Dieser Krieg ist auf allerverlogenste Weise mit dem Kampf für Menschenrechte begründet worden. Um diesen Krieg führen zu können, sind serbische Massaker herbeiphantasiert worden, von denen man genau wußte, daß sie nie stattgefunden hatten. Man scheute sogar den Vergleich mit Auschwitz nicht. Später behauptete die Bundesregierung, das Beste, was sie geleistet hätte, wäre die "Enttabuisierung des Militärischen" gewesen, was konkret heißt, den Krieg für die Deutschen wieder salonfähig gemacht zu haben.
Was bedeuten solche Sätze wie die oben zitierten, so gut und so wichtig sie auch sind, wenn sie von denen unterschrieben oder sogar verfaßt werden, die genau das gemacht haben, wogegen sich diese Sätze dem Wortlaut nach richten? Wie stehen Antje Vollmer und Ludger Volmer zu diesem Krieg? Haben sie ihre Standpunkte geändert?

Wolfgang Quambusch, Köln


Als Mitunterzeichner von "Aufstehen!" verfolge ich natürlich das Geschehen in dieser Bewegung, deren eindeutige Richtungsorientierung ich vermisse bzw. nicht erkennen kann. Die Diskussionen, die über "soziale Medien" geführt werden, wo jeder seine Meinung sagen darf, verlaufen wie die Spuren im Sand und führen zu keinem Ergebnis, geschweige denn zu einem Beschluß. Nur in sehr wenigen Fällen wird der Kapitalismus als Verursacher erkannt, doch dann melden sich sofort bestimmte Leute, die das Gegenteil behaupten.

Peter Dornbruch, Schwerin


Als "Umsiedler" 1946 habe ich aus der Geschichte Deutschlands gelernt, daß die Uneinigkeit der Arbeiterbewegung stets zu ihrem Nachteil gereichte, wobei sie durch ihr gemeinsames Handeln den I. und II. Weltkrieg hätte verhindern können. Ich erinnere hierbei an die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 durch die SPD sowie die Uneinigkeit der KPD und der SPD 1933, welche die Machtergreifung Hitlers ermöglichte. Heute stehen wir wieder an einer Scheidelinie unserer Geschichte, in der die SPD und die Linkspartei den gleichen Fehler begehen, wenn sie die Sammlungsbewegung "Aufstehen!" nicht unterstützen.
Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist mit der nur am Profit orientierten neoliberalen Politik unzufrieden. Sie lehnt die Erhöhung der Ausgaben für Aufrüstung sowie die Teilnahme an Kriegen ab und fordert die Abschaffung der Harz-IV-Gesetze, mehr Geld für die Bildung und eine bessere Versorgung der Kranken sowie Rentner, damit alte Menschen nicht noch einen "Nebenjob" aufnehmen müssen.
Um das zu erreichen, ist eine grundsätzliche Veränderung der Regierungspolitik erforderlich. Trotz großer Versprechungen waren die SPD, die Linkspartei und die Grünen dazu nicht in der Lage, weil sie ihre "spezifischen Parteiinteressen" daran hinderten, die große Masse der unzufriedenen und ausgegrenzten Menschen hinter sich zu scharen.
Der einzige Weg, um eine dem Volk dienende Regierungspolitik zu erzwingen, ist der Zusammenschluß aller für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz eintretenden Menschen über Parteigrenzen hinweg - wie er mit der Sammlungsbewegung "Aufstehen!" angestrebt wird. Damit richtet sie sich nicht gegen o. g. Parteien, sondern schafft das Fundament für dringend notwendige Veränderungen. Erfreulich ist, daß immer mehr Persönlichkeiten und Politiker sowie um unsere Zukunft besorgte Menschen den Mut haben, aufzustehen, um eine breite Massenbewegung ins Leben zu rufen, die den kommenden Wahlen ihren "Stempel" aufdrückt. Dazu ist es höchste Zeit, denn es geht um soziale Gerechtigkeit und die Verhinderung eines Krieges, um unsere Zukunft.

Rudolf Höll, Berlin


Das gegenwärtige Verhalten der SPD-Führung erinnert an das Bild der drei Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Sie dreht und windet sich, nur um an der Macht zu bleiben. Selbst in einer Situation, da Nazis Aufwind bekommen, wie jetzt die AfD, ist die Linke im Kalkül der SPD nur bedingt erwünscht. Die Partei Die Linke jedoch verliert an Glaubwürdigkeit, wenn sie sich weiter rot-rot-grünen Koalitionsträumen hingibt, und verspielt jede Chance, dem Rechtsruck entgegenzutreten.

René Osselmann, Magdeburg


Fast an jedem Tag erhalten wir "Bittbriefe" von Hilfsorganisationen zur Rettung von verhungernden, verdurstenden und schwerstkranken Kindern in Afrika, arabischen Ländern, in Südamerika. Statt dringend benötigte Lebensmittel und Medikamente dorthin zu schicken, exportiert die Bundesregierung Waffen, die Leid und Tod bringen.
Ich frage mich: Wo bleibt der Aufschrei der Kirchen, der Gewerkschaften, der Hilfsorganisationen? Wo bleibt der Appell an Anstand und Moral, den sie sonst immer predigen? Eine Anfrage diesbezüglich an eine Vorsitzende von IG Metall wurde mir so beantwortet: "Wenn Deutschland keine Waffen produzieren würde, dann wären viele Leute hier arbeitslos." Diese Reaktion hat mich sehr erregt. Meine Devise ist: andere Menschen unterstützen. Ich mache das noch heute als fast 80jähriger, indem ich ausländischen Studenten behilflich bin, die deutsche Sprache besser zu verstehen.

Damian Schittko, Magdeburg


In Chemnitz war es die nationale Reaktion, die für die schrecklichen Ereignisse verantwortlich zeichnet. In Kiew war's schon die internationale Reaktion, bei deren Aufmärschen auch Deutsche dabei waren. Europaweit breitet sich der Ungeist des Faschismus aus, und die deutsche Regierung tut nichts, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Zum Glück gibt es Kräfte, die sich zu wehren beginnen, wie die große "unteilbar"-Demo vom 13. Oktober in Berlin mit ca. 240.000 Teilnehmern zeigte.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Anläßlich des 75. Jahrestags des Sieges der Roten Armee in der Schlacht um Stalingrad folgten der Arbeitskreis Kultur- und Bildungsreisen der GBM mit fast 40 Mitgliedern sowie Mitglieder der GBM, der GRH, des "RotFuchs"-Fördervereins und von ISOR einer Einladung des Oberbürgermeisters von Wolgograd zu einem mehrtägigen Besuch.
Wir erinnern uns noch an die guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR. Dazu gehörten die Städtepartnerschaften, die wissenschaftlichen, sportlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen, Freundschaftszüge der Jugend und Studienaufenthalte. Viele junge Bürger der DDR haben an der Baikal-Amur-Magistrale in Sibirien oder der Erdgastrasse "Sojus" gearbeitet. Es entstanden Freundschaften und menschliche Kontakte, die heute noch gepflegt werden.
Mit unserem Besuch in Wolgograd wollten wir auch die Bundesregierung daran erinnern, daß am 9. November 1990 in Bonn ein Vertrag von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow unterzeichnet wurde, in dem beide Seiten versicherten, einen Beitrag für eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung und Sicherheit zu leisten. Dieser Vertrag ist noch in Kraft, wird aber, wie wir gerade in diesen Tagen erleben müssen, von westlicher Seite immer wieder verletzt. Rußland sieht sich von Deutschland und der NATO bedroht. 10.000 deutsche Soldaten beteiligten sich im Oktober und November an dem NATO-Manöver "Trident Juncture 18" in und um Norwegen.
Fast jeder Ort Wolgograds - von der Allee der Helden, dem Mamajew-Hügel, dem Soldatenfriedhof bis zur Straße der Roten Armee - hält die dramatische Geschichte der Stadt wach.
Zu den Klängen der "Träumerei" Robert Schumanns betraten wir den Mamajew-Kurgan, das meistbesuchte Denkmal in Rußland. Tief bewegt ehrten wir die gefallenen Helden der Roten Armee mit einem Rosenbukett. Diese Gedenkstätte ist das Werk des berühmten sowjetischen Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch, der auch das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow schuf. Schon kilometerweit sieht man die gigantische Frauenfigur mit dem erhobenen Schwert ("Mutter Heimat ruft").
Unmittelbar an der Uferpromenade der Wolga liegt das Panorama-Museum mit der Gedenkstätte, das der Schlacht um Stalingrad gewidmet ist. Wir spürten einmal mehr, daß diese Schlacht bei den Bewohnern bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat. Von den zahlreichen Bildungseinrichtungen Wolgograds haben wir das städtische Kinder- und Jugendzentrum besucht. Empfangen wurden wir von einer 83jährigen Veteranin, die schon viele Jahre den "Club der Völkerfreundschaft" der Kinder leitet. Mit Begeisterung sprach sie von den langjährigen Kontakten mit der Partnerstadt Karl-Marx-Stadt, die immer noch gepflegt werden. In der Aula dieser Einrichtung fand ein Treffen mit dem Oberbürgermeister der Stadt, Abgeordneten der Stadtduma, dem Vorsitzenden der Friedensstiftung sowie Kriegsveteranen, Kindern und Jugendlichen statt. In Gesprächen mit hochrangigen Offizieren erfuhren wir, daß einige in der Schlacht um Berlin gekämpft und nach dem Sieg noch längere Zeit in Karlshorst gedient haben. Dabei versicherten sie, daß sie nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen den Faschismus gekämpft haben.
Die aufrichtige Haltung uns gegenüber, die Herzlichkeit und das Interesse an der Fortführung unserer Beziehungen war für alle Teilnehmer der Reise bewegend. Die nächste Flugreise im Juni 2019 ist bereits geplant; Anmeldungen werden jetzt schon entgegengenommen:
Mail: gisbert-graff@t-online.de, Handy: 0162 4931 176

Gisbert Graff und Hans-Günter Schleife, Berlin


Vor einiger Zeit ließ die Äußerung Frank Walter Steinmeiers, die Welt scheine ihm aus den Fugen geraten, so manchen aufhorchen. Doch kaum hatte sich das Erstaunen über diesen plötzlichen Realitätssinn gelegt, gab ein anderer in der "Super-illu" seine Meinung zur gegenwärtigen politischen Situation zu Protokoll. Gregor Gysi wurde mit folgenden Worten zitiert: "Was an Liebknecht für uns heute noch gilt: der Wunsch nach Frieden - und daß er für soziale Gerechtigkeit eintrat. Aber natürlich ist unsere Zeit heute eine andere."
Im Prinzip ist den beiden zuzustimmen. Zweifellos hat sich die Welt in den letzten 100 Jahren "gedreht", und unsere Zeit ist eine andere. Aber geblieben ist der Kapitalismus, und im Vormarsch ist seine Ausgeburt, der Faschismus. Die zunehmende Verkommenheit und Verwahrlosung gesellschaftspolitischer Verhältnisse rund um den Erdball ist eben nicht mit der Veränderung von "Raum und Zeit" zu erklären - denken wir an die ständig zunehmende Kriegsgefahr, die vielerorts tobenden Bürgerkriege, die wachsende Verrohung in zwischenmenschlichen Beziehungen und andere Ungeheuerlichkeiten, mehr denn je bedarf es der Methodik des dialektischen und historischen Materialismus, um diese Erscheinungen und ihre Ursachen zu erkennen und entsprechend bekämpfen zu können. Der "RotFuchs" hat sich in dieser Hinsicht sehr verdient gemacht, indem er die Weltanschauung der Arbeiterklasse seinen Lesern in vielen Artikeln näher gebracht hat.

Helmuth Hellge, Berlin


Dreiundsiebzig Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschen Reiches beginnen neofaschistische Parteien und Organisationen immer offener und unverhohlener aufzutreten. Sie etablieren sich als gemeinsame Front, ermutigt nicht zuletzt durch die Bagatellisierung der faschistischen NPD durch den Bundesgerichtshof. Zweimal wurde ein Verbot dieser Partei abgelehnt und damit diesen Kräften entsprechender Freiraum geschaffen. Die antifaschistische DDR hatte, solange sie bestand, faschistischer Ideologie den Boden entzogen. Doch seit der Vereinnahmung der DDR durch die BRD vor 29 Jahren dehnt sich das Aufmarschgebiet der neonazistischen, rechtsextremistischen Parteien und Vereinigungen auch auf den Osten Deutschlands aus.
Nach Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda und den konzentrierten Aufmärschen in Dresden wird nunmehr Chemnitz von diesem Mob heimgesucht.
Bürgerliche Medien und Politiker aller Schattierungen, einschließlich mancher in der Partei Die Linke, behaupten, es wäre 1989/90 eine "friedliche Revolution" der Bürger der DDR gewesen. Wozu diese Lüge, wem dient sie?
Tatsache ist, daß in der DDR keinerlei staatsgefährdenden Übergriffe der Bürger stattfanden, es gab keinen Streik, der Verkehr rollte, Schulen, Kindergärten, Hochschulen und Universitäten haben lückenlos ihren Lehrbetrieb aufrechterhalten, Krankenhäuser, Arztpraxen erfüllten genauso ihre Pflichten wie die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Bäcker und Fleischer. Im Dezember 1989 war der Exportplan der volkseigenen Industrie in das sozialistische Wirtschaftsgebiet mit 99,7 % und in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet mit 99,8 % erfüllt. Auch auf den Großbaustellen lief die Investitionstätigkeit normal.
Ich frage mich: Wer hat all diese permanenten Zusammenkünfte organisiert, wer hat die Menschen zu diesen Protesten zusammengeführt? Man beruft sich, wenn man von einer "friedlichen Revolution" der Bürger spricht, auf die immer wieder demonstrierenden und zu Kundgebungen anrückenden Menschen - das waren vielleicht ein oder zwei Millionen, doch in der DDR lebten seinerzeit 16,43 Millionen ...

Klaus Glaser, Schwarzenberg


Im Karl-Marx-Jahr 2018 konnte ich in seriösen Publikationen einiges über das Leben und Wirken von Karl Marx erfahren. Vieles war mir bekannt, einiges nicht. Daß Friedrich Engels engster Mitstreiter von Karl Marx war, wissen wir. Wer aber kennt Georg Weber?
Georg Weber wurde 1818 in der Fördestadt Kiel geboren. Sein Vater war dort Arzt. Georg trat in die Fußstapfen seines Vaters, promovierte bereits mit 24 Jahren und arbeitete als Armenarzt.
1844 fuhr er für ein Jahr nach Paris. Hier traf er Karl Marx und Friedrich Engels. Von ihren Ideen ist er begeistert. Nach Kiel zurückgekehrt, versuchte Weber, dort eine Kommunistische Partei aufzubauen - zu damaliger Zeit ein erfolgloses Unterfangen. In Kiel gab es kein Proletariat. Die ansässigen Handwerker wollten sich weder für die Pläne von Marx und Engels noch für die Ideen von Weber einspannen lassen. Vermutlich war Weber desillusioniert und meldete sich als Arzt an die Front, als 1848 der Krieg zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark begann. Hier geriet er in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Freilassung lebte er elf Jahre in den USA. Georg Weber kehrte später zurück nach Kiel und arbeitete wieder in seinem Beruf. Seinen Freund Karl Marx hat er über die Zeit nicht vergessen, er besuchte ihn mehrmals in London.
1891 starb Georg Weber in seiner Heimatstadt Kiel. Er war der Mann, der die Ideen von Marx und Engels in den Norden getragen hat. Weber hat als einer der ersten den Namen Kommunistische Partei im Norden benutzt.
Es gibt so gut wie keine Unterlagen und Bilder von Georg Weber. Eventuell können hier Leser des RF helfen.

Wilfried Steinfath, Berlin


In einer Talkshow Anne Wills zum Thema Migranten und Chemnitz behauptete der ehemalige Bundestagspräsident Thierse, die Ostdeutschen hätten wenig Umgang mit Fremden gehabt. Das empörte viele in meinem Bekanntenkreis. DDR-Bürger haben ihre Erinnerungen. Da trafen sich vietnamesische Industriearbeiter mit deutschen Kollegen und deren Familien, ganz privat. Manche über die "Wende" hinaus. Tausende Chilenen fanden bei ihrer Flucht vor dem Pinochet-Terror in der DDR mehr als nur eine Bleibe. In Äthiopien traf ich Menschen, die voll des Lobes waren über die DDR-Betreuung durch Ausbildung und technische Ausstattung.
1989/90 hatte ich mit Bernhard Jagoda (CDU) zu tun, damals Parlamentarischer Staatssekretär. Nach einem Mongolei-Besuch berichtete er von Beispielen beeindruckender DDR-Solidarität und kommentierte das mit dem Satz: "Es waren immer Ihre Leute, leider!"
Ist Thierse entgangen, daß Wortführer rechter Auftritte und Märsche zumeist westdeutscher Herkunft sind und von den versprochenen "blühenden Landschaften" nur wenig zu sehen ist?

Atti Griebel, Berlin


Es ist begrüßenswert, wenn sich Medien, in diesem Falle das "NDR-Nordmagazin" am 30. September, mit den Hinterlassenschaften der Treuhand auseinandersetzen.
Diese Institution wurde noch durch die letzte Regierung der DDR ins Leben gerufen. Man kann davon ausgehen, daß das Ziel bestimmt nicht darin bestand, industrielle Brachen in vielen Teilen des Ostens zu hinterlassen. Sowohl den Wirtschaftsexperten der DDR als auch denen im Westen war doch klar, wo die Probleme lagen. Wir brauchten vor allem Investitionen in moderne Maschinen und Anlagen. Dazu bedurfte es Millionen an Fördermitteln und Hilfe von Experten. Was aber oft kam, war die dritte Garnitur, die das letzte Geld aus den Unternehmen zog und sie so in den Untergang trieb. Eines dieser negativen Beispiele hat nun der NDR mit dem Faserplattenwerk Ribnitz-Damgarten, zugleich Sitz des Möbelkombinats Nord, zu dem auch die Möbelwerke Bützow gehörten, aufgegriffen. In Ribnitz steht noch heute eine Industrieruine, und Bützow wurde ganz platt gemacht. Damit wurden nicht nur materielle Werte vernichtet, sondern viele Biographien zerstört und umfangreiches geistiges Wissen in die Wüste geschickt.
Es ist unfaßbar, mit welcher kriminellen Energie die sogenannten Experten der Treuhand ihr Werk betrieben und wie blauäugig die Landesregierung ihnen auf den Leim gegangen ist. Bei allen hätten doch die Alarmglocken schrillen müssen, wenn man einen Hamburger Immobilienhändler als Sanierer für ein Möbelkombinat einsetzt. Dieser Mann, Eduard Kinder, ist für einen Verlust von ca. 260 Millionen D-Mark an Beihilfen, also Steuergelder, verantwortlich. Dabei hat er alte Anlagen in der Schweiz abbauen lassen, in Ribnitz wieder aufgebaut und dafür Fördermittel für neue Anlagen kassiert. Eduard Kinder hat sich rechtzeitig mit einem Teil der Millionen in die Schweiz abgesetzt, hat die Verjährung abgewartet und lebt heute wieder als unbescholtener Mann in Hamburg.

Ralf Kaestner, Bützow


Oberst a. D. Gerhard Giese war kürzlich Gast im RF-Leserkreis Zwickau. Mit einem beeindruckenden und informativen Vortrag zum Thema "Militärisches Gleichgewicht in der Welt von heute" zog er seine Zuhörer in den Bann. Überraschend für die meisten Zuhörer war wohl, was der Fachmann zu den militärischen Fähigkeiten und sogar einer bedeutenden Überlegenheit Rußlands gegenüber den USA auszuführen hatte. Dazu die Betrachtung zu China, und es ergibt sich ein "beruhigendes" Gleichgewicht des Schreckens.
Doch wie "beruhigend" kann ein solches Gleichgewicht oder sogar "positives" Ungleichgewicht für uns und die Welt wirklich sein? Können wir angesichts dieses militärischen Kräfteverhältnisses in gleichem Maße auch relativ sicher sein, daß damit ein Weltbrand auszuschließen oder zu verhindern ist? Kann uns ein Gleichgewicht heute ruhiger schlafen lassen als ein solches, das zu Zeiten des Systemkonflikts bestand? Dürfen wir heute mehr Hoffnung haben, daß zunehmende militärische Konflikte, die maximale Annäherung der NATO an Rußland, die unmittelbare Nähe der militärischen Gegner in Nahost oder anderen Orten weniger Gefahr laufen, zu eskalieren und in einen großen Krieg zu münden?
Wenn wir davon ausgehen, daß der Imperialismus höchste Aggressivität auch militärisch in sich trägt, wenn wir die Erfahrung zugrunde legen, daß Imperialismus letztlich jedes Risiko bei Strafe eigenen Untergangs eingeht, jeden Wahnsinn auch zu begehen bereit ist, dann ist ein militärisches Gleichgewicht vielleicht eine Hemmschwelle, mehr aber kaum. In Zusammenhang betrachtet mit der ökonomischen Aggressivität, den globalen Interessen nationaler und internationaler Imperialisten, dem Streben nach Märkten, Rohstoffen und Einflußsphären dürfte es alles andere als ein Ruhekissen sein, sich auf die militärische Überlegenheit zu verlassen.

Roland Winkler, Aue


Seit vielen Jahren beziehe ich den "RotFuchs", muß aber alters- und gesundheitshalber an die Vorbereitung meines Nach- bzw. Vorlasses denken. Dazu gehören ältere Jahrgänge des RF, insbesondere die Jahrgänge 2003-2005 sowie die Hefte März 2015 bis einschließlich Dezember 2016. M. E. sind die RF-Hefte zum Wegwerfen entschieden zu wertvoll, so daß ich um Hinweise bitte, wem bzw. welcher Institution/Bibliothek/Antiquariat/Einzelperson ich die Bände übergeben könnte.

Prof. Dr. Karl-Heinz Bernhardt, Berlin

Wer sich für dieses freundliche Angebot interessiert, wende sich bitte an unseren Vertrieb: Telefon 030-53 02 76 64.


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2018/RF-251-12-18.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 251, 21. Jahrgang, Dezember 2018
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2019

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