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ROTFUCHS/141: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 187 - August 2013


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

16. Jahrgang, Nr. 187, August 2013




Inhalt

  • Linke Christen schrieben de Maizière
  • Depesche an einen Botschafter
  • Die Friedenstat des 13. August 1961
  • Schütt contra Lenin
  • "Bruch mit dem Leninismus als System"
  • Rettungsschirme sind keine Rettungsanker
  • Das Anrüchige an der Riester-Rente
  • Als mich der Kommandant ins Loch setzte
  • "RotFuchs"-Wegbereiter (3): Harry Machals
  • Mit der Lokomotive in die Revolution -
    Der kommunistische Märtyrer Gustl Sander
  • Dialog mit einem Urgroßvater: Der geniale J. K.
  • Blauhemden, die manche rot sehen lassen
  • Rapport über Sonja: Ruth Werners Facetten
  • Vor 21 Jahren brannte das Lichtenhagener "Sonnenblumenhaus"
  • Neues über die Weiße Rose
  • Als Gorbatschow nach Frisco einlud
  • Wer war eigentlich Bertha von Suttner?
  • In unseren Herzen: Annelie Thorndike
  • Bernsteins Rezept: Taktik ohne Strategie
  • RF-Extra - Vor 100 Jahren starb August Bebel
  • RF-Extra - Die Mebels - Eine unerschütterliche Freundschaft
  • Türkei: Faschisierer mit islamischer Maske
  • Bradley Manning - ein Friedensheld vor dem Kriegsgericht
  • Bushs Guantánamo - eine Hypothek für Obama
  • Bolivien: Die Moral des Evo Morales
  • Moçambique - Tummelplatz von Beutejägern
  • Berliner Segen für Riads Henker
  • Als "Prawda"-Reporter Henry Ford interviewten
  • Knifflige Fragen an Herrn Bach
  • Rudi Kurz zieht Bilanz: Schauspieler - ein Traumberuf?
  • Philatelistische Visitenkarte der DDR (3)
  • Elfriede Brüning - Kleine Frau, was nun?
  • Griff in die literarische Schatztruhe (10)
  • Das Trotzalledem des Eberhard Panitz
  • Tod eines blühenden Dorfes: Lehsen
  • Als Archie ein Licht aufging
  • Rudi W. Berger über "Archies Pusteblume"
  • Leserbriefe

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Drohnen und Dröhnen

In einem Land, in dem Drohnen, nicht aber Arbeitsbienen den Ton angeben und die Gesellschaft beherrschen, liegt es auf der Hand, daß auch noch ganz andere "Drohnen" die in den Staatshaushalt geflossenen Steuergelder verzehren: Es gibt sogar einen eigens dafür zuständigen Minister, in dessen Haus der zu einer internationalen "Berühmtheit" in Sachen georderter Zivilistenabschlachtung gewordene Kundus-Oberst Georg Klein ohne Bedenken seiner Vorgesetzten zum General aufsteigen konnte.

Während das in Stuttgart angesiedelte Afrika-Kommando der US-Streitkräfte - kurz Africom - koordinierend dafür Sorge trägt, daß auf dem Schwarzen Kontinent nicht gegen den imperialistischen Stachel gelöckt wird und "bei Bedarf" Kampfdrohnen zur Vollstreckung von Mordbefehlen in Marsch gesetzt werden können, treibt Merkels zackiges Kabinettsmitglied Thomas de Maizière nichts anderes um, als endlich auch auf eigenen - wenn auch vorerst nicht "scharfgemachten" - Drohnen zu thronen.

Nach zunächst bescheideneren Wünschen platzte allerdings sein auf 650 Millionen Euro ausgelegtes Lieblingsprojekt "Euro Hawk", was soviel wie "Europa-Falke" heißt. Eine äußerst treffende Bezeichnung, die Rückschlüsse auf seinen Besteller gestattet, der alle Warnungen vor einem möglichen Debakel in den Wind geschlagen hatte. Der oberste Kriegsherr der Bundeswehr gilt nämlich als einer der rabiatesten "Falken" in der BRD - als extremer Scharfmacher, der nach afghanischem Muster auf militärische Konfliktlösungen im weltweiten NATO-Aggressionsverbund drängt.

Während sich das durch de Maizières an den Baum gefahrenes Riesen-Rüstungsgeschäft dem Spott ausgelieferte Merkel-Kabinett breitbeinig vor das solchermaßen entblößte Regierungsmitglied stellte, könnte man die Sache auch unter strafrechtlichem Aspekt betrachten.

Als Absolvent der Juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität vom Jahrgang 1956 und einstiger Staatsanwalt der DDR weiß ich noch um den Tatbestand der Veruntreuung einzelnen Personen oder Gremien anvertrauter oder durch sie verwalteter Gelder. Dabei bin ich mir durchaus darüber im klaren, daß die Wertung solcher Sachverhalte durch Gerichte beider deutscher Staaten stets extrem unterschiedlich, ja absolut konträr gehandhabt wurde.

Marx und Engels haben im Kommunistischen Manifest die Dinge auf den Punkt gebracht, indem sie sich mit den Worten an die Bourgeoisie wandten: "Euer Recht ist doch nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse!" Und deren Wille ist es, daß gegen Schwarzfahrer und Ladendiebe gnadenlos vorgegangen wird, während die Veruntreuung nahezu astronomischer Summen nicht selten zum guten Ton gehört oder als reines Kavaliersdelikt betrachtet wird. Angesichts solcher Realitäten ist mein DDR-Rechtswissen im Alltag der BRD leider nicht mehr als Schnee von gestern, mein Rechtsempfinden mit dem der heute Herrschendenden nicht identisch.

Doch das Ungeheuerliche an dem Vorgang ist ja weniger sein juristischer als vielmehr sein sittlicher Aspekt. Ein Mann, der sich auf Kirchentagen als christlicher Moralist an die Brust schlägt, engagiert sich ohne Skrupel für die infamsten aller derzeit "im Angebot befindlichen" Mordinstrumente - die Killer-Drohnen.

Der in Oslo geehrte Friedensheuchler Barack Obama, dem Kriege nicht fremd sind, hat Drohnen als treffsicherste und verlustärmste Waffe aller Zeiten in NATO-Kreisen populär gemacht. Sie jederzeit per Knopfdruck selbst aus größter Distanz bedienen zu können, schone die eigenen Leute und vernichte unterschiedslos jedes anvisierte Ziel. Die U.S. Air Force, die mit der Bundesluftwaffe im Verbund den Himmel pflügt, wie schon 1999 bei der gemeinsamen Bombardierung Serbiens unter Beweis gestellt wurde, hat die "Effektivität" dieser anonymen Hinrichtungsinstrumente wieder und wieder auf dem Boden des UN-Mitgliedsstaates Pakistan und auch anderswo nachgewiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist derzeit personell "etwas unglücklich aufgestellt". Ohne Zweifel kann niemand für das Handeln seiner Eltern verantwortlich gemacht werden, obwohl man sich unter bestimmten Umständen gebührend von ihnen distanzieren sollte. Während ein Sohn des noch im Februar 1945 von Hitler in den Führerbunker gerufenen Nazi-Generals und späteren Heeresinspekteurs der Bundeswehr Ulrich de Maizière den Drohnen nachjagt, sorgt der Abkömmling zweier Alt-Mitglieder der NSDAP an oberster Stelle des Staates fürs Dröhnen.

Wir beim "RotFuchs" versammelten Kommunisten und Sozialisten mit oder ohne Parteibuch werden den Kampf gegen militärische wie zivile Drohnen mit aller Entschiedenheit fortsetzen. Am 22. September besteht die nicht zu über-, aber auch keineswegs zu unterschätzende Gelegenheit, den Parteigängern der Drohnen wie des Dröhnens Salz in die Suppe zu streuen, indem man jene Kandidaten unterstützt, die gegen Mordwerkzeuge wie gesellschaftliche Blutsauger als einzige im Bundestag ihre Stimme zu erheben bereit sind.

Klaus Steiniger

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Linke Christen schrieben de Maizière

Sehr geehrter Herr Minister,
anläßlich einer Veranstaltung in der Französischen Friedrichstadtkirche (Berlin) haben Sie gesagt, daß es "gerechte Kriege" nicht gibt, wohl aber "gerechtfertigte".

Wir, die Unterzeichnenden dieses offenen Briefes, fragen Sie: Wer oder was rechtfertigt die jetzt und in Zukunft stattfindenden Kriege?

Diejenigen, die Kriege angefangen haben, haben ihre Kriege immer gerechtfertigt: von den Großmächten des Altertums über die Nazi-Regierung und die Verantwortlichen für Hiroshima und Nagasaki bis zu den Entscheidungsträgern heute, zu denen auch Sie gehören. Sie rechtfertigen die Kriege, an denen die Bundeswehr sich beteiligt, mit dem Argument, daß wir Teil eines Bündnisses seien; dieses Bündnis sei eine "Wertegemeinschaft".

Jedes Kind, jeder Erwachsene, jeder Mensch, der von Soldaten dieser "Wertegemeinschaft" getötet wird, ist einer zuviel.

Jeder Moslem, der von Soldaten dieser "Wertegemeinschaft" gedemütigt wurde, war einer zuviel.

Jeder Gefangene, beispielsweise in Guantánamo, der von Angestellten dieser "Wertegemeinschaft" festgehalten und gefoltert wird, ist einer zuviel.

Jedes Wohnhaus, das durch die Waffen dieser "Wertegemeinschaft" zerstört wird, ist eins zuviel.

In Ihren Ausführungen haben Sie die "schwierige Geschichte" unseres Landes erwähnt, sein Gewicht in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht - und Sie bekennen sich als evangelischer Christ. Den Wanderprediger aus Nazareth haben Sie jedenfalls nicht auf Ihrer Seite, und auch nicht den bei uns ach so häufig zitierten Dietrich Bonhoeffer. Der hat nämlich um ein Weltkonzil gerungen, um einen drohenden Krieg abzuwenden, und er hat den Frieden das wichtigste Wagnis genannt, das Christen eingehen sollten, eingehen müssen.

Das, was Sie mit unserer "schwierigen Geschichte" neutral umschreiben, hat die Kirche, in deren Tradition Sie stehen, so ausgedrückt: "Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden." (Stuttgarter Schuldbekenntnis)

Müßte nicht diese "schwierige Geschichte" und das Evangelium, dem auch Sie sich verpflichtet fühlen, Sie dazu bringen, Ihre, unsere deutsche Stimme innerhalb der "Wertegemeinschaft" zu erheben, von Krieg abzuraten und statt dessen friedliche Lösungen anzubieten, sie gemeinsam zu finden? Es gibt ein großes - deutsches und internationales - Potential von Menschen und Institutionen, die verantwortungsvoll und intelligent an dieser Frage arbeiten. Die haben aber anscheinend keine Chance in der "Wertegemeinschaft", die, wie Sie zugeben, derzeit nicht bedroht ist, die trotzdem seit Jahrzehnten immer neue, wirksamere Waffen einsetzt, der es um ihre Interessen geht und die nicht wahrhaben will, daß in der globalisierten und vom atomaren Holocaust, von Klimakatastrophen, Wassermangel, Hunger und neuen Seuchen bedrohten Welt es nur ein großes, gemeinsames Interesse gibt: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (Vancouver 1983).


Monika Auener, Reinhard Auener, Ingrid Ehrler, Petra Euhus, Ilsegret Fink, Peter Franz, Sigrid Franz, Dr. Dieter Frielinghaus, Gisela Frielinghaus, Cordula Heilmann, Friedrich Heilmann, Hannelore Heinrich, Willibald Jacob, Kurt Kreibohm, Horsta Krum, Cornelia Praetorius, Herwig Rettich, Waldtraut Skladny, Sarah Wayer, Dr. Klaus Wazlawik
(geringfügig gekürzt)

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Depesche an einen Botschafter

Am 4. August begeht der langjährige Vorsitzende des "RotFuchs"-Fördervereins - unser Genosse und Freund Rolf Berthold - seinen 75. Geburtstag. Viele Gratulanten werden sich einstellen, um dem namhaften Diplomaten der DDR, der nach der Konterrevolution zum Mittler zwischen Antifaschisten und Linken unterschiedlicher Auffassungen und Organisationszugehörigkeit wurde, ihre Glückwünsche auszusprechen. Wir RotFüchse haben einen ganz besonderen Grund, Rolf für seinen unermüdlichen Einsatz zu danken, hat er doch ganz wesentlich dazu beigetragen, den Verein auf feste Füße zu stellen und in Erfolg verheißende Bahnen zu lenken. Wenn sich der RF zur inzwischen auflagenstärksten marxistischen Monatsschrift in Deutschland entwickeln konnte, war dafür der organisatorische Rahmen von ausschlaggebender Bedeutung. Zehntausende Leser der Print- wie der Internetversion im In- und Ausland fühlen sich inzwischen mit unserem kleinen und zugleich großen Blatt eng verbunden. Zu diesem Erfolg haben der von Rolf und anderen Genossen umsichtig geleitete, jetzt über 1650 Mitglieder zählende Förderverein sowie dessen Regionalund Lesergruppen maßgeblich beigetragen.

In der Person von Rolf Berthold, der einer antifaschistischen Familie entstammt, besitzt unser Verein einen erfahrenen und prestigereichen Vorsitzenden, der in schweren Zeiten allen Stürmen trotzend an Bord geblieben ist und seine Weltanschauung nicht von Sieg oder Niederlage abhängig gemacht hat.

Der Lebensweg des 1938 Geborenen führte über Studien am Institut für Internationale Beziehungen in Beijing und an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR ins Außenministerium des sozialistischen deutschen Staates, wo er 28 Jahre tätig war. Nach Einsätzen als Diplomat in der DR Vietnam und der VR China leitete er die Abteilung Ferner Osten im MfAA. Von 1982 bis 1990 vertrat Rolf Berthold die Deutsche Demokratische Republik als deren Botschafter in der Volksrepublik China. Das Herz des Internationalisten schlägt auch weiter für das fernöstliche Riesenland und das größte Volk der Erde, deren Aufstieg zur Weltmacht er als intimer Kenner der Problematik engagiert begleitet. Etliche RF-Regionalgruppen konnten sich bei thematischen Veranstaltungen von Rolfs Sachkompetenz überzeugen.

Auch in der Volkssolidarität, deren Berliner Bezirksverband Friedrichshain-Kreuzberg er leitet, hat Rolf Berthold seine politischen und organisatorischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt.

Das große "RotFuchs"-Kollektiv und dessen Partner in befreundeten Organisationen schätzen außer seinem soliden Wissen besonders auch seine menschlichen Qualitäten und sein Vermögen, mit Freunden und Genossen stets auf gleicher Augenhöhe an die Lösung gemeinsamer Aufgaben heranzugehen.

Lieber Rolf! Du hast jetzt den Weg eines Dreivierteljahrhunderts zurückgelegt. An Deinem Ehrentag grüßen wir Dich und Ursel in fester Verbundenheit und Freundschaft.

Deine Genossen vom Vorstand des RF-Fördervereins

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Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben

Die Friedenstat des 13. August 1961

Berlin ist seit der "Wiedervereinigung" durch den "Mauerfall" und den Bundestagsbeschluß vom 20. Juni 1991 wieder Hauptstadt Deutschlands, allerdings nicht mehr des Deutschen Reiches, sondern des Staates, der dessen Rechtsnachfolge für sich beansprucht. Damit ist aber nicht die Geschichte Westberlins zwischen 1945 und 1990 mit ihren Folgen einfach ausgelöscht. Erinnerungen, Mythen und "Rechtsansprüche" leben weiter: Westberlin - im Urteil seines Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter der "Pfahl im Fleische der Sowjetzone" -, aber auch die "Rosinenbomber", die "Freiheitsglocke", die "Mauer", der "Mauerbau" und die "Mauerschützen". Im offiziellen Sprachgebrauch werden Begriffe verwendet, die ohne ihre geschichtliche Wurzel unverständlich sind. Dazu gehören auch "innerdeutsche Grenze" oder "Viermächteverantwortung". Klaus Emmerich kommt das Verdienst zu, daß er einen Aspekt der jüngsten Geschichte Westberlins genauer analysiert: den rechtlichen Charakter der Grenze um Westberlin und die Rechtsstandpunkte dazu in Ost und West, die sich frontal gegenüberstanden. Das Fazit des Juristen: Die Grenze um Westberlin war eine innere Grenze der DDR, an der grundsätzlich ihr Recht galt und wirksam war.

Emmerich untersucht zunächst die Ursache für den Sonderstatus Westberlins. Dieser wurde bereits auf einer Konferenz der Alliierten am 12. September 1944 in London festgelegt. Darstellungen, wonach später Teile der sowjetisch besetzten Gebiete (Thüringen, Leipzig) zum "Tausch" angeboten worden seien, gehören ins Reich der Fabel.

In London erfolgte auch die Aufteilung des Berliner Territoriums in Besatzungssektoren auf der Grundlage der Verwaltungsstruktur Groß-Berlins, wie sie 1920 festgelegt worden war. Da die Sowjetarmee Berlin befreit hatte, rückten die verbündeten Truppen der USA, Großbritanniens und Frankreichs nach entsprechender Vorbereitung im Juli 1945 in ihre Bezirke ein. Zunächst gab es den Versuch, durch einen Alliierten Kontrollrat aller vier Mächte die Richtung der Politik in Deutschland gemeinsam zu bestimmen. Der Versuch mißlang aufgrund der Unvereinbarkeit der Interessen. Was folgte waren der Kalte Krieg und die NATO-Politik des Rollback. Als die Westmächte in ihren Zonen eine separate Währung einführten und Westberlin dabei einbezogen, antwortete die UdSSR mit dessen Blockade. Die USA reagierten "im Namen der Freiheit" mit ihren "Rosinenbombern". Nach dem Auseinanderbrechen des Gesamtberliner Senats entstanden politische Tatsachen, welche für die Rechtslage zwischen der DDR und Westberlin von großer Bedeutung waren.

Emmerich weist nach: 1. Westberlin war Bestandteil des Hoheitsgebietes der DDR. 2. Die DDR besaß mit ihrem Hauptverbündeten UdSSR die Lufthoheit über Westberlin, was die Genehmigung dreier Luftkorridore von dort zu BRD-Flughäfen einschloß. 3. Westberliner waren nicht Bürger der BRD, Gesetze des Bundes galten also nicht für sie. 4. Es ergab sich die Anomalie, daß Westberlin eine Großstadt ohne Umland war. 5. Lebenswichtige Einrichtungen, wie Bahn und Wasserstraßen, unterstanden der Verantwortung der DDR. Deren Regierung und der Senat von Westberlin mußten bei ihren politischen Entscheidungen von diesen Tatsachen ausgehen, auch im August 1961.

Der "Mauerbau" wurde nicht durch die DDR initiiert, aber die Konsequenzen für den Frieden wurden in Ost und West begrüßt. Franz-Josef Strauß, damals Bonner Verteidigungsminister, urteilte rückblickend: "Mit dem Mauerbau war die Krise, wenn auch für die Deutschen in unerfreulicher Weise, nicht nur aufgehoben, sondern eigentlich abgeschlossen."

Heinz Keßler, letzter DDR-Verteidigungsminister - Pfarrer Eppelmann kann hier wohl kaum mitgezählt werden - titelte das mit Fritz Streletz verfaßte Buch "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben". Damals galt Westberlin als "billigste Atombombe".

Welche Folgen ein militärischer Konflikt auf deutschem Boden gehabt hätte, wußten schließlich auch Brandt und Bahr, als sie von der Konfrontation zur Entspannung übergingen.

Wer kann heute noch Krokodilstränen über den Bau der Mauer vergießen, wenn man weiß, wovor sie die Deutschen und die Welt bewahrt hat? Aber der Frieden wurde dennoch immer aufs neue von Westberlin aus gefährdet, was auch den westlichen Alliierten der einstigen Antihitlerkoalition so nicht paßte.

Nach jahrlangen Verhandlungen, an denen die beiden deutschen Staaten nicht offiziell teilnahmen, wurde am 3. September 1971 von den Vertretern der einstigen Siegermächte das "Vierseitige Abkommen" unterzeichnet. Diese erklärten dazu: "Die vier Regierungen werden ihre individuellen und gemeinsamen Rechte und Verantwortlichkeiten, die unverändert bleiben, gegenseitig achten."

Durch dieses Abkommen wurde der Rechtsstatus Westberlins keineswegs endgültig und exakt geregelt. Das zeigen schon die schwammigen Formulierungen, die unterschiedliche Interpretationen in der Politik zuließen. Zwei vieldeutig ins Deutsche übersetzbare Begriffe fielen besonders ins Gewicht: Bestandteil und Verbindungen. Der "Kernsatz" lautete, Westberlin sei "wie bisher" kein Bestandteil der Bundesrepublik und dürfe auch weiterhin nicht von ihr regiert werden.

Im Originaltext heißt Bestandteil auf Russisch sostawnaja tschastj, im Englischen constituent part, auf Französisch element constitutif. Wichtig ist auch, wie swjasi, ties und liens ins Deutsche übersetzt werden, ob als Verbindungen (im Sinne von Verkehrswegen) oder Bindungen (im Sinne von politischen Abhängigkeiten).

Konflikte und Kraftproben waren vorprogrammiert. Entscheidend aber war die Versicherung des Abkommens, daß "ungeachtet der Unterschiede in den Rechtsauffassungen die Lage, die sich in diesem Gebiet entwickelt hat, nicht verändert wird".

Aufschlußreich wäre die Prüfung der Frage, ob sich "die Lage in diesem Gebiet" am 9. November 1989 mit dem Wegfall der "Mauer" veränderte und welche Folgerungen für die "vier Mächte" daraus erwuchsen. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht der DDR wie der UdSSR waren damals eklatant.

Die Beschränkung des Autors auf den rechtlichen Charakter der Grenze um Westberlin hat für den Leser einige Nachteile. Die Entwicklung in und um Westberlin besaß komplexen Charakter. Sie schloß politische, militärische, völkerrechtliche und ideologische Faktoren ein.

Wo sehe ich Ergänzungsbedarf? Klaus Emmerichs Polemik gegen die friedensgefährdenden Aktivitäten diverser "Dienste" von Westberlin aus müßte verstärkt werden. Deren Abwehr hat die DDR enorm viel Kraft gekostet. Die Auseinandersetzung mit jenen, welche den "Mauerbau" und dessen Konsequenzen abstrakt, also unhistorisch verteufeln, hätte den Lesern helfen können, sich gegen künftige ideologische Attacken der offiziellen BRD-Geschichtsschreibung zu immunisieren. Der historische Platz der DDR und der UdSSR bei der Friedenssicherung in Europa über vier Jahrzehnte hinweg müßte in der "Erinnerungsschlacht" eine überragende Rolle spielen.

Prof. Dr. Horst Schneider


Klaus Emmerich: Die Grenze um Westberlin 1945-1990. Eine staatsrechtliche Studie.
Books on Demand, 108 Seiten, ISBN 978-37322-0770-1

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Wie ein klassischer Renegat gegen einen Klassiker zu Felde zieht

Schütt contra Lenin

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Michael Bries furchtloser Kampf gegen Windmühlenflügel

"Bruch mit dem Leninismus als System"

Am 20. April 2013, mitten in der Krise, die schon länger andauert als jede der drei kapitalistischen Weltwirtschaftskrisen zuvor, hat Michael Brie auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Leipzig zum Thema "Der Bruch mit dem Leninismus als System. Sozialismus und Demokratie - eine historische Tragödie" gesprochen. Es handelt sich um Geschichtsklitterung übelster Art. Bei näherer Betrachtung findet man aber auch "Erhellendes". Denn offenherzig berichtet Brie gleich eingangs, er sei gebeten worden, über den "Bruch mit dem Stalinismus" zu sprechen, habe aber darauf bestanden, nunmehr dem Leninismus den Todesstoß zu versetzen: "Dies wäre 1989 innerhalb der damaligen Noch-SED und Noch-Nicht-Partei-des-Demokratischen-Sozialismus unmöglich gewesen. Noch war Lenin ganz anders als Stalin einer derer, auf die sich die Partei im Umbruch positiv bezog, neben Marx und Luxemburg, Bebel und den Liebknechts, Kautsky und Bernstein." Das ist einer der wenigen Sätze, denen man nicht widersprechen muß. Denn in dem am 17. Dezember 1989 beschlossenen Statut der SED/PDS - ein Programm gab es ja jahrelang nicht - hieß es noch: "Die Partei stützt sich auf die Traditionen und das theoretische Erbe der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Ihre Hauptwurzeln liegen in der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sowie auch in sozialistischen, antifaschistischen, pazifistischen und internationalen linken Traditionen, besonders denen Lenins. Theoretische Grundlage der Partei ist der Marxismus."

Die Rechten in PDS und Linkspartei betrachteten das schon damals lediglich als taktischen Schachzug, was jeder zu erkennen vermochte, der diese Worte an ihren Taten maß. Sie hatten bei ihrem Idol Gorbatschow gelernt, daß gelegentliche Verbeugungen vor Marx und Lenin durchaus nützlich sind, wenn man die Masse ehrlicher Parteimitglieder am Nasenring durch die Arena zu zerren beabsichtigt.

Nun hält Michael Brie es für dringend geboten, alle Hüllen fallen zu lassen und nicht nur mit Lenin, sondern zugleich auch mit Karl Marx und Rosa Luxemburg abzurechnen. "Eine sozialistische Demokratie ist nur möglich", betont er, "wenn auch der Sozialismus eine plurale Eigentumsgrundlage erhält. Lebensfähig kann er nur sein, wenn er nicht nur eine freie Assoziation der Individuen, sondern auch eine Assoziation von wirtschaftlichen Unternehmungen ist, die wirtschaftsdemokratisch kontrolliert werden." So weit - so gut, könnten harmlose Gemüter meinen. Doch dann folgt der Schlüsselsatz: "Es gibt deshalb kein Zurück zu Marx und Luxemburg, sondern nur ein Vorwärts zu einem Sozialismus oder auch Luxemburgismus 2.0."

Brie ist offenkundig angesichts der vielgestaltigen Marx-Renaissance unserer Tage zutiefst beunruhigt. Er reagiert auch darauf, daß im Bewußtsein breiterer Bevölkerungsschichten die schamlose Reduzierung der glühenden Revolutionärin Rosa Luxemburg auf "die Freiheit der Andersdenkenden" wenig eingebracht hat. Denn jeder, der einen Text Rosa Luxemburgs liest, nimmt wahr, mit welch übler Lauge hier Brunnenvergifter am Werke sind.

Ich verzichte darauf, all die Verleumdungen zu rekapitulieren, mit denen Brie - die bekannten "Argumente" professioneller Antikommunisten aneinanderreihend - Lenin als den eigentlich an der "Entartung des Sozialismus" Schuldigen diffamiert. Aufschlußreicher ist, wie er Lorenz von Stein zum verehrungswürdigen Begründer des "Sozialstaatsgedankens" hochstilisiert. Dieser Zeitgenosse von Karl Marx, den die bürgerliche Soziologie zu Recht als einen ihrer Ahnen feiert, war ein scharfsichtiger Analytiker der sich zuspitzenden "sozialen Frage" und der bereits mit dem utopischen Kommunismus heraufziehenden Gefahr. Doch er war Zeit seines Lebens ein entschiedener Verteidiger der "besitzenden Klassen". Brie führt aus: "Als frühe und dauerhafte intellektuelle Protagonisten standen sich der außerhalb von Spezialistenkreisen fast völlig vergessene Lorenz von Stein und Karl Marx gegenüber. Lorenz von Stein formulierte das Konzept der sozialen Demokratie, das er später unter dem Eindruck der niedergeschlagenen demokratischen Revolution von 1848/49 als Projekt eines 'sozialen Königtums' reartikulierte."

Friedrich Engels hat bereits 1845 klargestellt, daß der deutsche "absolute Sozialismus", der nicht zuletzt aus einer so "unsauberen Quelle" wie der des Herrn Stein schöpfe, erschrecklich arm sei: "Etwas 'Menschentum', wie man das Ding neuerlich tituliert, etwas 'Realisierung' dieses Menschentums oder vielmehr Ungetüms, etwas Weniges über das Eigentum aus Proudhon - dritte oder vierte Hand -, etwas Proletariatsjammer, Organisation der Arbeit, die Vereinsmisere zur Hebung der niederen Volksklassen, nebst einer grenzenlosen Unwissenheit über die politische Ökonomie und die wirkliche Gesellschaft -das ist die ganze Geschichte, die dazu durch die theoretische Unparteilichkeit, die 'absolute Ruhe des Gedankens' den letzten Tropfen Blut, die letzte Spur von Energie und Spannkraft verliert. Und mit dieser Langeweile will man Deutschland revolutionieren, das Proletariat in Bewegung setzen, die Massen denken und handeln machen?" (MEW, 2/608)

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Doch wir sollten nicht vergessen, daß Lorenz von Stein und seine Schüler durchaus auch Spuren im Denken und Handeln Otto von Bismarcks hinterlassen haben. Dieser Reaktionär, der wie Lorenz von Stein ein kluger Mann war, betonte, "sozialdemokratischer Verrücktheit" könne man nur Herr werden, wenn man gezielt etwas Dampf aus dem Kessel nehme. So war er nicht nur der Vater des Sozialistengesetzes, sondern auch der Begründer der Sozialversicherung.

In seinen "Gedanken und Erinnerungen" heißt es: "Die größere Besonnenheit der intelligenten Classen mag immerhin den materiellen Untergrund der Erhaltung des Besitzes haben; der andere des Strebens nach Erwerb ist nicht weniger berechtigt, aber für die Sicherheit und Fortbildung des Staates ist das Übergewicht derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere. ... Das begehrliche Element hat das auf die Dauer durchschlagende Übergewicht der größeren Masse.

Es ist im Interesse dieser Masse selbst zu wünschen, daß dieser Durchschlag ohne gefährliche Beschleunigung und ohne Zertrümmerung des Staatswesens erfolge. Geschieht das letztre dennoch, so wird der geschichtliche Kreislauf immer in verhältnismäßig kurzer Zeit zur Dictatur, zur Gewaltherrschaft, zum Absolutismus zurückführen, weil die Massen schließlich dem Ordnungsbedürfnis unterliegen, und wenn sie es a priori nicht erkennen, so sehn sie es infolge mannigfacher Argumente ad hominem schließlich immer wieder ein und erkaufen die Ordnung von Dictatur und Cäsarismus durch bereitwilliges Aufopfern auch des berechtigten und festzuhaltenden Maßes an Freiheit, das europäische staatliche Gesellschaften vertragen, ohne zu erkranken."

Nun hat sich Michael Brie in Leipzig allerdings nicht auf Bismarck berufen. Dabei hat dieser im Kern der Sache doch nichts anderes zum Ausdruck gebracht als unser Leninismus-Vertilger jetzt.

Prof. Dr. Götz Dieckmann

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Über platzende Blasen und wunde Zinsfüße

Rettungsschirme sind keine Rettungsanker

Es ist schon verblüffend, wie treffend und umfassend Karl Marx die Zusammenhänge der mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundenen Krisen nachgewiesen hat. Er schreibt im Abschnitt "Zinstragendes Kapital": "Wenn man die Umschlagszyklen betrachtet, worin sich die moderne Industrie bewegt: Zustand der Ruhe, wachsende Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krach, Stagnation, Zustand der Ruhe etc., so wird man finden, daß meist niedriger Stand der Zinsen den Perioden der Prosperität oder des Extraprofits entspricht. Der Zinsfuß erreicht seine äußerste Höhe während der Krisen, wo geborgt werden muß, um zu zahlen, was es auch koste."

Das geht so lange, bis die Banken nicht mehr können, dann muß man Rettungsschirme aufspannen. Auch die hohen Zinsen für die Überziehung der Girokonten können das Manko nicht ausgleichen. Marx verweist auf zwei Tendenzen zum Fallen des Zinssatzes. Erstens schreibt er: "Denn wie ein Volk fortschreitet in der Entwicklung des Reichtums, entsteht und wächst immer eine Klasse von Leuten, die durch die Arbeiten ihrer Vorfahren sich im Besitz von Fonds befinden, von deren bloßem Zins sie leben können. Diese beiden Klassen haben eine Tendenz, mit dem wachsenden Reichtum des Landes sich zu vermehren; denn die, die schon mit einem mittelmäßigen Kapital anfangen, bringen es leichter zu einem unabhängigen Vermögen, als die, die mit wenigem anfangen."

Die von der Merkel-Regierung beschlossene Erbschaftssteuersenkung, die angeblich zur Konjunkturbelebung erfolgt, wird dazu beitragen, daß diese Schicht der parasitär lebenden Reichen wächst und die Schere zwischen diesen und der zunehmend unter den Druck der Ausbeutung geratenen Bevölkerung weiter auseinanderklafft. Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß man mit "Geldzuführungen" an die reiche Oberschicht Investitionen fördert. Wie und wo man investieren kann, hängt ausschließlich vom übermächtigen Markt ab. Und wenn der Markt verstopft ist, wird jede "Geldzuwendung" verpraßt. Selbst der kleine Teil, der tatsächlich zur Förderung der Produktion eingesetzt wird, verstärkt die Überproduktionskrise. Mit solchen Maßnahmen erreicht man genau das Gegenteil dessen, was man eigentlich bezweckt.

Und zweitens schreibt Marx: "Die Entwicklung des Kreditsystems und die damit beständig wachsende, durch die Bankiers vermittelte Verfügung der Industriellen und Kaufleute über alle diese Geldersparnisse aller Klassen der Gesellschaft, und die fortschreitende Konzentration dieser Ersparnisse zu den Massen, worin sie als Geldkapital wirken können, muß ebenfalls auf den Zinsfuß drücken."

Mit anderen Worten: Die angelegten hohen Geldbeträge der Bevölkerung führen immer dann zum Sinken der Zinsen, wenn sie durch die Banken nicht weiter gewinnbringend 'untergebracht' werden können. Und das verhält sich in Krisenzeiten generell so.

Diese Zusammenhänge verursachen beim Verstehen der Sache oftmals Schwierigkeiten. In seinem Kapitel über den "tendenziellen Fall der Profitrate" verweist Marx ausdrücklich auf die Tatsache, daß in der Regel trotz sinkender Profitrate die Masse des Profits steigt. Und das ist das Geheimnis der Wirkung des Kreditsystems.

Sinkende Zinsen machen Kredite billiger. Die Produktions- und Bautätigkeit wird dadurch angekurbelt. Der Gewinn steigt, und dann kommt der Punkt, an dem die Produktion keinen Absatz mehr findet. Die Kredite können nicht zurückgezahlt werden. Die Blase platzt, alles andere ist uns noch gut bekannt. Nun ist der Rettungsschirm dran, die Bevölkerung zahlt.

Eines steht fest: Alle Regierungs- und EU-Bemühungen zur Zügelung des Bankund Finanzkapitals dürften mit Sicherheit dazu führen, daß die vorübergehend ausgesonderten 'faulen Kredite' bald wieder aktiviert und zur Ankurbelung der Produktion zur Verfügung stehen werden. Es erfolgen dann eine weitere Konzentration des Kapitals, die Bildung von Superkonzernen verbunden mit erneuten Arbeitsplatzstreichungen, Preissteigerungen und der Erzielung von Maximalprofiten.

Je stärker die Schwellenländer ihren Rückstand aufholen und je geringer die Kaufkraft der Bevölkerung entwickelt ist, desto mehr sind die Absatzmöglichkeiten der exportbezogenen kapitalistischen Mutterländer erschöpft. Dann kommt wieder der Punkt, wo die Blase platzt. Doch diesmal geschieht das mit mehr Wucht und noch negativeren Auswirkungen auf die Bevölkerung. Das ist die unausweichliche, von Marx nachgewiesene Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, an der niemand etwas zu ändern vermag. Die einzige Alternative zu dieser trostlosen Perspektive für die einfachen Menschen ist der Sozialismus von internationaler Dimension. Nur er kann und wird die Losung der bürgerlichen Revolution in Frankreich, die gleichzeitig die Sehnsucht fast der ganzen Erdbevölkerung ist - "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" - tatsächlich verwirklichen können. Allein der Sozialismus schafft die politisch-ökonomischen Bedingungen zur Aufhebung der genannten Widersprüche.

Dr. oec. Werner Kulitzscher

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Das Anrüchige an der Riester-Rente

Das gesetzliche Sozialsystem, insbesondere die Rentenversicherung, steht seit der "Erfindung" des Neoliberalismus im Trommelfeuer von "Reformbemühungen" bundesdeutscher Regierungen. Dafür bedienen sich dessen Wortführer im wesentlichen zweier Rechtfertigungsstrategien: Die eine beruft sich auf den außer Kontrolle geratenden "demographischen Faktor". Von den Verfechtern der anderen wird suggeriert, der Erhalt des Sozialstaates in seiner bisherigen Form sei zu teuer. Die zunehmende Akkumulation auf Grund wachsender Produktivität zur Verfügung stehender Mittel führt diese Behauptungen jedoch ad absurdum. Dennoch geht die soziale Demontage weiter.

Im Zuge der Rentenreform 2001 wurde die sogenannte Riester-Rente eingeführt. Sie ist neben Kapitallebensversicherungen und privaten Rentenversicherungen eine staatlich gestützte pr ivate "Altersvorsorge". Ursprünglich sollte sie die "Rentenlücke", die durch Absenkung des Nettorentenniveaus von 70 % (2001) auf 43 % (2030) entsteht, schließen. Rund 15,4 Millionen BRD-Bürger haben inzwischen den Vertrag über eine Riester-Rente abgeschlossen. Sie kostete die Steuerzahler bis Juni 2012 insgesamt 8,7 Mrd. Euro. Bis 2015 werden weitere 17,3 Mrd. Euro fällig. Diese enormen, der Finanzindustrie zufließenden Summen entzieht man der gesetzlichen Rentenversicherung.

Ende vergangenen Jahres nahm die "Berliner Zeitung" unter der Schlagzeile "Abzocke bei der Altersversorgung" diesen Bereich der Profiterwirtschaftung genauer unter die Lupe. Demnach gehen Bürgern, die sich auf private Altersvorsorgeverträge mit "Finanz- und Versicherungsdienstleistern" eingelassen haben, infolge falscher oder schlechter Beratung jährlich bis zu 17 Mrd. Euro verloren. Insbesondere wurden geprellte Kunden nicht oder nicht ausreichend über Risiken, Ertragsaussichten, Zinssätze und Gebühren aufgeklärt. Allein im Bereich der Kapitallebensversicherungen und privaten Rentenversicherungen entstehen ihnen Verluste in Höhe von jährlich 16 Mrd. Euro, weil sie ihre Verträge vorzeitig kündigen oder kündigen müssen.

Der Bamberger Finanzwissenschaftler Andreas Oehler führt dies auf irritierende und lückenhafte Verbraucherberatung bei Vertragsabschluß zurück. Außerdem belasten hohe Kosten für Vertrieb, Provision und Verwaltung die Rendite. Die Kündigungsquote bei Alterssicherungsverträgen mit Laufzeiten von 20 bis 30 Jahren liegt zwischen 55 und 75 %.

Selbst oder auch gerade Riester-Rentenverträge weisen häufig gravierende Mängel wie zu hohe Abschlußkosten und Gebühren oder ein kompliziertes Zulageverfahren auf. Bei mehr als 5000 "Riester-Produkten" hat niemand mehr eine Übersicht, welche davon für die "Kunden" gut oder schlecht sind. Durch die Defizite der Riester-Verträge entstehen jährlich Schäden von etwa einer Milliarde Euro. Der Gesamtverlust für die deutschen Verbraucher soll sich auf 50 Mrd. Euro jährlich belaufen. Nicole Maisch von den Grünen stellte deshalb fest: "Die kalkulierten Schäden für die Sparer sind immens, weil Schwarz-Gelb weiter interessengeleitete Geschenke an die Finanzbranche verteilt und vor einer effizienten, verbraucherorientierten Regulierung aller Produkte zurückschreckt." Sicherlich hat sie mit ihrer Beurteilung recht. Sie schießt jedoch insofern ein Eigentor, als ja die Grünen in gemeinsamer Regierungsverantwortung mit Schröders SPD seinerzeit die Riester-Rente als neue, staatlich subventionierte Profitquelle für die Versicherungs- und Finanzbranche erfunden haben.

Es gibt jedoch noch eine zweite verheerende Seite der Medaille: Private Altersvorsorgen basieren auf dem Kapitaldeckungsprinzip. Mit anderen Worten: Sie sind den Risiken des Kapitalmarktes ausgesetzt, weil das angesparte Geld der Kunden in den Finanz- und Kapitalkreislauf investiert wird. Insbesondere während der Weltfinanzkrise 2007 bis 2009 wurde deutlich, daß solche privaten "Altersvorsorgeprodukte" untergehen und zum Totalverlust für die Sparer führen können. In den USA haben Hunderttausende Menschen ihre für das Alter bei Banken, Versicherungskonzernen, Hedgefonds oder Pensionsfonds angelegten Gelder ganz oder teilweise eingebüßt. Aber auch deutsche Produkte dieser Art sind - wie bei der Postbank - "baden gegangen". Deren Altersvorsorgekonto geriet in den Strudel, den stark fallende Aktienkurse und gesunkene Kapitalmarktzinsen erzeugt hatten - ähnlich wie manche Riester-Fondssparpläne. Der Untergang der US-Bank Lehman Brothers im September 2008 betraf auch deutsche Kunden, die diesbezüglich eine solide Geldanlage gesucht hatten.

Private "Altersvorsorge" in den Händen der Versicherungs- und Finanzkonzerne mit oder ohne staatliche Subventionierung ist demnach kein sicheres Polster für ein geruhsames Seniorendasein, haben doch die Versicherer ausschließlich den Profit, nicht aber die Interessen der Sparer im Auge.

Staatlich subventionierte private Rentenversicherungsformen sind weder Ersatz noch Alternative zur gesetzlichen Rentenversicherung. Diese ist eine auf dem "Generationenvertrag" basierende Sozialversicherung, die nach dem Umlageverfahren funktioniert. Die eingezahlten Beiträge werden unmittelbar zur Rentenfinanzierung herangezogen, wodurch das System den Markt- und Spekulationsrisiken weniger ausgesetzt ist.

Die Merkel-Regierung hat aus der Finanzkrise nichts gelernt. Im Juni 2012 sorgte sie für das Gesetz zur "Neuausrichtung der Pflegeversicherung" - ein weiteres staatlich subventioniertes Geschäftsfeld. Danach erhalten gesetzlich Pflegeversicherte eine jährliche Zulage von 60 Euro, wenn sie überdies auch noch eine freiwillige private Pflege-Zusatzversicherung abschließen. Der Mindestbeitrag soll 120 Euro im Monat betragen. Die Regierung stellte zur Förderung dieses Projekts für 2013 etwa 90 Millionen Euro bereit. Die Gelder wären freilich segensreicher zur Verbesserung der Pflegesituation einzusetzen. Arbeitsministerin von der Leyen (CDU) hat mit der von ihr angestoßenen Zuschußrente ähnliches vor, was wie Gnadenbrot auf dem Ponyhof klingt.

Die Stärkung der staatlichen Rentenversicherung, in die jeder einzahlen kann und muß, ist deshalb von großer Bedeutung. Die Aushöhlung dieses gesetzlichen Systems bei gleichzeitiger Absenkung der Renten in den Jahren 2001 und 2007 ist unbedingt rückgängig zu machen, um den schleichenden Prozeß zu größerer Altersarmut aufzuhalten.

Dr. Ulrich Sommerfeld, Berlin

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Als mich der Kommandant ins Loch setzte

Aus britischer Kriegsgefangenschaft nach Bad Pyrmont entlassen, war ich zunächst einige Monate als Landarbeiter bei einem Bauern tätig gewesen, als mich meine Eltern zu Jahresbeginn 1946 in das heimatliche Lübtheen zurückzukehren baten. Nach Erkundung möglicher Zugverbindungen in die SBZ - von verläßlichen Fahrplänen konnte damals noch keine Rede sein - spannte "mein" Bauer seine mir durch die Arbeit mit ihnen liebgewordenen Braunen an und brachte mich zum nächsten Bahnhof. Über Hannover und die Zonengrenze ging es zunächst nach Magdeburg. Ein Jahr nach meiner Flucht vor den "Russen" war ich nun also wieder bei ihnen angekommen - mit ängstlichem Gesicht und fragenden Blicken. Als Nachtquartier diente uns Reisenden der Bahnsteig, denn erst am nächsten Morgen sollte der heißersehnte Zug nach Ludwigslust bereitgestellt werden.

Bei der etwa fünfstündigen Fahrt auf der nur 150 km langen Strecke lagen die Leute auf den Dächern, krallten sich an den Türen fest oder standen auf den Einstiegstreppen der Waggons. Einige Kilometer vor der Einfahrt in den Zielbahnhof brach eine Achse des letzten Wagens. Obwohl dieser aus dem Gleis sprang, kam glücklicherweise niemand zu Schaden.

Von Hagenow brachte mich dann tatsächlich ein Zubringerbus der Fa. Schmidt & Laue wie eh und je nach Lübtheen - allerdings fuhr er jetzt mit Holzgas. Je näher wir meinem Heimatort kamen, um so aufgeregter wurde ich. Am Haltepunkt sagte uns der Busfahrer: "Paßt schön auf Euch auf, und lauft den Russen ja nicht in die Arme." Was für ein tolles Willkommen in der Heimat!

Mich durchschoß der Gedanke: Ob die wohl wissen, daß ich mal Hitlerjunge war? Alte Befürchtungen, die ich schon im Internierungslager gehabt hatte, kamen wieder hoch.

Doch zunächst überwog die Freude auf das Wiedersehen mit der Familie und Schulkameraden, die vielleicht überlebt hatten. Wie auf der Pirsch ging ich langsam und mit sichernden Blicken durch Lübtheen. Dabei mußte ich das einstige Volkshaus passieren, wo früher Filme gezeigt wurden. Aus geringer Entfernung sah ich, wie plötzlich die großen Türen aufgingen und eine Menschentraube in grauen Mänteln und Pelzmützen - das mir bald vertraute Wort Schapka kannte ich noch nicht - herausquoll. Die Männer bedienten sich gestenreich einer mir fremden Sprache.

Es handelte sich um eine Kompanie der Roten Armee. Wie versteinert blieb ich hinter einem Baum stehen. Das waren sie also - die "Russen" -, denen man alles erdenklich Schlechte nachsagte und die ich - trotz meiner reinen Weste, denn ich hatte nicht einen einzigen Schuß auf Menschen in Kriegszeiten abgegeben - so sehr fürchtete. Ich vernahm ein lautes Kommando, das Knäuel formierte sich und marschierte laut singend davon.

Bald danach schlossen mich meine Eltern in ihre Arme. Als ich ihnen von dem gerade Erlebten berichtete, konnten sie nur lachen.

Ein Jahr darauf hatte ich sehr viel direkteren "Kontakt" mit der Sowjetarmee, der weniger lustig war. Man sperrte mich kurzerhand ein. Ich war damals bei einer Transportgemeinschaft (ATG) tätig und wurde der vermeintlichen Nichtbefolgung eines Befehls im Rahmen meiner beruflichen Aufgaben beschuldigt. Eines Tages holten mich zwei Soldaten mit umgehängter MPI im Betrieb ab und befahlen mir mitzukommen. Im Lübtheener Amtsgerichtsgefängnis bezog ich eine der drei dortigen Zellen - ausgerechnet jene, in der auch mein Vater 1932 als Streikführer und Organisator einer Erwerbslosendemonstration gesessen hatte.

Als mich der Towarischtsch Kommandant ins Loch setzte, war ich bereits einige Monate SED-Genosse und lokaler FDJ-Gründer, was der Hauptmann indes nicht wissen konnte. Die Lübtheener Parteigruppe erfuhr sehr bald, wo ich mich befand. Der Parteisekretär und mein Vater, KPD-Mitglied seit 1923 und jetzt im örtlichen SED-Vorstand, versuchten mich freizubekommen. Da das nicht klappte, verständigten sie den gerade im Kreis anwesenden legendären Landtagsabgeordneten Bernhard Quandt. Dieser begab sich unverzüglich zu "meinem Kapitan", und nach einer Stunde war ich frei. Wie sich herausstellte, hatte die Arretierung auf einem Übersetzungsfehler beruht.

Zurückdenkend könnte ich meine zweite Begegnung mit der Sowjetarmee auch mit den Worten: "Als Genosse bei den Freunden im Knast zu Gast" überschreiben. Oft habe ich diese Begebenheit erzählt und damit stets Heiterkeit ausgelöst, obwohl mir zum Zeitpunkt des Geschehens gar nicht so heiter zumute war.

Harry Machals

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"RotFuchs"-Wegbereiter (3): Harry Machals

Am 26. August wird unser in Rostock lebender Genosse Harry Machals - ein erprobter und marxistisch gebildeter proletarischer Kämpfer - 85 Jahre alt. Mit unserer Gratulation ist der Dank für seine von Einfallsreichtum und hoher Einsatzbereitschaft geprägte langjährige Tätigkeit als Begründer und Vorsitzender der RF-Regionalgruppe Rostock verbunden - eine Funktion, die er inzwischen in jüngere, nicht minder verläßliche Hände gegeben hat. Schon im März 1946 FDJler, trat Harry im Januar 1947 der SED bei, deren Parteihochschule ihm später nach mehrjährigem Studium das Diplom eines Gesellschaftswissenschaftlers verlieh. Mehr als acht Jahre arbeitete Harry anschließend in der Gewerkschaftsabteilung des ZK der Partei.

Aus der 1952 geschlossenen Ehe mit seiner gleichgesinnten und politisch aktiven Lebenspartnerin gingen fünf Kinder hervor.

Aus Berlin nach Rostock zurückgekehrt, wandte sich Harry fortan vor allem Fragen der Kunst, Literatur und marxistischen Ästhetik zu.

Von 1976 bis Oktober 1990 war er Direktor des Veranstaltungsdienstes Rostock, der bei solchen Großveranstaltungen wie der Ostseewoche, den Rostocker Sommerfesttagen und den Musikantentreffs Ostsee den Hut auf hatte.

"Ende einer Ära im Rostocker Kulturleben", überschrieb die Ostsee-Zeitung am 6./7. Oktober 1990 ihren Beitrag, der Harrys Ausscheiden vermeldete.

Nach der Konterrevolution, der er sich nicht beugte, gewann Harry Machals - bis 1992 in der PDS organisiert und heute Gastmitglied der Kommunistischen Plattform dieser Partei - bewährte Rostocker Kommunisten und Sozialisten wie Werner Beetz, Gerhard Giese, Manfred Manteuffel und Dr. Gerhard Peine für das "RotFuchs"-Projekt. Nach nur dreijährigem Bestehen konnte sich die RF-Regionalgruppe bereits auf 36 Mitglieder des Fördervereins und 185 ständige Bezieher der Zeitschrift stützen. Inzwischen sind es weit mehr. Harry leistete überdies einen großen Beitrag zum Entstehen weiterer Regionalgruppen in nordwestlichen und nordöstlichen Kreisen und Städten des Landes M-V.

Unser nicht immer pflegeleichter, doch in der Sache schwergewichtiger Harry wird nun also 85. Das ist ein Grund, diesen erfahrenen und standhaften Kampfgefährten, bewährten RF-Wegbereiter und liebenswerten Menschen herzlich in die Arme zu schließen.

RF

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Wie der Münchener Bäcker Gustl Sandtner zum proletarischen Kämpfer wurde

Mit der Lokomotive in die Revolution

Ende 1917 wurde der Matrose Augustin Sandtner vom Schlachtschiff "Seydlitz" auf das kleinere Linienschiff "Prinzregent Luitpold" versetzt. Dort sollte er den Dienst als Pantrygast und Offiziersbursche versehen. Der Grund für den Wechsel bestand offensichtlich darin, daß man ihn in dieser Funktion besser überwachen und kontrollieren konnte. Denn der 24jährige hatte auf der "Seydlitz" begonnen, unter seinen Kameraden politisch zu agitieren und illegale Treffen zu organisieren. Doch auch auf dem neuen Schiff ließ er sich weder von Vorgesetzten noch von Spitzeln davon abhalten, Antikriegsschriften zu verteilen, die er sicher unter Matratzen in Offizierskammern versteckte. Mit diesem Material versorgten ihn Genossen der Spartakusgruppe, denen er sich angeschlossen hatte. Damit begann zugleich sein Leben als Revolutionär.

Geboren wurde Gustl, wie ihn Genossen und Freunde nannten, am 8. August 1893 in München. Seine Eltern verdienten als Marmorschleifer und Waschfrau ihr Geld, was so wenig war, daß der Sohn schon als Schulkind zum Einkommen der Familie beitragen mußte, indem er Brötchen und Milch zu den Reichen brachte. Direkte kapitalistische Ausbeutung lernte er als Bäckerlehrling mit zwölf- bis vierzehnstündiger Arbeitszeit kennen. Deshalb trat er mit 18 dem Verband der Bäcker und Konditoren bei.

Nach kurzer Wanderschaft holte ihn die Kriegsmarine zum Wehrdienst. Das Meer gefiel ihm so gut, daß er danach bei der Handelsmarine anheuerte, wo ihm Fernfahrten nach China, Japan und den USA vergönnt waren. Der Erste Weltkrieg brachte ihn 1914 wieder zur Flotte des Kaisers.

Am 7. November 1918 machten die Matrosen in Kiel Schluß mit dem Gemetzel. Die Revolution gegen Monarchie und Kapitalismus nahm ihren Anfang und breitete sich in Windeseile aus. Gustl war vom ersten Tag an als Mitglied des Matrosenrats aktiv dabei. Doch bald entschloß er sich, mit einigen Kameraden in seine Heimatstadt zu gehen, um dort die revolutionäre Entwicklung zu unterstützen. Es wird berichtet, daß die Matrosen unterwegs eine Lokomotive kaperten, sie mit roten Fahnen bestückten und so in der bayerischen Hauptstadt einfuhren. Schnell fand er Anschluß an die dortige Spartakusgruppe, wurde Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat und gehörte Anfang 1919 zu den ersten Kommunisten in Bayern.

Nachdem am 13. April 1919 die Münchener Arbeiter und Soldaten ihre Räterepublik ausgerufen hatten und revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft begannen, setzte die SPD-Reichsregierung unter Friedrich Ebert und Gustav Noske ihren Repressionsapparat aus Freikorps und Reichswehrtruppen in Marsch, um den Volksaufstand in der bayerischen Landeshauptstadt im Blut zu ersticken. Die dortige Rote Armee, in die sich Gustl Sandtner ohne zu zögern eingereiht hatte, wehrte sich tapfer, unterlag aber der Übermacht. Die Konterrevolution wütete unbarmherzig. Sie brachte Hunderte Kämpfer der Räterepublik, aber auch völlig Unbeteiligte bestialisch um. So wurde neben vielen anderen auch Gustl Sandtner vor ein Standgericht gestellt und zum Tode durch Erschießen verurteilt. Er kam mit dem Leben davon, weil ihn die Konterrevolutionäre mit einem anderen Genossen verwechselten, der an seiner Stelle sterben mußte.

Nach sieben Monaten Kerkerhaft fand Gustl Arbeit in den Bayerischen Motorenwerken, wo er bald zum Vorsitzenden des Arbeiterrates gewählt wurde. Zugleich war er Mitglied der Bezirksleitung Südbayern der KPD. Es gehörte zu seinen Aufgaben, Betriebszellen der Partei zu schaffen und politische Arbeit auf dem Lande zu leisten. Als dann im März 1921 die Berliner SPD-Regierung ihre Bürgerkriegstruppen auch gegen den Arbeiteraufstand im mitteldeutschen Industriegebiet in Marsch setzte und die bayerische Regierung dorthin Unterstützungskräfte schicken wollte, organisierte Gustl Solidaritätsaktionen für die Klassenbrüder in Mansfeld und Leuna. Vor allem sabotierten er und seine Genossen die Truppentransporte in Richtung Norden. Dafür verurteilte ihn die bürgerliche Klassenjustiz zu dreieinhalb Jahren Festungshaft.

Ins zivile Leben zurückgekehrt, folgte Gustl Sandtner dem Ruf der Partei nach Berlin. Zuerst waren der rote Wedding und der Arbeiterbezirk Moabit seine politischen Wirkungsstätten, bis er nach einer Veränderung der kommunalen Verwaltungsstruktur der Reichshauptstadt die politische Führung des KPD-Unterbezirks Nord im Bezirk Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark übernahm. In seiner letzten Funktion vor der Machtübernahme durch die Nazis leitete er ab Februar 1932 als Politischer Sekretär den Bezirk Schlesien.

Auch seine Frau Johanna Sandtner war politisch sehr aktiv. Sie gehörte der KPD-Reichstagsfraktion an und wurde überdies 1929 in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Kurz nach seiner Teilnahme an der illegalen Tagung des ZK der KPD am 7. Februar 1933 in Ziegenhals wurde Gustl durch die Faschisten verhaftet. Mehrere Jahre verbrachte er in einem schlesischen Zuchthaus, bis man ihn am 11. November 1936 in das KZ Sachsenhausen überstellte. Bald gehörte er dort zur illegalen Leitung der deutschen politischen Häftlinge, welche die Widerstandsarbeit organisierte.

So berichtete Fritz Reuter, in der DDR u. a. Mitglied des ZK der SED und stellvertretender Vorsitzender des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, daß ihm Gustl Sandtner sehr geholfen habe, aus dem KZ zu entkommen. Eine wichtige politisch-ideologische Arbeit für die Zukunft leisteten Ernst Schneller, Matthias Thesen, Gustl Sandtner und andere Genossen, als sie im Frühjahr 1944 ein umfassendes Dokument über die Aufgaben der Partei und deren Beziehungen zum Nationalkomitee "Freies Deutschland" erarbeiteten, das sie der illegalen KPD-Organisation in Deutschland übermittelten.

Im Sommer 1944 verhaftete die Lager-SS eine große Zahl politischer Häftlinge. Mehrere brachte sie in andere KZ, so nach Mauthausen, 24 deutsche und drei französische Kämpfer aber erschoß sie am 11. Oktober im sogenannten Industriehof, darunter Ernst Schneller, Matthias Thesen und Gustl Sandtner. Johanna Sandtner gelang die Flucht nach Österreich. Dort schloß sie sich der KPÖ und dem Widerstand an, wofür sie viele Monate lang eingekerkert wurde. Aber sie überlebte den Faschismus.

Günter Freyer

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Dialog mit einem Urgroßvater: Erinnern an J. K.

Im September 2014 wäre J. K., wie er sich selbst gerne nannte, 110 Jahre alt geworden. Doch am 6. August vor 16 Jahren starb der am 17.9.1904 Geborene.

Wer war dieser Mann, dessen Name fast jedem politisch Interessierten schon irgendwo begegnet ist? Erstens war er ein Vollblutwissenschaftler, der in den 40 Bänden seiner Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus nicht nur die soziale Entwicklung in verschiedenen Ländern und Zeiten untersuchte. Mehr als das: Er stellte den Zusammenhang zwischen sozialer Lage, politischen Bedingungen, kulturellen Zuständen und der Widerspiegelung all dessen in Kunst, Literatur und Philosophie her. So verfaßte er literatur- und kunstgeschichtliche Essays, welche selbst Fachleute verblüfften.

Da die englischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo den Hauptanteil an der Entstehung der wissenschaftlichen politischen Ökonomie hatten, beschäftigte sich J. K. besonders auch mit der britischen Literatur dieser Zeit. Dabei steht Shakespeare mit seinen Königsdramen und dem "Kaufmann von Venedig" im Mittelpunkt. J. K. ergründete aber auch Defoe, Swift und andere. Arbeiten über Dürrenmatt, Theodor Fontane und Heinrich Böll vervollständigten das Bild. Ein derart breites Spektrum außer dem eigentlichen Hauptarbeitsgebiet findet man wohl bei keinem anderen Wirtschaftshistoriker oder Ökonomen. Es geht in der Tat um die universale Gelehrsamkeit des J. K.

Seinem Hauptwerk fügte er noch zehn Bände Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften und fünf Bände einer Geschichte des Alltags des deutschen Volkes hinzu. Seine Publikationsliste umfaßte insgesamt 3150 Titel.

An der Berliner Humboldt-Universität übernahm J. K. 1946 den Lehrstuhl für Politische Ökonomie, während er an der Akademie der Wissenschaften das Institut für Wirtschaftsgeschichte - das international größte seiner Art - gründete.

Als Hochschullehrer wurde er zum Vorbild für mehrere Studentengenerationen. Als Institutsdirektor an der Akademie führte er ein Forscherkollektiv zu international beachteten Höchstleistungen und brachte Doktoranden unkonventionelles wissenschaftliches Denken bei. Diese Art des Herangehens beruhte auf dem von seinem Elternhaus geförderten systematischen Studium des Marxismus. Ein Jahr nach der Promotion schrieb er 1926 sein erstes Buch "Zurück zu Marx". Die seitdem erfolgte ständige Vertiefung seines marxistischen Wissens, in die dann selbstverständlich auch Lenin einbezogen wurde, war die Grundlage des gesamten Wirkens von J. K.

Sein Verständnis des Marxismus beinhaltete natürlich auch durchaus undogmatisches Denken und Formulieren. Daraus folgte, daß er wiederholt mit verschiedenen Theoremen damaliger Wissenschaftspolitik in Konflikt geriet. So wandte er sich gegen die seinerzeit in der Sowjetunion wie in der DDR herrschende These, daß Soziologie nur bürgerliche Apologetik und Pseudowissenschaft sei. Er forderte die Entwicklung einer eigenen marxistischen Soziologie und förderte so die längst nicht mehr umstrittene marxistische soziologische Forschung.

Als im Rahmen der Akademiereform sein Institut aufgelöst und dem Institut für Geschichte eingegliedert werden sollte, begab er sich zum Generalsekretär der Partei, erwirkte die Korrektur dieser Festlegung und erhielt damit die Selbständigkeit seines Forschungskollektivs. Solche Widersprüche und Auseinandersetzungen veranlaßten ihn jedoch nicht dazu, der DDR wie Hans Mayer oder Ernst Bloch den Rücken zu kehren. Er empfand sie bis zuletzt als seinen Staat, dessen Interessen er trotz aller Widersprüchlichkeiten voll vertrat. Dies wird in seinem "Dialog mit meinem Urenkel" (1983), der innerhalb und außerhalb der DDR große Aufmerksamkeit erfuhr, besonders deutlich.

Konsequentes marxistisches Denken schließt jedoch auch politisches Handeln ein. Schon die Wahl des Hauptthemas seiner Forschungsarbeit "Lage der Arbeiter im Kapitalismus" zeugt von der engen Beziehung des Wissenschaftlers zur Arbeiterbewegung. 1930 wurde er Mitglied der KPD, sammelte Wirtschaftsdaten und stellte seine Analysen der Reichsleitung der Partei zur Verfügung. J. K. wurde Wirtschaftsredakteur der "Roten Fahne" und veröffentlichte seine Beiträge in vielen linken Publikationen. Bis 1936 arbeitete er noch in Deutschland, zeitweilig auch illegal. Als er dann mit dem Einverständnis der Partei und der Hilfe seiner Eltern nach England emigrierte, setzte er dort sowohl seine wissenschaftliche als auch seine politische Arbeit fort. In Organen der Partei und antifaschistischen Organisationen nahm er weiter am Kampf teil.

J. K. war Kommunist und der Sache der Arbeiterklasse sowohl in Zeiten des Sieges als auch der Niederlagen in unverbrüchlicher Treue verbunden. Seine Aktivitäten gegen Nazi-Deutschland verdienen höchste Anerkennung. So war Jürgen Kuczynski eine herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte, die auch weiterhin in besonderem Maße öffentliche Wahrnehmung und ehrendes Gedenken verdient.

Prof. Dr. Herbert Meißner

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Blauhemden, die manche rot sehen lassen

Am 16. Juni kam es vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit zu einem Tumult. Zwei junge Männer schickten sich an, das Gebäude zu betreten. Sie wurden von mehreren Justizbeamten aufgefordert, ihre blauen Hemden mit dem Symbol der DDR-FDJ auszuziehen. Als sie sich weigerten, wurden sie niedergerungen. Erst mit Verspätung konnten sie an dem gegen sie geführten Prozeß teilnehmen.

Zum Sachverhalt: Die beiden jungen Leute hatten am 13. August 2012 an der sogenannten Berliner Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen. "Erst DDR kassieren - Heute Europa diktieren - Morgen gegen die Welt marschieren" stand auf ihrem Transparent. Dabei trugen sie ebenfalls ihr Blauhemd.

In letzter Zeit wird der Schrei nach dem Verbot von DDR-Symbolen immer lauter. So klagte die Berliner Staatsanwaltschaft die beiden wegen des "Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" an.

Die Verfassungswidrigkeit der DDR-FDJ wurde indes nie festgestellt. Dennoch stützte man sich auf den § 86a StGB, der das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und deren öffentliches Tragen untersagt. Diese Norm fand bisher überwiegend beim Zeigen von Nazisymbolen Anwendung.

Die Staatsanwaltschaft geht mit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 1954 hausieren. Damals wurde die "Freie Deutsche Jugend in Westdeutschland" wegen angeblicher Verfassungswidrigkeit ihrer Zielsetzung verboten.

In einem Brief des Ministeriums des Innern (Geschäftsnummer IS 1-619 311/3) vom 11. Juli 1991 an den damaligen FDJ-Bundesvorsitzenden Jens Rücker heißt es: "Die Aussagen der Urteilsbegründung belegen nach hier vertretener Ansicht, daß das Verbot nur die FDJ in Westdeutschland als selbständige Teilvereinigung betrifft.

Die FDJ in der ehemaligen DDR ist vom Urteil nicht erfaßt, die Verfassungswidrigkeit ihrer Zielsetzung war nicht Streitgegenstand ... Die FDJ der DDR ist auch keine Nachfolge- oder Ersatzorganisation der FDJ in Westdeutschland (§§ 8.20 Vereinsgesetz) ... Die von Ihnen geleitete fdj ist daher vom Verbot aus dem Jahre 1954 nicht betroffen ... Daher ist das Tragen von Kennzeichen der verbotenen 'FDJ in Westdeutschland strafbar'".

Umkehrschluß: Das Tragen von Symbolen der DDR-FDJ ist nicht strafbar.

Die beiden jungen Männer hatten demnach das Hemd einer Organisation an, die weder verboten noch als verfassungswidrig eingestuft worden ist.

Wilfried Steinfath, Berlin

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Ruth Werners Facetten

Im Frühjahr 2012 wurde des 105. Geburtstages von Ruth Werner gedacht. Als Ursula Kuczynski geboren, war sie in erster Ehe mit dem Architekten Rudolf Hamburger verheiratet. Ruth Werner diente der Schriftstellerin als Pseudonym. Eigentlich hieß sie - in zweiter Ehe mit dem britischen Kommunisten Len Burton verheiratet - bis zu ihrem Tod am 7. Juli 2000 Ursula Burton. Diese Frau hatte nicht nur verschiedene Namen, sondern auch viele Facetten.

Da ist die aufrechte, standhafte Kommunistin und Internationalistin - mit 17 im KJVD wurde sie 1926 Mitglied der KPD. Wenig später begründete sie die Marxistische Arbeiterbibliothek Berlin und wurde bald deren Leiterin. Sie schrieb auch für die "Rote Fahne" der Thälmannschen KPD. Nach 20 Jahren im Ausland übersiedelte sie 1950 in die DDR und wurde Mitglied der SED. Ab 1989/90 gehörte sie der PDS und deren Ältestenrat an.

Da ist die verdienstvolle Kundschafterin mit dem Decknamen "Sonja", die 1930 in China Richard Sorge kennenlernte, der sie für den militärischen Nachrichtendienst GRU anwarb und Informationen für die Sowjetunion sammeln ließ. Später war sie als Funkerin in Polen und der Schweiz für die "Rote Kapelle" tätig, schließlich von 1941 bis 1950 als Kurier des "Atomspions" Klaus Fuchs in Großbritannien aktiv. Sie wurde nie entdeckt, nie verraten, nie entschlüsselt und überstand auch alle Säuberungsaktionen in der Stalinschen UdSSR.

Anders als Klaus Fuchs entging sie durch rechtzeitige Warnung und Flucht in die DDR der Verhaftung und Verurteilung. Bei ihrem freiwilligen Ausscheiden aus dem Militärgeheimdienst war sie Oberst.

In der Autobiographie des einst führenden britischen Abwehrmannes Peter Wright "Spy Catcher" (Spionfänger), die 1987 erschien, heißt es: "Sie war eine der besten, die der russische Geheimdienst jemals hatte. Sie baute hochentwickelte Spionageringe auf, die besten, die die Geschichte jemals kannte und die einen enormen Beitrag zum Überleben der Russen und dem Sieg im Zweiten Weltkrieg geleistet haben."

Tatsächlich war Ruth Werner im Laufe ihrer Tätigkeit nacheinander an gleich drei Brennpunkten der Aufklärung - mit Richard Sorge in China, mit Sandor Rado in der Schweiz und mit Klaus Fuchs in England - vor Ort. Es ist außergewöhnlich, daß sie nicht bereits nach einem dieser Einsätze als "verbrannt" galt und zurückgeholt wurde.

Ruth Werner betrachtete sich als Angehörige der Roten Armee. Die von ihrer historischen Mission erfüllte "Agentin der Weltrevolution" war von einem heute nur noch schwer vermittelbaren Selbstverständnis geprägt - bescheiden bis zur Selbstverleugnung als Kämpferin an der unsichtbaren Front und zugleich anspruchsvoll, im Dienst der Partei tätig zu sein, deren Schweigegebot sie sich bedingungslos unterwarf. Erst ab Mitte der 60er Jahre wurden Kundschafter, beginnend mit der Rehabilitierung ihres Kampfgefährten Richard Sorge, als Helden gefeiert. Sie selbst hat mal von sich gesagt: "Niemand wird von mir verlangen, daß ich mich als Held betrachte, das wäre ja geradezu dumm. Der Kampf gegen Faschismus und Krieg war für uns selbstverständlich, damals schloß er Illegalität und Gefahr mit ein. Das war der Alltag für uns." (zitiert nach Eberhard Panitz)

Da ist die populäre Schriftstellerin - ausgebildet als Buchhändlerin, seit 1959 mit vielen Titeln und hohen Auflagen erfolgreich, ab 1977 auch mit ihrem autobiographischen Bericht "Sonjas Rapport". Das Buch schlug wie eine Bombe ein und wurde über Nacht - bald in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt - zum Bestseller.

Da ist die vielfach Geehrte, 1937 und 1969 mit dem Rotbannerorden der UdSSR ausgezeichnet. Sie erhielt den Karl-Marx-Orden der DDR, den Nationalpreis 1. Klasse und im Jahr 2000 postum den russischen Orden der Freundschaft.

Da ist die mehrfache Mutter - 1931 kam in China ihr Sohn Michael zur Welt, 1936 in Polen ihre Tochter Janina, 1943 in England ihr Sohn Peter.

Und da ist nicht zuletzt die ungewöhnlich mutige Antifaschistin, die jüdische Kommunistin, die geduldige Humanistin, die bescheidene und verschwiegene Frau, die bis in ihre letzten Tage konsequente Linke. Der Bezirksverband Treptow-Köpenick der Partei Die Linke hat an Ruth Werner, die dort lebte, immer wieder erinnert. 2012 kamen weit über 100 Menschen mit Rosen zu ihrer letzten Ruhestätte. Als Vertreter der Linkspartei habe ich bei all diesen Gelegenheiten erklärt, daß wir uns der Würdigung und Lebensleistung unserer Genossin gestellt haben und weiter stellen werden.

Der Versuch der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick, diese hochverdiente Frau zu ihrem 100. Geburtstag im Mai 2007 durch die Benennung einer Straße oder eines Weges in Nähe ihres Wohnviertels als "Ruth-Werner-Promenade" zu würdigen, war an den Mehrheitsverhältnissen in der BVV, also am Unwillen anderer Fraktionen gescheitert. Bei einer Unterschriftensammlung hatten sich zuvor fast 700 Bürgerinnen und Bürger für eine solche Promenade am Spreeufer ausgesprochen. Selbst ein damals von der SPD-Fraktion angeregter Kompromiß, eine Info-Tafel vor oder an ihrem Wohnhaus anzubringen, kam nicht zustande, da man sich über den Text nicht zu einigen vermochte.

Die Ablehnung des Ruth-Werner-Antrags wurde in den Medien als "Provinzposse" und "schäbiges Politspektakel" kommentiert.

Unmittelbar nach der überaus konfrontativen kommunalpolitischen Auseinandersetzung wurden Überlegungen angestellt, wie künftig an Ruth Werner erinnert werden könne. Zur Ehrung anläßlich ihres 101. Geburtstages wurde von mir schon mal ein provisorisches Schild für eine "Ruth-Werner-Straße" mitgebracht. Anläßlich der Feier am 9. Mai 2012 im Treptower Park wurde der Festplatz auf Vorschlag der Linken symbolisch als "Ruth-Werner-Platz" benannt.

Ein unruhiges, abenteuerliches, hochmoralisches, risikoreiches, zeitweilig dramatisch gefährliches und bewundernswertes Leben ist durch jene, die sich noch immer einer Ehrung verweigern, nachträglich in Frage gestellt und ins Gerede gebracht worden. Das hat Ruth Werner nicht verdient. Aber dazu ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Dr. Hans Erxleben, Berlin


Unser Autor, dessen Redemanuskript wir verwenden durften, ist Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick.

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Vor 21 Jahren brannte das Lichtenhagener "Sonnenblumenhaus"

An dem Pogrom, das sich zwischen dem 22. und dem 26. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen zutrug, waren in erster Linie nicht die dortigen Einwohner schuld, obwohl etliche von ihnen leider zur Kulisse gehörten, sondern Regisseure im Hintergrund des Geschehens und staatliche Organe der BRD. Größere Kontingente von Asylbewerbern hatte man nicht ohne Absicht aus Hamburg in die Ostseemetropole gebracht, wo man in unmittelbarer Nähe eines Wohnheims für vormalige vietnamesische Vertragsarbeiter eine Zentrale Aufnahmestelle einrichten wollte.

Die nach Rostock-Lichtenhagen verbrachten Asylsuchenden wurden an Ort und Stelle de facto ihrem Schicksal überlassen. Das trug dazu bei, daß der Stadtteil Lichtenhagen und insbesondere das Revier um das durch sein Sonnenblumenmosaik auffallende Hochhaus zum Schauplatz chauvinistischer Exzesse wurden. Dabei spielte die Tatsache eine Rolle, daß die nach dem Untergang ihres sozialistischen Staates verunsicherten und überwiegend orientierungslos gewordenen vormaligen DDR-Bürger durch das außer Kontrolle geratene Geschehen in Panik versetzt worden waren. Das angeheizte Klima ermöglichte es, auswärtigen und einheimischen Rechtsradikalen, den Funken ins Pulverfaß zu schlagen.

Ich bin heute noch innerlich erregt, wenn ich die Unglückseligen vor mir sehe, die damals unter freiem Himmel kampieren mußten. Die entstandene Situation wirkte selbst auf fortschrittlich eingestellte Bewohner des Viertels derart frustrierend, daß sie außerstande waren, dem Terror entgegenzutreten. Die schlecht ausgerüstete Polizei war völlig demotiviert. Unter dem Jubel der Provokateure wurden die tatenlos gebliebenen Uniformierten obendrein auch noch aus unverständlichen Gründen wieder abgezogen.

Vor 21 Jahren gingen die Bilder des mit "Molotowcocktails" in Brand gesetzten Gebäudes, in dem sich noch etwa 100 Vietnamesen befanden, um die Welt. Reporter der Presse und des Fernsehens aus dem In- und Ausland waren ständig vor Ort. Der Tenor der Westjournaille lautete einhellig, das Pogrom von Lichtenhagen wurzele in der angeblich ausländerfeindlichen und rassistischen Erziehung und Haltung ehemaliger DDR-Bürger.

Übrigens hatten die Gesinnungsgefährten der damals am Versagen der BRD-Staatsmacht Schuldigen obendrein noch eine gespenstische Idee: Statt einer Trauerweide pflanzten extrem Instinktlose 2012 im Beisein von Würdenträgern aus Bund, Land und Stadt nicht weit vom Tatort ausgerechnet eine deutsche Eiche. Sie wurde am nächsten Tag von Beherzten um die Hälfte gekürzt. Auch das war ein symbolhaftes Handeln, gilt es doch zu verhindern, daß die Bäume größenwahnsinniger Chauvinisten in den Himmel wachsen.

Hans-Jürgen Grebin, Rostock


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- In dem brennenden Gebäude befanden sich noch etwa 100 Vietnamesen.
- Giebelwand des Lichtenhagener "Sonnenblumenhauses"

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Neues über die Weiße Rose

Eine informative Dokumentation zur Geschichte der Weißen Rose haben Ulrich Chaussy und Gerd R. Ueberschär erarbeitet. Sie wurde unter dem Titel "Es lebe die Freiheit!" vom S.-Fischer-Verlag im Februar 2013 herausgebracht und weist eine neue Qualität auf. Erstmals wurden die zentralen Dokumente der Widerstandsgruppe kommentiert und historisch exakt eingeordnet, ihre bestimmenden Akteure vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens dargestellt. Dadurch werden einerseits die verbindenden Elemente der Sozialisation der bestimmenden Mitglieder der Gruppe, andererseits ihre unterschiedlichen Wege in den Widerstand, die individuellen Ziele ihres Wirkens und auch der jeweilige Anteil deutlich erkennbar. Die Beweggründe für die hektische Aktivität der NS-Bürokratie, den "Fall Weiße Rose" in wenigen Tagen "abzuschließen" - also die Akteure der Flugblattaktion zu ermorden, was bereits am 22. Februar 1943 geschah -, sind klar zu erkennen. Die Hinrichtung von Hans Scholl und Sophie Scholl sowie von Christoph Probst erfolgte nur vier Stunden nach der Urteilsverkündung. "Es handelt sich um den schwersten Fall hochverräterischer Flugblattpropaganda, der sich während des Krieges im Altreich ereignet hat", erklärte der Oberreichsanwalt beim "Volksgerichtshof".

Der Band enthält alle Dokumente über die Aktion der Weißen Rose am 18. Februar 1943 in der Münchener Universität und die mutigen weiteren Aktivitäten, Reproduktionen der sechs Flugblätter, biographische Angaben zu den Beteiligten der Weißen Rose, die Anklageschrift vom 21. Februar 1943, das Urteil des "Volksgerichtshofes" sowie die öffentliche Wahrnehmung der Widerstandsgruppe zwischen 1943 und dem Kriegsende. Hervorzuheben sind vor allem zwei erstmals veröffentlichte Dokumente: die Protokolle der Vernehmungen aller späteren Angeklagten der Weißen Rose und ein im Auftrag der Gestapo angefertigtes Gutachten des Altphilologen Prof. Richard Harder. Nach Kriegsende gelangten die Protokolle in die Hände der Roten Armee und wurden einem Moskauer Sonderarchiv zugeordnet. Jahre später übergaben die sowjetischen Behörden das Aktenmaterial der DDR. Es blieb - im Zentralen Parteiarchiv und teilweise im Archiv des MfS gelagert - bis 1990 unter Verschluß.

Im Ausland war die mutige Tat der Scholl-Gruppe sehr schnell bekannt geworden. Am 27. Juni 1943 würdigte Thomas Mann das Handeln der jungen Antifaschisten in einer Rede über BBC London.

Dr. Peter Fisch, Dresden

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Bedingungsloses Grundeinkommen - ein alter Hut

Als Gorbatschow nach Frisco einlud

Zwei schon vor längerer Zeit erschienene RF-Artikel - der eine von Dr. Dr. Ernst Albrecht (Oktober 2011), der andere von Dr. Klaus Schwurack (Januar 2012) - haben sich mit dem "bedingungslosen Grundeinkommen" befaßt.

Ich möchte - wenn auch etwas zeitversetzt - zum damaligen Doktoren-Disput meinen Standpunkt darlegen.

Ernst Albrecht nennt den Plan eines bedingungslosen GE zutiefst reaktionär, Klaus Schwurack stimmt dem GE nicht zu, lehnt es aber auch nicht in Bausch und Bogen ab. Er äußert "gegen manche Aspekte und bestimmte Prämissen" seine Bedenken.

Die Kernpositionen beider Autoren sind schon im 19. Jahrhundert durch einen gewissen Karl Marx erkannt worden, obwohl es Begriffe wie Globalisierung oder Rettungsschirm damals natürlich noch nicht gab. Der hatte - verkürzt ausgedrückt - vor allem die zyklische Abfolge "Profitgier - Ausbeutung - Überproduktion - Krise - Profitgier - Ausbeutung ..." im Sinn. Die Bewertung aller sich daraus ergebenden Aspekte, welche das heute wie damals existierende kapitalistische System kennzeichnen, stimmt in beiden Artikeln nahezu überein. Die Verfasser gelangen logischerweise auch zu der gleichen Konsequenz: Es bedürfe der ... "Überwindung des Kapitalismus", schreibt Schwurack, es geht um die ... "Überwindung des Systems", liest man bei Albrecht.

Obwohl das für RF-Bezieher ja keine neue Position ist, finde ich es bemerkenswert, daß die Beseitigung des Kapitalismus klar postuliert wird. Diese unentbehrliche Prämisse kann gar nicht oft genug benannt werden, zumal sie mir bei vielen Spitzenpolitikern der PDL grundsätzlich fehlt. Ich sehe ja ein, daß sich Gregor Gysi nicht im Bundestag ans Rednerpult stellen kann (oder will), um die Kanzlerin mit der Zielsetzung zu konfrontieren: Wir Linken setzen alles daran, dieses menschenfeindliche Gier- und Raubsystem zu überwinden!

Dennoch, was bleibt denn eigentlich anderes übrig, welche vernünftigen Alternativen gäbe es?

Ich stimme Ernst Albrecht zu: Ein bedingungsloses GE wäre reaktionär, entsolidarisierend und spaltend, es könnte das System eher zementieren. Dabei darf nicht übersehen werden, daß das Prinzip des GE eine Erfindung der Kapitalisten ist, die schon in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte. Leider stimmen Katja Kipping und andere Politiker der Linken dieser Konstruktion vehement zu.

Zur Vorgeschichte: Ende September 1995 fanden sich im noblen Fairmont-Hotel von San Francisco etwa 500 selbsternannte Weltenlenker aller Kontinente - hochrangige Politiker, Wirtschaftsbosse und ihnen dienstbare Wissenschaftler - zu einer Konferenz ganz besonderer Art zusammen. Bei Champagner und Beluga-Kaviar formulierten sie ihre Vorstellungen von einer globalen Gesellschaft der Zukunft. Einladender war der Multimillionär Michail Gorbatschow (!). Ihm hatten seine USA-Gönner auf einem einstigen Militärgelände südlich der Golden Gate Bridge eine Stiftung eingerichtet. Das war der Dank dafür, daß der Inhaber des Copyrights der von vielen der Anwesenden verehrten Perestroika dem Sozialismus ein riesiges Wirtschafts-und Absatzgebiet entzogen und dieses dem Kapitalismus zugeschanzt hat. Gorbatschow bezeichnete die Fairmont-Runde als einen "globalen Brain-Trust", der sich das Ziel gesetzt habe, den Boden für "eine neue Zivilisation" zu bereiten.

Die Teilnehmer des Treffens nannten ihr Programm hingegen "Tittytainment 20:80". Der etwas schlüpfrige Begriff entstand aus dem Wort Entertainment und dem US-Slang-Begriff für Busen. 20:80 aber bedeutete folgendes: Von der lohnabhängigen Bevölkerung (= 100 %) werden nur 20 % benötigt, um alle Waren zu produzieren und sämtliche Dienstleistungen zu erbringen, welche die "Weltgesellschaft" benötigt - angefangen von Brot und Butter über "normale" Wohnquartiere, Transport- und Serviceleistungen bis hin zu einer abgespeckten Kultur. 80 % aber werden "am Busen" der 20 % ernährt. Mit anderen Worten: Im Fairmont-Hotel ging es de facto bereits um ein bedingungsloses Grundeinkommen. So soll angeblich die Arbeitslosigkeit abgeschafft werden: Wer nicht will, muß auch nicht arbeiten. Es besteht keine Veranlassung für jedermann, sich zu bilden. Intellektuelles Streben und emotionale Empfindsamkeit werden heruntergefahren. Duldsamkeit, Anpassung, Genügsamkeit und religiöse Bußfertigkeit werden für die 80 % Bezieher des bedingungslosen GE zu höchsten Werten erklärt, um diese Mehrheit so gesellschaftspolitisch stillzulegen.

Schon 1939 hatte der englische Schriftsteller Aldous Huxley den aufsehenerregenden phantastischen Roman "Schöne neue Welt" verfaßt, der in einer Zeit angesiedelt ist, da sich ein fiktiver Weltstaat etabliert hat, in dem der größte Teil seiner Bürger auf niedrigem, aber existenzsicherndem Niveau vegetiert und durch permanente Beschäftigung mit Sex, Konsum und billiger Massenunterhaltung dazu gebracht wird, keinerlei Neigung zu entwickeln, das Bestehende kritisch zu hinterfragen oder gar zur Disposition zu stellen. Das Fünftel der qualifiziert Arbeitenden aber wird besser gestellt, um auf die Masse der 80 % verächtlich herabzublicken. Und über allem steht und wacht die winzige Menschengruppe, die wir seit Marx und Engels als Kapitalisten bezeichnen.

Übrigens ging es bereits in der Antike um ähnliches: "Divide et impera" (Teile und herrsche) oder Panem et circenses (Brot und Spiele) lauteten damals die Herrschaftsmaximen. Das Gorbatschowsche Tittytainment-Prinzip und die angeblich brandneue Konzeption des bedingungslosen GE liegen also, wie sich unschwer erkennen läßt, recht dicht beieinander. Dr. Dr. Ernst Albrecht hat es exakt eingeordnet.

Noch einmal wird klar, daß die Realisierung eines GE nicht nur die Masse der Arbeitsfähigen in zwei bestens beherrschbare ungleiche Gruppen spalten, sondern auch das bestehende System auf lange Frist erhalten würde. Die Herrschenden müßten dann keine sozialen Eruptionen, Occupy-Bewegungen oder Protestaktionen der Unterdrückten befürchten, welche der griechische Finanzminister als "Beschädigung der Demokratie" bezeichnete.

Mit der Verwirklichung des "Grundeinkommen-Tittytainment-Prinzips" - entstanden im Global Brain-Trust von San Francisco, inzwischen aber von den Herrschenden verinnerlicht und weitergedacht - würde der revolutionären Bewegung das Wasser abgegraben. Alle fortschrittlichen Menschen und nicht zuletzt auch jene Linken, welche sich durch das verführerische Gleißen des vermeintlich "bedingungslosen" GE blenden lassen, sollten sich über die Gründe der Sympathie von Ausbeutern für ein solches Projekt eingehender informieren.

Beide genannten RF-Beiträge haben - wie man sieht - mit gutem Grund darauf hingewiesen, daß es bei Gegenwartsstrategien und Zukunftsprojekten weder um Luftschloßbauten noch um ideologische Seifenblasen, sondern letztlich um die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems gehen muß.

Manfred Kubowsky, Strausberg

(In den Beitrag sind Überlegungen von Prof. Dr. Benno Pubanz, Güstrow, eingeflossen.)

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Wer war eigentlich Bertha von Suttner?
[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Das große Herz der Annelie Thorndike
[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Bernsteins Rezept: Taktik ohne Strategie

Natürlich kann aus dem Zusammenfluß zweier unterschiedlicher Erfahrungsströme von Marxisten oder auch Marxisten-Leninisten eine sehr wertvolle neue Legierung entstehen. Gregor Gysi hat das allerdings etwas anders formuliert, als er erklärte, die Bündelung "unserer Erfahrungen" aus der DDR und der BRD bilde "eine solide Grundlage zur Schaffung der neuen Linken in Deutschland". Handelt es sich hier tatsächlich um die Ballung von linker Energie oder eher um die Vermischung zweier miteinander unvereinbarer Größen?

Mir scheint, daß der PDL ihr gesellschaftliches Gegenmodell abhanden gekommen ist. Ohne ein klares Ziel - den Sozialismus - gibt es aber keine Strategie, und ohne Strategie wird Taktik sehr leicht zu opportunistischer Anpassung. Diese führt bei einseitiger Fixierung auf parlamentarische Arbeit unweigerlich in Bernsteinsche Gefilde und in den Schoß offizieller Staatsräson. Das Motto des Übervaters revisionistischen Denkens - "Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts" - gibt den Sozialismus als Orientierung auf.

Der Staat, der sich die DDR einverleibte, ist die alte Bonner BRD mit ihrer perfektionierten Erfahrung eines faktischen Zwei-Parteien-Pendelsystems, der Botmäßigkeit gegenüber der NATO und der Preisgabe nationaler Souveränität durch deren Ablieferung an Brüssel, wo Berlin zugleich die erste Geige spielen will. Richtschnur staatlichen Handelns ist das durch etliche Veränderungen und Ausführungsbestimmungen stark deformierte Grundgesetz, dessen Ablösung durch eine im Wege der Volksabstimmung zustande kommende Verfassung nicht - wie proklamiert - erfolgt ist.

Marxistische Linke aus dem Westen kennen dieses System aus leidvoller Erfahrung und der Praxis des außerparlamentarischen Kampfes. Solche Nagelproben blieben den mehrheitlich in der DDR aufgewachsenen PDL-Genossen erspart. Daher scheint es einigen unter ihnen nicht schwerzufallen, in der vorgegaukelten "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" der neuen alten BRD die derzeit einzige Fortschrittsoption zu verorten. Illusorisch bis lächerlich erscheinen da Koalitionsofferten mit der Empfehlung, der SPD und den Grünen das Alleinregieren "nicht zu gestatten".

Diese politische Prostitution ist nicht nur unwürdig, sondern entbehrt auch jeder Bodenhaftung. SPD-kompatible "Einstiegsprojekte" mit der Lockspeise ursprünglich selbst erhobener Teilforderungen, die von den Konkurrenten aus taktischen Erwägungen in entschärfter und modifizierter Form längst aufgegriffen wurden, interessieren weder die Wähler noch die erträumten rosa-grünen Wunschpartner. Was diese beiden Parteien wollen, haben sie klipp und klar gesagt. Für sie ist allein "Regierungsfähigkeit" die Vorbedingung für jegliches Zusammengehen. Gemeint ist damit die Akzeptanz der bereits erwähnten BRD-Staatsräson mit NATO-Imperialismus, EU-Liberalismus, Antikommunismus und kapitalistischer "freier Marktwirtschaft" als einziger Geschäftsgrundlage jeglicher Verständigung. Wer da nicht mitspielt, steht ganz automatisch auf dem politischen Index. Einladungen zum Übertritt von Personen, die das bereits gelernt haben, sind seit Sylvia-Ivonne Kaufmanns aufstiegsbewußtem Pferdewechsel längst im Angebot.

Der Schock der von Schröder auf den Weg gebrachten Agenda 2010 ist überwunden: Der Abbau fast aller sozialen Errungenschaften, die sich westdeutsche Arbeiter und Angestellte außerparlamentarisch zu erkämpfen vermochten, hat zu einer offenen Demaskierung der schon von Marx und Engels definierten Rolle des bürgerlichen Staates als Instrument zur Durchsetzung von Kapitalinteressen geführt. In diesem Umfeld werden Werte wie Solidarität und Gemeinsinn demontiert. Wer aber solche Positionen nicht freiwillig räumt, gilt nach USA-Muster als Kommunist.

Junge Menschen in Ost und West wachsen heute gleichermaßen mit ultrakapitalistischen "Wertvorstellungen" auf. Seit dem KPD-Verbot gibt es in der BRD auf Bundesebene keine marxistische Parlamentspräsenz mehr. Dabei ist diese Arbeit, die manche verabsolutieren, eine wichtige Zusatzoption zur ausschlaggebenden außerparlamentarischen Aktion.

Die westdeutschen Marxisten haben seit Adenauers Zeiten jahrzehntelange lehrreiche Erfahrungen mit Lug und Trug, Massenmanipulation, Heuchelei, Korruption und folgenlosen offenen Verfassungsbrüchen gesammelt. Was für Empfindungen müssen sie haben, wenn einige Politiker der PDL eine "Rückkehr zu Willy Brandt" - dem Vater der Berufsverbote - empfehlen! Andere wiederum wollen sogar Ludwig Erhards Strategie "Wohlstand für alle" ihres eigentlichen Inhalts entkleiden.

Dabei hatten seine Konzepte zur Wiederherstellung des Imperialismus im Westen vor allem auch die Funktion, die Sozialkompetenz im Osten durch das aus Marshallplanmitteln zustande gekommene "Wirtschaftswunder" ihrer Anziehungskraft zu berauben. Doch selbst unter Erhard waren die Lohnsteigerungsraten deutlich geringer als der Produktivitätszuwachs und das allgemeine ökonomische Wachstum. Vor allem aber wurden die 1945 von den Alliierten vorgenommenen Entflechtungen der Nazikonzerne - nicht zuletzt mit Hilfe des "Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen" - de facto aufgehoben. Massive Steuersubventionen forcierten die abermalige Monopolbildung.

Wem soll es da Nutzen bringen, wenn gewisse Vertreter der Linken phantasievoll in Memoiren und anderen Publikationen reaktionärer Westpolitiker nach Bausteinen für ihre angeblich innovativen Zukunftsspinnereien suchen? Auch Bestrebungen, Rosa Luxemburg zu einer Ikone des Parlamentarismus zu degradieren oder mit der "Bundesarbeitsgemeinschaft Shalom-Israel" den Kampf der Palästinenser und anderer gepeinigter Völker zu untergraben, dienen der Sache wohl kaum.

Auf dem Boden des Grundgesetzes stehen heißt dafür zu kämpfen, daß dessen reaktionäre Änderungen wieder rückgängig gemacht werden. Auch das Stabilitätsgesetz, das staatliche Eingriffe "nur im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung" gestattet, ist grundgesetzwidrig. Obwohl Volksabstimmungen als gleichrangige Mittel der Willensbekundung im GG neben Wahlen ausdrücklich vorgesehen sind, werden sie durch Gesetze in der Praxis verhindert.

Die PDL kann sich unter solchen Bedingungen nur durch eindeutige Aussagen bei ihrer Stammwählerschaft behaupten und neue Anhänger hinzugewinnen. Es gilt, durch klare Signale verlorenen Boden zurückzugewinnen und bestehende Positionen zu behaupten. Nur so vermag sich die Partei Die Linke als einzig wählbare Alternative zum schwarz-gelb-rosa-grünen Einheitsbrei zu präsentieren.

Jobst-Heinrich Müller, Lüneburg

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RF-Extra

Ein Klassenkämpfer, an dem die heutige SPD zu messen ist

Vor 100 Jahren starb August Bebel

Geboren wurde Ferdinand August Bebel am 22. Februar 1840 in Deutz bei Köln. Die Schulzeit beendete er 1854 als Vollwaise, eine dreijährige Drechslerlehre schloß sich an. Nach deren Abschluß begab sich August Bebel auf die Wanderschaft nach Süddeutschland und Österreich. In seinem erlernten Beruf fand er 1860 Arbeit in Leipzig. Vier Jahre später eröffnete er in der Messestadt als selbständiger Meister eine Drechslerwerkstatt. Mit dem Eintritt in den Gewerblichen Bildungsverein begann 1861 auch seine politische Tätigkeit. 1865 wählten ihn die Mitglieder seines Arbeitervereins zu ihrem Vorsitzenden.

Vor 150 Jahren - am 23. Mai 1863 - gründete Ferdinand Lassalle in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Er forderte die Arbeiter auf, sich unabhängig von der Bourgeoisie als selbständige politische Kraft zu organisieren. August Bebel schloß sich dem ADAV nicht an, weil er die Lösung der Arbeiter von der liberalen Bourgeoisie für verfrüht hielt. Ihm mißfiel vor allem, daß Ferdinand Lassalle mit Bismarck verhandelte, um Bedingungen zu vereinbaren, unter denen sich der ADAV für Preußens Weg zur Einheit Deutschlands einsetzen konnte. Er lehnte auch die autoritäre Führung des Vereins durch Lassalle und dessen Geringschätzung von Gewerkschaften ab. Die staatssozialistischen Vorstellungen Lassalles erschwerten auch nach dessen Tode - er starb am 31. August 1864 - den gemeinsamen Kampf der Arbeiter gegen die Bourgeoisie und das Junkertum.

1865 lernte August Bebel in Leipzig Wilhelm Liebknecht kennen, mit dem ihn in den folgenden Jahrzehnten eine enge Freundschaft verband. Liebknecht verfügte über Erfahrungen aus den Klassenkämpfen seit der bürgerlichen Revolution von 1848/49. Er besaß Kenntnisse auf dem Gebiet der marxistischen Theorie, die er sich während seines 12jährigen Exils in England angeeignet hatte. Durch ihn wurde August Bebel mit Traditionen der internationalen und der deutschen Arbeiterbewegung, mit Werken von Friedrich Engels und Karl Marx, aber auch mit den Grundsätzen der Internationalen Arbeiterassoziation (I. Internationale) vertraut gemacht, der er 1866 beitrat.

Nach dem Sieg Preußens im Krieg gegen Österreich (16. Juni bis 26. Juli 1866) betrachteten es Bebel und Liebknecht als ihre Aufgabe, gegen das militaristische Vorgehen Preußens anzukämpfen, zur Entstehung eines demokratischen Deutschland beizutragen und dafür die Arbeiterklasse sowie kleinbürgerliche Schichten zu gewinnen. Dem diente auch die Gründung der Sächsischen Volkspartei am 19. August 1866 in Chemnitz. Es waren vor allem Arbeiter und Kleinbürger, die sich in ihr zusammenschlossen.

1867 war August Bebel der erste Arbeitervertreter im Norddeutschen Reichstag. Von 1867 bis 1881 sowie zwischen 1883 und 1913 war er Mitglied des Reichstags. Von 1881 bis 1890 gehörte er dem Sächsischen Landtag an. Die Erfahrungen, die er in beiden Gremien sammelte, und die engen Kontakte zu seinen Wählern ermöglichten es ihm, eine revolutionäre Parlamentstaktik der Sozialdemokratie zu entwickeln.

Gemeinsam mit Wilhelm Liebknecht rang August Bebel um die Vereinigung der nicht im ADAV organisierten Arbeitervereine. Am 7./8. Juni 1863 nahm er am ersten Vereinstag Deutscher Arbeitervereine in Frankfurt a. M. teil, der sich - als Antwort auf die Bildung des ADAV - zum Gründungskongreß des Verbandes Deutscher Arbeitervereine (VDAV) erklärte. 1864 wurde er Mitglied des Ständigen Ausschusses des Verbandes, und 1867 wählten ihn die Delegierten zum Präsidenten des VDAV. August Bebels Wahl trug entscheidend zur Überwindung des Einflusses der Bourgeoisie auf die Führung des Verbandes bei.

Auf seinen Antrag hin erklärte sich der Nürnberger Vereinstag des VDAV 1868 für den Anschluß an das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation. Das war ein bedeutsamer Schritt zur Anerkennung marxistischer Positionen durch die Mitglieder des Verbandes. Die Initiatoren bezogen in ihre Bestrebungen zur Bildung einer revolutionären Arbeiterpartei auch Mitglieder des ADAV ein, die mit der Politik seines Präsidenten - Johann Baptist von Schweitzer - nicht einverstanden waren.

Für die entstehende Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) entwarf August Bebel das Programm, zu dem er 1869 auf dem Eisenacher Gründungskongreß sprach. Später erklärte Friedrich Engels dazu in seiner Schrift "Der Sozialismus in Deutschland": "Und so entstand bald, dank vor allem den Bemühungen Liebknechts und Bebels, eine Arbeiterpartei, die die Prinzipien des 1848er "Manifests" offen proklamierte." (MEW Bd. 22, S. 249) Nach der Zielstellung "Errichtung des freien Volksstaates" verpflichtete das Programm jedes Parteimitglied, mit ganzer Kraft für die nachstehenden Grundsätze einzutreten:

• die heutigen politischen und sozialen Zustände sind in höchstem Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen;

• der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft;

• die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter;

• die politische Freiheit ist die unentbehrlichste Voraussetzung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat;

• die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse ist nur möglich, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, deshalb gibt sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation ...

• die Befreiung der Arbeit ist weder eine lokale noch nationale, sondern eine soziale Aufgabe, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt. Darum betrachtet sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der internationalen Arbeiterassoziation und schließt sich deren Bestrebungen an. (Vgl. Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin 1967, S. 45 f.)

Obwohl das Eisenacher Programm noch Reste von Glaubenssätzen Lassalles enthielt, bewahrte es den proletarischen, internationalistischen, antimilitaristischen und revolutionären Charakter des Manifests der Kommunistischen Partei. Es stellte eine günstige Bedingung für die politische Organisation der Arbeiterklasse sowie für den künftigen Vereinigungsprozeß der SDAP mit dem ADAV zu einer einheitlichen marxistischen Partei der deutschen Arbeiterklasse dar.

August Bebel befaßte sich in den Jahren vor der Parteigründung vor allem mit Werken von Friedrich Engels, Karl Marx und Ferdinand Lassalle. Die erste Schrift von Marx, die er las, las, war die "Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation". Band I des "Kapitals" war ihm eine Hilfe bei der Auseinandersetzung mit dem Lassalleanismus.

Neben Wilhelm Liebknecht gehörte August Bebel in den Jahren des Sozialistengesetzes (1878-1890) zu den am meisten verfolgten Sozialdemokraten. Insgesamt erhielt er 57 Monate Festungs- und Gefängnishaft aufgebürdet, die er zu Studienzwecken auszunutzen suchte. So wurden staatliche Strafanstalten zu seinen "Universitäten".

August Bebel verfaßte eine Reihe eigener Werke. Hervorhebenswert sind vor allem seine Autobiographie "Aus meinem Leben" sowie "Unsere Ziele", "Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872", "Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag ... 1871-1893" sowie "Die Frau und der Sozialismus". Diese Schrift sollte zu den in Arbeiterkreisen am meisten gelesenen marxistischen Werken gehören. Wenn seitens der SPD heute geurteilt wird, Bebel sei kein Marxist, sondern lediglich Anhänger der Marxschen Schule der Sozialdemokratie gewesen (H. Grebing: Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung, 2012, S. 103), so zeugt das davon, daß man dem Ringen der alten Sozialdemokratie um die Herausbildung einer marxistischen Arbeiterpartei und sogar deren jahrzehntelangem Kampf gegen Krieg und Militarismus die verdiente Wertschätzung verweigert.

Im Einsatz für ein einheitliches, demokratisches Deutschland stellten Bebel und Liebknecht Bismarcks "Revolution von oben", die sich in Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich manifestierte, die Volksrevolution "von unten" entgegen.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei solidarisierte sich mit der Pariser Kommune. So erklärte August Bebel am 25. Mai 1871 im Reichstag: "Meine Herren, mögen die Bestrebungen der Kommune in Ihren Augen auch noch so verwerfliche ... sein, seien Sie fest überzeugt, das ganze europäische Proletariat, und alles, was noch ein Gefühl für Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris ... und ... ehe wenige Jahrzehnte vergehen, (wird) der Schlachtenruf des Pariser Proletariats: 'Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!' der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden ..."

Im Krieg 1870/71 lehnte es der Abgeordnete Bebel ab, für die geforderten Kriegskredite zu stimmen. Er wandte sich dagegen, daß der Krieg gegen Frankreich zu einem Eroberungskrieg wurde und warnte davor, daß die beabsichtigte Annexion Elsaß-Lothringens zur Ursache für einen kommenden europäischen Krieg werden könnte. Nach dem Grundsatz "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" verwarf die Sozialdemokratie auch in den Jahren nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs dessen Kriegs- und Rüstungspläne.

In der Zeit des Sozialistengesetzes setzten sich die Arbeiterorganisationen mutig gegen ihre Unterdrückung zur Wehr. Die Herrschaft Bismarcks unterlag letzten Endes dem Widerstand der Arbeiterbewegung. 1890 wurde er als Reichskanzler seines Amtes enthoben.

So zeigten sich in den 90er Jahren zweierlei Resultate des Klassenkampfes:

1. Bismarck wurde gestürzt, und das Sozialistengesetz wurde überwunden.

2. Trotz der programmatischen Schwächen, die sich beim Zusammenschluß von ADAV und SDAP zur "Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 zeigten, war die Partei in der Konfrontation mit dem Kapital gereift. Die früheren Mitglieder des ADAV und der SDAP lernten in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands gemeinsam zu kämpfen. Die Partei betrieb eine an den Interessen der Arbeiterklasse orientierte Politik und nahm auf dem Erfurter Parteitag 1891 ein marxistisches Programm an. An dessen Ausarbeitung war August Bebel beteiligt. 1892 wurden er und Paul Singer auf dem Berliner Parteitag zu Parteivorsitzenden gewählt. Seit 1900 war Bebel dann Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros der II. Internationale.

In der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus Eduard Bernsteins und Georg von Vollmars legte August Bebel auf dem Dresdener Parteitag 1903 seine persönliche Schlußfolgerung aus dem jahrzehntelangen Streit mit dem Opportunismus dar. Sie lautete: "Solange ich atmen und schreiben und sprechen kann, soll es nicht anders werden. Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, zu beseitigen."

August Bebel starb am 13. August 1913 in Zürich. Seinem Sarg folgten Zehntausende. Mit ihrer Anteilnahme würdigten sie einen Arbeiterführer, der sein ganzes Leben für die Erfüllung der weltgeschichtlichen Aufgabe des Proletariats, der Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus mit seiner Ausbeutung, seinen Krisen und seinen Kriegen, eingesetzt hatte.

Eines der beim Parteivorstand der SPD eingegangenen Telegramme lautete: "Teilen Ihren Schmerz wegen Verlust größten Führers der internationalen revolutionären Sozialdemokratie." Es kam von Lenin.

August Bebels Vermächtnis zu erfüllen, ist eine Aufgabe aller geblieben, die sich den Idealen der Arbeiterklasse - Frieden, Sozialismus und Kommunismus - verbunden fühlen.

Dr. Ehrenfried Pößneck, Dresden

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Über das Glück, Moritz und Sonja Mebel begegnet zu sein

Eine unerschütterliche Freundschaft

Meine Freundschaft mit Moritz - dem emeritierten Professor der Medizin - besteht schon länger als ein halbes Jahrhundert. Wir waren beide noch recht jung, als ich diesem früh ergrauten, damals knapp 40jährigen Mann erstmals begegnete. Durch die Brillengläser sahen mich ums Erkennen bemühte kluge und bisweilen etwas traurige Augen so an, als wollten sie mich ergründen. Der Mediziner im weißen Kittel, zu dem ich in die Sprechstunde kam, hörte mich aufmerksam an, lächelte und sagte, wie mir schien, in seiner Muttersprache: "Lassen Sie uns Russisch sprechen, das wird für Sie bequemer sein ..." Seitdem sind wir immer zusammen, auch per Distanz.

Moritz wurde in Erfurt geboren. Er stammt aus einer jüdischen Familie. Nach Moskau kam er als Neunjähriger mit seiner Mutter und der älteren Schwester Susi. Der Vater stieß erst später zur Familie. Die Eltern meines Freundes waren zur Emigration in die Sowjetunion gezwungen, weil sich Deutschland zu einer tödlichen Gefahr für die ganze Menschheit entwickelte, die man "braune Pest" nannte.

Die Moskauer Straße nahm den kleinen deutschen Emigranten schlecht in Empfang. Als er auf dem Hof erschien, wurde er von gleichaltrigen Kindern umringt, die ein in den 30er Jahren verbreitetes Spottlied anstimmten. Es begann - ins Deutsche übersetzt - mit den Worten: "Deutscher, mit Pfeffer, Wurst und faulem Kraut ..." Man versuchte, ihn zu verprügeln, doch er verstand sich aufs Raufen und wehrte sich.

Das Schönste für Moritz und Susi war damals die Karl-Liebknecht-Schule, in der Kinder deutscher und österreichischer Polit-Emigranten lernten. Moritz erinnert sich an das fest zusammenhaltende Kollektiv. Schüler und Lehrer, Erzieher und Pionierleiter - alle waren wie eine große Familie. Jedenfalls bis zu den Ereignissen des Jahres 1937 ...

Die unerwartete Wende, die scheinbare Annäherung zwischen der UdSSR und Nazideutschland nach Abschluß des Nichtangriffspaktes konnten viele deutsche Polit-Emigranten nicht verstehen. Die Karl-Liebknecht-Schule wurde geschlossen, ihre Schüler verteilte man auf verschiedene russische Schulen in Moskau.

Im August 1940 wurde Moritz Student am Ersten Moskauer Medizinischen Institut. ... Doch schon am 15. Oktober 1941 teilte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS mit, daß Hitlers Truppen 120 Kilometer vor der Hauptstadt stünden. In diesen kritischen Tagen bewarb sich der 18jährige Student Mebel - dem Appell der Partei folgend - als Freiwilliger um Aufnahme in das Kommunistische Arbeiterbataillon des Moskauer Frunse-Bezirks. Später wurden diese Einheiten zur Moskauer Kommunistischen Division zusammengelegt. Im Eilmarsch ging es auf die Wolokolamsker Chaussee - ohne warme Uniformen, nur in Schuhen mit Wickelgamaschen, bewaffnet mit aus dem Museum entnommenen alten französischen Gewehren und Munition in geringer Menge.

Im November 1941 begann die lange erwartete Gegenoffensive. Moritz machte viele Operationen mit, befreite mit seinen Genossen Siedlungen und Dörfer von den Hitlerfaschisten. Erstmals mußte er mit eigenen Augen deren Grausamkeiten wahrnehmen: die erschlagenen und in Brunnen geworfenen Kleinkinder, den verkohlten Körper eines Regimentskommandeurs, der an die Wand eines Gefechtsstandes gestellt worden war, und unter dessen Leichnam die fliehenden Okkupanten Feuer entfacht hatten. Völlig niedergebrannte Dörfer, Tod und Verderben ...

Ein schrecklicher Gegner war auch der grausame Frost, zeitweilig bis zu 42 Grad Minus. Man konnte sich nur an den durch die geflüchteten Hitlerfaschisten in Brand gesteckten Häusern erwärmen. Erst im Februar 1942 wurden an der Nord-West-Front Winteruniformen ausgeteilt: Wattejacken, Wattehosen, warme Wäsche und Filzstiefel. Das Wichtigste: Nun bekamen die Soldaten auch echte sowjetische Gewehre. Zu diesem Zeitpunkt waren von den 180 Kämpfern der Kompanie, zu der Moritz Mebel gehörte, außer ihm nur noch zwei Mann am Leben.

Die Kommandeure wußten um die deutsche Muttersprache des Rotarmisten. So wurde Moritz Unterpolitleiter der Abteilung 7, die wie überall in der Armee für Konterpropaganda und Zersetzung der gegnerischen Truppen zuständig war. Über eine Lautsprecheranlage begann er mit Agitationssendungen für die Wehrmachtsoldaten. Fast die ganze Zeit war Moritz in der vordersten Linie. Die Gegner machten Jagd auf das Übertragungsgerät, gingen zu flächendeckendem Beschuß über, bisweilen auch mit Erfolg.

Für Moritz und seine Genossen war es schwer, vorerst von Deutschen besetztes sowjetisches Territorium in Augenschein nehmen zu müssen. Beim Rückzug unter den Schlägen der Roten Armee hinterließ Hitlers Wehrmacht ein leergefegtes, verbranntes Land. Besonders schlimm erging es unter der deutschen Besatzung jungen Frauen. Kräftige und Gesunde wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht, junge und hübsche Mädchen kamen im Hinterland der Okkupanten in Bordelle.

Einmal geriet Moritz selbst fast in Feindeshand, als er mit seiner fahrbaren Sendestation zwischen zurückweichende deutsche Einheiten kam, die - wie durch ein Wunder - das sowjetische Auto nicht erkannten. Hätten sie den alleinfahrenden LKW bemerkt, wären dessen Insassen unentrinnbar ums Leben gekommen: Einen deutschen Juden, der überdies auch noch Politoffizier der Roten Armee war, hätte man an Ort und Stelle erschossen. Dafür besaß die Wehrmacht einen Sonderbefehl Hitlers.

"Für mich selbst", berichtete Moritz, "hatte ich eindeutig festgelegt: sofort eine Kugel in den Kopf, aber auf keinen Fall den Deutschen in die Hände geraten. Das Wichtigste dabei war, genügend Zeit zu haben, um sich erschießen zu können."

Ein besonders schlimmes Kriegserlebnis war für Moritz das Übersetzen aufs Westufer des Dnepr. Dort hatte eine Vorhut der Roten Armee vor der Befreiung von Krementschug eine kleine Stellung erobert. Moritz erhielt den Befehl, sofort das andere Ufer zu erreichen und festzustellen, ob dort die Möglichkeit bestünde, eine Lautsprecheranlage zu installieren und mit dem Senden zu beginnen. Als einziges Transportmittel stand ein aufblasbares Gummiboot mit Munition zur Verfügung. "Falls auch nur eine Kugel oder ein Splitter das Boot getroffen hätten, wäre es sofort gesunken", berichtete Moritz. Damit wäre er verloren gewesen, da er nicht schwimmen konnte. Es war ein Wunder, daß Kugeln und Splitter, die um das Boot herumflogen, dieses nicht beschädigt haben.

Ein Erinnerungszeichen aber hat ihm der Krieg dennoch hinterlassen. Bei Kämpfen in der slowakischen Stadt Nitra traf Moritz am 9. März 1945 der Splitter einer Handgranate in den Rücken, so daß er bis heute ein kleines Stück Kruppstahl bei sich trägt.

Für Moritz fand der Krieg auf deutschem Boden am 11. Mai 1945 sein Ende. Im Juni sollte er dann mit den anderen Truppenteilen der 53. Armee, in der er seit 1941 gekämpft hatte, zur 2. Baikalarmee in die Mongolei geschickt werden, wo der Krieg gegen das kaiserlich-militaristische Japan seinen Fortgang nahm. Doch er hatte Glück und wurde statt dessen in den Apparat der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland - der SMAD - abkommandiert. Dort begegnete er einem alten Bekannten aus Moskauer Kinder- und Jugendjahren: Es war Konrad Wolf - wie Moritz Offizier der Roten Armee. Gemeinsam leisteten sie politisch-ideologische Umerziehungsarbeit unter der deutschen Bevölkerung.

1947 demobilisiert, nahm Moritz sein durch den Krieg unterbrochenes Studium am Medizinischen Institut wieder auf. Erfolgreich verteidigte er danach seine Doktorarbeit als Lieblingsschüler des weltbekannten sowjetischen Urologen Anatolij Pawlowitsch Frumkin. Eine Rückkehr nach Deutschland hatte Moritz nicht geplant. Ein Teil seiner Verwandten - die Lieblingstante Anna, die Cousinen Ruth und Ellju - waren in Auschwitz vergast worden.

Die Jahre vergingen, und in seinem Leben erschien Sonja. Dieses langbeinige Mädchen aus den unteren Klassen der deutschen Karl-Liebknecht-Schule hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Sie trafen sich in Moskau wieder, schon als junge Fachleute. Sonja hatte auch das Erste Moskauer Medizininstitut absolviert. Mit dem Studium begann sie während der Evakuierung, als Moritz an der Front war. Ihre Lebensläufe ähneln sich in vielem. Auch sie emigrierte mit ihren Eltern in die UdSSR, die für sie zur zweiten Heimat wurde.

Sonja erzählte: "Mein Vater war ein überzeugter Kommunist. Er hat der Partei vom 15. Lebensjahr an geholfen, wurde mit 17 ihr Mitglied. Fast alle aus unserer Familie waren Kommunisten. Für meinen Vater stand fest: Nach dem Erlernen eines Berufs mußte er unbedingt in die Sowjetunion fahren, um seine Kenntnisse und Fähigkeiten für die neue Gesellschaft dort einzusetzen. Er hatte die Technische Hochschule in Dresden absolviert. Eine ihm danach angebotene interessante Arbeit in Südafrika schlug er zugunsten Moskaus aus.

Dort herrschte schrecklicher Frost, an den wir nicht gewohnt waren. Ich wurde so eingepackt, daß ich mich kaum bewegen konnte. Unsere Wohnung war nach damaligen Maßstäben phantastisch - mit Zentralheizung, Warmwasser, Gas und Badewanne. Das war Anfang der 30er Jahre. Wir wußten, daß im Land schwere Zeiten herrschten. Besonders schlecht stand es mit Lebensmitteln, was wir allerdings nicht direkt verspürten, da uns 'Insnab' zugänglich war - eine Versorgung in beliebiger Menge für die im Lande tätigen ausländischen Fachleute.

Wir haben mit Vergnügen die deutsche Schule besucht. Das war für uns eine Art Glücksinsel. Wir verstanden das zwar noch nicht, fühlten es aber einfach. Das Verhältnis der Lehrer zu uns war erstaunlich gut, wir nannten sie 'Genossen'. Oft besuchten uns deutsche kommunistische Schriftsteller - Erich Weinert, Friedrich Wolf und Johannes R. Becher. In der Schule herrschte eine besondere Atmosphäre, kamen doch immer wieder Kinder hinzu, deren Eltern in Gefängnissen und Konzentrationslagern Nazideutschlands schmachteten. Deshalb war der Faschismus für uns etwas sehr Reales, echt Vorhandenes. Viele Eltern kämpften auch als Interbrigadisten in Spanien.

Ich erinnere mich noch gut an ein Drama, das ich in der 3. Klasse erlebte. Alle außer mir wurden in die Pionierorganisation aufgenommen. Da ich die Klassenjüngste war, mußte ich noch ein halbes Jahr warten.

1937 wurde ich zwölf. Es war das letzte Jahr meiner Kindheit. Bei uns daheim sprach man offen über die jetzt erfolgenden Verhaftungen. Die Eltern erklärten mir, die Festgenommenen seien weder Faschisten noch Verräter. Später verstand ich, daß sie das taten, damit ich im Falle ihrer eigenen Arretierung nicht glauben sollte, sie seien solche.

Bald kam meine Cousine Ruth in unsere Familie. Wir beide hatten am 9. Januar Geburtstag. Sie war lediglich fünf Jahre jünger als ich. Im September 1937 war ihr Vater verhaftet worden, ein paar Wochen später auch ihre Mutter. Irgend jemand von unseren Bekannten brachte sie aus Leningrad nach Moskau. Ruth lebte fünf Jahre in unserer Familie. In der Schule sah ich jetzt öfter Kinder mit verweinten Augen. Auch viele unserer Lehrer wurden verhaftet. Uns erschien das Jahr 1938 wie der Weltuntergang. Dann wurde die deutsche Schule aufgelöst, wir kamen in verschiedene Lehranstalten.

Die Jahre 1937/1938 haben in meiner Seele tiefe Spuren hinterlassen. Fast alle unsere Verwandten - Kommunisten, die in der UdSSR lebten - wurden verhaftet. All das hat mich so tief berührt, daß ich nicht in den Komsomol eintreten wollte. Nach zehn Jahren sagte ich meinem Vater: 'Jetzt habe ich verstanden, warum Du Kommunist bist, warum Du diesen Ideen treu bleibst. Die Ideen sind hervorragend, aber das, was wir erleben mußten, war schrecklich.' In das Gamalei-Institut für Mikrobiologie und Epidemiologie kam ich - und zwar im wörtlichen Sinne - direkt von der Straße. Dem Direktor erklärte ich, unbedingt Mikrobiologin sein und nur unter seiner Leitung arbeiten zu wollen. Er hat mich ungeachtet meiner Biographie, die mir viele Jahre Hindernisse in den Weg legte, aufgenommen. Im Institut gab es 500 wissenschaftliche Mitarbeiter - ich allein war nicht Arzt-Laborant, sondern arbeitete über sechs Jahre lang als einfache Laborantin. Im letzten Jahr meiner Tätigkeit bekam ich die Einstellung als Arzt-Laborant und damit eine wesentliche Erhöhung meines recht kärglichen Gehalts.

Die Wende in meinem Leben trat ein, als meine Mutter mit nur 46 Jahren starb. Im Januar 1957 haben mein Vater und ich Moskau verlassen. Wir wurden von vielen Leuten zum Zug begleitet. Ich war sehr traurig und schwermütig, hatte ich doch über ein Vierteljahrhundert unter sowjetischen Menschen gelebt. Dem Ersten Medizininstitut bin ich sehr dankbar, natürlich auch den ausgezeichneten Lehrern und meinen langjährigen treuen Freunden, von denen ein Teil schon lange tot ist. Wir haben unsere Moskauer Jahre niemals vergessen. Sie sind für immer in unseren Herzen geblieben."

Die Mebels sind eine große und fest zusammenhaltende Familie. Zu ihr gehören die Tochter Annelie (Anja), der Schwiegersohn Jens, die Enkel Tino und Laura. Prof. Dr. med. habil. Sonja Mebel wurde eine hoch angesehene Mikrobiologin. Ich möchte ihr noch einmal das Wort geben.

"Wir haben in der DDR unsere Freunde gefunden, uns sehr gut gefühlt, viel gearbeitet und wahrscheinlich auch anderen Nutzen gebracht. Und das war das Wichtigste in unserem Leben. Wir wurden mit Anerkennung und Achtung belohnt.

Das Schlimmste geschah im Herbst 1989. Wir begriffen, daß unser Staat, unsere Republik zugrunde gehen würden. Was für eine schreckliche Zeit! Aber man mußte weiterleben, der Tochter, den Enkeln helfen. Zum Glück haben unsere Freunde weder sich noch uns verraten. Verrat ist immer Verrat, und der muß auch stets so genannt werden. Wir sind unseren Idealen treu geblieben und davon überzeugt, sie auch in der Familie der Tochter, bei den heranwachsenden Enkeln bewahren zu können."

Georgij Z. Sannikow, Moskau

Übersetzung: Dr.-Ing. Peter Tichauer

Ende RF-Extra

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Der türkische Premier Erdogan setzt auf brutalste Repression

Faschisierer mit islamischer Maske

Die jüngste Entwicklung im NATO-Staat Türkei ist vor allem durch zwei Tatsachen bestimmt. Einerseits nehmen die seit Jahren eine radikale Islamisierung betreibenden Konservativen der regierenden AKP des Ministerpräsidenten Erdogan Zuflucht zu Methoden noch gnadenloserer Repression. Andererseits genügte ein ins Pulverfaß geschlagener Funke, um die aufgestaute Empörung breiter Schichten der türkischen Gesellschaft zur Explosion zu bringen und die innenpolitische Entwicklung bis an die Schwelle einer revolutionären Situation voranzutreiben. Dabei sind die objektiv entstandene Lage und die Möglichkeiten ihrer Ausnutzung durch Fortschrittskräfte zwei verschiedene Dinge.

Ausgelöst wurde die jüngste Protestwelle durch ein eher zweitrangiges Ereignis, das zunächst nur wenige hundert Demonstranten auf den Plan rief: Die Ankündigung Erdogans, das letzte Stückchen Instanbuler Stadtgrün, den Gezi-Park, abholzen und als Bauland freigeben zu wollen. Obwohl der geplante Schritt scheinbar keine ideologische Komponente besaß und sich alles hinter einem Rauchschleier vager Andeutungen vollzog, sickerte durch, daß das im Gezi-Park geplante Handelszentrum mit einer Moschee verbunden sein könnte.

Die für ihre Gnadenlosigkeit gegenüber Andersdenkenden berüchtigten Schlägergarden der türkischen Bereitschaftspolizei wüteten diesmal mit einer selbst für sie ungewöhnlichen Härte. Die in Exzessen der Grausamkeit gipfelnde Orgie der Gewalt wurde nicht nur von 180 linken und demokratischen Organisationen unterschiedlichster Art, die sich zur Taksim-Solidarität vereinten, entschlossen zurückgewiesen, sondern auch von bisher eher indifferenten Teilen der Bevölkerung. Zehntausende strömten seit dem 27. Mai - überwiegend spontan - zum Taksim-Platz, um ihn Tag und Nacht in Besitz zu nehmen.

Während die Menge der Protestierenden in Istanbul ständig anwuchs, griff der Widerstand auch auf Ankara und andere Zentren des Landes über. Dabei gehörten nach Schätzungen etwa 70 % der Teilnehmer an diesen Aktionen keiner politischen Partei an. Die Hälfte der Demonstranten kam erstmals zu einer solchen Willensbekundung. Viele trotzten dem Terror der von Erdogan aufgehetzten Polizei, deren über der Menge ausgeschüttete Tränengaskanister die Gegend um den Taksim-Platz in ätzende Dunstschwaden hüllten.

Mehr als 5000 Menschen wurden verletzt, einige kritisch. Es gab Tote unter den Demonstranten. Der Gipfel der Volksfeindlichkeit: Der AKP-"Gesundheitsminister" kündigte an, allen an der Betreuung Mißhandelter beteiligten Ärzten die Approbation zu entziehen. Doch die Antwort folgte auf dem Fuße. Tausende Anwälte reihten sich unter die Protestierenden ein. Der heftige Massenwiderstand hat seine tiefere Ursache zweifellos in den enormen sozialen Sorgen der meisten Türken. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt von Tag zu Tag. Üble Auswirkungen auf den ohnehin bescheidenen Lebensstandard der Massen hat auch Erdogans Politik der Verschleuderung von Filetstücken öffentlichen Eigentums.

Der aggressive Kurs des innenpolitisch die Islamisierung der Heimat Atatürks vorantreibenden AKP-Führers, der außenpolitisch gegenüber Syrien die Karte des Krieges zieht, hat Millionen Landesbürger - Gläubige wie Nichtgläubige - gegen Erdogan aufgebracht. Dessen bellizistische Sprache stößt - selbst unter realistisch denkenden Anhängern seiner AKP - auf immer heftigere Ablehnung.

So waren die Vorgänge um den Gezi-Park nur der Anlaß, den sich seit langem aufbauenden Volkszorn explodieren zu lassen. Auf dem Taksim-Platz nahm die Jugend buchstäblich alles in die Hand. 90 % der dort Zusammengeströmten waren - übrigens wie in Ägypten meist durch Facebook und Twitter mobilisiert - zwischen 19 und 30 Jahren. Ein besonders großes Kontingent stellten Studenten, deren Unzufriedenheit mit der bildungsfernen Politik der AKP in letzter Zeit weiter angewachsen ist.

Eine zentrale Forderung der Demonstranten war das Verlangen nach Demokratie und Mitspracherechten, die das immer faschistoidere Züge annehmende Erdogan-Regime den Bürgern verwehrt.

In der Türkei ist inzwischen von einer "Erdoganisierung der gesamten Gesellschaft" die Rede. Die Opposition attackiert vor allem den autoritären Führungsstil des Machthabers, wobei dessen Anhängerschaft sehr differenziert zu betrachten ist. Andererseits teilen auch viele Protestierer nicht die marxistische Konsequenz der türkischen Kommunisten und anderer weiter blickender Linker.

Um den Widerstand gegen sein Regime abzuwürgen und dessen Kräfte aufzuspalten, hat Erdogan selbst Hunderttausende ideologisch in seinem Fahrwasser Schwimmende oder einfach nur Unwissende zu militanten Treuebekundungen für ihn und den Propheten Mohammed aufmarschieren lassen. Viele von ihnen wurden zwangsrekrutiert. Erdogan bedient sich sehr bewußt der islamistischen Karte, um seine wahren Ambitionen zu verbergen. Vor allem geht es ihm darum, die türkischen Mohammedaner gegen die nationale Protestbewegung, der sich nicht wenige von ihnen angeschlossen haben, ins Feld zu führen. Doch das verfängt nur zum Teil. So vernahm man aus den Reihen der Demonstranten wiederholt Sprechchöre islamisch gekleideter Frauen: "Unsere Häupter sind vielleicht verhüllt, nicht aber unser Verstand."

Was die türkischen Kommunisten betrifft, so unterstützen sie die Massenproteste nicht nur verbal, sondern auch äußerst aktiv. Die Genossen der TKP stehen immer und überall in den vordersten Reihen der zum Kampf gegen das Erdogan-Regime Angetretenen, ohne dabei irgendwelche Sonderrechte oder gar die Führung der Bewegung für sich zu beanspruchen.

Die Erdogan-Diktatur schlägt zurück. In der Hauptstadt Ankara überfiel ihre Polizei das TKP-Büro mit Tränengas. Sämtliche sich in den Räumen des "Kulturzentrums Nazim Hikmet" aufhaltenden Personen wurden festgenommen. In Antakya beschossen Gendarmen ein Fahrzeug mit fünf TKP-Mitgliedern aus automatischen Waffen, so daß es von der Route abkam. Sämtliche Insassen wurden verletzt, einer schwer.

"Solidaire" zitierte den an der belgischen Universität Gand tätigen türkischen Soziologen Orhan Agirdag mit den Worten: "In meinem Heimatland entsteht oftmals der Eindruck, das Europa der EU habe sich für das Lager der AKP entschieden. Die Bürger der EU-Staaten sollten indes durch ihre Solidarität mit dem türkischen Volk das Gegenteil dessen beweisen."

RF, gestützt auf "Solidaire", Brüssel, und "The Guardian", Sydney

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Ein Friedensheld vor dem Kriegsgericht

Seit dem 3. Juni steht der 25jährige Stabsgefreite der U.S. Army Bradley Manning vor dem Militärgericht in Ft. Meade (Maryland). Er wurde im Mai 2010 als Angehöriger der Streitkräfte des Pentagons festgenommen und befindet sich seitdem im Gewahrsam. Ihm werden insgesamt 22 Delikte angelastet - darunter "Feindbegünstigung" -, worauf lebenslänglicher Freiheitsentzug steht. Als "Feind" betrachtet die U.S.-Militärjustiz die internationale demokratische Öffentlichkeit sowie alle Widersacher imperialistischer Kriegs- und Weltherrschaftspläne.

In den Augen seiner Ankläger hat der hochqualifizierte Chiffrierspezialist Bradley Manning eine abscheuliche Untat begangen, in unseren Augen aber eine Großtat. Dem jungen Friedenskämpfer im Waffenrock einer Aggressionsarmee wird die Weitergabe zahlreicher als geheim eingestufter Dokumente des Pentagons und des U.S.-State Department angelastet. Mehr als eine halbe Million "For eyes only"-Vermerke und Dokumente des US-Kriegsministeriums - die größte Anzahl jemals an die Öffentlichkeit gelangter Schriftstücke dieser Art - und 250.000 dienstliche Berichte amerikanischer Diplomaten in aller Welt wurden der Anonymität entzogen.

Folgt man der Anklage, dann hat Bradley, dem all diese Quellen dienstlich zugänglich waren, den brisanten Stapel von "Wolkenkratzerhöhe" an die Washington bloßstellende Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks übermittelt. Aus welchen Motiven auch immer der junge Army-Spezialist gehandelt haben mag - die Veröffentlichung dieser Materialien von höchster Explosivität war ein unschätzbarer Beitrag zur Entlarvung von Untaten und künftigen Plänen der Hauptmacht des Imperialismus.

Der australische Wikileaks-Gründer Julian Assange, dem sämtliche US-Geheimdienste den Spitzenplatz auf ihren Fahndungslisten einräumten, befindet sich noch immer in der ihm Asyl gewährenden Londoner Botschaft Ekuadors.

Friedensheld Bradley Manning wurde nach seiner Festnahme brutal gefoltert: Vom Juni 2010 bis zum April 2011 befand er sich in einer Tag und Nacht optisch überwachten 2,8 x 2 Meter messenden Marterzelle des Militärgefängnisses Quantico. Er durfte sie 23 Stunden am Tag nicht verlassen. Es handelt sich dabei nicht um eine Vorbeugungsmaßnahme zur Suizidverhinderung, wie das Militär behauptete, sondern um eine illegale Vorausbestrafung.

Im April dieses Jahres wurde Manning nach Protesten seiner Verteidiger und unter dem Druck einer weltweiten Solidaritätsbewegung in das Militärgefängnis Ft. Leavenworth verlegt, das eine geringere Sicherheitsstufe hat.

Am 29. November 2012 sagte er in einer gerichtlichen Anhörung aus, zeitweilig habe er innerhalb von 24 Stunden nur 20 Minuten das Tageslicht gesehen. Selbst beim extrem kurzen Hofgang sei er in Ketten gelegt worden. Der UN-Sonderberichterstatter für Folterangelegenheiten Juan Mendez ließ nach 14 Monate währender Überprüfung des Falles wissen, Mannings Haftbedingungen seien als "grausam und inhuman" zu bezeichnen. Es handle sich dabei um einen eklatanten Bruch der Bestimmungen des Artikels 7 der Internationalen Konvention gegen Folter.

RF, gestützt auf "People's World", USA

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Bushs Guantánamo - eine Hypothek für Obama

Guantánamo raubt Obama den Schlaf", schrieb das in Havanna erscheinende KP-Organ "Granma", als die verbliebenen 166 Häftlinge des vor 10 Jahren auf illegal besetztem kubanischem Territorium errichteten Folterlagers Ende Mai überraschend in den Hungerstreik traten. Vergeblich hatte Washington darauf gebaut, daß die Erinnerung der Weltöffentlichkeit an jene furchtbaren Zeiten inzwischen verblaßt sei, als dort 700 als vermeintliche Terroristen nach dem 11. September 2001 Festgenommene zusammengepfercht worden waren.

Die großbürgerliche "New York Times" erinnerte in einem Kommentar daran, daß Guantánamo "die Verkörperung der gefährlichen Ausweitung exekutiver Gewalt" unter dem seinerzeitigen US-Präsidenten George W. Bush gewesen sei. In den Jahren seines Regiments habe es zum Ritual gehört, Personen ohne jede gesetzliche Grundlage zu inhaftieren, geheime Gefängnisse zu unterhalten und Foltermethoden zu legalisieren.

Barack Obama, der schon zu Beginn seiner ersten Amtszeit die Schließung des Konzentrationslagers angekündigt, sein Versprechen dann aber wie viele andere gebrochen hatte, suchte jetzt verbal den Eindruck zu erwecken, daß er seine einstige Zusage noch nicht vergessen habe.

"Ich glaube auch weiterhin daran, daß wir Guantánamo dichtmachen sollten", ließ er verlauten. "Wir müssen begreifen, daß es seiner nicht bedarf, um Amerikas Sicherheit zu bewahren. Das Gefängnis ist teuer und schädigt unser internationales Ansehen."

Nicht jeder Einflußreiche in den USA stimmt diesem Lippenbekenntnis des Präsidenten zu. "Washington Post"-Skribent Benjamin verzichtete auf jegliches Hakenschlagen: "Selbst wenn Guantánamo wie durch ein Wunder dichtmachte, müßten wir es anderen Ortes wieder einrichten." Demgegenüber vertrat Ken Gude vom Brain Trust CAP - einem in Washington angesiedelten "Denktank" - die pragmatische Auffassung, das Gefängnis in der Bucht von Guantánamo diene "Amerikas Sicherheitsinteressen" nicht.

Tatsächlich werden keinerlei Schritte in Richtung der von Obama erneut angekündigten Schließung der langjährigen Folterhölle unternommen. Zu deren "Standardprogramm" gehörte zu Bushs Zeiten außer zermürbender Isolierhaft in extrem heißen oder auch stark unterkühlten Zellen das berüchtigte Waterboarding, bei dem der Kopf eines Delinquenten bis an die Schwelle des Ertrinkens unter Wasser gedrückt wird. Damals äußerte Obamas Vorgänger im Weißen Haus seine Genugtuung über die von ihm "zum Schutz Amerikas gefaßten harten Entschlüsse".

Prof. Raul Hinojosa von der University of California vertrat den Standpunkt, der jüngste Hungerstreik in Guantánamo beweise, daß die Lage angesichts von Obamas Tatenlosigkeit faktisch außer Kontrolle geraten sei. General John Kelly vom Südkommando der U.S. Army, dem das Lager direkt untersteht, stimmte dem zu, indem er ebenfalls erklärte, die Nahrungsverweigerung der Häftlinge resultiere daraus, daß sich die von ihnen erhoffte Entlassungsorder des Präsidenten einmal mehr als leeres Gerede erwiesen habe.

Zweifellos verbirgt sich hinter solcher Schuldzuweisung auch die Absicht des Pentagons, dem ungeliebten Afroamerikaner an der Spitze der Vereinigten Staaten den Schwarzen Peter zu überlassen.

RF, gestützt auf "Granma", Havanna

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Zum Profil des ersten indigenen Präsidenten Boliviens

Die Moral des Evo Morales

Evo Morales, der 54jährige Präsident der lateinamerikanischen Republik Bolivien, wurde auf dem Altiplano als Sohn einer indianischen oder - wie man heute sagt - indigenen Kleinbauernfamilie geboren. Schon früh trat der junge Mann ins politische Leben. 1988 nahm er als Delegierter am Gewerkschaftskongreß des Verbandes werktätiger Bauern teil. Neun Jahre später wurde er auf der Liste der Vereinigten Linken ins Parlament gewählt - und zwar zu Zeiten der scharf rechtsgerichteten und USA-hörigen Diktatoren Hugo Banzer und Jorge Quiroga. 2002 entzog eine "Ethikkommission" der durch die Rechte beherrschten Kammer dem Abgeordneten Morales sein Mandat, weil er sich für das Recht der Bauern ausgesprochen hatte, den brutalen Attacken der Armee auch bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen. Doch der Volkstribun gab nicht auf: Nur wenige Wochen später war er bereits der linke Alternativkandidat zu dem dann gewählten rechtsliberalen Präsidenten Sanchez de Losada. Auf Anhieb stimmten 20 % der Votierenden für Morales.

2003 entbrannten in Bolivien erbitterte Klassenschlachten, die etwa 100 Menschenleben forderten. Trotz des Terrors der Herrschenden eroberte die von Evo Morales gegründete Bewegung für den Sozialismus (MAS) Platz 1 unter den Parteien, Bei den Munizipalwahlen entfielen auf sie 18 % der abgegebenen Stimmen.

Am 19. Dezember 2005 wurde Evo Morales mit einem Anteil von 53,7 % erster indigener Präsident des Plurinationalen Staates Bolivien. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Dezember 2009 kam er sogar auf 64 %. Die MAS verfügt seit Jahren über die absolute Mehrheit in Boliviens Parlament.

Der Erfolg des Politikers, der für seine bescheidene, warmherzige und kontaktfreudige Art im Umgang mit der Landesbevölkerung bekannt ist, beruht nicht zuletzt auch auf seinem für lateinamerikanische Verhältnisse recht ungewöhnlichen Leitungsstil.

In einem Interview, das Morales im März während eines Paris-Aufenthalts der französischen Wochenzeitung "L'Humanité Dimanche" gewährte, konnte der Bolivianer auf erstaunliche Leistungen verweisen. Ein paar Schlüsselbemerkungen seien im Folgenden zitiert: "Ich vertraue auf die sozialen Bewegungen. ... Wir unterhielten immer gute Beziehungen zu Venezuela. ... Wir gestatteten die Teilnahme der ärmsten Schichten und der indigenen Bevölkerung an der Machtausübung, was zur Konsolidierung unserer Revolution führte. ... Wir sind nicht mehr von den Manövern der Botschaft der Vereinigten Staaten abhängig. Der letzte US-Missionschef konspirierte gegen uns. ­... Ich habe ihn rausgeworfen."

Evo Morales hegt indes über Washingtons subversive Absichten keine Illusionen: "Wir müssen wachsam bleiben", bemerkte er. Der Staatsstreich, mit dem 2009 im zentralamerikanischen Honduras ein linksbürgerlicher Präsident durch ein von der CIA koordiniertes Komplott der Oligarchien zu Fall gebracht worden sei, werde in Bolivien keineswegs als Bagatelle betrachtet. So etwas könne sich anderswo auf dem Subkontinent jederzeit wiederholen.

Evo Morales beugt sich nicht. "Mit Fidel (Castro) und dann mit Hugo (Chávez) haben wir die Furcht vor dem Imperium verloren", sagte er. "Ich bin zu der Schlußfolgerung gelangt, daß es Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Armut und Diskriminierung geben wird, wenn wir uns nicht des Kapitalismus entledigen." Das heutige Bolivien habe sich von der Kolonialisierung befreit.

Die bei den Wahlen erzielten Erfolge seien materiell untersetzt: Seine Regierung habe 1,3 Millionen Bolivier aus extremer Armut herausgeführt. Noch 2003 hätten 68,2 % der Landesbürger unterhalb der Armutsschwelle vegetieren müssen, jetzt liege die Quote deutlich niedriger. Die Arbeitslosigkeit betrage derzeit noch 5,5 %. Die Lage auch auf diesem Gebiet habe sich derart verbessert, daß etliche ins Ausland abgewanderte Landesbürger bereits wieder zurückgekehrt seien.

Die jüngste ökonomische Entwicklung Boliviens spricht für sich: Während der Staat 2005 erst 600 Millionen Dollar investierte, werden es 2013 nicht weniger als 6 Milliarden sein. Die Einnahmen der Republik aus der Erdölförderung stiegen von 300 Millionen auf über 4 Milliarden Dollar. "Wir haben die Verträge mit den "Multinationalen" umgedreht: Heute lassen wir ihnen einen Profit von 18 %, während wir 82 % behalten, wobei die Förderung mit der gewährten Summe für sie immer noch sehr rentabel ist."

Und auch diese Tatsache spricht Bände: Inzwischen besitzen sieben der elf Millionen Bolivier eigene Bankkonten. "Wir haben unsere Würde zurückgewonnen", sagte Evo Morales der "Huma Dimanche": "Wir entwickeln produktive Bereiche wie die Petrolchemie, den Eisenerzbergbau und die Gewinnung von Lithium. Heute gibt es im Plurinationalen Staat Bolivien ein allgemeines Altersrentensystem, das zuvor nicht existierte. 800.000 Personen beziehen eine Form von Sozialhilfe, die bei uns als 'Rente der Würde' bezeichnet wird. Ein neues Gesetz über finanzielle Dienstleistungen verpflichtet die Banken, einen Teil ihrer Jahreseinnahmen für die ökonomische Entwicklung des Landes zur Verfügung zu stellen", fügte Evo Morales hinzu.

"In den Familien unserer Führer bereichert sich niemand", betonte der Präsident. "Ich selbst habe mein Gehalt von 40.000 Bolivianos auf 15.000 heruntergesetzt. Daher gibt es Gewerkschaftsführer, die mehr als der Staatschef verdienen, doch das ist mir egal."

Evo Morales, von der Zeitung als "diskret und schlicht" geschildert, beantwortete überdies Fragen des Brüsseler PTB-Organs "Solidaire". "Unser Modell besitzt eine ökonomische Basis: Wir haben die natürlichen Ressourcen verstaatlicht und anschließend die bestehenden Verträge mit ausländischen Unternehmen modifiziert", sagte er. Man müsse eine Harmonie zwischen dem Menschen und der Natur - der Mutter Erde - herbeiführen, Die beste Art, den Menschen zu verteidigen, sei zuerst, die Natur zu bewahren. "Wenn wir den Planeten zerstören, haben Menschenrechte keinen Sinn mehr!" sagte Morales. "Wir wollen, daß Wasser, Elektrizität und Telekommunikation Gemeineigentum sind. Der Staat muß eine wichtige Rolle in der Volkswirtschaft spielen und den sozialen Fortschritt garantieren."

RF, gestützt auf "L'Humanité dimanche", Paris, und "Solidaire", Brüssel

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Wie Moçambique zum Tummelplatz von Beutejägern wurde

Dann kam Monika ...

Das Heldenepos der damals von Kämpfern wie Samora Machel geführten Front für die Befreiung Moçambiques (Frelimo), die dem portugiesischen Kolonialfaschismus schwere Schläge versetzte, ist in die Geschichte eingegangen. Der opferreiche Kampf der Frelimo trug maßgeblich zum Sieg der Nelkenrevolution im "Mutterland" bei. Viele Militärs des 25. April wurden durch die auf afrikanischem Boden erlittenen Niederlagen der Streitkräfte Lissabons zu tieferem Nachdenken über Faschismus und Krieg veranlaßt.

Als der später bei einem Flugzeugabsturz ums Lebens gekommene Samora Machel dann erster Präsident eines von der Kolonialherrschaft erlösten Moçambique war, schlug Maputo mit aktiver Unterstützung sozialistischer Länder - nicht zuletzt auch der DDR - den Weg der nichtkapitalistischen Entwicklung ein. Nach der Auflösung des RGW und des Warschauer Paktes - einer dramatischen Folge des Zusammenbruchs der von Verrätern in den Abgrund gerissenen UdSSR - entstand auch für Länder wie Angola und Moçambique ein unauffüllbares Vakuum: Ohne den Rückhalt ihrer bisherigen Freunde und Verbündeten ließ sich der Kurs nationaldemokratischer Orientierung nicht fortsetzen. Als Option blieb für den afrikanischen Flächenstaat nur die von imperialistischen Mächten diktierte kapitalistische Entwicklung.

Für Moçambique hatte der nun folgende Prozeß besonders auf landwirtschaftlichem Gebiet verheerende Auswirkungen. Bei einer bestellbaren Agrarfläche von 36 Millionen Hektar ist das relativ dünn besiedelte Land, in dem 35 % der Einwohner ständig Hunger leiden, zum Lebensmittelimport gezwungen.

In Moçambique nimmt der Staat laut Gesetz die Grundeigentümerrechte auf dem gesamten nationalen Territorium wahr. Tatsächlich aber sind inzwischen ganze Heerscharen in- und ausländischer Investoren über die Moçambiquaner hergefallen, seitdem Maputo 7 Millionen Hektar "ungenügend genutzter Flächen" zum Erwerb freigegeben hat. Sie haben sich bereits 2,5 Millionen Hektar unter den Nagel gerissen.

Heute befindet sich Moçambique unter den zehn weltweit für "Land-Deals" am meisten ins Visier genommenen Territorien. Die von den großen Investoren des Agro-Business an den Tag gelegte Eile übertrifft fast noch das Tempo, mit dem sich die Kolonialmächte einst des schwarzen Kontinents bemächtigten.

Im Bezirk Chuire der Nordprovinz Cabo Delgado jagen ausländische Anleger nach kultivierbarem Land für alles, was Profit bringt - von Bananen bis zu Bio-Sprit-Rohstoffen. Eingesessene Familien, die bislang den Boden für ihre kleinen Wirtschaften nutzten, wurden rücksichtslos vertrieben oder in weniger fruchtbare Landstriche abgedrängt. Im Großaufkauf von Flächen gilt der Konzern Eco-Energia als besonders aggressiv. An der Spitze des Mutterhauses steht der Schwede Per Carstedt, zuvor Topmanager des führenden europäischen Bioethanol-Imperiums SEKAR. Ouroverde - zu deutsch: grünes Gold - mit niederländischem regierungsoffiziellem und privatem Hintergrund hat schon 1,3 Millionen Dollar in die auf mindestens 25 Jahre ausgelegte Nutzung einer Tausend-Hektar-Fläche gesteckt. Auch Eco-Energia beabsichtigt, durch den Anbau von Zuckerrohr und anderen Rohstoffen für Bioethanol auf insgesamt 30.000 Hektar langfristig Profit zu machen.

Nach Errichtung der Volksmacht unter Führung der Frelimo hatten die moçambiquanischen Dorfbewohner - parallel zur Landbesetzung durch das Agrarproletariat in der südportugiesischen Bodenreformzone - ohne große Umstände den Boden in Besitz genommen und bestellt.

"Dann kam Monika", erinnerte sich der örtliche Frelimo-Funktionär Martiño Silva. Es handelte sich um Monika Brauks, die Geschäftsführerin von Eco-Energia. Mit den Worten "Ich möchte etwas Land" habe sie sich sehr moderat eingeführt. Da die Plantage vor allem jungen Leuten bezahlte Arbeit bot, hätten sich die Dorfbewohner darauf eingelassen.

In Chuire wurden der ortsansässigen Bevölkerung auch andere kostbare Ressourcen geraubt. So hat das deutsche Bergbauunternehmen Kropfmühl die Wälder rund um das von ihm erkundete Revier hermetisch abgeriegelt.

Luis Muchanga vom nationalen Bauernverband UNAC verglich den Streit um Grund und Boden in Moçambique mit einem Wettrennen. "Die Konzerne entwickeln einen mächtigen Appetit", erklärte er. Übrigens sei das bedeutende afrikanische Land keineswegs menschenleer gewesen, wie die Aufkäufer des ausländischen Agro-Business behaupten. In ihren anfangs sozialistischen Zielsetzungen habe die Frelimo eine hochmechanisierte und kollektiv betriebene Landwirtschaft anvisiert. Heute signalisiere man in Maputo statt dessen Interesse an "Investitionen großen Stils".

Um kein einseitiges Bild entstehen zu lassen: In Moçambique hat sich nach den langen Jahren des Bürgerkrieges auf kapitalistischer Grundlage eine nicht zu verkennende ökonomische Entwicklung vollzogen. Das Land wird inzwischen von den bürgerlichen Medien auf Grund seiner Wachstumsraten (2012: 7 %) als einer der "afrikanischen Löwen" gepriesen.

Noch 1997 war in Maputo ein durchaus progressives Gesetz über Boden- und Gemeinderechte auf den Weg gebracht worden. Inzwischen weist die Praxis kraß gegenläufige Tendenzen aus. Vielfach werden rechtmäßige Landnutzer skrupellos enteignet und vertrieben. Korrupte Politiker reißen die besten Flurstücke an sich, kapitalistische Unternehmer nutzen Steuerschlupflöcher aller Art, die Bodenpacht ist bei 40 Cent pro Hektar eine Farce.

Jacinto Tualufo, dessen Behörde diesen Prozeß in der Hauptstadt "überwacht", bestätigte, daß die Erwerbs- und Nutzungsanträge an Größe und Zahl ständig zunehmen. "Wir müssen aus diesen Investitionen Kapital schlagen", erklärte er. "Wenn wir Angst vor einer solchen Entwicklung haben, verpassen wir eine Chance."

Während Moçambiques BNP weiter wächst, stagniert die offiziell angestrebte Verringerung der Armutsrate. Auf dem Lande steigt sie sogar weiter an. Die allgegenwärtige Korruption tut ein übriges.

Die zweite große Bedrohung der Souveränität Moçambiques ist das ProSavana-Projekt. Maputo bot dafür ursprünglich 14 Millionen Hektar der die Nordregionen durchziehenden tropischen Savanne an. Das brasilianische Agro-Business will dort landwirtschaftliche Fertigerzeugnisse und Rohstoffe für den Export nach Japan produzieren lassen. Doch das riesige Gebiet, um das es dabei geht, ist derzeit die Heimat Hunderttausender Bauernfamilien. In ihrem Namen trommelt die UNAC Alarm.

Um die Aufbegehrenden zu beruhigen, versprechen die Drahtzieher von ProSavana eine "Partnerschaft" mit den kleinen Grundbesitzern. Ob das allerdings der Dimension eines Vorhabens entspricht, das Investitionen in Höhe von 2 Billionen Dollar für gigantische Projekte bereitstellen will, ist mehr als fraglich. Schon jetzt wird den Bauern, die in der anvisierten Zone leben, eine Umsiedlung dringend empfohlen.

RF, gestützt auf "The Guardian", Sydney

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Wo zum Tode Verurteilte noch immer ans Kreuz geschlagen werden

Berliner Segen für Riads Henker

Im Reich König Abdullahs gilt die Scharia - das radikalislamistische Glaubens-Strafrecht. Wer in Saudi-Arabien - oftmals wegen eines Bagatelldelikts - zum Tode verurteilt wird, stirbt vor versammelter Mannschaft durch Enthauptung mit dem Schwert, kann aber auch durch "traditionellere Methoden der Exekution" ins Jenseits befördert werden: durch Steinigung, Kreuzigung, Vierteilung oder Beerdigung bei lebendigem Leibe.

Die Delikte, die eine Scharia-Hinrichtung nach sich ziehen können, reichen von Kapitalverbrechen wie Mord und Raub über Vergewaltigung, bewaffneten Überfall und Drogenhandel bis zum Narkotika-Konsum. Das für die Einhaltung diesbezüglicher Normen sorgende "Komitee zur Förderung der Tugenden und zur Verhütung des Lasters" hält es übrigens keineswegs für erforderlich, daß Beschuldigten ein Verteidiger zur Seite gestellt wird. Ein Verbot der "landesüblichen" Folter Verdächtiger wird von ihm ebensowenig in Erwägung gezogen.

In diesem Frühjahr ereignete sich ein spektakulärer Vorfall: Der wegen der Entwendung eines Ringes zum Tode verurteilte Nasser Al-Qahtani, dessen Kreuzigung am 12. März stattfinden sollte, vermochte aus dem Gefängnis in Abha die US-Nachrichtenagentur AP anzurufen. Er habe bei dem vor vier Jahren erfolgten Überfall auf ein Juweliergeschäft keine Waffe besessen oder benutzt, sei aber unter der Folter zum Geständnis eines bewaffneten Raubes gebracht worden, stieß er einen verzweifelten Hilferuf aus. 2009 hatte ein Scharia-Gericht den damals 15jährigen und sieben Mitangeklagte, die einer kriminellen Bande angehört haben sollten, zum Tode verurteilt. Drei davon nur zur "milden Form" der Erschießung.

Diese Hinrichtungsmethode solle fortan im Königreich Standard werden, da die bisherige Art der Exekution wegen des finanziellen Aufwandes für die Organisierung und Überwachung einer angemessenen Öffentlichkeit zu hohe Kosten verursache, berichtete die saudische Zeitung "Okaz". Außerdem mangele es an "qualifiziertem Tötungspersonal".

Saudi-Arabiens "prominentester Henker" Saad Beshi äußerte im Jahre 2003 gegenüber der englischsprachigen Zeitung "Arab News", er enthaupte am Tage mehr als zehn Delinquenten. Daher halte er sein Schwert ständig scharf, überlasse aber dessen Säuberung seinen Kindern. "Es überrascht, wie schnell ich den Kopf vom Rumpf trenne", zitierte das Blatt den beamteten Massenmörder seiner Majestät.

Doch das Scharia-Gesetz läßt in bestimmten Fällen auch Gnade vor Recht ergehen. Betuchten Verurteilten gestattet es, der Hinrichtung durch Lösegeld zu entgehen. Dieses - als Diyya bezeichnet - wird von der Familie eines sonst Todgeweihten an die Staatskasse überwiesen.

Eine Diyya kann bis zu 1 Million Dollar betragen. Für den der Kreuzigung überantworteten kleinen Ringdieb Nasser Al-Qahtani kam ein solcher Freikauf allerdings nicht in Frage.

Ali al-Ahmed, Direktor des Washingtoner Instituts für Angelegenheiten der Golfstaaten, äußerte sich in einem Schreiben an den Hohen Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen zu dem im erwähnten Juwelendiebstahls-Fall ergangenen Todesurteil. Grund für das harsche Strafmaß sei die Herkunft der Angeklagten aus dem Landessüden gewesen, dessen Bewohner in Saudi-Arabien generell als Bürger zweiter Klasse betrachtet würden.

Im Januar 2012 äußerte das für die Einhaltung der Menschenrechte zuständige UNO-Gremium seine Besorgnis über die weiter anwachsende Zahl von Hinrichtungen in dem mittelöstlichen Königreich. Während 2010 offiziell "nur" 26 Menschen ins Jenseits befördert worden seien, belaufe sich die bekanntgegebene Zahl 2011 in Saudi-Arabien vollstreckter Todesurteile auf 76. Unter den Betroffenen befanden sich 3 Frauen und 11 ausländische Bürger. Der Fall einer 54jährigen indonesischen Hausangestellten, die in jenem Jahr wegen Ermordung ihres Brotherrn enthauptet wurde, erregte international Aufmerksamkeit. Sie hatte den Peiniger nach einer brutalen Vergewaltigung erstochen.

Menschenrechtsorganisationen berichten, daß derzeit 45 in Saudi-Arabien als Gastarbeiterinnen tätig gewesene Frauen aus Indonesien wegen verschiedener, oftmals geringfügiger Eigentumsdelikte von Hinrichtung bedroht seien.

Das mittelalterlich-feudale Land zählt zu den repressivsten Staaten der Welt, erfreut sich aber dessenungeachtet des besonderen Wohlwollens der USA und gilt als deren treuester Bündnispartner in der Region - nicht zuletzt auch wegen seiner üblen Rolle bei der indirekten Aggression gegen das Syrien Präsident Assads.

Die politisch-moralische Doppelzüngigkeit des Westens manifestiert sich überdies in der "verläßlichen Partnerschaft" der BRD mit dem Regime König Abdullahs. Ein führender Außenpolitiker der CDU/CSU-Fraktion würdigte "die Bedeutung Riads für die deutsche Mittel-Ost-Politik".

In einer Bundestagsdebatte über die Ausweitung des seit etlichen Jahren betriebenen lukrativen Waffenexports bundesdeutscher Rüstungskonzerne nach Saudi-Arabien durch Lieferung von Boxer-Radpanzern war seitens der christdemokratisch geführten Merkel-Regierung kein Protest gegen die anhaltenden Kreuzigungen in Saudi-Arabien zu vernehmen.

RF, gestützt auf "Prawda", Moskau, und "The New Worker", London

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Als "Prawda"-Reporter Henry Ford interviewten

Flüsterpropaganda hat mich zu einem Buch geführt, in das ich mich schon allein durch seine wunderschöne Gestaltung verliebt habe. Es ist keine Buchpremiere und doch etwas Neues, zieht man die Zeitspanne in Betracht, die vom ersten Erscheinen bis zur heutigen Verfügbarkeit auch in Deutschland vergangen ist.

Potentielle Leser mögen jetzt sagen: Wen interessiert denn heute die Beschreibung einer Reise durch die USA in den 30er Jahren? Noch dazu, wenn sie von zwei Sowjetbürgern stammt, die sich ohne jegliche Vorkenntnisse und kaum des Englischen mächtig damals auf die Reise begeben haben, um den Lesern der Moskauer der "Prawda" ihre Eindrücke zu vermitteln. "Nichts als Propaganda", wehren die einen ab, während andere den Einwand erheben, man müsse doch heute nicht mehr das "Amerika des Henry Ford" in Augenschein nehmen.

Abwarten, denn vorerst ist ja völlig ungewiß, um was es geht, muß ich da mit Mr. Adams ausrufen, der Ilja Ilf und Jewgeni Petrow - die beiden Reporter - durch das "eingeschossige Amerika" begleitet. Warum eingeschossig? Was soll diese seltsame Metapher?

Gemach: Sind die USA denn wirklich nur das Land der nahezu himmelragenden Wolkenkratzer? In den Städten und Ortschaften der Vereinigten Staaten sieht man ganz überwiegend ein- und zweigeschossige Gebäude. "Die Mehrheit der Menschen lebt in Kleinstädten mit drei- bis zehntausend Einwohnern", klären uns Ilf und Petrow auf. Die beiden besuchten 25 Bundesstaaten und Hunderte Städte oder Orte, atmeten die heiß-trockene Luft von Wüsten und Prärien, überquerten die Rocky Mountains, erlebten indianische Ureinwohner, sprachen mit jungen Arbeitslosen, hartgesottenen Kapitalisten, radikalisierten Intellektuellen und revolutionären Arbeitern, mit Schriftstellern und Ingenieuren. Und je länger wir mit ihnen unterwegs sind, um so stärker nehmen wir wahr: Eingeschossig sind in den USA nicht nur die meisten Bauten, auch das Denken des überwiegenden Teils der Bewohner des Riesenlandes folgt sehr unkomplizierten Strukturen, was manchmal von Vorteil sein kann - für die Mächtigen, versteht sich. Ungeachtet seiner hektischen Betriebsamkeit sei der Durchschnittsamerikaner ziemlich passiv. "Sagen Sie ihm, welches Getränk besser ist, und er wird es trinken. Teilen Sie ihm mit, welche politische Partei für ihn am günstigsten ist, und er wird sie wählen. Erklären Sie ihm, welcher der wahre Gott ist, und er wird an ihn glauben", lesen wir bei den reisenden Russen.

Menschen, die das Land gut kennen, sagen mir, allzu überholt sei das Urteil der beiden sowjetischen Autoren bis heute nicht. Und so wäre auch jene gelbe Reklametafel mit der Aufschrift: "Revolution ist eine Regierungsformel für das Ausland" auch jetzt noch denkbar.

Aber da Ilf und Petrow als profilierte Literaten und im Metier der Satire erfahrene Leute (man denkt da unwillkürlich an die "Zwölf Stühle" oder "Das goldene Kalb") alles andere als "eingeschossige" Denker sind, fesseln sie uns mit ihrem Bericht nicht weniger als George Bernard Shaw oder Mark Twain.

Mir kommen bei der Lektüre dieses Buches unwillkürlich Heines Reisebilder in den Sinn. Vielleicht ist das wegen des scharfsichtigen Blickes so, mit dem die Autoren ihre Umwelt durchleuchten, aber auch deshalb, weil ihr Text locker daherkommt und nicht von der Galle des Vorurteils getrübt ist. Diese Sowjetbürger erleben die Hochburg des Kapitalismus zwar unvoreingenommen, doch keineswegs naiv. Und sie sind fesselnde Erzähler. Amerikanische Technik sei unvergleichlich höher entwickelt als das Gesellschaftssystem, urteilen sie. Während immer neue Erfindungen phantastische Dinge, die das Leben erleichtern, produzierbar machten, gebe der Kapitalismus den Amerikanern nicht die Möglichkeit, genügend Geld zu verdienen, um all das auch erwerben zu können. Raten und Kredite seien die Folge.

Die beiden "Prawda"-Journalisten begegnen übrigens auch Henry Ford und sind von dessen Organisationstalent wie der Technologie des Konzerns beeindruckt, ohne dabei zu übersehen, daß in den Ford-Werken eine eigene Geheimpolizei existiert, während Gewerkschaften nicht zugelassen sind.

Ilja Ilf und Jewgeni Petrow zeigen sich von der Hilfsbereitschaft der Amerikaner und dem erstklassigen Service, der ihnen überall begegnet, sehr beeindruckt, wobei sie ähnliche Empfindungen offensichtlich bei ihren Lesern auslösen. Einer von ihnen, J.N. Nikolajew aus Moskau, schrieb, das Buch der beiden Autoren sollte für alle Mitarbeiter sowjetischer Dienstleistungseinrichtungen zur Pflichtlektüre erklärt werden, damit sie lernten, "daß Service in der UdSSR nicht nur möglich ist, sondern auch besser und umfassender organisiert werden kann".

Das hat man bedauerlicherweise nicht getan. Im Vorwort schlägt Ilfs Tochter Alexandra die Brücke zur Gegenwart: "Heute haben auch wir in Rußland Schutzgelderpresser, Killer, ein Weißes Haus, nackte Mädchen, die nach Liebe dürsten, Hamburger und andere Genüsse. Äußerlich gibt sich unser Land alle Mühe, so zu werden wie Amerika ..."

Das Wichtigste steht allerdings noch aus, um Ilfs und Petrows Träume wahr werden zu lassen: "Wenn Amerika sowjetisch wäre, dann wäre es das Paradies."

Bernd Gutte


Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika, Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2011, 2 Bände im Schuber (Die Andere Bibliothek), 700 Seiten, 65 Euro

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Knifflige Fragen an Herrn Bach

Der noch amtierende Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der Belgier Jacques Rogge, streicht im September die Segel. Auf der IOC-Beratung im selben Monat soll sein Nachfolger gewählt werden. Als erster hat der Präsident des Olympischen Sportbundes der BRD, Thomas Bach, seinen Hut in den Ring geworfen. Er ist sicher nicht chancenlos, da er im Weltsport einen Namen besitzt und eine "weiße Weste" zur Schau stellt.

Inzwischen gibt es aber eine ganze Reihe weiterer Bewerber. Wer auch immer den IOC-Thron besteigen wird - wir haben Fragen an Thomas Bach, auf die wir gerne eine Antwort hätten.

Erstens: Sicher ist Ihnen bekannt, daß zu den Olympischen Spielen 1976 in Montreal den Aktiven durch Olympiaärzte der BRD 1400 Injektionen verabfolgt wurden. Sie waren als Degenfechter einer der in Betracht Kommenden. Erhielten auch Sie solche "Aufbauspritzen"?

Zweitens: Wie stehen Sie zu der unterschiedlichen Behandlung von Doping in der DDR und der BRD? Während Funktionäre, Trainer und Ärzte der DDR dafür strafrechtlich verfolgt wurden, gingen die Verantwortlichen der BRD, darunter deren Sportpräsidenten, die fünf Tote auf dem Gewissen haben, straffrei aus.

Drittens: Warum haben Sie auf der Tagung der IOC-Exekutive für die Streichung der Traditionssportart Ringen aus dem olympischen Programm gestimmt?

Viertens: Wie beurteilen Sie den wachsenden Einfluß der Medien, besonders in den USA, auf Programm und Zeitplan der Spiele? Steht dabei das Scheffeln von Millionen im Mittelpunkt?

Fünftens: Wie sehen Sie Ihre Verantwortung für den Niedergang solcher Kernsportarten wie Leichtathletik, Schwimmen, Schießen u. a. bei den Spielen 2012 in London? Ist nicht vieles den Bach hinuntergegangen, Herr Bach?

Sechstens: Wie beurteilen Sie das Absterben des Amateursports bei Olympia? Neben Tennis- und Fußballmillionären sowie Leichtathleten sollen künftig auch Profiboxer in den Ring steigen. So wollen die Supermillionäre Klitschko 2016 um Olympia-Gold boxen. Pierre de Coubertin, der Begründer der Spiele der Neuzeit - und nicht nur er -, würde einer solchen Entwicklung fassungslos gegenüberstehen.

Erhard Richter

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Ein großer Mime, Regisseur und Filmemacher zieht Bilanz

Schauspieler - ein Traumberuf?

Künstler sind Individualisten. Schauspieler in ganz besonderem Maße. Das macht der seltsame Beruf. Heute ein Bettler, morgen ein Edelmann. Heute der strahlende Jüngling, morgen der hinfällige Greis. Nachmittags im Atelier der Verbrecher mit der Strumpfmaske, vier Stunden später Prinz Hamlet auf der Bühne.

Allerdings auch: heute auf dem roten Teppich, nächste Woche auf dem Arbeitsamt.

Im Gegensatz zu anderen künstlerischen Berufen muß der Mime nicht nur seinen Mund, sondern auch sein Herz und seine Seele aufreißen.

Kürzlich nannte dies ein Kollege "Kärrnerarbeit und eine selbstzerstörerische Form von seelischem Exhibitionismus". Und das Tag für Tag, Abend für Abend. Rückhaltlos und mit voller Leidenschaft alles zu geben, wessen er mit seiner Begabung und seinem Talent fähig ist.

Ich spreche hier nicht von drei bis vier Dutzend Ausnahmen, den sogenannten Stars, die allabendlich in schöner Regelmäßigkeit über die Röhre ins Wohnzimmer kommen und dadurch einen hohen Bekanntheitsgrad haben, sondern von den rund 15.000 Schauspielern in der Bundesrepublik, von denen, laut Presse, nur etwa 20 Prozent ein festes Einkommen haben. Es gebe leider auch ein gewisses Schauspielerproletariat, von dem viele die Hoffnung niemals aufgeben, doch noch irgendwann als große Begabung entdeckt zu werden.

Nirgends gibt es so viele Enttäuschungen wie in der Kunst.

Etliche meiner Kollegen, darunter auch sehr bekannte und hochtalentierte, hatten aus persönlichen, politischen oder auch finanziellen Gründen in den 70er Jahren bedauerlicherweise die Seiten gewechselt und den Sprung ins kühle Westwasser gewagt.

Einige wenige haben eine steile und spektakuläre Karriere gemacht. Andere waren dagegen nicht auf Rosen gebettet. In manchen ihrer Erinnerungen wird ehrlich davon berichtet. Alle hinterließen damals schmerzhafte emotionale Lücken, weil sie bis dahin unsere Freunde, Kollegen und Weggefährten waren auf dem schweren und mühsamen Weg zu einer ehrlichen und humanen Kunst, von uns und dem Publikum hochgeschätzt.

Wunden, die man sich gegenseitig zugefügt hat, sind inzwischen geschlossen und vernarbt. Was bleibt, ist der Phantomschmerz. Einer der damaligen Protagonisten sprang in einer Lesung für einen erkrankten Kollegen ein. Es war in unserer Nähe. Ich hatte ihn zwar 30 Jahre nur ab und zu via Bildschirm gesehen, war aber trotzdem überrascht, wie jung, vital und kraftvoll der über 70jährige las und agierte. Ich fühlte - für mich selbst überraschend - so etwas wie meine frühere Sympathie und Respekt für ihn aufkeimen.

Da geschah etwas, was mich beinahe aus der Fassung brachte. Unvermittelt und übergangslos fing er plötzlich an zu singen. Ganz leise: "Spaniens Himmel ..." Er hatte ein spitzbübisches Lächeln im Gesicht und strahlte seine Zuhörer, die alle nicht weniger überrascht waren als ich, dabei an. Er wurde von Strophe zu Strophe immer lauter, und allmählich summten und sangen alle mit. Außer mir. Ich war so entsetzt und überrascht, daß ich beinahe aufspringen und gehen wollte. Meine Frau, die das spürte, hielt mich fest.

Ich brauchte auf dem Heimweg lange, um meinen Unmut wieder loszuwerden. Ich hätte ihm gern gesagt, daß ich ihm das Recht, Lieder zu singen, die uns so viel bedeuteten, erst zubilligen würde, wenn er sie auch öffentlich wie hier in Ostberlin am Ku'damm oder Tauentzien singen würde.

Vorbei, abgehakt, ich bin ihm fast wieder gut.

Er und seine Frau, eine von mir hochgeschätzte Kollegin, gehörten immerhin nicht zu den vielen Theatertrupps, die in den neunziger Jahren durch die deutschsprachigen Lande zogen, kleine zugkräftige Stücke spielten und anschließend ihren Gagenanteil aus dem Schuhkarton, der als Abendkasse herhalten mußte, zugeteilt bekamen.

Unsere Künstler wurden nach ihren jeweiligen Fähigkeiten und Leistungen entlohnt. Sie waren keineswegs meßbar an heutigen Spitzengagen, aber so angemessen, daß jeder nach seiner Fähigkeit menschenwürdig leben konnte und nicht gezwungen war, Türklinken zu putzen.

Wir hatten an unseren qualifizierten Ausbildungsstätten - Theaterhochschule Leipzig, Schauspielschule "Ernst Busch" und Hochschule für Film und Fernsehen - nur hochbegabte Studenten ausgebildet, wie wir sie für unsere 50 bis 60 Theater, die DEFA und das Fernsehen benötigten. Wir haben keine glitzernde Scheinwelt geschaffen, sondern uns bemüht, Schillers "Bühne als moralische Anstalt" zu begreifen und auch als unsere Zielstellung zu betrachten.

Ich halte es für ein großes Glück, mit hervorragenden Vertretern unserer Gattung an Theater, Film und Fernsehen tätig gewesen zu sein.

Es war vor 60 Jahren. Ich war Oberspielleiter und Chefdramaturg in Altenburg, gastierte aber schon in Weimar und Leipzig, da delegierte man mich überraschend in die Hauptstadt. Ich sollte als sogenannter Intendantennachwuchs einige Monate bei den Chefs der Berliner Bühnen hospitieren. Ich meldete mich nacheinander bei Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater, bei Bert Brecht und Helene Weigel am Berliner Ensemble, bei Fritz Wisten im Theater am Schiffbauerdamm, später Volksbühne, und bei Maxim Valentin am Maxim-Gorki-Theater.

Allen war gemeinsam, daß sie Konzentrationslager, Emigration oder beides durchlebt und durchlitten hatten. Sie waren Theaterpersönlichkeiten mit reicher Erfahrung, deren Kunst auch durch ihre Erlebnisse geprägt wurde.

Ich hatte mit jedem von ihnen ein tiefgehendes Eingangsgespräch und erhielt Gelegenheit, nicht nur alle Proben und Vorstellungen zu besuchen, sondern mich auch in allen Leitungsfragen bei entsprechenden Mitarbeitern kundig zu machen.

Daß ich dies weidlich nutzte und Erfahrungen sammelte, die für meine weitere künstlerische Arbeit unschätzbar waren, versteht sich. Ich kam mit beinahe allen Kollegen zusammen, mit denen ich zum Teil später auch selbst arbeiten durfte. Da gab es die Ost- und Westemigranten, die Dagebliebenen und die wieder aufgetauchten alten UFA-Schauspieler, die jungen Genies und die älteren Seiteneinsteiger, nicht zu vergessen die österreichische Garde um Wolfgang Heinz und Karl Paryla mit ihrem Anhang.

Die Proben der Regisseure wie Brecht, Engel, Langhoff, Wisten, Vallentin und anderen waren in ihren handwerklich-künstlerischen Unterschiedlichkeiten verblüffend. Gleichwohl beinhalteten sie eine große Einheitlichkeit in der künstlerischen Zielsetzung und in der humanistisch-philosophischen Grundeinstellung.

Es waren prall mit Ereignissen gefüllte erlebnisreiche Wochen, die sowohl meine Arbeit als auch meine Haltung eindringlich geprägt haben. In vielem bis heute.

Es sind wenige Schauspieler, mit denen ich in ungefähr 40 Theaterinszenierungen, sehr vielen Fernsehspielen, Filmen und Serien nicht in Berührung gekommen bin. Mit einer gewissen Wehmut gedenke ich meiner ehemaligen Studenten, die ich schon lange Zeit überleben durfte.

Allen Kollegen, Freunden und Mitarbeitern dankbare Erinnerung! Sie waren mir vor und hinter der Kamera gute Weggefährten und wichtige Helfer bei unserer oft aufwendigen und mitunter auch gefahrvollen Arbeit.

Theater, Film und Fernsehen sind Medien mit verschieden großen und unterschiedlich gewichtigen Einzelleistungen, die aber erst im Kollektiv, in der Bündelung der Beiträge, ein Gesamtwerk ergeben. Für mich war jeder Mitarbeiter ein Star. Und ist es heute noch!

Rudi Kurz

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Briefmarken offenbaren den Charakter eines Staates

Philatelistische Visitenkarte der DDR (3)

Im Gegensatz zur Politik des nach der Niederlage von 1945 im Westen wiederauferstandenen deutschen Staates, zu dessen Insignien die arrogante Bevormundung anderer Nationen und rücksichtsloses Herumtrampeln auf deren souveränen Rechten gehört, verfolgte die DDR einen absolut konträren Kurs. Sie verband die Wahrnehmung legitimer eigener Interessen mit profundem und niemals erkaltendem Internationalismus gegenüber ihren Bruderländern aus RGW und Warschauer Vertrag, jungen Nationalstaaten mit nichtkapitalistischer Orientierung, antikolonialen Befreiungsbewegungen und Opfern imperialistischer Kriege oder repressiver Gewalt sowie mit der revolutionären Arbeiterbewegung aller Länder. Diese zutiefst humanistische Haltung beruhte auf der schon 1848 von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formulierten Generallinie einer künftigen Weltbewegung, die dem bürgerlichen Nationalismus sowie seiner extremen Ausprägung in Gestalt des Chauvinismus und Rassismus kompromißlos den Kampf anzusagen bereit ist.

Auch unter diesem Aspekt war die philatelistische Visitenkarte der DDR sauber und gegenüber jedermann vorweisbar. Zahlreiche ihrer Briefmarken-Editionen sind vom Geist der Völkerfreundschaft geprägt. Breiten Raum nahm die Solidarität mit Kuba und dem von den USA brutal überfallenen vietnamesischen Volk, dem von der CIA erdrosselten Chile Salvador Allendes, den vom südafrikanischen Apartheidregime Drangsalierten, gegen den portugiesischen Kolonialismus in Afrika Aufbegehrenden, dem palästinensischen Volk, den sandinistischen Kämpfern des sich befreienden Nikaragua und dem anderen Amerika Paul Robesons ein, um nur einige Motive zu erwähnen.

Etliche Briefmarkenserien der DDR bezogen sich nicht auf konkrete Schauplätze des antiimperialistisch-antikolonialen Kampfes und der Abwehr von Überfällen und Aggressionen, sondern dienten durch ihren zum normalen Posttarif erhobenen Aufschlag der Sammlung von Mitteln für Zwecke der internationalen Solidarität.

Die DDR blieb dieser Mission bis zur letzten Minute ihrer Existenz als sozialistischer deutscher Staat treu, da jene Pseudo-DDR, welche sich nach den unter massiver Einmischung bundesdeutscher Parteien abgehaltenen Wahlen vom 18. März 1990 bis zur Annexion durch die BRD etablierte, hier natürlich auszuklammern ist.

Noch am 5. September 1989 brachte das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen der DDR eine Solidaritätsmarke für Zwecke der UNICEF heraus, der vom Hunger gezeichnete Kinder der Dritten Welt als Motiv hatte.

Rainer Albert, Zwickau

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Elfriede Brünings erster Roman gibt den Blick auf 1930 frei

Kleine Frau - was nun?

Unheil braute sich in der Regierungszeit Schleichers und Papens über Deutschland zusammen - diese Lesart ist 83 Jahre später Allgemeingut. Ein sehr selten gewordenes, lebendiges Zeugnis aus dem Jahre 1930 legt die damals 20- und heute 103jährige Elfriede Brüning ab. Sie zeigt in ihrem Roman-Erstling den bedrückenden Alltag einer Familie im damaligen Berliner Norden. Entrechtung und Demütigung bestimmen das Leben der schwer arbeitenden "Kleinen Leute" - des Tischlers Hermann Wegener, seiner Frau Anna, des 16jährigen Sohnes und der erwachsenen Tochter, einer Büroangestellten. Als Chronistin gibt Elfriede Brüning ihre eigene Lebenserfahrung wieder. Sie, die junge Kommunistin, sieht Hoffnung im grundlegenden Umgestalten der gesellschaftlichen Verhältnisse. In Brünings authentischer Beschreibung von damals leuchten unversehens aktuelle Bezüge auf.


Ein scheinselbstständiger Kleinhandwerker steckt im prekären unteren Ende einer "Zuliefer-Pyramide" fest, die weiter oben agierenden Vermarkter beuten seine wertschöpfende Arbeit skrupellos aus, drücken sein Entgelt bis ins Beschämende. Auch der Vermieter und andere Gläubiger bedrängen ihn ständig. Für den Möbeltischler und seine mitarbeitende Ehefrau bedeutet das nie endende Sorge um die Existenz und tägliches Schuften bis zum Umfallen: Armut trotz Arbeit.

Der heranwachsende Sohn versucht dieser Lebensperspektive mit Flucht in die alternative Jugendkultur zu entkommen.

Als Vater Hermann aufgeben und Transferleistung beantragen muß, rechnet die Wohlfahrtsbehörde das Gehalt der Tochter Trude an, die noch in der "Bedarfsgemeinschaft" des Elternhaushalts lebt. Eingezwängt in diese Notlage, entschließt sich diese zum illegalen Abbruch ihrer Schwangerschaft - und muß sich in der Klinik eine bevormundende Zwangsberatung gefallen lassen.

Solche und ähnliche Erscheinungen sind Alltag auch in der Gegenwarts-BRD. In dem Buch "Kleine Leute" bilden sie das Grundthema, um das sich die eskalierenden Konflikte in der Weimarer Republik aufbauen. Zuversicht geht von mehreren der Romangestalten aus: Da ist Hans, Trudes arbeitsloser Geliebter, der sich in der Kommunistischen Partei engagiert. Er will Arbeiter und andere "Kleine Leute" für die revolutionäre Sache gewinnen. Auch Hermanns ehemaliger Geselle Isaak spricht dem Meister mit sozialistischen Visionen Mut zu. Der Tischler jedoch ist in seiner eingebildeten Handwerkerehre befangen und mag sich vergesellschaftete Produktionsmittel nicht vorstellen. Dennoch bringen die Genossen um Isaak und Hans in der Nacht vor Hermanns Zwangsräumung die komplette Werkstattausrüstung vor dem Zugriff der Gerichtsvollzieher und Gläubiger in Sicherheit. Denn Arbeiterehre heißt Solidarität. Sie und nicht die Borniertheit der Innungskollegen verhilft Hermann zu einem Neuanfang. Er beginnt zusammen mit seiner unermüdlichen Frau Anna von vorn, abhängig diesmal von einer anderen Vermieterin - und geknebelt von denselben Schulden.

Hoffnungsträger sind vor allem die Frauengestalten des Romans. Anna hatte als Verlobte die Fortbildung ihres Liebsten zum Meister mit Tagen und Nächten an der Nähmaschine erwirtschaftet. Jetzt hält sie die Familie zusammen. Sie spricht Machtworte zum Sohn, wenn er wieder in die nach dem Führerprinzip gegliederte Scheinwelt der Pfadfinder ausweichen will oder übt Nachsicht. Immer kurz vor dem Ruin, treibt sie mit Einfallsreichtum Geld auf oder mit Geduld ihren Hermann aus der Resignation. Und die Tochter Trude verhindert mit dem Einsatz ihres kleinen Angestelltengehalts wieder und wieder die drohende Pleite des elterlichen Gewerbes.

Sie wird schwanger, muß aber auf eine Eheschließung und einen eigenen Haushalt verzichten. Aus der Abtreibungsklinik flieht sie im letzten Moment vor dem Eingriff. Die Mutter ist darüber bekümmert, daß Trude ein Dasein als Alleinerziehender bevorsteht. Doch als Trude ihr sagt "Wenn du willst, können wir ja heiraten - der Hans und ich." antwortet sie: "Wirst du endlich vernünftig, Trude? - Mein Gott, ich hätte das vor den Leuten nicht überlebt!" Die rechtlich niedere Stellung der unverheirateten Frau, die kleinbürgerlich-spießige Verachtung gegenüber ledigen Müttern und außerehelich geborenen Kindern - das immerhin hat sich seit 1930 dank des streitbaren emanzipatorischen Eintretens unterschiedlicher fortschrittlicher Kräfte geändert!

Elfriede Brüning hat zeit ihres Lebens und Schaffens immer wieder auf die Lage der Frauen hingewiesen und diese ermutigt, ihre gleichen Rechte einzufordern. In ihrem Erstlingswerk aus dem Jahre 1930 läßt sie die Eheleute Wegener den Vortrag eines fortschrittlichen Mediziners besuchen. Er bringt die vitalen erotischen Bedürfnisse älterer Frauen zur Sprache. Heute unstrittiges Wissen, daß es sie gibt und daß Mann und Frau sie befriedigen dürfen, aber unerhört mutig, zu damaliger Zeit darüber zu reden oder im Roman gar darüber zu schreiben! Hermann und Anna jedoch fehlen in ihrer Dauerbelastung Zeit und Muße zum Lieben.

Schließlich muß Hermann die "Stempelkarte" abholen. Anna bittet den beschäftigungslosen Mann, ihr in der kleinen Bücherei, die sie betreibt, zur Hand zu gehen. Doch er entgegnet: "Laß dir von den Kindern helfen. Ich mache keine Weiberarbeit." Anna, an Kummer gewöhnt, steckt auch diese Kränkung weg. Sie weiß, daß ihr Hermann ohne Arbeit verkümmert, und sie denkt konjunkturell im Bedarf der "Kleinen Leute". Ihre neue, bessere Geschäftsidee ist die Reparaturtischlerei.

Als die junge Autorin Elfriede Brüning, damals bereits aus den Feuilleton-Seiten einflußreicher Zeitungen bekannt, ihre erste literarische Arbeit veröffentlichen will, nimmt die nationale Katastrophe ihren Lauf: "Mein Buch war im Februar 1933 fertig geworden. Ich brachte das Manuskript zu Monty Jacobs, dem Feuilletonleiter der 'Vossischen Zeitung', denn alle linken Verleger waren bereits verhaftet worden oder hatten sich rechtzeitig ins Ausland retten können", berichtet Elfriede Brüning im Nachwort der 1988 im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienenen Ausgabe. In "Kleine Leute" hat sie ein Bild der 30er Jahre gezeichnet, das noch immer aktuell ist. Es lohnt sich, dieses Buch heute wieder zur Hand zu nehmen.

Marianne Walz

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Griff in die literarische Schatztruhe (10)

Einst erfolgreiche DDR-Autoren dem Vergessen entreißen

Peter Abraham - ein Autor phantasievoller und witziger Kinderbücher - wurde 1936 in Berlin geboren. Seine Eltern waren antifaschistische Widerstandskämpfer, so daß er eine bewegte Kindheit hatte. Er besuchte unter vier verschiedenen Namen insgesamt zehn Schulen, da sein Vater Pässe fälschte, mit denen von den Nazis Verfolgte untertauchen konnten. Das Thema Kindheit im Faschismus ließ ihn nicht los, "Die Schüsse der Arche Noah" und "Pianke" tragen autobiographische Züge. Dem Autor mangelte es weder an Stoffen noch an Themen. Seine Bücher erlebten hohe Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt. Aus der Fülle des Schaffens von Peter Abraham seien genannt: "Ein Kolumbus auf der Havel" (verfilmt von Hans Kratzert), "Abc, lesen tut nicht weh" mit Illustrationen von Gertrud Zucker (1976), "Das Schulgespenst" (verfilmt von Rolf Losansky), "Meine Hochzeit mit der Prinzessin", "Kaspar oder das Hemd der Gerechten" und "Doktor Aibolit". "Rotfuchs" wurde zum DDR-Fernsehklassiker. Es folgten die Kinderbücher "Das achte Geißlein" (1983), "Der Affenstern" (1985), "Fünkchen lebt" (1988), "Carolas Flucht nach Denkdirwas", von Gertrud Zucker illustriert, "Piepheini" (1996), "Die windigen Brauseflaschen", illustriert von Eberhard Binder, und "Das Schulgespenst tierisch in Fahrt" (2005).

Abrahams Kinderbuch "Pianke" (1983 von Gunter Friedrich als Fernsehfilm vorgestellt) nutzten die Lehrer im Literaturunterricht der 6. Klassen. Der Autor wies sich als Fabulierer mit unerschöpflichem Einfallsreichtum aus. Er schrieb eine phantasievolle Prosa, in der Reales häufig mit Märchenhaftem verknüpft ist. Als Herausgeber zeichnete er für den Band "Fernfahrten, erlebt und erdacht von achtzehn Autoren" (1976) verantwortlich.

In Abrahams Roman "Die Schüsse der Arche Noah" (1970; verfilmt von Egon Schlegel) wird das Ende des Hitler-Faschismus und die Nachkriegszeit aus der Perspektive eines Kindes behandelt. In seinem Roman "Komm mit mir nach Chicago" (1979) erwies er sich einmal mehr als gewandter Fabulierer, der das Geschehen voller Turbulenz und Komik zu erzählen wußte. Bodo Fürneisen verfilmte den Stoff 1981.

Abrahams Roman "Kuckucksbrut", der 2009 erschien, ist ein heiteres und bissiges Buch. Seinen autobiographischen Text über schwere Kindheitsjahre unter dem Faschismus (2011) nannte er "Als ich das Spielen verlernte". Diesem zeitgeschichtlichen Dokument wurde hoher literarischer Wert bescheinigt.

Übrigens ist der "Rotfuchs"-Autor seit 2004 auch ein engagierter Leser des "RotFuchs".

Dieter Fechner

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Das Trotzalledem des Eberhard Panitz

In Eberhard Panitz - heute 81 - haben die Kriegsjahre tiefe Spuren hinterlassen. Wenn es Gedichte von Bertolt Brecht und Erich Weinert, Romane von Thomas Mann, Anna Seghers, Arnold Zweig und vielen anderen nicht gegeben hätte - wer weiß, was aus ihm geworden wäre. Gerade sie waren es, die ihm halfen, die neue Zeit zu begreifen und den eigenen Weg zu finden. Diesen hat er niemals verlassen. Er entdeckte seine schriftstellerischen Fähigkeiten und begann zu schreiben. Zu den bekanntesten Werken des Autors zählen "Die sieben Affären der Dona Juanita", "Die unheilige Sophia" und "Meines Vaters Straßenbahn", um nur einige Titel zu nennen.

Zahlreiche seiner Erzählungen, Novellen und Romane sind für die DEFA und das Fernsehen der DDR verfilmt worden.

Mit dem Anschluß der DDR an die BRD mußte er erleben, wie die Schriften, die ihm Erkenntnis und Orientierung gebracht hatten, einem gnadenlosen staatsbefohlenen Vernichtungsfeldzug der Sieger zum Opfer fielen. Millionen und aber Millionen Bände nahezu der gesamten in der DDR publizierten sozialistischen und fortschrittlichen Literatur aus den Beständen volkseigener Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken wurden entfernt und eingestampft. "Trotzdem", schreibt Eberhard Panitz, "konnte nicht alles Neue und Umstürzlerische niedergemacht werden, gleich gar nicht das Wissen, die Kenntnisse und Erfahrungen in den Köpfen." Das mag ihn ermutigt haben, in das Vermächtnis von Vertretern seiner Zunft einzutauchen und dieses zum Gegenstand eines neuen Buches zu machen, das in diesem Jahr durch den verlag am park herausgebracht wurde.

In seinem "Tagebuch totgesagter Dichter" erinnert der Autor an 13 Gelehrte und Schriftsteller - von Georg Christian Lichtenberg über Goethe und Schiller bis zu Heinrich Mann, Erwin Strittmatter und Peter Hacks -, die mit ihren unverwechselbaren Handschriften ganz Wesentliches für den Sieg der Vernunft, des Humanismus und der Menschheitsbefreiung geleistet haben. In Gestalt der von ihm literarisch verarbeiteten Recherchen legt Eberhard Panitz einen dem Leben der Literaten und ihrer Zeit zutiefst gerecht werdenden Band vor.

Unter Nutzung authentischer Zeugnisse, ausgewählter Textpassagen, Interviews und persönlicher Notizen zeichnet er die reiche, oft konfliktbeladene und entbehrungsvolle Welt des Schaffens verdienstvoller Schriftsteller nach. Er gräbt in vielen längst versunkenen Biographien, fördert zutage, was im historischen Dunkel zu verschwinden droht, verarbeitet spannende, bisweilen erst jetzt bekanntgewordene Episoden zu kurzweiligen, unterhaltsamen Geschichten. Mit dem "Tagebuch der totgesagten Dichter" erschließt sich dem Leser einmal mehr die unverlierbare Bedeutung wahrer Literatur und die Größe ihrer Schöpfer, was angesichts des sich heute vollziehenden Wertevernichtungsfeldzuges der Herrschenden nicht hoch genug gewürdigt werden kann.

Die Werke Georg Büchners, Heinrich Heines, Kurt Tucholskys, Erich Kästners, Willi Bredels, Ludwig Renns, Ruth Werners und vieler anderer müssen vor dem Vergessen bewahrt werden. Die weite Verbreitung des Buches von Eberhard Panitz kann wirkungsvoll dazu beitragen.

Bruni Steiniger


Eberhard Panitz. Tagebuch der totgesagten Dichter, verlag am park 2013, 202 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-89793-300-2

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Wie Lehsen vor 23 Jahren unter die Räuber fiel

Tod eines blühenden Dorfes

Das mecklenburgische Gutsdorf Lehsen, dem nördlicher gelegenen Wittenburg benachbart, machte Mitte des 19. Jahrhunderts als Badeort mit einer Wasserheilanstalt von sich reden. Ein Sproß derer von Laffert, die über Generationen hinweg in Lüneburg mit hohen Ämtern betraut waren, hatte anno 1690 das 3000 Morgen große Rittergut Lehsen erworben. Es blieb bis 1899 in den Händen dieser Familie.

Als Ernst August II. im Jahre 1812 die Erbfolge antrat, war er ganz mit dem Chausseebau im Lande beschäftigt, was viel Geld einbrachte. Nach und nach gefiel ihm Lehsen als Gutsdorf nicht länger. So ließ er es kurzerhand zu einem Bad umgestalten und in Teilen neu errichten. Zuerst entstand nach den Plänen eines Kopenhagener Baumeisters das herrschaftliche Wohnhaus. Es fand damals solchen Anklang, daß es bei der Ausschreibung "Das schönste Landhaus" den Preis erhielt.

1930 wurde Lehsen von der Aufsiedlungsgesellschaft Deutsche Scholle erworben. Das Haus überdauerte Bankrott und Krieg. Nach der Zerschlagung des Faschismus im Jahre 1945 diente es einige Jahre als Kinderheim, dann folgte Leerstand. Schließlich hieß es beim Rat des Kreises, man müsse das Gebäude abreißen. Dagegen wandte sich der LPG-Vorsitzende Kuhwald, Mitglied der Demokratischen Bauernpartei, der dem Rat des Kreises angehörte: "Gebt uns das für den Abriß vorgesehene Geld, und wir renovieren das Haus, auch durch unbezahlte freiwillige Leistungen", meinte er. Der Renovierungsgedanke rief den Oberkonservator des Berliner Instituts für Denkmalpflege, Dr. Hugo Namslauer, auf den Plan. "Das Dorfbild mit dem einstigen Schloß, dem Park und dem 'Wildgarten', der Niederung des Motelbaches und der begrenzenden Landschaft mit ihrer Feldmark, alten Alleen und Waldstücken stellt eine landeskulturelle Einheit von hohem Rang dar", erklärte dieser.

Nach der Bodenreform, die zur Aufsiedlung des Gutes führte, hatte man das Ensemble nicht mehr zu pflegen vermocht. Die Blickschneisen waren zugewachsen, der Schloßteich war verschlammt, die verfallene Orangerie abgerissen worden.

Unter Dr. Namslauers Anleitung erfolgte die Jahre beanspruchende Restaurierung. Zunächst gestaltete man die Vorderfront des Hauses und entrümpelte den Schloßteich, wobei 50 Fuhren Müll abgefahren werden mußten. Dann rückte man auch der Hinterfront des Gebäudes zuleibe. Schließlich wurde der Vorplatz renaturiert, ein Springbrunnen angelegt, der Musikpavillon gebaut. Das Ganze krönte man mit der Schaffung von Kulturräumen.

1977 - am Tag der Genossenschaftsbauern und der Arbeiter der sozialistischen Land- und Forstwirtschaft - fand ein erstes Parkfest statt. "Aus Lehsen wollen heute selbst die Jungen nicht mehr weg. Wir haben einen Dorf- und einen Jugendklub, eine sehr aktive Reitsportgemeinschaft", zitierte die Neue Berliner Illustrierte den Bürgermeister. Sie schrieb: "Lehsen an einem Herbsttag im Oktober. Im Schloß haben sich Ortschronisten, Museumsleiter, Heimat- und Laienforscher der Ur- und Frühgeschichte, die Ehrenamtlichen in Sachen Denkmalpflege aus dem ganzen Kreis versammelt. Lehsen besitzt ein völlig neues Gesicht."

Doch die Idylle währte nicht ewig. Als die kapitalistische BRD im Zuge der "friedlichen Revolution" über uns herfiel, geschah das, was Daniela Dahn "die Enteignung des Volkes" nennt: Das gesamte Volkseigentum fiel den Eroberern in die Hände - auch Haus und Park in Lehsen.

Die neuen Eigner halten das hohe Eingangstor seitdem geschlossen. Der Ort bemüht sich jetzt darum, in die Stadt Wittenburg eingemeindet zu werden, da Lehsen allein nicht mehr lebensfähig ist. Vor allem auch deshalb, weil die jungen Leute das nun völlig kulturlose Dorf fluchtartig verlassen.

Siegfried Spantig, Hagenow

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Als Archie ein Licht aufging

Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm", heißt es in Brechts "Dreigroschenoper". Volkstümlich oder mundartlich wird es kaum eine Redewendung geben, die Wohlstand und Bildung zusammenbringt, als nützlich und wünschenswert hinstellt. Hauptsache reich ist die Devise. Dabei kann das Oberstübchen der Besitzer getrost bescheiden möbliert sein. Ja, sicherlich gab es Kunstsammler und Wissenschaftsförderer, auch verkappte Schöngeister und Leute mit unterdrücktem Forscherdrang als Mäzene. Aber der zerstreute Professor ist immer noch eine weltfremde Lachnummer, klassische Musik gilt bei etlichen als verschroben, abstrakte Kunst als bloße Kleckserei. Intellektuelle sind in den Augen mancher wankelmütige Weicheier, die zwar über den genetischen Aufbau des Menschen Bescheid wissen, aber vom Aufbau einer sozial gerechteren Welt keine Ahnung haben. Hochgebildete Leute mit zwei linken Händen, die nicht wissen, wo der Hammer hängt. Da ist ja auch etwas dran und spielt sogar im Urteil oder Vorurteil mancher Linker bisweilen eine Rolle, wie Archie des öfteren vernahm. Dabei kamen die wichtigsten Aussagen zur gesellschaftlichen Entwicklung von Intellektuellen, die keinesfalls die Bodenhaftung verloren hatten, nämlich von Marx, Engels und Lenin, aber auch von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, um nur einige zu nennen. In ihren Überlegungen spielt natürlich die Analyse der Klassengesellschaft stets die Hauptrolle.

Aber auch über Bildung und Erziehung haben sie sich Gedanken gemacht. Wem dienen deren Einrichtungen, wie funktionieren sie, und woher beziehen sie ihre Mittel? Schließlich werden die Kinder der herrschenden Klasse in den Familien der industriellen Großdynastien und auf Eliteschulen, speziellen Universitäten und sonstigen privaten Hochschulen auf die Übernahme der ökonomischen und politischen Macht vorbereitet. Kinder aus ärmeren Elternhäusern sollen vorwiegend den Kapitalisten als Arbeiter dienen und Mehrwert schaffen. So kommt ihre Ausbildung billiger. Die schöne Illusion der Aufstiegsmöglichkeit vom Geschirrspüler zum Schloßherrn oder Formel-I-Fahrer, Fußball- oder Tennisprofi muß dabei unbedingt gewahrt bleiben. Auch auf Sänger, Musiker und Schauspieler sollen "gewöhnliche Leute", deren Verführbarkeit funktionieren muß, fixiert werden. Bei all dem befindet sich die Bildung im Sinkflug. Schnelles Geld ist gefragt und so viel wie möglich - ob als Banker, Brauerei-, Bar- oder Bordellbesitzer. Die Unterschiede sind nicht allzu groß: Prostitution für Penunse.

Gediegener Wissenserwerb kann da nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sagen wir es so: Mit Schule und Bildung verdient man noch nichts. Wissensquellen sind heutzutage notfalls auch durch einen Klick im Internet zu erschließen. Viel wichtiger ist in diesem System, Leute für sich arbeiten zu lassen oder PR-Kampagnen zu veranstalten, um zu sehen, wie die Marionetten in Politik und Medien darauf reagieren. Und zwar im direkten Kontext mit den Konsumenten, die den ganzen Laden letztendlich zusammenhalten, ist doch der Tod des Konsumenten zugleich auch der Tod des Kapitalisten. Nur wer deren "soziale Marktwirtschaft" verteidigt, gilt als aufrechter Demokrat. Das ist oberstes Bildungsziel dieser Gesellschaft. Darauf ist alles ausgerichtet - von der Wiege bis zum Erbbegräbnis.

Vielleicht war das schon immer so, fragt sich Archie, der allerdings aus den Tagen der DDR völlig andere Erfahrungen besitzt, die indes leider langsam verblassen, und zwar nicht nur bei ihm. In Archies Kindheitstagen, die er im Wohnviertel von Unterschichten des Breslauer Proletariats erlebte, wucherte der Kitsch in allen Spielarten, also das, was man heute Pop-Kultur nennt. Kinobesuche fanden nur gelegentlich statt, Theatervorstellungen fielen grundsätzlich weg. Archie hatte allerdings eine Cousine, die einmal in "Gasparone" von Millöcker war - jener Operette, welche im sizilianischen Räubermilieu spielt. In der Familie stieg sie deshalb zur Operettenexpertin auf, wobei sie immer wieder dazu gedrängt wurde, die Arie "Dunkelrote Rosen bring ich, schöne Frau ..." zu singen. Kolossal, Gasparone! Die ganze Sippe zehrte davon.

Nach solchen Erlebnissen lernte Archie ab Mitte 1945 besonders fleißig und stopfte Bildung geradezu in sich hinein, weil er davon nichts aus dem Arme-Leute-Viertel mitbrachte, von den dürftigen "Informationen", die von Zeit zu Zeit zirkulierende Lesezirkel-Mappen der Nazizeit vermittelten, abgesehen. Hinzu kam, daß er sich vor schwerer körperlicher Arbeit fürchtete, die er als Halbwüchsiger im Lausitzer Steinbruch Demitz-Thumitz kurze Zeit hatte verrichten müssen. Auch zur Landwirtschaft besaß er als Stadtkind keine Beziehung. Daher mußte er in eine größere Stadt, um sich weiterzubilden.

Ab 1949 hatte Archie überdies auch den Auftrag seines Staates DDR und die Lenin-Formel "Lernen, lernen und nochmals lernen" gewissermaßen als Rückenwind. Das nannte man damals "Klassenauftrag". Damit befand er sich im Konsens mit vielen anderen. Als "Barfüßler" und zusammen mit Hunderttausenden, denen es ähnlich ging, war er zur Kultur, zur sozialistischen Moral und zum Menschsein durch Bildung unterwegs. Nach dem faschistischen 3. Reich seiner Kindheitstage, das glücklicherweise durch die Sowjetsoldaten hinweggefegt worden war, besaß Archie noch zwei Staatsbürgerschaften: eine, in deren Genuß er die wichtigsten Jahre seines Lebens verbrachte - die deutsche demokratische - und dann noch eine andere - die deutsche bundesrepublikanische. Sein Herz gehört der ersten, der verlorengegangenen.

Manfred Hocke

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Rudi W. Berger über "Archies Pusteblume"

Archie ist eine literarische Figur, die aus einem ereignisreichen Leben kommt, ganz wie ihr Schöpfer, der Autor und Dramaturg Manfred Hocke. Ich lese von ihr und denke, ich säße mit ihm zusammen, ist sie doch ein Spiegel seiner selbst, reich an Einfällen, Gedanken und Erleben. Nun hat er seinen Büchern ein weiteres hinzugefügt. Es wird von seiner Kunstgestalt bestimmt und heißt "Archies Pusteblume": rund ein halbes Hundert vom Wind getriebener Samen seiner Phantasie wie seiner Erfahrungen. Die Stücke kleiner Prosa strotzen von Ereignisfülle. "Wimmerzahn" ist das Geschichtchen um die Rettung eines jungen Hundes durch tierliebende Müllfahrer. Im "Swimmingpool" macht Archie schlapp. Das frische Wasser bringt ihn wieder auf die Beine, aber eine Anzeige wegen öffentlichen Ärgernisses in Verlegenheit. Heitere und ernste Geschichten. Im Alptraum vom kalten Krieg widerfährt ihm Schreckliches wie auch beim Erleben des heißen Krieges in Dresden.

Das Entree bildet "Der traurige Elefant", eine gleichnishafte und zugleich glänzende Geschichte, aus der die Leser etwas aus der Familienchronik des Autors erfahren können. Glänzend deshalb, weil sie dazu angetan ist, die Fabulierkunst des Verfassers wie dessen Emotionalität zu zeigen.

Die Samen von "Archies Pusteblume" fliegen wie in der Natur von der gleichen Pflanze, sind aber in Farbe, Inhalt und Form jeweils anders. Mögen sie fliegen wohin auch immer, landen, wurzeln und gedeihen. Es ist guter und gesunder Samen. Den Autor bestimmt kein Jammertal, noch plagt ihn der Pessimismus.

Archie bedient sich einer parteilichen Sicht, welche die Realitäten durchschaubarer macht. Darin nicht nur beständig zu sein, sondern mitzutun und so zu wirken - was gibt es Lobenswerteres für einen, der sich Schriftsteller nennt und auf die Achtzig zugeht.

Rudi W. Berger


Manfred Hocke: Archies Pusteblume. Müll-Maigret, Wimmerzahn und andere. Verlag Wiljo Heinen, Berlin und Böklund 2013, 204 Seiten, 14 Euro

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Leserbriefe an RotFuchs

Liebe Freunde! Ihr alle wißt, daß wir in der Türkei jetzt schwere Tage durchmachen. Das Volk wird von der Polizei und der türkischen Regierung unterdrückt.
Das "Kulturzentrum Nazim Hikmet", in dem sich auch unsere Ankaraer Sektion der Freundschaftsgesellschaft Kuba-Türkei "José Martí" befindet, wurde unlängst von Polizisten mit Tränengasgranaten angegriffen.
Wir brauchen Eure Solidarität! Tut bitte, was immer Ihr könnt! Danke!

Onur Çuvalci, Ankara


Laßt mir bitte ab sofort monatlich ein Exemplar der Printausgabe des RF zukommen. Ich bin sehr froh, Zugang zu diesen Informationen zu erhalten. Ich habe bereits vor einigen Jahren deutsch gelernt und möchte die Sprache gerne wieder praktizieren. Übrigens bin ich der Sohn eines Deutschen, so daß mir mein Vater beim Lesen der Texte behilflich sein kann.
Ich bin besonders glücklich über Klaus Steinigers zurückliegende Aktivitäten in Portugal und seinen Zugang zu den Problemen in Brasilien. Als Kommunist und Mitglied der PCB hatte ich Ende der 80er Jahre die Ehre, Luis Carlos Prestes - den "Ritter der Hoffnung" - bei mir zu empfangen.

Prof. Dr. Henrique Wellen, Rio de Janeiro


Ich mache Euch auf einen Artikel in der Zeitung "Morning Star" aufmerksam. Bei seiner Lektüre spürt man, was die Imperialisten hinsichtlich Syriens im Schilde führen. Was haben "wir" denn eigentlich dort zu suchen? Wie zur Zeit des Krieges der USA gegen Vietnam, als wir uns schützend vor dessen Volk stellten, gilt es jetzt, die analoge Forderung zu erheben: Hände weg von Syrien!

Anthony Northcott-Rich, North-Bevon (Großbritannien)


Während meines mehr als achtjährigen Aufenthalts in der BRD bin ich reichlich desillusioniert worden. Hier herrscht nicht nur witterungsbedingte, sondern auch zwischenmenschliche Kälte. Es gibt kaum einen Bereich, über dem nicht die Abrißbirne schwebt.
In Kuba hatten wir es ab 1990 nicht leicht, als wir alte politische Freunde und Partner verloren. In nur vier Jahren fielen 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts weg. Die Importe sanken von 8,6 Milliarden auf 1,5 Milliarden Dollar. Die tägliche Kalorienzufuhr pro Kopf ging von 3000 auf weniger als 2000 zurück.
Dennoch gelang es, stabile politische Grundlagen zu bewahren. Und das alles trotz der brutalen völkerrechtswidrigen Embargopolitik der Gringos.
In Kuba wurden kein einziges Hospital, keine Schule, keine Jugend- oder Alteneinrichtung geschlossen. Das Gesundheits- und Bildungswesen ist nach wie vor kostenlos. Für die Ernährung der Kinder ist gesorgt. Natürlich gibt es bei uns noch etliche ungelöste soziale und ökonomische Probleme, was niemand bestreitet.

Daslelys Merino-Torres, Las Tunas (Kuba), z. Z. Bochum


Mein Name ist Eduardo Barros. Ich bin "RotFuchs"-Leser, Mitglied der DKP in Osnabrück, stamme aus Brasilien und lebe seit 18 Jahren in Deutschland. Ich habe eine Frage an Euch: Auf den Leserbriefseiten habe ich den Namen eines Genossen aus Brasilien gelesen, der in Aracaju lebt - jener Stadt, aus der auch ich stamme und wohin ich im August fliegen werde. Könnt Ihr mir den Kontakt zu ihm ermöglichen?

Eduardo Barros, Osnabrück


Die Redaktion hat die Verbindung zwischen beiden brasilianischen RF-Lesern gerne vermittelt.


Wir bedanken uns herzlich für den RF-Bericht über unsere Broschüre der SDAJ Gießen/Marburg und freuen uns sehr über den Kontakt. Auch unsere Neumitglieder sind von Eurer Zeitung begeistert. Aus diesem Grund würden wir gern regelmäßig fünf Exemplare beziehen, um sie an unsere Genossinnen und Genossen zu verteilen. Auch für unsere Bildungsarbeit wollen wir sie verwenden.

Tobias Salin, Langgöns (Hessen)


Viele inzwischen in der BRD angekommene Ostdeutsche beklagen sich auch heute noch über den "Mangel" in der DDR. Woran hat es uns denn gemangelt? An sicheren Arbeitsplätzen, garantierten Lehrstellen für Jugendliche, Kindergartenplätzen, bezahlbaren Wohnungen? Wohl kaum. Auch wenn die Wohnungsfrage noch nicht vollständig gelöst war, kannten wir in der DDR keine Obdachlosenheime. Und Grundnahrungsmittel gab es ausreichend. Allerdings sind Südfrüchte und bestimmte Ersatzteile rar gewesen. Dennoch ging es uns in der DDR weit besser als vielen Menschen in der Dritten Welt und in kapitalistischen Ländern, auch der BRD.
In der DDR war man bemüht, die Bedürfnisse der Menschen zu decken, was noch nicht immer möglich gewesen ist. Im Kapitalismus wird nicht produziert, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern des Profits wegen. Da lassen sich die Kapitalisten immer wieder etwas Neues einfallen. Hauptsache, die Kasse klingelt.
Heute vegetieren viele einstige DDR-Bürger auf der Basis von Hartz IV. Das Geld reicht gerade zum Überleben. Luxusartikel können sie sich kaum leisten.
Mir jedenfalls ging es als Arbeiter gut in der DDR. Ich hatte meinen festen Arbeitsplatz, ein Einkommen, von dem ich anständig leben konnte, und eine gesicherte Existenz. Das war und ist mir allemal wichtiger als der überflüssige und nutzlose Konsummüll, den kein Mensch zum Leben wirklich braucht.

Joachim Becker, Eilenburg


In einer ZDF-Info-Sendung ging es unlängst um Jugendliche, die in den neuen Bundesländern weniger Entwicklungschancen für sich sehen als in den alten. Hier diskutierten einige, ob sie gehen oder lieber bleiben wollen. Man zitierte einen Lehrer aus dem Finsterwalder Sängerstadt- Gymnasium, der vor Schülern erklärt hatte: "Ich denke, das ist ein entscheidender Vorteil des Systems, das wir seit 1990 haben, daß man sein Leben ganz anders in die eigene Hand nehmen kann, daß man weniger fremdbestimmt ist. Wenn ich Lehrer werden will, wenn ich Arzt werden will und das zeitig genug weiß, kann ich mich in der Schule drehen, kann die Leistung bringen und dann auch studieren."
Konnte man in der DDR mit den entsprechenden Interessen, Fähigkeiten, Leistungen und Abschlüssen nicht problemlos Lehrer werden? Wie wurden denn solche Menschen fremdbestimmt? Drohte da etwa nach entsprechendem Studium die Arbeitslosigkeit, wie es heutzutage oft genug der Fall ist? Waren da nicht junge Menschen in einem Land mit einem einheitlichen Bildungsprogramm besser dran als in einem Land mit 16 Bildungsprogrammen? War man nicht nach der 4. Klasse schon wesentlich kompetenter, die Weichen zu stellen, als heutzutage nach der 8.?
Für mich ist es beängstigend, was den Kindern jetzt alles erzählt wird und wie sehr dabei die Wahrheit auf der Strecke bleibt.

Jürgen Förster, Dresden


Jede sich bietende Gelegenheit nutzen selbsternannte Bürgerrechtler, um die DDR zu diskreditieren. Ein Vorfall, der sich am 8./9. Mai in Treptow zutrug, eignete sich dafür besonders. Was war geschehen?
Eine Gruppe von etwa 20 ehemaligen Angehörigen der NVA marschierte unter Mitführen einer Truppenfahne in Uniformen durch das sowjetische Ehrenmal in Berlins Treptower Park. Diese Aktion leistete der Tradition der NVA zur falschen Zeit und am falschen Ort einen schlechten Dienst. Die einzige Armee in der Geschichte Deutschlands, die keine Kriege geführt hat, niemals an militärischen Handlungen gegen andere Völker und Staaten beteiligt war, bedarf keiner öffentlichen Provokation, sondern der Anerkennung ihrer Leistungen.
Der Vorfall ermöglichte es den Nazis der NPD, in der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick gegen eine "öffentliche Beleidigung der Opfer des Stalinismus" und die "Huldigung der verbrecherischen DDR-Diktatur" zu protestieren.
Doch auch ein Mandatsträger vom Bündnis 90/Die Grünen fragte das Bezirksamt nach der Genehmigung der durch die VVN beantragten Veranstaltung am Ehrenmal und "weiteren Schlußfolgerungen". Dabei gab es von dieser Seite auch schon mal andere Signale. So initiierte Renate Künast am 1. September 1998 einen "Aufruf für den Erhalt der sowjetischen Ehrenmale", der an unsere moralischen und historischen Pflichten erinnerte.

Dr. Erhard Reddig, Berlin


Der Artikel Heinz Ehrenfelds "Ein Mangel an Scham" (RF 185) hat Wichtiges zur Problematik 150 Jahre SPD thematisiert. Die Schattenseiten der SPD-Geschichte will in den Führungsetagen der Partei allerdings niemand zur Kenntnis nehmen. Über einen "Meinungsaustausch" mit dem "Vorwärts" möchte ich die "RotFuchs"-Leser informieren.
Im Februar schrieb ich diesem Blatt u. a.: "Mir ist bekannt, daß 800 Mitglieder aus dem SPD-Ostbüro wegen Spionage, Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten und Terroranschlägen in der DDR inhaftiert wurden. Für einen geschichtsbewußten SPDler ist es schon wichtig zu wissen, wie viele Parteimitglieder zu dieser Organisation gehörten und wie viele ganz normale SPDler in der DDR eingesperrt wurden. Deshalb meine Frage: Wieviele waren betroffen, die nicht mit dem Ostbüro in Verbindung standen?"
Weiter schrieb ich: "Mir fehlt ein Bericht über die Verfolgung von SPDlern bzw. SPD-nahen Bürgern während der Adenauer-Zeit. Mir ist bekannt, daß nicht nur die Kommunisten verfolgt und eingesperrt wurden, sondern auch SPDler, die man dem linken Bereich zuordnete."
Auf meine konkreten Fragen erhielt ich vom "Vorwärts" die ausweichende Antwort: "Die Geschichte der Unterdrückung von Sozialdemokraten in der DDR ... ist viel zu wichtig, um auf einer Seite abgehandelt zu werden. Wir konnten daher nur einen kurzen Anriß der Problematik bieten. ... Ich weise darauf hin, daß es keine offiziellen Zahlen gibt, sondern nur Schätzungen."
Da ich mich nicht ernst genommen fühlte, fragte ich abermals nach, bekam aber keine Antwort mehr.

Johann Weber, Ruhstorf (Niederbayern)


SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel sagte in seiner Festrede zu 150 Jahren SPD, seine Partei müsse sich für nichts schämen. Hervorgehoben wurde besonders der politische Widerstand gegen die "Nationalsozialisten" und die Rede von Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz 1933. Mit keiner Silbe erwähnte Gabriel den kommunistischen Widerstand gegen das faschistische Regime mit 30.000 ermordeten und 150.000 in KZs und Zuchthäusern inhaftierten Genossinnen und Genossen.
Die hitlerfaschistische Regierung hatte 1933 sofort die Mandate der 81 gerade gewählten KPD-Reichstagsabgeordneten annulliert. Auch 20 SPD-Abgeordnete waren bereits Opfer von Verfolgung.
Die SPD-Führung hatte bei der Reichspräsidentenwahl 1932 Hindenburg zu ihrem Kandidaten erklärt. Sie lehnte das Ermächtigungsgesetz zwar ab, unterstützte zunächst aber ausdrücklich die außenpolitischen Forderungen Hitlers nach "deutscher Gleichberechtigung".
Am 17. Mai 1933 stimmten 65 SPD-Abgeordnete für das außenpolitische Programm der Faschisten. Die SPD trat aus der Sozialistischen Arbeiter-Internationale aus. Ist es unwahr, Sigmar Gabriel, daß eine von Paul Löwe geleitete Funktionärskonferenz beschloß, die jüdischen Mitglieder aus dem SPD-Vorstand zu entfernen?
Genutzt hat es der SPD allerdings nichts. Auch sie wurde 1933 verboten.

Gerd-Rolf Rosenberger, Bremen-Blumenthal


Im RF 184 äußert sich Joachim Augustin aus Bockhorn in Friesland zum Verhältnis von SPD und Linkspartei im derzeitigen Wahlkampf. Ich stimme seiner Warnung an Die Linke zu, sich der SPD nicht krampfhaft anzubiedern, weil das für sie nur zum Nachteil wäre. Auch meine ich, daß sich die Linkspartei nicht weiter vom Ziel des Sozialismus entfernen sollte. Nur durch die Überwindung des Kapitalismus sind Gerechtigkeit und menschenwürdige Lebensverhältnisse letztlich möglich. Dazu sollte und müßte sich die Partei eigentlich auch deutlich und öffentlich bekennen. Derzeit einen "Systemwechsel" anstreben zu wollen, hielte ich für verfehlt. Die Menschen erwarten vor allem praktische Hilfe im Hinblick auf ihre existentiellen Nöte. Das erfordert aus meiner Sicht, den Einfluß des Kapitals zurückzudrängen und für lebensnotwendige Reformen zu streiten, ohne das visionäre Ziel des Sozialismus zu verschweigen.

Eberhard Kunz, Berlin


Die SPD führt ihre Entstehung auf das Bedürfnis der Arbeiter nach Bildung - besonders auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Zusammenhänge -zurück. Ferdinand Lassalle gründete deshalb die Arbeiterbildungsvereine. Darauf ist die SPD mit Recht stolz. Nach 150 Jahren ihrer Existenz ist indes zu fragen, welche Ergebnisse der politischen Bildungsarbeit diese Partei eigentlich vorzuweisen hat. Betrachtet man Politik und Forderungen der SPD in der Gegenwart, so muß man feststellen, daß sich ihre Grundsätze von denen der bürgerlichen Parteien kaum unterscheiden.

Gerda Huberty, Neundorf


Ein ergänzendes Wort zum Artikel Dr. Kurt Lasers über den Panzerkreuzer-Bluff von 1928: Im Rahmen des damals beschlossenen Aufrüstungsprogramms wurde auch die "Schleswig-Holstein" gebaut. Sie eröffnete am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg mit der Beschießung der polnischen Festung auf der Westerplatte. Viele der SPD-Funktionäre, die 1928 die Wähler betrogen und das Panzerkreuzer-Programm im Reichstag durchwinkten, waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Exil, im KZ oder umgebracht.
Ob allerdings sozialdemokratische Politiker aus dieser Erfahrung richtige Schlußfolgerungen für heute ziehen - daran dürfte zu zweifeln sein.

Fritz Dittmar, Hamburg


Eure Beiträge zum 17. Juni 1953 haben mir wegen ihrer Ausgewogenheit sehr gefallen. In ihnen kamen sowohl die konterrevolutionären Aktivitäten, insbesondere des RIAS, zur Sprache als auch die Fehler der DDR-Führung, die faktisch eine 10-prozentige Lohnsenkung zur Folge hatten, was den Arbeiterprotest herausforderte.
Mein Vater war damals als Berliner Bauarbeiter beim Krankenhaus-Neubau in Berlin-Friedrichshain tätig und auch am Streik beteiligt, um die Rücknahme dieser administrativen Maßnahmen zu erzwingen. Er verließ die Streikfront aber, nachdem die Regierung die falschen Maßnahmen, die der Konterrevolution Vorschub leisteten, aufgehoben hatte und man nun deren Sturz forderte, SED-Funktionäre mißhandelte und - wie Wilhelm Hagedorn in Rathenow - zu Tode schleifte oder HO-Geschäfte mit den ohnehin knappen Lebensmitteln in Brand steckte. Damit wollte er nichts zu tun haben. Er sagte das offen, was ihm viel Ärger einbrachte.
Wie ist denn die Lage heute? Werden nicht Arbeiter für harte Jobs mit Hungerlöhnen abgespeist, die bei steigenden Preisen und Abgaben für ein menschenwürdiges Leben nicht reichen? Wo bleiben denn hier die Tränen des Mitgefühls der bürgerlichen Medien?

Walter Haupt, Gotha


Die Überschrift des Leitartikels im RF 185 hat mich zunächst stutzig gemacht: "Der WERT des 17. Juni 1953". Nach nochmaligem Lesen muß ich indes feststellen, daß es eine kluge Aussage ist, so daß ich jeden Satz unterschreiben kann. Den Zeilen ist anzumerken, daß ihr Verfasser aus erster Hand über Selbsterlebtes berichtet und das Geschehen vom kommunistischen Standpunkt aus analysiert. Es geht unter die Haut. Im RF-Extra wird die Problematik tiefgreifend und wissensvermittelnd untersetzt.
Danke für den Juni-RF, der den Finger in die Wunden legt und allen Mut macht, die nicht verzagen wollen.

Helge Tietze, Bautzen


Die Juni-Ausgabe ist wieder prima. So spricht mir z. B. der Artikel "Vor der eigenen Tür fegen", in dem Angela Merkels Menschenrechtsheuchelei bloßgestellt wird, aus dem Herzen.
Sehr mißfällt mir, daß China wegen seiner zu Dumpingpreisen angebotenen Solaranlagen von den Medien derart an den Pranger gestellt wird. Diese ständige Verunglimpfung einer wirtschaftlichen Weltmacht empfinde ich als hanebüchen.
Ich bin Euch sehr dankbar, daß ich so viel Wichtiges über die Hintergründe des 17. Juni 1953 erfahren konnte, den ich damals in Leipzig hautnah miterlebt habe.

Margot Wölk, Leipzig


Unlängst fand nun schon die dritte Zusammenkunft der RF-Lesergruppe des Altkreises Dippoldiswalde statt. Als Lokal wählten wir den "Lugsteinhof" in Zinnwald. Armin Lufer aus Berlin, den wir als Gast und Referenten eingeladen hatten, war in schwerer Zeit als 1. Bauleiter der Bob- und Rennschlittenbahn in Altenberg tätig. In der noch jungen DDR hatten die Beteiligten buchstäblich aus dem Nichts in kürzester Frist eine anspruchsvolle Bahn geschaffen. Für viele Genossen und RF-Leser aus unserer Region, die damals selbst dabei mitwirkten, war es interessant, mehr über Hintergründe des Geschehens zu erfahren, gab es doch Befürworter und Gegner der Bahn, ja sogar solche, die unter BRD-Einfluß das Objekt abreißen lassen wollten. Doch heute steht diese Bahn noch immer, ist international anerkannt und ein wichtiger Faktor für die touristische Erschließung unserer Gegend.
In knapp 600 Tagen war damals der Bau vollendet - dank der Hilfe der NVA und aller anderen bewaffneten Organe sowie kompetenter staatlicher Leitungen.
Wenn ich damit das Fiasko beim Flughafenbau in Berlin-Brandenburg vergleiche, wird die in jener komplizierten Anfangsperiode vollbrachte Leistung noch deutlicher.
Übrigens nahmen 32 Genossen und Freunde an der Zusammenkunft unserer Lesergruppe teil.

Peter Roetsch, Altenberg


"165 Jahre Deutsche Marine, 100 Jahre Militärstützpunkt Hohe Düne - kein Grund zum Feiern." Unter dieser Losung hatten das Rostocker Friedensbündnis und die Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner im Juni zu einer Protestdemonstration auf dem hiesigen Kanonsberg aufgerufen. Die Unterzeichner wandten sich gegen die aggressive Militärdoktrin der Bundeswehr und verurteilten die Anschaffung von inzwischen fünf modernsten Korvetten des Typs K-130. Unsere Hansestadt dient übrigens als "Heimathafen der Deutschen Marine".
Insgesamt weist Mecklenburg-Vorpommern seit 2012 die größte Militärdichte der gesamten BRD auf. Es ist jenes Bundesland, wo zugleich seit 1989/90 die höchste Arbeitslosigkeit herrscht und ganze Industriezweige wie der Schiffbau systematisch plattgemacht worden sind. Auf Konversion - die Umwandlung von Rüstungs- in zivile Produktion - wird zugunsten der Hochrüstung bewußt verzichtet.
Die hiesige Stadtverwaltung wirbt übrigens mit einer zynischen Image-Kampagne für den "Marinestandort Rostock". Sie scheut sich nicht, auf dem Titelblatt ihrer Reklameschrift ein Kind mit Schirmmütze der BRD-Marine abzubilden.

Carsten Hanke, Lambrechtshagen


Durch die Zeitschrift bekomme ich als 83jährige immer wieder frischen Mut in dieser so grausamen Zeit. Lügen und immer wieder Lügen werden über die DDR verbreitet. War unser Staat denn nicht weltweit anerkannt, zumindest de facto auch durch die BRD, die eine Ständige Vertretung bei uns unterhielt?
Ich habe mich sehr gefreut, daß es noch westdeutsche Jugendliche wie Nico Jühe aus Wuppertal gibt, die nicht auf jeden Schmutz fliegen, der über die DDR ausgeschüttet wird.
Manchmal denke ich, ich bin im falschen Film, wenn unser einstiger Staat immer wieder so verteufelt wird. Ich bedanke mich bei allen herzlich, die dazu beitragen, daß der "RotFuchs" jeden Monat erscheinen kann.

Hannelore Dondalewski, Berlin


Mit Spannung und Entdeckerfreude verfolge ich die Beiträge Eberhard Herrs über "Das Wunder von Vippachedelhausen". Im RF 185 beschreibt er auch den kulturellen Aufschwung in und um Berlstedt und Vippachedelhausen sowie die Rolle der Kulturfesttage auf dem Lande. Im Jahr der Arbeiterfestspiele 1974 im Bezirk Erfurt schrieb ich über das kulturell Neue auf dem Lande ein Couplet, das auch vertont wurde.
Wir vom Zirkel schreibender Arbeiter des VEB Weimarwerk unter Leitung des Schriftstellers Walter Stranka pflegten gute Kontakte zu den Genossenschaftsbauern im Weimarer Land. Viele Kultureinrichtungen der Stadt Goethes und Schillers - so das Nationaltheater und die Franz-Liszt-Hochschule - sorgten für enge Partnerschaft zwischen Stadt und Land. Ja, es gab auch einen Zirkel schreibender Genossenschaftsbauern!

Werner Voigt, Kromsdorf


Wir bedanken uns für die Veröffentlichung unseres Artikels "Bäuerliche Würde in der DDR". Die drei Exemplare des RF, die unsere 11köpfige Basisgruppe der Partei Die Linke von jeder Ausgabe erhält, sind ständig unterwegs.
Von 1951 bis heute habe ich Parteifunktionen innegehabt. Meine Frau Annelies ist noch im Kreismaßstab aktiv.

Herbert Klinger, Nimritz (Saale-Orla-Kreis)


Die Grafik Klaus Parches im Juni-RF trägt den Untertitel: "Umverteilung jetzt!"
Umverteilung? Das Gebiet der Verteilung ist doch nur ein Moment im Kapitalkreislauf. Wenn man von Umverteilung spricht, trennt man Produktion und Verteilung und landet dann schnell in Sozialstaatsillusionen mit Begriffen wie "Wohlfahrtsstaat", "Sozialstaat" und "gerechter Verteilerstaat". Dabei gibt man sich der Illusion hin, der Staat führe neben dem Produktionsbereich ein eigenständiges Leben. Umverteilung allein kratzt nicht an der kapitalistischen Ausbeutung. Man übersieht, daß mit der Forderung nach Umverteilung nur der geringste Teil des Mehrwerts gemeint ist.
Verschieben wir nicht die Forderung nach Veränderung der Produktionsverhältnisse auf das Gebiet der Vermögensverhältnisse. Um was es uns geht, ist die Veränderung der Produktionsverhältnisse.

Reinhardt Silbermann, Hamburg


Klaus Stuttmann ist für seine hervorragenden Karikaturen bekannt. Besonders treffend ist die im RF 185 auf Seite 10 abgebildete mit der russischen Deutsch-Lehrerin, die jetzt hierzulande den Fußboden aufwischen darf. Meine Frau ist seit über 12 Jahren freiberuflich als Dolmetscherin und Übersetzerin für die russische Sprache tätig. Unzählige Diplome, pädagogische Hochschul- oder andere spezielle Fachabschlüsse hat sie während dieser Zeit aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt und sich dabei immer wieder gefragt: Warum werden diese Abschlüsse von der BRD nicht anerkannt? Warum wird dieses Fachwissen einfach ignoriert? Es ist politisch so gewollt, weil es an sozialistischen Bildungseinrichtungen in der UdSSR erworben wurde.
Übrigens passen die Ergüsse des "Politikwissenschaftlers" Arnulf Baring im Beitrag Wilfried Wagners sehr gut dazu.

Peter Müller, Freital


Herzlichen Dank! Die Mai-Ausgabe ist wieder Spitze!
Auch mein Mann und die Kinder sind glücklich, in der DDR gelebt zu haben. Vor allem Menschen, die noch Eindrücke aus Kriegssituationen verarbeiten mußten, konnten Schlußfolgerungen ziehen, welche Alternativen es zur Herrschaft der "Bestie Kapital" gibt, die alles ihrem unstillbaren Hunger unterwirft, wie Willi Baer im ND schrieb.
Herausragend für mich ist auch der Beitrag von Peter Franz. Jedem Satz stimme ich zu! Wie entscheidend sind doch die Umstände des Erwachsenwerdens für Überzeugungen und Lebensgestaltung!
Ich halte manche Kritik an den Handlungen unserer Linkspartei-Abgeordneten für ungerecht. Wir haben ihnen in den Kommunen, Landtagen, Ausschüssen und auch im Bundestag viel zu verdanken, sind sie es doch, die seit 1990 Anfeindungen und Verleumdungen ihrer aus anderen Lebensumständen entstandenen Überzeugungen erduldet und dazu beigetragen haben, daß es unsere Stimmen noch gibt.

Karin Dvorák, Kuchelmiß


Die Absicht der Kritik Cornelia Noacks an der MOZenden Zeitung (Märkische Oderzeitung) ist zweifellos sehr unterstützenswert. Doch mir gefällt nicht, daß Personen des letzten Politbüros und andere hauptverantwortliche Entscheidungsträger der DDR einfach nur als glorreiche Vorreiter des Neuen in der Geschichte benannt werden. Andererseits will ich aber auch nicht, daß die Kritik an ihrem Handeln jenen überlassen bleibt, welche damit nur die Idee vom kommenden Sozialismus und Kommunismus diskreditieren, die späte Rache üben und sich ihr Mütchen kühlen wollen. Kritik ist erforderlich, um die objektiven und vor allem die leider oft genug zu kurz kommenden subjektiven Ursachen zu benennen, die immer wieder auftreten können, wenn ein historischer Umbruch von Personen anzuführen ist, die eben auch nur Menschen sind.

Rechtsanwalt Renato Lorenz, Zwickau


Begeistert lese ich als 76jähriger die mittlerweile zu "meinem Rotfuchs" gewordene Zeitschrift. Jede erste Woche im Monat ist ihr vorbehalten. Sie geht auch nicht selten mit auf Reisen in meinen Garten, um dann unter dem Sonnenschirm weiter studiert zu werden. Danke für eine Zeitung, die mir aus dem Herzen spricht!

Klaus Glaser, Schwarzenberg


Nach den konterrevolutionären Umbrüchen von 1989/90 und der Vereinnahmung der DDR durch die BRD war es um ihn merklich still geworden. Nun drängt es Eberhard Aurich, aus seiner Sicht kritisch die Vergangenheit der DDR und seine eigene aufzuarbeiten. Offenbar fällt es ihm schwer zu begreifen, daß seine persönliche Wende um 180 Grad für viele RF-Leser nicht nachvollziehbar ist. So nimmt der zwischenzeitlich zum Lernsystem-Lektor fortgebildete einstige Spitzenfunktionär der FDJ im Juni-Heft einen Beitrag Rudolf Krauses zum Anlaß, seine "von Euch angegriffene Sicht zu verteidigen".
Aurich spricht in seinem Beitrag dem Autor, der ungeachtet der von ihm benannten Fehler das sozialistische System der DDR als eine "großartige Idee" bezeichnet hatte, die Kompetenz ab, "sich in dieser Weise zu äußern". Na klar! Der Lernsystem-Lektor Aurich hat sich vom Marxismus und den Ideen des Sozialismus längst verabschiedet - er ist in der globalkapitalistischen Bundesrepublik angekommen.

Jürgen Wetzel, Berlin


Der Leserbrief von Eberhard Aurich hat mich in zweierlei Hinsicht betroffen gemacht. Einmal ist es der Jargon, in dem er verfaßt wurde und aus dem Resignation, Verachtung und Enttäuschung sprechen, andererseits aber auch der Inhalt. Ist das alles, was ein so erfahrener Funktionär einzubringen hat?
Ich zähle Eberhard Aurich nach wie vor zu jenen, welche sich für den sozialen Fortschritt einsetzen und nicht zu denen, die sich dem politischen und ideologischen Gegner aus welchen Gründen auch immer anbiedern. Unserer Sache nützen weder gegenseitiges Zerfleischen oder Schuldzuweisungen noch ein selbstverordnetes Sicheinigeln.
Ich bin für eine sachliche Diskussion, die auf der Grundlage unserer wissenschaftlichen Weltanschauung geführt wird und diese nicht in Frage stellt.

Uwe Löffler, Chemnitz


Was sind Karrieristen, wenn sich Menschen wie Schabowski oder Aurich nicht als solche sehen wollen? Sie gehören zur Geschichte, wie sie bisher jede Zeit hervorgebracht hat. Vielleicht waren es die gefährlicheren, verglichen mit jenen, welche mit offenem Visier lange vor 1989 gegen die DDR und den Sozialismus auftraten und dabei manches riskierten. Aus dem "Rat der Götter" - dem ZK oder seinem Politbüro - erstrahlten sie, ertönten ihre großen Worte.
Es ist recht bemerkenswert, daß derart exponierte Personen mit entsprechender politischer Verantwortung plötzlich, als klar wurde, daß sich das Blatt wenden würde, zu ganz neuen Erkenntnissen gelangten. Dabei waren es doch Leute, die viel eher und tiefer Einblick in gewisse Fehlentwicklungen hatten. Von wem sollte ein Auftreten dagegen erwartet werden, wenn nicht von ihnen?
Andererseits gibt es auch jene aus diesem Kreis, die ehrenhaft, selbstkritisch und ohne abzuschwören mit ihrer Rolle und Verantwortung in der DDR umgehen. Davor habe ich Respekt.

Roland Winkler, Aue


Die Zuschrift von Eberhard Aurich spricht für sich. Ich bin 1971 Mitglied der FDJ geworden und 1975 in die SED eingetreten. In meiner gesamten Entwicklung habe ich mich immer als Kämpfer für unsere Ideale verstanden und setze mich auch heute aus Überzeugung für sie ein. Als ehemaliger 2. Kreissekretär der FDJ in Gadebusch kann ich mich noch gut an den Slogan erinnern: "Wir sind die Fans von Egon Krenz mit dem Elan von Günther Jahn, doch seid nicht traurig - jetzt kommt Aurich!"
Traurig waren wir zwar nicht, doch ernüchtert über so wenig Elan, Ausstrahlung und Überzeugungskraft. Doch jetzt rundet sich das Bild durch seine eigenen Worte ab: Von jemandem, der sich selbst als "damaliges Personal einer großartigen Idee" betrachtet, war nicht mehr zu erwarten. Das nicht früher erkannt zu haben, ist einfach nur traurig, Herr Aurich!

Wolf Gursinski, Hamburg


Es ist interessant zu wissen, was ein früherer Angehöriger der oberen Führungsspitze zum Verlust unseres Landes und der Niederlage des Sozialismus in Europa zu sagen hat. Rudolf Krauses Darlegungen stimme ich zu. Nach Aussagen älterer Genossen gab es in früheren Jahren der SED-Geschichte bei Parteiversammlungen tatsächlich eine offene und kritische Diskussion, bevor ein Beschluß gefaßt wurde.
Die spätere "Schwerhörigkeit" der Führung ist für mich bislang unerklärlich. Wie wurde mit den Stimmungsberichten und Meinungen der Kollektive wie des MfS verfahren? Schönte man sie auf dem Weg von unten nach oben?

Dr. Peter Nitze, Wittenberg


Natürlich ist es legitim, über Fehler und Mängel, Erscheinungen der Schönfärberei, Wunschdenken, überhöhtes staatliches Sicherheitsbedürfnis, Verstöße gegen die sozialistische Demokratie und das Kommandosystem der Führung, die zum leidvollen Untergang unseres Vaterlandes DDR ganz maßgeblich beitrugen, kritisch nachzudenken. Viele RF-Leser haben das immer wieder aus der Sicht heraus getan, wie man künftig die Idee des Sozialismus noch besser verwirklichen und begangene Fehler vermeiden kann. Aber bei Herrn Aurich liest sich das alles ganz anders. Er lehnt den Sozialismus als fehlerhaftes System ab. Hat er denn ganz und gar vergessen, wie vollmundig er als hoher FDJ-Funktionär von den Errungenschaften des Sozialismus sprach und wie überschwenglich er der Parteispitze für deren "kluge Führung" dankte?

Klaus Hoppe, Apolda


Zu den subjektiven Ursachen der Niederlage zähle ich das Wirken solcher Blender und Karrieristen wie Eberhard Aurich. Sie waren es, die bis 1989 jede konstruktive Kritik gnadenlos niedermachten. Leute wie Aurich, Schütt & Co. waren es, die in ihren herausragenden Funktionen wesentlich dazu beitrugen, daß ein großer Teil der Bevölkerung das Vertrauen in die Führung verlor.

Rainer Ihle, Amtsberg


Herr Aurich meint, daß der Untergang der DDR nicht nur fehlerhaftem Führungsverhalten Verantwortlicher geschuldet sei. Er erklärt, jeder sei inkompetent, der nicht auch nach ein "paar anderen Fehlern des 'Systems Sozialismus'" frage. Was er damit meint, läßt er offen. Bei der Entschleierung dieses "Geheimnisses" helfen uns zumindest zwei Gewißheiten, die Aurich offenbar negiert: Erstens sind auf dem Weg zum Sozialismus, für den es offenbar keine allgemeingültige Route gibt, auch schwerwiegende Irrtümer möglich, deren rechtzeitiges Erkennen zu notwendigen Schlußfolgerungen führen muß. Zweitens ist Sozialismus für uns nicht irgendein "System", sondern jene Gesellschaftsordnung, in welcher die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgehoben wird. Das aber ist das Ziel all unseres Denkens und Handelns.

Wolfgang Mäder, Neubrandenburg


Links sein zu wollen bedarf nicht nur der Abgabe einer Erklärung, sondern vor allem des entsprechenden Handelns. Wie es auch nicht um Bekenntnisse, sondern um das Wirksamwerden linker Positionen geht. Wolfgang Mäder hat das im Juni-RF aus meiner Sicht auf den Punkt gebracht. Das erreicht man aber keinesfalls dadurch, daß man sich in Koalitionen anderen Kräften zu- oder unterordnet und dabei notgedrungen eigene Positionen aufgibt. Diese durchzusetzen, erfordert vor allem ein einheitliches Handeln Linker und bedarf einer inhaltlichen Ausrichtung.
Da das meines Erachtens von der Partei Die Linke nicht mit der erforderlichen Konsequenz zu erwarten ist, sollte von wirklich linksorientierten Medien ein um so nachdrücklicherer Einfluß ausgeübt werden. Dabei müßte man sich vor allem an der fundamentalen Aussage und Erkenntnis orientieren, daß alle gesellschaftlichen Grundübel letztlich ihre Ursachen nicht in subjektiven Fehlleistungen haben, sondern im kapitalistischen System begründet sind. Wer das negiert, ist alles andere als links.
Mit der Aufgabe, diese Tatsache immer wieder überzeugend deutlich zu machen, erwächst linken Medien eine Rolle, die andere Einrichtungen - zumindest gegenwärtig - nicht erfüllen können oder wollen.

Dr. sc. Heinz Günther, Berlin

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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2013