Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

POLITISCHE BERICHTE/129: Zeitschrift für linke Politik 10/09


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 10 am 8. Oktober 2009


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
Bundestagswahl 2009: Der Triumph der LINKEN und die Niederlage der Linken
G 20-Gipfel: Nur Trippelschritte
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Köln und anderswo: Aktionen gegen die Folgen der Krise
Mehr als 500 Stolpersteine erinnern und mahnen in Stuttgart
Kommunale Politik
Kraft schluckt Cadbury
Kampagne gegen die Ausbeutung auf italienischen Tomatenfeldern
86-Stunden-Woche für LKW-Fahrer ermöglicht
Wirtschaftspresse

Diskussion und Dokumentation
Zehn Hauptforderungen des Deutschen Städtetages an den neuen Bundestag und die neue Bundesregierung
Für Gleichstellung der Kurden mit anderen Mirantengruppen
SPD verspielt Politikwechsel in Thüringen:
Sieg des Kleingeistes über die Politik
In & bei der Linken

Vorgestellt

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


Finanzierungsdefizit steigt

Statistisches Bundesamt, 30.9. rül. Das Finanzierungsdefizit der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Gemeinden sowie Gemeindeverbände, ohne Sozialversicherungen) ist im ersten Halbjahr 2009 stark gestiegen. Das meldet das statistische Bundesamt. Im ersten Halbjahr 2009 machten Bund, Länder und Gemeinden zusammen 57,2 Milliarden Euro neue, zusätzliche Schulden. Zum Vergleich: Im ersten Halbjahr 2008 hatten Bund, Länder und Gemeinden nur 6,9 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen. Besonders stark war die Neuverschuldung beim Bund mit 28,7 Milliarden Euro, gefolgt von den Ländern (15,1 Milliarden Euro). Die Kommunen, die im ersten Halbjahr 2008 noch Überschüsse von 2,9 Milliarden Euro erzielt hatten, machten in der ersten Hälfte 2009 nun 4,2 Milliarden Schulden. Für das gesamte Jahr 2009 zeichnet sich damit eine Netto-Neuverschuldung der öffentlichen Hände von deutlich über 100 Milliarden Euro ab. Rechnet man noch das Finanzierungsdefizit der Agentur für Arbeit hinzu, die in diesem Jahr mindestens 15 Milliarden Euro Verlust machen dürfte, erreicht die Neuverschuldung vermutlich ca. 120 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr wird allgemein mit einem weiteren Anstieg der Neuverschuldung gerechnet, zumal dann, wenn Schwarz-Gelb mit den im Wahlkampf versprochenen Steuersenkungen Ernst macht. Die Wirtschaftsverbände fordern bereits weitere Senkungen bei Unternehmens- und Erbschaftssteuern. Die Besitzer von Staatsschuldpapieren dürfen sich dagegen freuen. Sie strichen im ersten Halbjahr allein 33,8 Milliarden Euro Zinsen ein. Aufs gesamte Jahr dürfte ihr Zinsertrag aus der Staatsschuld ca. 70 Milliarden Euro erreichen. Staatsschulden lohnen sich eben - vor allem für die, die ohnehin schon viel Vermögen haben.


Arbeitsmarkt weiter schlecht

Agentur für Arbeit, 30.9. rül. Die offizielle Arbeitslosenzahl ist im September gegenüber dem Vormonat um 125.000 auf 3,346 Millionen gesunken. Das teilte die Agentur für Arbeit in ihrem September-Bericht mit. Der Rückgang der Arbeitslosenzahl ist aber nur "saisonal", durch das Auslaufen der Sommerferien, bedingt. Verglichen mit September 2008 waren Ende September 266.000 mehr Menschen arbeitslos als im Vorjahr. Da gleichzeitig durch sinkende Schulabgängerzahlen und die steigende Zahl der Übergänge aus dem Arbeitsleben in die Rente das sogenannte "Arbeitskräfteangebot" um 135.000 niedriger lag als im Vorjahr, ist die Arbeitslosigkeit unter den Personen im arbeitsfähigen Alter binnen einem Jahr also sogar um mehr als 400.000 gestiegen. Überdurchschnittlich gestiegen ist die Arbeitslosigkeit in Ballungsgebieten und Bundesländern mit hohem Industrieanteil. Das unterstreicht, dass die Wirtschaftskrise derzeit vor allem im Bereich der großen Industrie zuschlägt. Personen in sogenannten Beschäftigung schaffenden Maßnahmen (Ein-Euro-Jobber, ABM usw.) waren Ende September 346.000 registriert. Anhaltend kritisch ist die Situation auch im Leistungsbezug. Laut Agentur bezogen Ende September nun 1,134 Millionen Menschen Arbeitslosengeld I, das ist weniger als ein Drittel der registrierten Arbeitslosen. 4,913 Millionen Menschen dagegen bezogen Arbeitslosengeld II (Hartz IV), entweder als Arbeitslose oder als Zusatz zu irgendwelchen Niedrigseinkommen, die selbst nach den strengen Regeln von Hartz IV für Partnereinkünfte, anzurechnendes Vermögen usw. zum Leben nicht reichen. Auch die regionalen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt sind weiter hoch: Bayern (4,8% Arbeitslose), Baden-Württemberg (5,3%) und Rheinland-Pfalz (5,8%) haben wieder mal die besten Arbeitsmarktzahlen, Berlin (14,0%), Sachsen-Anhalt (12,8%) und Mecklenburg-Vorpommern (12,2%) wieder mal die schlechtesten.


US-Regierung begradigt Nato-Ostfront

www.newstin.de, maf. Mitte September verkündete Präsident Obama, dass die USA von der Einrichtung der geplanten ballistischen Radar- und Raketenstellung in Tschechien und Polen Abstand nehmen werden. Ein see-, luft- und satellitengestütztes System sei besser geeignet, Angriffe auf die USA mit Interkontinentalraketen abzuwehren. Daraufhin erklärte Präsident Dmitri Medwedew, Russland werde im Gegenzug von der Stationierung von Kurzstreckenraketen in der Enklave Kaliningrad absehen. Inzwischen klärt sich, dass die USA nicht beabsichtigen, auf jede Art von Raketenpräsenz in Osteuropa zu verzichten. Das unterstreicht der Anfang Oktober in die USA gereiste polnische Vizeverteidigungsminister Stanislaw Komorowski. Sicher ist, dass die USA an der Stationierung von Patriot-Raketen in Polen festhalten, das sind Waffensysteme, die seinerzeit eingesetzt wurden, um von Saddam Husseins Irak aus auf Israel abgefeuerte Raketen über dem Zielgebiet abzufangen. Obama hat bei seinem Verzicht auf die ballistischen Raketenstellungen ausgeführt, dass eine neue Raketenabwehr in Europa für einen stärkeren, intelligenteren und schnelleren Schutz der amerikanischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten sorgen würde (Neues Deutschland, 5.10. W. Kötter "Moskau befürchtet eine Mogelpackung"). In den nächsten Wochen wird US-Vizepräsident Joe Biden Polen und Tschechien sowie Rumänien, das ebenfalls Natomitglied ist, besuchen, dabei werde es um gemeinsame Sicherheitsanliegen, die Handelsbeziehungen und die Stärkung der Demokratie gehen. Der Strategiewechsel der USA bedeutet keinesfalls schlichte Entspannung. Eine wesentliche Änderung ist jedoch, dass Bushs Plan Sonderbeziehungen Polens und Tschechiens zu den USA bedeutet hätte, während Obamas Strategie sich auf ein Block-Interesse der europäischen Nato-Staaten stützt.

www.newstin.de/Wikipadia zurQuelle: Newstin ist eine tschechische IT-Firma, die u.a. die multilinguale Nachrichtenplattform Newstin betreibt. Auf dieser Website sind Nachrichten in 12 Sprachen zugänglich. Ein besonderes Feature von Newstin ist es, dass Meldungen in Themenbereiche kategorisiert werden und so ein gezieltes Suchen nach bestimmten Themen möglich wird. Newstin ist eine semantische und sprachübergreifende Suchmaschine die Metadaten-Tagging und grafische Datendarstellung nutzt.


Lissabon-Vertrag: Linke-Abgeordnete verrennt sich auf die Prager Burg

Die Linke im Eu-Parlament, 3.10. hav. Die Europaabgeordnete der Linken im Europäischen Parlament, Sabine Wils erklärt zum Ausgang des zweiten irischen Referendums über den Vertrag von Lissabon: "Als Ergebnis einer beispiellosen Angstkampagne" bewertet die Europaabgeordnete der Linken Sabine Wils den Ausgang der zweiten Volksabstimmung in Irland über den Vertrag von Lissabon. "Da Irland wie kaum ein anderes Land der EU von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen ist, erhoffen sich nun viele Menschen dort Hilfe von der Europäischen Union. Viele, die diesmal mit Ja stimmten, glauben, damit Brüssel milde stimmen zu können und die zu erwartenden Verfahren gegen das Land aufgrund von Verstößen gegen die EU-Stabilitätskriterien glimpflich ausfallen werden", so Wils. "Die Linke wird ... an ihrem Nein zum Lissabonner Vertrag festhalten", so Wils. Auch sei längst noch nicht ausgemacht, dass der Vertrag am Ende wirklich in Kraft tritt. In Tschechien wurde erneut Verfassungsbeschwerde eingelegt.


EU-Battle-Groups sollen schneller ausrücken

Focus, 28.9. hav. Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft will den Einsatz europäischer Soldaten in Krisengebieten wie Zentralafrika erleichtern. Die bislang noch nie ausgerückten schnellen Eingreiftruppen der EU, die sogenannten Battle Groups, müssten in Zukunft "flexibler eingesetzt" werden, forderte der schwedische Verteidigungsminister Sten Tolgfors bei Beratungen mit seinen EU-Kollegen in Göteborg. Deutschland steht einer Änderung der Einsatzkriterien ablehnend gegenüber. So hat die Bundesregierung zuletzt 2008 den Einsatz einer Battle Group im Kongo verhindert. Nach dem Battle-Group-Konzept muss die EU stets zwei Eingreiftruppen mit rund 1.500 Soldaten in Bereitschaft halten, die im Notfall binnen zehn Tagen eingesetzt werden können. Nach Auffassung der Bundesregierung erfüllen die seit langem schwelenden Konflikte in Zentralafrika nicht die Bedingungen für einen solchen Einsatz.


EU: Ausstieg aus Konjunkturpaketen in 2011

3.10. hav. Für einen Ausstieg aus den im Zuge der Krise aufgelegten konjunkturstützenden Maßnahmen im Euroraum ist es nach Einschätzung des Vorsitzenden der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, noch zu früh. Es gebe zwar Anzeichen für eine Wirtschaftserholung in der Eurozone, doch sei die Lage weiterhin fragil, sagte Juncker. Die Finanzminister hätten bei ihrem informellen Treffen in Göteborg zwar auch über einen Ausstieg gesprochen, allerdings dürfte der Exit wohl erst im 2011 beginnen. Dagegen spricht die wirtschaftspoltische Sprecher der Bundesstagsfraktion der Partei Die Linke Ulla Lötzer: "Mit dem Ausstieg aus den Konjunkturprogrammen sollen die neoliberalen Kräfte gestärkt werden, die die Kosten der Wirtschaftskrise auf die Betroffenen abwälzen wollen. Wenn die neoliberalen Wortführer bei der EU-Kommission jetzt vom Schuldenabbau reden, meinen sie Sozialabbau. Die Linke fordert ein europaweites Konjunkturprogramm und die Abschaffung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. An seine Stelle muss eine echte wirtschaftspolitische Koordinierung auf EU-Ebene treten, die sich dem Ziel der Vollbeschäftigung sowie der Stärkung des sozialen und territorialen Zusammenhalts und Förderung einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung verpflichtet."


EU fürchtet Kollaps der Sozialsysteme

Financial Times Deutschland, 1.10. hav. "Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit mit ihren potenziell lange anhaltenden Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte und auf das Potenzialwachstum könnte die europäischen Sozialmodelle bedrohen, die bereits jetzt unter der Alterung der Bevölkerungen leiden", heißt es in einem Bericht der Kommissionsvolkswirte für das informelle Finanzministertreffen in Göteborg. Damit stellt die Brüsseler Behörde erstmals das Überleben der sozialen Absicherung in Europa infrage. Die Kommissionsökonomen warnen in ihrem Papier vor dem Risiko, "dass die Arbeitslosigkeit nicht leicht wieder auf das Niveau vor der Krise zurückfällt, wenn der Aufschwung wieder einsetzt". Denn die Behörde geht davon aus, dass es auch nach der Krise weniger Jobangebote gibt und die Langzeitarbeitslosigkeit deshalb steigt. Europaweit dürften die meisten der 9,5 Millionen neuen Jobs, die in der kurzen Aufschwungphase von 2006 bis 2008 entstanden sind, bis 2010 wieder zerstört werden.


EU verwirft Kern des deutschen Steuergesetzes für Risikokapitel

Dow Jones, 1.10. hav. Die EU-Kommission hat den wichtigsten Bestandteil des deutschen Gesetzes zur steuerrechtlichen Behandlung von Risikokapitalbeteiligungen (MoRaKG) nicht genehmigt. Die darin vorgesehene Gewerbesteuerbefreiung von Wagniskapitalbeteiligungsgesellschaften sowie das Verlustvortragsrecht der von ihnen übernommenen Zielgesellschaften sei nicht mit den EU-Leitlinien für Risikokapital vereinbar und verstoße gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit, teilte die Kommission mit. So dürften nach dem Gesetz nur Unternehmen mit Sitz in Deutschland steuerlich begünstigt werden. Die verwendete Definition der Wagniskapitalgesellschaft führe möglicherweise dazu, dass einige Gesellschaften erst gar nicht der Gewerbesteuer unterlägen. Beides führe zu unlauteren Wettbewerbsvorteilen gegenüber der Konkurrenz. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, binnen zwei Monaten entsprechende Änderungen vorzunehmen. Mit dem 2008 verabschiedeten MoRaKG will die Bundesregierung es vor allem jungen Unternehmen durch steuerliche Vergünstigungen erleichtern, Investoren zu finden. Eine Wagniskapitalbeteilungsgesellschaft wird von der Gewerbesteuer befreit, wenn sie sich an Unternehmen beteiligt, die jünger als zehn Jahre sind, nicht länger als drei Jahre an der Börse notiert sind und über nicht mehr als 20 Millionen Euro Eigenkapital verfügen.


*


Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 5. November 2009. Redaktionsschluss: Freitag, 30. Oktober. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die nächsten Erscheinungstermine, jeweils donnerstags: 3. Dezember, 14. Januar 2010, 11. Februar.

Raute

Bundestagswahl 2009

Der Triumph der Linken und die Niederlage der Linken

Die praktische Interpretation des Wahlergebnisses vollziehen die Parteien in den Koalitionsverhandlungen, in denen aus dem Abstimmungsergebnis ein Regierungsprogramm gemacht wird. Es ist nicht nur der zeitliche Zusammenhang, der die Koalitionsverhandlungen in Thüringen, Brandenburg und dem Saarland mit der Regierungsbildung im Bund verwickelt, das Ergebnis der Bundestagswahl wirkt auch durch seinen Inhalt auf die Verhandlungen in den Ländern aus.

Bei den Bundestagswahlen kreierten die Wählerinnen und Wähler eine stabile Mehrheit aus Union und FDP. Eine Alternative dazu wäre eine Mehrheit aus Union und SPD gewesen, andere Mehrheiten waren schon durch die Positionierung der Parteien unwahrscheinlich: es wird nicht "geampelt" sagte die FDP zu einer Dreier-Koalition SPD-Grüne-FDP.

Bei einem schwächeren Ergebnis für die FDP hätte eine große Koalition fortgesetzt werden müssen, im Parlament aber wäre eine Mehrheit aus SPD, der Partei Die Linke und den Grünen latent vorhanden gewesen. Die Fraktion Die Linke hätte, gestützt auf zivilgesellschaftliche Kräfte, einen erheblichen Einfluss auf Einzelentscheidungen der Regierungsmehrheit ausüben können.

Die massenhaften Gewinne der FDP aus allen politischen Lagern (sogar von der Linken) hingegen machen die Regierung gegenüber zivilgesellschaftlichen Bewegungen stark. Die Anhängerschaft dieser Parteien wird - anders als die der SPD - durch gewerkschaftliche, ökologische und kritische Bewegungen nicht besonders beeindruckt.

Das mehrheitliche Abstimmungsverhalten der Wählerschaft wirkt auf sämtliche laufenden Koalitionsverhandlungen, weil es fast nur als Wunsch nach stabilen parlamentarischen Mehrheiten mit der Folge einer starken Regierung interpretiert werden kann.

Stabilität und solidarische Reformpolitik

Wie niemand bestreiten kann, ist die neue Mehrheit im Bundestag wirtschaftsfreundlich, sie hält gesellschaftliche Entwicklung für eine Folge eigennütziger Anstrengungen der Akteure auf ordnungspolitisch geregelten Märkten. Die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung steigt, wenn sich der Einsatz lohnt. Da auch wirtschaftsorientierte Kräfte wissen, dass vielen Menschen ein hoher Einsatz abverlangt wird, der schlecht vergütet ist, ergänzt dieser politische Ansatz das System positiver Anreize für "die Starken" durch ein System negativer Anreize für "die Schwachen". Das Ganze wird als "realistisches Menschenbild" gehandelt, dessen regelndes Moment die in der Gesellschaft vorhandene Konkurrenz ist. Eine solche Politik stellt die staatliche Gewalt auf die Seite der Reichen und Privilegierten. Bedürftige werden mit dem Hinweis abgespeist, dass nur Reiche Armen helfen können, ein Grundsatz durch den der Pflicht zur Wohltätigkeit die klare Grenze des Zumutbaren gezogen ist.

Solidarische Reformpolitik wird hingegen von der Annahme bestimmt, dass eine solidarische Rückversicherung aller die Leistungsbereitschaft und das Leistungsvermögen des Einzelnen hebt, während scharfe Sanktionen und Drohungen mit dem sozialen Untergang die Betroffenen schwer niederdrücken und belasten. Man spricht von einem humanistischen Menschenbild, dessen regelndes Moment die soziale Kooperation ist, die in der Gesellschaft vorliegt. Der humanistisch-solidarische Ansatz als Prüfstein für staatliches Handeln verbindet die politischen Kräfte, die in der gesellschaftlichen Diskussion als "links" wahrgenommen werden. Linke Politik ist notwendig Reformpolitik, sie muss auf die Ungleichheiten und Zurücksetzungen, die der kapitalistisch bestimmte Produktions- und Reproduktionsprozess hervorbringt, mit dem Willen zur Änderung losgehen. Eine solche Grundhaltung kann mit dem Interesse an Stabilität nur verbunden werden, wenn die herrschende Politik sich festgefahren hat und erfolgversprechende Reformprojekte so klar bestimmt sind, dass sie ein Stabilitätsversprechen ausstrahlen.

Für eine linke Mehrheit fehlen die verbindenden Projekte

Die Partei Die Linke formuliert in ihren Wahlaussagen Kritik am Zustand der Welt. Ihre Forderungen richten sich im Wesentlichen aufs Unterlassen: "Weg mit ...", "Raus aus ..." Es liegt auf der Hand, dass solche Kritiken Wählermeinung artikulieren, sie richten Anforderungen an das Staats- und Regierungshandeln. Die Frage, was die öffentliche Hand konkret tun müsste, um diesen Kritiken Rechnung zu tragen, bleibt im Ungefähren oder sogar völlig offen. In der konkreten Parteienkonstellation hat Die Linke sehr viele Stimmen dafür erhalten, dass sie Kritikpunkte deutlich benannte, die dadurch geforderten Antworten gaben - zu Teilen - die Grünen; die SPD konnte sie nicht geben. So war es jedenfalls auf Bundesebene. Es entstand eine Spannung zwischen SPD und Der Linken, die - siehe die Wählerwanderungen - sowohl zu Gewinnen Der Linken beigetragen hat, wie sie auch zur Demobilisierung der SPD-Wählerschaft beigetragen haben dürfte.

Bundestagswahlen und Koalitionsverhandlungen in den Ländern

Die Bundestagswahlen waren in dieser Hinsicht ein Menetekel. Die Wählerschaft hat Die Linken Parteien gezählt, gewogen und für zu leicht befunden. So ist mit dem Wahlabend eine Stimmung entstanden, die auch sachlich viel besser ausgebaute Konstellationen zurückgeschlagen hat. Könnte eine Koalition aus Der Linken, der SPD und den Grünen in Thüringen Programm und Personal einer Landesregierung aufstellen? Hätte eine solche Koalition Rückhalt und Vertrauen in der öffentlichen Meinung im Land? Auf diese Fragen ist ein Ja möglich (siehe Bericht zum Scheitern der Koalitionsverhandlungen in Thüringen Seite 20). Der bis jetzt ungünstige Verlauf der Verhandlungen hat aber auch damit zu tun, dass es eine solche linke Koalitionsregierung mit der strukturell ganz anderen Mehrheit im Bund nicht leicht hätte. In einer Mehrheitsstimmung, die gleichgerichtete Harmonie zwischen Politik und Wirtschaft hören will, sind Dissonanzen zwischen Bund und Land eher unerwünscht.

Das hervorragende Wahlergebnis Der Linken und seine Schattenseiten

Zu dem ausgezeichneten Wahlergebnis Der Linken gehört auch Gewinn von 16 Direktmandaten (davor drei). Das ist so wichtig, weil es ausdrückt, dass man der Partei nicht nur zutraut, von anderen gesetzte Ziele irgendwie zu beeinflussen, vielmehr werden ihre originären Vorschläge zur Handhabung der öffentlichen Angelegenheiten ernst genommen.

Dennoch sagte Oskar Lafontaine in einer seiner ersten Äußerungen zum Wahlergebnis, das war es nicht, was wir wollten. Die Partei Die Linke wollte ein Wahlergebnis, dass im ersten Schritt eine Fortsetzung der großen Koalition erzwungen hätte, in deren Verlauf es den Grünen und Der Linken möglich gewesen wäre, ökologische und soziale Reformprojekte zu konkretisieren und - wer weiß - am Ende auf diesem Wege sogar einen Wechsel hin zu einer Reformregierung noch im Laufe der Legislaturperiode zu erreichen. Handelte es sich um ein Theaterstück, müsste man sagen, dass Die Linke die SPD so an die Wand gespielt hat, dass das Stück uninteressant wurde. Es geht aber um Schicksale, um Krieg, soziale Ausgrenzung, Hoffnungslosigkeit von Millionen. Die Linke wurde und wird von ihrer Wählerinnen und Wählern als ein Hebel angesehen, der auf das Regierungshandeln einwirkt. Das wäre im Falle einer großen Koalition so geblieben. Das ist jetzt nicht mehr so. Die von Der Linken im Bundestagswahlkampf vorgetragenen Kritiken konnten von den Wählerinnen und Wählern als konkrete Versprechen begriffen werden: Eine Stimme für Die Linke würde (eine große Koalition) dazu zwingen, den Abzug aus Afghanistan einzuleiten, die Rente mit 67 abzumildern, Hartz IV aufzuweichen. Eine Mehrheit aus Union und FDP kann so kaum beeinflusst werden.

Der strategische Ansatz hat auf eine latente Mehrheit für Rot-grün-rot gezielt, ergeben hat sich eine Minderheitsposition.

Die Grenzen eines Politikstils

In der Propagandaschlacht, die Die Linke den anderen Parteien geliefert hat, spielte namentlich (aber nicht nur) Oskar Lafontaine mit einem gefährlichen Argument. Er stellte immer wieder, lautstark und in derben Worten den politischen Willen der Bevölkerung gegen das Handeln der Regierung. Die Versuchung zu solchen Argumenten lag nahe, gerade weil im letzten Bundestag eine sozial und solidarisch gepolte Mehrheit links von der Mitte "eigentlich" da war. Diesen Angriff haben die Union und die FDP mit ihrem Wahlkampf erfolgreich abgewiesen. In der Folge kann sich linke Kritik nicht mehr darauf berufen, die Regierung handle gegen den politischen Willen der Mehrheit.

Ein Blick auf die Wählerwanderungen im Ergebnis Der Linken macht recht deutlich, dass die Partei ein Konsolidierungsproblem hat. Sie hat - bei den Bundestagswahlen - Hoffnungen ausgelöst, die durch das Gesamtergebnis unerfüllbar werden.

Machtoption

Parteien brauchen zur Entwicklung politischer Perspektiven eine Aussicht auf Teilhabe an der Regierung. In den letzten Wochen wurde viel darüber geredet, dass die SPD eine solche "Machtoption" ohne Die Linke weithin nicht mehr hat. Wer davon redet, kann auf Dauer nicht davon schweigen, dass umgekehrt Die Linke eine solche "Machtoption" nur mit der SPD, eigentlich sogar nur mit der SPD und den Grünen gemeinsam hat. Die Linke ist also nicht nur in der Lage, dass sie ihren eigenen Laden irgendwie zusammenzuhalten muss, sie muss ihre Strategiediskussion zudem so anlegen, dass verbindende Elemente mit Politikansätzen der SPD und der Grünen öffentlich kenntlich werden.

Auf diesem anstrengenden Wege hätte es Die Linke leichter, wenn es in geeigneten Bundesländern zu Koalitionsregierungen käme.

Parteileben und nächste Wahlen

Parteien können auch als soziale (Sub)systeme mit Eigenleben und Eigeninteressen begriffen werden. Wer davon absehen wollte, könnte das Treiben solcher Organisationen nicht verstehen. Als solche Systeme benötigen Parteien Zustimmung der Wählerschaft und Zustrom von Mitgliedern. Beides hat der Bundestagswahlkampf für Die Linke im reichen Maß gebracht.

Als nächste Herausforderung stehen nun die Landtagswahlen in NRW im kommenden Mai ins Haus. Sie sind von großer bundespolitischer Bedeutung. So folgte einer verheerenden Niederlage der SPD in diesem Bundesland bei den Wahlen 2004 das Ende der Regierung Schröder.

Ein Wahlerfolg der Parteien links von der Mitte würde auf die unsoziale, unsolidarische, militarisierte Politik einer Bundesregierung wirken. Ein Wahlerfolg Der Linken allein kann das nicht bewirken.

In der Diskussion von progammatischen Zielen und der politischen Inhalte kann sich eine solche Gegebenheit auf verschiedene Weise auswirken: Sie kann als Zwang zum Kompromiss und Nachgeben begriffen werden (das war der Weg, der die SPD klein gemacht hat), sie könnte aber auch als Anregung zu eine Diskussion strategischer Ziele moderner linker Politik begriffen werden.

Martin Fochler, Alfred Küstler

Raute

"Auf Wachstum setzen, auf Arbeitsplätze setzen, auf den Wohlstand unseres Landes" (Merkel)

Anfang November soll ein Koalitionsvertrag unterzeichnet werden. Bislang haben führende Politiker der CDU, der CSU und der FDP ihre jeweiligen Positionen und Schwerpunkte öffentlich gemacht.

CDU, Volker Kauder (Fraktionsvorsitzender der Unionsfraktion)

Interview mit dem "Hamburger Abendblatt", 2. Oktober 2009

Frage: Was ist mit der Union nicht zu machen?
Kauder: Wir sollten nicht sagen, was überhaupt nicht geht oder was unbedingt kommen muss. Alles, was die FDP bewegt, nehmen wir auf die Tagesordnung.

Die FDP will den Gesundheitsfonds kippen...
Ich hoffe sehr, dass wir die FDP in den Verhandlungen von der Güte des Gesundheitsfonds überzeugen können.

Was ist gut an dem Fonds?
Er hat dazu geführt, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre Schulden getilgt haben. Außerdem ist er eine ausgezeichnete Möglichkeit, Wettbewerb im Gesundheitswesen zu organisieren.

Bleibt es auch bei den vereinbarten Mindestlöhnen?
Wir haben beim Thema Mindestlohn einen richtigen Weg beschritten, der uns eine giftige Diskussion erspart hat. Ich glaube, dass wir die FDP auch davon überzeugen können.

Was ist mit dem Kündigungsschutz? Nicht nur die Liberalen, auch die großen Wirtschaftsverbände fordern eine Lockerung.
Ich kann nicht erkennen, dass der Kündigungsschutz jetzt ein wichtiges und notwendiges Thema ist. Wir haben eine Menge an Flexibilisierung in den vergangenen Jahren erreicht. Auf dem Arbeitsmarkt stellt sich eine andere Frage: Was können wir tun, damit aus Kurzarbeit nicht Arbeitslosigkeit wird?

Welche Möglichkeit sehen Sie?
Wir sollten eine Verlängerung der befristeten Arbeitsverhältnisse prüfen, damit die Menschen länger in den Firmen bleiben können.

In welchem Umfang werden die Steuern gesenkt?
Wir halten unsere Zusage ein, die sogenannte kalte Progression zu dämpfen. Das bedeutet eine jährliche Steuermindereinnahme von etwa 15 Milliarden Euro. Das lässt sich finanzieren, wenn die Wirtschaft um mindestens 0,8 Prozent wächst.

In diesem Jahr schrumpft die Wirtschaft um mehr als fünf Prozent.
Wir wollen Wachstum stimulieren, deswegen streben wir Korrekturen bei der Unternehmenssteuerreform an. Wir müssen auch bei der Erbschaftssteuer noch Veränderungen vornehmen. Betriebe, die aufgrund der Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geraten sind, dürfen nicht auch noch mit einer Erbschaftssteuer belegt werden.

Steuererhöhungen sind ausgeschlossen?
Kauder: Ja, es wird in den kommenden vier Jahren keine Steuererhöhungen geben.

Die Bürger fürchten eine Koalition der Zumutungen. Gibt es Einschnitte ins soziale Netz?
Nein.


FDP, Dirk Niebel, Generalsekretär

Interview mit der "Rhein-Neckar-Zeitung" am 5. Oktober

Frage: Es kursiert ein Bilanzpapier zur Lage der Staatsfinanzen, das die Position der CDU untermauert: Steuersenkungen sind nicht drin. Ist das der erste Frosch, den die FDP schlucken wird?
Niebel: Unser Wahlprogramm ist da die Maxime unserer Verhandlungen. Dass wir unsere Vorstellungen nicht zu 100 Prozent umsetzen können, ist uns klar. Aber: Wir wollen eine echte Steuerstrukturreform.

Wie wollen sie sie finanzieren?
Wir brauchen vor allem eine vernünftige Ausgabendisziplin, zu der die große Koalition nicht in der Lage war.

Heißt: Staatssubventionen streichen.
Es gibt eine Vielzahl staatlicher Ausgaben, die der Steuerzahler zwar finanzieren muss, die ihm aber relativ wenig nützen. Die müssen auf den Prüfstand.

Auch die Mehrwertsteuer?
Eine Mehrwertsteuererhöhung wird es mit uns Liberalen nicht geben. Die letzte Mehrwertsteuererhöhung hat schon genug Wachstum, Wohlstand und Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Politik gekostet. Aber wir wollen die ermäßigten Steuersätze neu ordnen. Wir wollen beispielsweise, dass im Bereich Hotel und Gaststätten künftig der niedrigere Steuersatz gilt.

Die FDP droht mittlerweile sogar den Energiekonzernen, man könne auch am Atomausstieg festhalten. Ist die FDP etwa doch von umweltpolitischer Einsicht gelenkt?
Das waren wir immer, weil wir wissen, dass wir einen vernünftigen Energiemix brauchen. Ausdrücklich: Stärkung der regenerativen Energien und ein Festhalten an der sicheren Kernenergie als Übergangstechnologie. Aber den Energiekonzernen muss klar sein: Wenn es zu Gesprächen über die Verlängerung von Laufzeiten kommt, dann ist das kein Freibrief. Wir verlangen Zugeständnisse der Energieversorger, beispielsweise Gewinne aus der Atomkraft in den Ausbau der Regenerativen zu investieren.


CSU, Generalsekretär Alexander Dobrint

Die Fehlbeträge in den öffentlichen Kassen und im Bundeshaushalt seien am besten mit einer wachstumsfördernden Politik auszugleichen. "Wir brauchen eine Politik, die die Wirtschaft stimuliert. Dann wird auch eine Steuerentlastung für die Bürger möglich sein", sagte Dobrindt. Soziale Einschnitte, insbesondere eine Einschränkung des Kündigungsschutzes lehnte der CSU-Generalsekretär ab.

Raute

Dokumentiert: Erste Wahlanalyse aus dem Parteivorstand Die Linke

Im folgenden veröffentlichen wir eine erste Wahlanalyse von Horst Kahrs, Bereich Strategie und Politik beim Parteivorstand Die Linke. Die darin festgestellten starken Umwälzungen in der Wählerschaft der Linken von Wahl zu Wahl werden durch andere Wahluntersuchungen bestätigt. So hat das Statistische Amt der Stadt Stuttgart bezüglich der Gemeinderatswahl im Juni dieses Jahres festgestellt, dass nur rund 37 Prozent der PDS-Wähler von 2004 im Jahr 2009 Die Linke gewählt haben.


Wählerwanderungen bei der Bundestagswahl 2009

Die Linke hat bei der Bundestagswahl 2009 über eine Million Stimmen oder 25% gegenüber der Bundestagswahl 2009 hinzugewonnen.

Diese Stimmengewinne verteilen sich im Wanderungssaldo[1] in absoluten Zahlen wie folgt:

Wanderungssaldo Linke
+ Gewinne von / - Verluste an
Union
SPD
FDP
Grüne
Andere
Nichtwähler
Erstwähler
+ 40.000
+ 1.110.000
- 20.000
+ 130.000
0
- 350.000
+ 230.000

Die meisten zusätzlichen Stimmen erhielt Die Linke im Saldo von vorherigen SPD-Wählern. Stimmengewinne gab es auch von der CDU und von den Grünen. Den Stimmengewinnen stehen Stimmenverluste an die FDP und vor allem die Nichtwähler gegenüber. Schließlich erhielt Die Linke 230.000 Stimmen von Erstwählerinnen und Erstwählern, die in der Wanderungsbilanz ebenfalls unter die Stimmengewinne fallen.

Die Stimmen der Erstwähler machen 5% aller Stimmen für Die Linke aus. 60 Prozent der erstmals Wahlberechtigten beteiligten sich überhaupt an der Wahl. Die Stimmen dieser gut zwei Millionen Erstwähler verteilten sich wie folgt:

Erstwähler
Union
SPD
FDP
Linke
Grüne
Andere
24,8%
19,3%
14,4%
11,4%
16,3%
13,9%

Hinter dem Wanderungssaldo verbergen sich nach den Ergebnissen von Infratest dimap aber erheblich umfangreichere Wählerwanderungsbewegungen. Nach den vorliegenden Zahlen wählten nur 2,54 Millionen Wählerinnen und Wähler, die 2005 Die Linke gewählt hatten, auch 2009 wieder Die Linke. Das sind 62% der Wählerschaft 2005.

Diese kann man als "treue Wählerschaft" der Linken mit der Tendenz zur Stammwählerschaft (darunter bereits viele Stammwähler) bezeichnen. Das bedeutet aber auch, dass knapp 1,6 Millionen Wählerinnen und Wähler von 2005 bei diesen Wahlen nicht Die Linke gewählt haben. Das wiederum bedeutet, dass nicht gut eine Million Wähler neu gewonnen wurde, sondern gegenüber 2005 sich etwa 2,6 Millionen Wählerinnen und Wähler neu für Die Linke entschieden haben: Die Hälfte der Linken-Wähler 2009 sind neue Wählerinnen und Wähler.


Verbleib der Wählerinnen und Wähler von 2005

Union05
SPD05
FDP05
LINKE05
Grüne05
Andere05
Nichtw.05
Union 09
SPD 09
FDP 09
LINKE 09
Grüne 09
Andere 09
Nichtw. 09
Gestorbene
Summe
63%
3%
11%
1%
1%
1%
13%
7%
100%
8%
47%
4%
8%
8%
2%
16%
5%
100%
16%
4%
57%
1%
2%
3%
12%
5%
100%
3%
4%
2%
62%
3%
3%
18%
5%
100%
4%
13%
3%
7%
56%
6%
8%
3%
100%
10%
2%
5%
7%
2%
51%
19%
4%
100%
6%
4%
3%
3%
2%
2%
75%
5%
100%

Wählerschaften ohne Änderung des Stimmverhaltens 2005/2009

Gegenüber 2005 haben rund 25,4 Mio. Wählerinnen und Wähler ihr Stimmverhalten nicht geändert. 15 Millionen oder knapp 40 Prozent haben anders abgestimmt als 2009. Knapp 11 Millionen haben sich weder 2005 noch 2009 an der Wahl beteiligt, aber gut 3,5 Millionen Nichtwähler von 2005 sind 2009 zur Wahl gegangen, während knapp 8,2 Millionen Wähler von 2005 jetzt zu den Nichtwählern gewechselt sind.

In der folgenden Tabelle wird zunächst dargestellt, wo die jeweiligen Wähler aus dem Jahr 2005 ihr Wahlkreuz 2009 gemacht haben. Sie zeigt, dass 62% der Wähler der Linken treu geblieben sind, 63% der Union und nur 47% der SPD.

Anteil der treuen und Stamm-Wählerschaft an Wählerinnen und
Wählern 2009

Union05
SPD05
FDP05
LINKE05
Grüne05
Andere05
Nichtw.05
Union 09
SPD 09
FDP 09
LINKE 09
Grüne 09
Andere 09
Nichtw.09
72%
5%
30%
3%
5%
8%
11%
9%
77%
11%
25%
30%
14%
14%
5%
2%
42%
1%
2%
5%
3%
1%
2%
1%
50%
3%
5%
4%
1%
5%
2%
5%
47%
8%
2%
1%
0%
2%
3%
1%
37%
2%
6%
5%
7%
8%
6%
11%
57%

Angesichts der gesunkenen Wahlbeteiligung und Verluste an absoluten Stimmen machte diese "treue bzw. Stammwählerschaft" bei der SPD 77% der aktuellen Wähler aus, bei der Union 72%, bei den kleineren Parteien, die zugelegt haben, aber deutlich weniger. Aus der Tabelle ist gleichfalls ersichtlich, dass Die Linke 18% ihrer Wähler von 2005 an die Nichtwähler verloren hat.

Diese Tabelle weist aus, dass 50% der aktuellen Linke-Wähler bereits 2005 links gewählt haben, 25% damals SPD gewählt, 3% Union, 1% FDP, 5% Grüne, 3% andere und 8% Nichtwähler waren. (Die an 100% fehlenden 5% entfallen auf Erstwähler). Die Tabelle zeigt auch, dass Die Linke unter den Nichtwählern des Jahres 2005 keine besonders herausragenden, aber von allen Bundestagsparteien die besten Mobilisierungserfolge erzielte.

Gewinne und Verluste von und an andere Parteien oder: Wohin
gingen rund 1,6 Millionen und woher kamen rund 2,5 Millionen?
      
Abwanderung
Zuwanderung
Union
SPD
FDP
Grüne
Andere
Nichtwähler
Gestorbene
Erstwähler
Summe
120.000
170.000
80.000
130.000
130.000
760.000
200.000
-
1.590.000
8%
11%
5%
8%
8%
48%
13%
-
100%
160.000
1.280.000
60.000
260.000
130.000
410.000
-
230.000
2.530.000
6%
51%
2%
10%
5%
16%
-
9%
100%

Die Wanderungsbilanz von Infratest dimap zeigt, dass knapp die Hälfte der Stimmenverluste ins Nichtwähler-Lager gingen, von dort aber nur jede sechste neue Stimme kam. Die Hälfte der neuen Stimmen gegenüber 2005 kam von den Sozialdemokraten, jeder zehnte der verlorenen Stimmen ging dorthin. Unter den neu gewonnenen Stimmen machen die Erstwähler 9% aus. Diese Wanderungsbilanzen sollten nicht allzu genau genommen werden. Sie bilden auf der Basis von Stichproben-Befragungen vor dem Wahllokal nach der Wahl das ab, was die Wählerinnen und Wähler angeben. Aus der empirischen Forschung ist auch bekannt, dass ein Teil der Wählerinnen und Wähler nicht mehr genau erinnern kann, was er oder sie vor vier Jahren gewählt hat, zumal wenn dazwischen auch noch andere Wahlen stattgefunden haben. Gleichwohl lassen sich daraus grobe Tendenzen in der Wählerbewegung herauslesen. Keine Schlussfolgerungen lassen diese Zahlen auf den Zeitpunkt der Umentscheidung zu. Die Entscheidung, 2009 nicht zur Wahl zu gehen oder Linke statt SPD zu wählen kann theoretisch zu einem beliebigen Zeitpunkt zwischen den beiden Wahltagen gefallen sein und gar nichts mit dem Wahlkampf zu tun haben. Tatsächlich finden solche Lossagungen von bisher bevorzugten Parteien tatsächlich überwiegend im Zeitverlauf zwischen den Wahlkämpfen statt und den Wahlkämpfen kommt eher die Aufgabe zu, aus der erfolgten Lossagung von einer Partei die aktive Zustimmung zu der eigenen Partei zu machen (und - natürlich - die Stammwählerschaft zu mobilisieren).

[1] Alle Zahlen in diesem Papier stammen aus der Wahlberichterstattung von Infratest dimap, Stand 28.9.2009.

Raute

G20-Gipfel in Pittsburgh USA

Nur Trippelschritte

Mit einer 23-seitigen Erklärung der Staats- und Regierungschefs, allerdings eher wenig konkreten Beschlüssen endete am jüngste 25. September der Gipfel der Staats- und Regierungschefs der sogenannten "G-20" in der US-amerikanischen Metropole Pittsburgh.

Die "G-20" umfassen die USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Russland und Kanada (die alte "G-8"-Gruppe), die 5 wichtigsten Schwellenländer China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika sowie Argentinien, Australien, Indonesien, Saudi-Arabien, Südkorea, die Türkei und die Europäische Union. Zusammen repräsentieren diese Staaten zwei Drittel der Weltbevölkerung, vier Fünftel des internationalen Handels und gut 90 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Gegenüber den früheren "G-7-"Gipfeln allein der reichen OECD-Staaten, die meinten, die Geschicke der Welt unter sich ausmachen zu können, ist das sicher ein Fortschritt. Allerdings ist der G-20-Gipfel auch in Gefahr, als eine Art "Neben-UNO" zu agieren. Beschlossen wurde unter anderem, sich künftig regelmäßig in diesem Kreis zu treffen. Im April 2010 will sich die Runde, die Ende 2008 unter dem Eindruck der schweren Weltwirtschaftskrise erstmals zusammentrat, in Kanada wieder treffen, im November 2010 in Südkorea. Danach soll es mit jährlichen Treffen weiter gehen, das erste 2011 in Frankreich.

Stimmrechtsänderungen bei IWF und Weltbank

Inhaltlich sind die Ergebnisse des Gipfels eher dürftig. So soll die seit Jahrzehnten kritisierte Stimmrechtsverteilung in IWF und Weltbank nur geringfügig korrigiert werden. Bisher verfügen die reichen Industrieländer über 61,4% der Stimmrechte im IWF und in der Weltbank. Die USA haben mit über 16% eine Sperrminorität in beiden Einrichtungen, da StatutenÄnderungen und die Ernennung der Chefs von IWF und Weltbank der Zustimmung von 85% aller Stimmrechte bedürfen. Bis 2010 sollen die Stimmrechte von Schwellen- und armen Ländern im IWF um 5 Prozent, in der Weltbank um 3 Prozent erhöht werden. Da die USA an ihrer Sperrminorität festhalten, läuft das ganze auf eine eher kosmetische Korrektur der Stimmengewichte zu Lasten der EU-Staaten hinaus. Weder die Sperrminorität der USA noch die überwältigende Mehrheit der reichen Industriestaaten in IWF und Weltbank werden so ernstlich in Frage gestellt.

Gegen internationale Ungleichgewichte

Zweites Thema war in Pittsburgh erneut die Bekämpfung der enormen Ungleichgewichte im internationalen Handel, die neben den fehlenden Schranken gegen Finanzspekulationen und den Umtrieben des globalen Schattenbankensystems als zweiter wesentlicher Faktor für den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise betrachtet werden. Dazu heißt es jetzt im Abschlusskommuniqué, Staaten mit "nachhaltig und bedeutsamen Überschüssen im Außenhandel" - damit sind vor allem Deutschland, China und Japan gemeint - sollten ihre Exportüberschüsse abbauen und stattdessen Binnenmärkte und Binnennachfrage in Zukunft stärker ankurbeln. Wie das umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Die chinesische Regierung hat mit ihren bisherigen Konjunkturprogrammen erhebliche Anstrengungen unternommen, um zum Beispiel in den eher armen ländlichen Gebieten Chinas die Nachfrage durch Steuernachlässe auf Konsumgüter - Autos, elektrische Haushaltswaren, Küchengeräte, Waschmaschinen, Radios, Fernseher, Handy usw. - anzukurbeln. Ob aber die deutsche schwarz-gelbe Bundesregierung die Binnennachfrage durch Steuersenkungen für arme Leute, durch Mindestlöhne, Anhebung von Hartz IV und andere Maßnahmen ankurbelt, darf bezweifelt werden.

Auch der zweite Teil dieses Abschnitts im Schlusskommuniqué - Länder mit ausgeprägten Handelsdefiziten wie die USA verpflichten sich darin, "ihre private Sparquote zu erhöhen und den Haushalt zu konsolidieren" - dürfte dauern. Bis die US-Regierung und die Bundesstaaten der USA ihre extremen Haushaltsdefizite abgebaut haben, werden noch Jahre, vielleicht sogar ein ganzes Jahrzehnt vergehen.

Wenig Konkretes im Finanzsektor

Ebenfalls eher unverbindlich und zögerlich sind die Verabredungen im Finanzsektor. So haben die USA zwar zugesagt, das schon vor mehr als zehn Jahren verabredete Regelwerk von Basel II mit seinen höheren Eigenkapitalvorschriften für die Banken endlich auch bei sich einzuführen. Das soll aber erst 2011 geschehen.

Auch die zusätzlichen neuen Eigenkapitalvorschriften für alle global tätigen Banken, die Kontrollen für Hedgefonds und andere Akteure im Finanzbereich und eine strengere Aufsicht über riskante Papiere und Finanzgeschäfte sollen erst langsam folgen. Bis 2010 soll das schon Ende 2008 eingerichtete Expertengremium "Financial Stability Board" (FSB) die neuen, schärferen Regeln formulieren und dem G-20-Gipfel vorlegen. Bis Ende 2012, also erst in drei Jahren, sollen diese Regeln dann in den G-20-Staaten umgesetzt sein. Dann müssen alle Institute - global tätige Banken, Hedgefonds und andere - mehr Eigenkapital vorhalten und zugleich mehr Risikovorsorge treffen. Gleichzeitig soll ein spezielles Banken-Insolvenzrecht entwickelt werden, um bei drohenden Zusammenbrüchen großer Banken künftig stärker die Aktionäre und Eigentümer der Finanzunternehmen in Regress nehmen zu können und weniger die Steuerzahler. Ob das alles am Ende gelingen wird, bleibt abzuwarten.

Auch beim Thema Steuerfluchtländer, Boni und Managervergütungen gab es wieder scharfe Worte. Es gelte, "die Ära der Verantwortungslosigkeit zu beenden und eine Reihe von Regelungen und Reformen umzusetzen, die den Anforderungen der Wirtschaft im 21. Jahrhundert gerecht werden", heißt es in der Abschlusserklärung. Die Erfolge gegen Steuerfluchtländer werden im Kommuniqué ausdrücklich begrüßt, die Maßnahmen gegen Länder, die sich noch immer gegen Kontrollen und Steuertransparenz wehren, fortgesetzt werden.

Boni und Zusatzvergütungen sollen künftig nicht mehr an kurzfristigen Quartalsergebnissen von Unternehmen, sondern an deren langfristigem Erfolg ausgerichtet werden. Neben Bonus- soll es auch Malus-Regelungen, also Gehaltskürzungen, bei Misserfolgen der Unternehmen geben. So steht es im Kommuniqué von Pittsburgh. Aber wie die konkrete Umsetzung dieser Regelungen aussieht, bleibt den einzelnen Staaten überlassen.

Pikanterie am Rande: ausgerechnet die großen britischen Banken Lloyds, Barclays, HSBC, Royal Bank of Scotland und Standard Chartered, die vom scheidenden deutschen Finanzminister Steinbrück vor dem Gipfel öffentlich als Blockierer solcher Regelungen angegriffen worden waren, vereinbarten unmittelbar nach dem Gipfel mit dem britischen Finanzminister, solche Regeln noch bis Jahresende in ihren Unternehmen einzuführen. Der Chef der Deutschen Bank, Ackermann, dagegen wehrt sich weiter gegen Begrenzungen der Managergehälter und Boni. Aber der Mann kann ja auch bis heute nicht verstehen, warum seine Vorgabe einer 25-prozentigen Kapitalrendite der Deutschen Bank dem kreditnehmenden Gewerbe irgendwelche Probleme gemacht haben soll. Manche lernen eben nie.

Maßnahmen wie die Einführung eines "TÜV" für Finanzmarktprodukte, ein Verbot von riskanten Geschäften wie zum Beispiel Leerverkäufen oder eine Steuer auf Finanzmarktgeschäfte, um der extremen Spekulation auf den Finanzmärkten eine Schranke zu setzen, blieben dagegen in Pittsburgh erneut auf der Strecke.

Stattdessen gab es gegenseitiges Schulterklopfen. "Wir haben die Weltwirtschaft vor dem Absturz bewahrt" (Obama). Fast 5.000 Milliarden Dollar staatliche Mittel wurden nach Presseberichten seit dem Beginn der Krise weltweit eingesetzt, um diesen Absturz zu stoppen. Wer zahlt das am Ende?

rül

Quellen: Abschlussdokument des G-20-Gipfels in Pittsburgh, 25.9.09; Reuters, 20.9.09; Berliner Morgenpost, 25.9.9; Spiegel Online, 25.9.09; Hamburger Abendblatt, Zeit Online, 26.9.09; Reuters, 30.9.09

Raute

Köhlers zweite Monster-Rede (Auszug) beim 60er-Jubiläum des DGB

60 Jahre DGB, das ist deshalb auch ein Anlass danke zu sagen: Danke für den Beitrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der in ihm verbundenen Gewerkschaften zur sozialen Teilhabe, zur Vertrauensbildung in unserer Gesellschaft, zum Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft und zur Stärkung unserer Unternehmen.

Die Arbeit an einer besseren Weltfinanz- und Weltwirtschaftsordnung hat begonnen ... Ich kann aber, ehrlich gesagt, aus den veröffentlichten Beschlüssen von Pittsburgh leider noch nicht entnehmen, dass sich eine Krise dieser Dimension auf den Weltfinanzmärkten nicht doch eines Tages wiederholen kann. Eine solche Krise aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen muss doch der Maßstab sein ... Wie könnte die Politik den Menschen sonst guten Glaubens zum Beispiel Vorsorgesparen für das Alter empfehlen?

Tatsächlich beobachten wir auf den internationalen Finanzmärkten schon wieder ein Déjà-vu mit Hütchenspielern im Shadow-Banking, mit intransparenten Derivategeschäften und Spekulation auf den Rohstoffmärkten - und alles davon in Größenordnungen, die völlig unvorstellbar sind. Ja, ich sehe "das Monster" noch nicht auf dem Weg der Zähmung. Vor allem kann ich auch noch keine tiefer gehende Selbstreflexion der globalen Finanzakteure erkennen, das heißt ihr Nachdenken über die Krise im eigenen Haus, über die Wertekrise im eigenen Denken und Handeln. Es sieht so aus, dass die Branche die Politik im Regen stehen lässt. Und die Diskussion darüber, wer die Kosten der aktuellen Krise eigentlich trägt, hat noch nicht einmal ernsthaft begonnen.

­... Ich bin auch der Ansicht, dass die Aufarbeitung der Krise mehr Europa verlangt, als es die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bisher zulassen. Wann, wenn nicht jetzt, wäre die Gelegenheit, das europäische Modell auch mit einer europäischen Stabilitätskultur weiter zu untermauern? Die Arbeit der EU-Kommission hat jedenfalls mehr Aufmerksamkeit und mehr Unterstützung verdient.

Und ich bin davon überzeugt: Eine grundlegende Reform der Weltfinanzordnung verlangt auch die Beteiligung der Gewerkschaften. Mischen Sie sich ein und schließen Sie Ihre Reihen auch über Ländergrenzen hinweg!

www.bundespraesident.de

Raute

AUSLANDSNACHRICHTEN

Massaker in Guinea

Mindestens 157 Menschen kamen zu Tode, als das Militär in eine 50.000-köpfige Menschenmenge schoss, die sich in einem Stadion versammelt hatte. Augenzeugen berichten von ungeheuerlichen Ausschreitungen von Soldaten und Milizen. Nach dem Massaker kam es zu weiteren Übergriffen des Militärs in mehreren Stadtteilen. Die Opposition - Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen - hatte am 28.9. - an diesem Tag hatten 51 Jahre zuvor die Guineer für die sofortige Unabhängigkeit von Frankreich gestimmt - zur Kundgebung aufgerufen, um gegen die befürchtete Kandidatur des Juntachefs Camara bei den Wahlen zu protestieren. Camara hatte sich im Dezember 2008 an die Spitze eines Militärputsches gesetzt. Immer deutlicher zeichnete sich in den vergangenen Monaten ab, dass er entgegen seiner Zusage den Weg zu einer Zivilregierung nicht freimachen wird. Deswegen war es in den letzten Wochen immer wieder zu großen Demonstrationen im ganzen Land gekommen. - Beobachter sind auch durch die zunehmende Ethnisierung des Konflikts beunruhigt. Die Armee hat in den letzten Jahren eine schlimme Bilanz an Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen, war bisher aber immer ethnisch gemischt. Seit dem Putsch jedoch scheint sich dies zu ändern. Camara, der seine militärische Ausbildung übrigens in der Bundesrepublik erhielt, funktionierte ein Fallschirmbataillon zu einer 6000 Mann starken Präsidialgarde um, die sich ebenso wie die neu aufgestellten Milizen aus den im Süden lebenden ethnischen Gruppen rekrutiert, während die ca. 15.000 Mann starke Armee personell ausgedünnt wird.
Quelle: NZZ, taz


*


Drohende Hungersnot in Ostafrika

Nach Angaben von Oxfam sind 23 Millionen Menschen in Ostafrika von Hungersnot bedroht. Nach fünf Jahren Dürre steht in sieben Ländern die schlimmste Katastrophe seit zehn Jahren bevor. Den Nomaden sterben die Herden weg. Immer öfter kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um Wasserquellen.


*


Konflikt um Nutzungsrechte für das Nilwasser

Im Streit um die Nutzungsrechte für Nilwasser ist keine Lösung in Sicht. Ein Ministertreffen der neun Nil-Anrainerstaaten verschob die angestrebte Unterzeichnung eines Nile River Cooperative Framework um zunächst sechs Monate, nachdem sich Ägypten weigerte, einer Änderung bestehender Nutzungsregeln zuzustimmen, die teilweise bis in die Kolonialzeit zurückreichen und unter Ausschluss der subsaharischen Anrainerstaaten festgelegt worden waren. Nach der seit 1959 in einem Vertrag mit dem Sudan festgelegten Quotenregelung kann Ägypten 55,5 Mrd. Kubikmeter Nilwasser nutzen, das sind rund 66% der im Jahresdurchschnitt am Assuan-Hochdamm gemessenen 88 Mrd. Kubikmeter. Ägypten ist fast vollständig von der Wasserversorgung durch den Nil abhängig, der mehr als 90% der nationalen Wasserressourcen liefert. Äthiopien dagegen, das wichtigste Ursprungsland des Nilwassers, nutzt die Wasserressourcen bisher kaum, da die Wasserinfrastruktur wenig entwickelt ist. Allerdings plant das Land den Ausbau der Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft und eine bessere Nutzung des Wasser für die Energieproduktion. Der Sudan unterstützt bisher aus politischen Gründen die ägyptische Position, würde aber durch eine Zusammenarbeit mit Äthiopien stark profitieren, weil eine Regulierung des Nilzuflusses in den Sudan helfen würde, die alljährigen Überschwemmungen abzumildern und den Wasserabfluss zu verstetigen. Auch könnte der Sudan aus dem äthiopischen Ausbau der Stromgewinnung aus Wasserkraft den Nutzen einer energiepolitischen Kooperation ziehen. Die anderen Anrainerstaten fordern von Ägypten, die starre Verhandlungsposition aufzugeben, haben aber geringen Einfluss. Ägypten macht geltend, dass das Land einer Studie zufolge im Jahr 2017 bereits 86,2 Mrd. Kubikmeter Wasser benötigen, aber nur 71,4 Mrd. zur Verfügung haben wird. Die zunehmende Knappheit geht teilweise auf die demografische Entwicklung - Verdopplung der Einwohnerzahl seit den 1980er Jahren -, vor allem aber auf ineffiziente Nutzung zurück. Allgemein anerkannt ist, dass nur die Kooperation, d.h. die Koordination der nationalen Wasserpolitiken ermöglicht, das Nilwasser effizient zu nutzen. Gelingt sie nicht, drohen schwere Konflikte zwischen den Oberlauf- und den Unterlaufstaaten.
Quelle: SWP aktuell 52


*


Afrika und Südamerika wollen Kooperation ausbauen

Auf dem zweiten Afrika-Südamerika-Gipfel erörterten Ende September die Vertreter von 66 Staaten (darunter 30 Staats- und Regierungschefs) in Venezuela die langfristige Zusammenarbeit der beiden Kontinente. In der Abschlusserklärung forderten sie erneut eine Reform des UNO-Sicherheitsrates. Im Zentrum des Gipfels stand auch eine gemeinsame Wirtschafts-und Handelspolitik. Vor allem der brasilianische Präsident Lula da Silva drängt wie schon vor vier Jahren auf eine stärkere Vernetzung der Märkte des Südens. Brasiliens Exporte in die subsaharischen Staaten haben sich in den vergangenen Jahren fast verzehnfacht - mit steigender Tendenz. Chavez erinnerte an den Reichtum an Bodenschätzen sowohl in Afrika als auch in Südamerika. Ziel müsse sein, die Kontrolle darüber aufrechtzuerhalten. Wie ernst der Vorschlag Gaddafis gemeint ist, eine "Nato des Südens" zu errichten, darüber kann man nur spekulieren. Am Rande der Konferenz unterzeichneten die Staatschefs von sieben lateinamerikanischen Ländern jedoch die Gründungsurkunde der "Bank des Südens", eines gemeinsamen Kreditinstituts mit einem Startkapital von 20 Mrd. Dollar.
Quelle: ND, 28.9.

Zusammenstellung: scc

Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES


AKTIONEN ... INITIATIVEN

Mehrere Tausend demonstrierten gegen AKW Fessenheim.

COLMAR. Der Protest richtete sich gegen eine mögliche Verlängerung der Betriebsdauer des ältesten Atomkraftwerks Frankreichs um weitere zehn Jahre. Fessenheim wurde Ende 1977 in Betrieb genommen und wird in der nächsten Zeit verschiedenen Inspektionen unterzogen. Zudem verlangten die Demonstranten einen Ausstieg aus der Atomkraft für ganz Europa. Ein Großaufgebot der Polizei hatte die Innenstadt mit drei Meter hohen Metallbarrieren abgeriegelt und errichtete Sperren auf den Zufahrtsstrassen. Die französische Polizei nahm an den Grenzen Kontrollen der Ausweispapiere vor. Einem Sprecher von "Sortir du Nucléaire" zufolge blieben rund ein Dutzend Busse zunächst an der Grenze blockiert. Mit einem Polizeiaufgebot von 3000 Polizisten, Gendarmen und Spezialkräften lag die Zahl der an Tag in Colmar anwesenden Uniformierten gleichauf mit der zumindest von der Präfektur veröffentlichten Teilnehmerzahl der Kundgebung. Die Veranstalter gehen von mindestens 10.000 aus, die aus Südbaden, der Schweiz, aus dem Elsass und vielen anderen französischen Regionen in Colmar für die Stilllegung von Frankreichs ältestem Atomkraftwerk friedlich demonstrierten. hav


*


25.000 bei Demonstration gegen Überwachung

BERLIN. Die Veranstalter, ein Bündnis von 167 Organisationen aus beinahe allen gesellschaftlichen Gruppen, werteten die Demonstration als "vollen Erfolg", der um so höher zu bewerten sei, weil eine Woche nach der Antiatomdemonstration abermals so viele Menschen mobilisiert werden konnten. "Das zeigt uns, dass die Menschen keinesfalls politikverdrossen sind - sie haben nur kein Vertrauen in die herrschende Politik", bekräftigt Rena Tangens vom Presseteam des Bündnisses. "Jetzt müssen die neuen Überwachungsgesetze wie die Vorratsdatenspeicherung endlich wieder abgeschafft werden, sowohl national wie auch europaweit." "Eine Politik die uns, die Bürger dieses Landes, in erster Linie als potenzielle Terroristen, Kinderschänder oder Amokläufer sieht, zerstört die Grundlagen unserer Demokratie", sagte Franziska Heine auf der Abschlusskundgebung. Heine initiierte im Frühjahr dieses Jahres die Onlinepetition gegen Netzsperren an den Bundestag. Zum Thema Schuldateien sagte Schülervertreter Vito Dabisch, diese seien ein weiteres Beispiel für die Datensammelwut: "Ich will nicht, dass in der Datei gespeichert wird, ob ich geschwänzt habe." Auch die elektronische Gesundheitskarte war Thema der Veranstaltung. Dazu sagte Silke Lüder vom Aktionsbündnis gegen die E-Card: "In diesem Jahr soll diese Karte eingeführt werden, gegen alle Widerstände von Bürgern und Ärzten." Die neue Karte sei der große Schlüssel für ein gigantisches Computernetzwerk, "dem sich zwangsweise alle Arztpraxen, Krankenhäuser, Zahnärzte, Apotheken, Psychologen und Massagepraxen anschließen müssen".
www.vorratsdatenspeicherung.de


*


Studierende organisieren sich gegen Schwarz-Gelb

BERLIN. Mit konkreten Protestplanungen endete am 4. Oktober der Make Capitalism History-Kongress des Studierendenverbandes Die Linke.SDS an der Freien Universität Berlin. Mit 1136 Teilnehmern war es der größte studentische Kongress des Jahres. Drei Tage lang diskutierten Aktive des Bildungsstreiks mit Gewerkschaftern, Aktiven aus sozialen Bewegungen und Attac in über 60 Veranstaltungen mit über 80 Referentinnen Alternativen zum Kapitalismus und Protestperspektiven gegen Schwarz-Gelb. Friederike Benda, Bundesgeschäfstführerin von Die Linke.SDS, bilanziert: "Der Andrang war enorm. Schwarz-Gelb muss sich auf Opposition an den Hochschulen einstellen. Ab Semesterbeginn werden wir daran arbeiten, dass eine rotrot-grüne Opposition auf der Straße entsteht, die die Merkel-Regierung vor sich hertreibt." Benda warnte davor, dass unter Schwarz-Gelb die benötigten Mittel für Bildung in weite Ferne rückt. "Nur mit Druck können wird es mehr Geld für bessere Bildung geben." Im Hinblick auf die Diskussion um die Ernennung Roland Kochs (CDU) als Finanzminister fügte Benda hinzu: "Koch hat schon einmal gegen die Studierenden verloren. Jetzt gilt es dafür zu sorgen, dass Schwarz-Gelb Geschichte wird". In Hessen wurden im Juni 2008 die unter Koch eingeführten Studiengebühren wieder abgeschafft. Bereits im November sind erste Proteste geplant. Am 16.11 werden bundesweit dezentrale Demonstratioenn als Auftakt zum Bildungsstreik im Wintersemester stattfinden. Im Juni hatten 270.000 für bessere Bildung demonstriert. Am 13. Februar wollen Studierende dazu beitragen, den geplanten Nazi-Aufmarsch in Dresden durch massenhafte Blockaden zu verhindern.
www.linke-sds.org


*


Vorsicht "Lebensschützer"

MÜNCHEN. Am 24.10. findet in München erneut ein "Marsch der 1000 Kreuze" der militanten AbtreibungsgegnerInnen statt. Für diese grausige Veranstaltung arbeiten selbst ernannte "Lebensschützer" aus (frei-)kirchlichen Kreisen mit Rechtsextremen zusammen, die z.T. strafrechtlich verfolgt wurden. Die "Lebensschützer" - aus den USA bekannt/berüchtigt - versuchen auch in Deutschland wieder verstärkt mobil zu machen, um das Rad der Geschichte um den §218 zurückzudrehen, die ja immerhin die Fristenlösung, wenn auch nicht die Selbstbestimmung der Frauen, erreicht hat. In Münchner Stadtteilen mit hoher Rechtsextremenlastigkeit finden sich schon mal ungebeten Plastikembryos in den Briefkästen. Die Ziele der "Lebensschützer" sind extrem frauenfeindlich und schützen mitnichten Leben.

Der zunächst für den 10. Oktober geplante "1000-Kreuze-Marsch" ist auf den 24. Oktober verschoben worden. Aber keine Angst, wir sind natürlich flexibel! Am 10. Oktober wird es nun einen Antisexistischen Spaziergang geben und natürlich wird es vielfältige Aktionen am 24. Oktober geben.
http://asabm.blogsport.de/


*


23 Wochen Streik in Bad Salzuflen

BAD SALZUFLEN. Seit nunmehr 23 Wochen befinden sich die Beschäftigten der Lippischen Nervenklinik Dr. Spernau im Streik. Anfang 2008 forderten die Mitarbeiter der Klinik von ihrem Arbeitgeber, Herrn Alexander Spernau, einen Haustarifvertrag. Die Beschäftigten der privaten Psychiatrieklinik haben bislang individuelle Arbeitsverträge mit Bedingungen und Bezahlung, die immer schlechter werden. Inzwischen gibt es Differenzen im Verdienst von bis zu 460 € im Vergleich zu einem Krankenhaus, das den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) anwendet. Doch der Arbeitgeber der Klinik ist bis heute zu keinerlei Tarifverhandlungen bereit. An dieser Verweigerungshaltung haben auch Protestversammlungen vor der Klinik und zwei Warnstreiks nichts geändert. Statt mit den Beschäftigten zu reden, reagierte die Klinikleitung mit Abmahnungen, Bedrohung und Schikane. So verwunderte am Ende niemanden die hohe Zustimmung zum Streik. Seit elf Wochen sind die Mitarbeiter nun von der Geschäftsführung ausgesperrt - ein einmaliger und skandalöser Vorgang in der Pflege. Deshalb ruft Verdi nun zu einer Demonstration und Solidaritätskundgebung am 10. Oktober in Bad Salzuflen auf.
Informationen zum Streik auf der Homepage http://jugend.verdi.de


*


"Kampf um die Straße" Attacken statt Aufmärsche

GRÄFENBERG. Organisierte Neonazis haben ihre monatlichen Aufmärsche in Gräfenberg unter dem Motto "Denkmäler sind für alle da" aufgegeben. Wie das Bürgerforum Gräfenberg mitteilt, setzten die Neonazis einen Schlusspunkt, weil ihre Mobilisierungsprobleme für die letztlich erfolglosen Aufmärsche zuletzt unübersehbar waren und Gräfenberg nach 43 fast identischen Kundgebungen den Nazi-Verantwortlichen und Mitläufern einfach nicht mehr den "Kick" gegeben habe. "Die Brandstifter haben keine Biedermänner in Gräfenberg vorgefunden, sondern ein reges Bürgerengagement, das nicht müde wurde, die Ungeheuerlichkeit und Nichthinnehmbarkeit dieser Aufmärsche zu skandalisieren und andere Gemeinden zu ermutigen, nicht mehr wegzusehen, sondern sich kreativ zur Wehr zu setzen", bilanziert das Forum. ... Die Nachricht von dem Ende der Aufmärsche sei allerdings "mittelschlecht", weil die Nazis im Rahmen ihrer Kundgebung am letzten Samstag deutlich gemacht hätten, dass sie ihre Strategie verändern werden und das Denkmal keine Rolle mehr spielen solle, sondern der Angriff auf Personen. "In ziemlich eindeutiger Weise haben Fischer, Kempken und Schmaus dargestellt, dass sie sich die 'Herrschaften des Bürgerforums vorknöpfen' wollen und haben überraschende Aktionen u.a. in Weißenohe angekündigt." Jetzt solle es gegen die Demokratie und gegen die Demokraten des Bürgerforums und gegen den Bürgermeister Werner Wolf gehen, gegen - wie es auf ihrer neuesten Homepage-Eintragung heißt - "billige Stricher und Dirnen der herrschenden Klasse", die in einem Atemzug aber kurioserweise auch als "Linksextremisten", "Gutmenschen" und Sklaven der "Multikulti-Idee" tituliert werden. Einige Aktive aus dem Bürgerforum haben aufgrund der massiven und personifizierten Stoßrichtung der Drohungen Strafanzeige gestellt und die Staatsanwaltschaft prüft, ob hier nicht ohnehin ein Offizialdelikt vorliegt. Die Reden der Nazis sind von der Polizei aufgezeichnet worden, die Schmähpamphlete sind veröffentlicht.
ndp-blog.info


*


Erfolg für illegal entlassene Arbeiter in der Türkei

BERLIN. Die Kampagne für Saubere Kleidung feiert einen großen Erfolg: Die einjährige Solidaritätskampagne für die illegal entlassenen Arbeiter der Lederfabrik Desa in der Türkei hat Wirkung gezeigt. Die Kampagne begrüßt die Einigung, die zwischen der türkischen Gewerkschaft für Lederarbeiter Deri Is und der Desa-Geschäftsführung erzielt worden ist. Diese sieht vor, dass Desa zusätzlich zu den bereits sechs wiederangestellten Arbeitern weitere fünf entlassene Arbeiter sofort und einen weiteren etwas später wiederanstellt. Andere Entlassene werden bevorzugt behandelt, sollte es zu weiteren Einstellungen kommen. Im April 2008 hatte Desa 44 Gewerkschafter entlassen und 55 Arbeiter gezwungen, ihre Gewerkschaftstätigkeit niederzulegen. Das Abkommen sieht außerdem vor, dass die Desa-Geschäftsführung Deri Is als einzige Gewerkschaft in der Fabrik anerkennt und die Arbeiter bezüglich der Gewerkschaft weder negativ, noch positiv beeinflusst. Alle Arbeiter erhalten zudem ein Dokument, das bestätigt, dass Vereinigungsfreiheit ein in der Verfassung verankertes Recht ist ... Im November 2008 hatte die Kampagne für Saubere Kleidung die Protestaktion gegen die internationalen Einkäufer von Desa gestartet, zu denen namenhafte Luxushersteller wie Prada zählen. Tausende Käufer unterstützten daraufhin den Arbeitskampf der entlassenen Arbeiter - unter ihnen auch die Aktivistin Emine Arslan, die mit ihrem unerschütterlichen Einsatz internationale Aufmerksamkeit erregt hatte.
Quellen: INKOTA-netzwerk e. V. 19.09.2009; www.saubere-kleidung.de

Raute

Köln: Aktionen gegen die Folgen der Krise

Am 17. September hat das kapitalismuskritische Bündnis "Wir zahlen nicht für eure Krise!" in mindestens 28 Städten im gesamten Bundesgebiet Aktionen und Demonstrationen organisiert und durchgeführt. Das Bündnis, dass bereits am 28. März in Frankfurt/Main und Berlin Demonstrationen durchgeführt hat, rief dazu auf, die Proteste gegen die Folgen der Krise wieder auf die Straßen zu tragen.

Denn die Krise ist nicht, wie es viele Menschen glauben, schon überwunden. Die Krise wird sich vielmehr in den nächsten Monaten, besonders auf dem Arbeitsmarkt, massiv fortsetzen. Die Abwrackprämie wird nicht verhindern können, dass gerade in der Autoindustrie zahlreiche Arbeitsplätze verloren gehen. Und tausende Betriebe, in denen es Kurzarbeit gibt, werden das Jahr nicht überstehen. Diese Wahrheiten müssen öffentlich und laut ausgesprochen werden. Hier in Köln schlossen sich Parteien, Organisationen und Initiativen zu einem Bündnis zusammen, und planten die Aktionen für diesen Tag des Protestes.

Von der ArGe bis zu den Banken

Der erste Aktionsort war die ArGe Mitte an der Luxemburger Straße. Dort verteilten die Mitglieder von "Agenturschluss" und der KEA (Kölner Erwerbslose in Aktion) in den Büros und auf den Fluren Flyer und Flugblätter. Diese Schriften richteten sich zum einen an die von Hartz IV Betroffenen und zum anderen an die Mitarbeiter der ArGe. Denn nicht nur die Erwerbslosen, sondern auch die Beschäftigten in den ArGen sind Opfer der unsozialen Hartz-Gesetze.

Durch ungenügende Ausbildung, befristete Arbeitsverträge und einem unausgesprochenen Sparzwang werden viele Angestellten gezwungen, gegen ihr eigenes soziales Gewissen zu handeln. An der Verteilaktion beteiligten sich auch Aktive der Linken und Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus den sozialen Bewegungen hier in Köln. Nach der Verteilaktion setzte sich der Protest vor der ArGe fort. Es wurden Reden gehalten und Musik gespielt, und so wurde der Protest auf die Straße getragen. Viele Passanten und Besucher des Arbeitsamts, das sich im selben Gebäude befindet wie die ArGe, wurden durch diese Aktion angesprochen und über die unerträgliche Situation in der ArGe aufgeklärt.

Weiter ging es am Flughafen Köln/Bonn. Dort unterstützten wir die Kollegen von Kötter Security, die für einen Minilohn bis zu zwölf Stunden am Tag arbeiten müssen, um ihre Familien ernähren zu können. Besonders mit den Beschäftigten, die als Praktikanten bei der Firma Kötter arbeiten, wollten wir uns mit dieser Aktion solidarisieren. Diese Praktikanten werden von der ArGe der Firma Kötter "zugewiesen" und stehen unter dem Zwang dort zu arbeiten, da gegen sie sonst existenzbedrohende Sanktionen ausgesprochen werden. Den erwerbslosen Praktikanten werden Festanstellungen versprochen, aber wie die bei der Firma fest Beschäftigten berichten, werden de facto keine Praktikanten übernommen. Und wenn die Praktikumsverträge ausgelaufen sind, kommen sofort neue Erwerbslose, um kostenlos für die Firma Kötter zu arbeiten. Auf großen Zuspruch stieß die Flugblattaktion auch bei den Fahrern der Lieferanten, die von den Wachleuten der Firma Kötter kontrolliert wurden. Sie zeigten deutlich, dass sie unsere Aktion für richtig hielten und stärkten dadurch die Kollegen von Kötter Security in ihrem Kampf für gerechte Löhne und sichere Arbeitsplätze.

Mit Pkw, der S-Bahn, per Fahrrad und dem "Roten Traktor" zog dann der Protest weiter zum Motorenwerk Deutz AG. Dort fand der Protest pünktlich zum Schichtwechsel satt. Den von der Krise betroffenen Beschäftigten demonstrierten wir durch unsere Anwesenheit und in Reden unsere Solidarität. Mit Flugblättern und Flyern informierten wir die Arbeiterinnen und Arbeiter über die Motive und Ziele unseres Protestes und erhielten überwiegend positive Resonanz.

In der Kölner Innenstadt trafen sich im Anschluss die Teilnehmer und formierten sich nach einigen kurzen Reden zu einem Demonstrationszug. Auf dem Weg durch die Innenstadt wurden vor der Filiale der Oppenheim Bank, vor der Sparkasse Köln-Bonn und der Filiale der Deutschen Bank am Hohenzollernring Halt gemacht. Vor diesen Banken wurde die Verstrickung der einzelnen Institute in die weltweite Krise dargestellt. Der Protestzug führte auch an einer Filiale von Karstadt vorbei. Den anwesenden Passanten und den Teilnehmern der Demonstration wurde in kurzen Redebeiträgen die Situation der Beschäftigten bei Karstadt geschildert.

Das Bündnis "Wir zahlen nicht für eure Krise" wird sich auch in Zukunft weiter treffen und Aktionen planen und durchführen. Der Protest, da sind sich alle einig, muss auf die Straße und vor die Betriebe getragen werden. Denn dort, und nicht in den Führungsetagen der Konzerne und Banken, sind die wirklichen Opfer der Krise. Dort sind die Menschen, die die Folgen der Krise am eigenen Leib erfahren. Die Angst vor dem Verlust der Arbeit und dem sozialen Abstieg treibt diese Menschen um. Diese Menschen müssen sich solidarisieren und den Mächtigen im Land zurufen: "Wir zahlen nicht für eure Krise!"

Richard Klein


*


Aus der Presseerklärung des bundesweiten Bündnisses "Wir zahlen nicht für Eure Krise" vom 17. September 2009:

In mindestens 28 Städten wurden auf den Aufruf des bundesweiten Bündnisses "Wir zahlen nicht für eure Krise" Aktionen unterschiedlicher Art durchgeführt: Kundgebungen, Demonstrationen, Belagerungen von Banken, Konzernen und Ämtern, Filmvorführungen, Straßentheater, Aktionen vor Betrieben, Infostände usw.

Bernd Riexinger, Geschäftsführer des Verdi-Bezirks Stuttgart und Mitglied im Stuttgarter Bündnis: "Wir freuen uns, dass sich so viele Menschen beteiligt haben und sich in immer mehr Städten aktiven und handlungsfähige Bündnisse gründen." [...]

"Der Aktionstag hat gezeigt, dass viele Menschen nicht bereit sind, die Abwälzung der Krisenfolgen auf Erwerbslose, Beschäftigte, Schüler/innen und Studierende, Migrant/innen und Rentner/innen hinzunehmen und dass wir für die nach den Bundestagswahlen anstehenden Kämpfe bereit sind", so Christina Kaindl, Sprecherin des bundesweiten und Berliner Bündnisses. Das Bündnis trifft im November zu einer Aktionskonferenz zusammen und berät weitere Schritte.
http://www.kapitalismuskrise.org/

Raute

Kölner Forum gegen Rassismus und Diskriminierung gegründet

Am 21.9.2009 wurde von städtischen und nichtstädtischen Einrichtungen und Organisationen in Anwesenheit der Sozialdezernentin Marlis Bredehorst das "Kölner Forum gegen Rassismus und Diskriminierung" gegründet.

Im Unterschied zu anderen EU-Staaten ist in Deutschland die öffentliche und politische Sensibilität für Rassismus- und Diskriminierungssachverhalte gering ausgeprägt. Dabei wird allzu oft verkannt, dass Rassismus und Diskriminierung schon längst keine Randerscheinungen mehr sind, sondern aus der "Mitte der Gesellschaft" kommen.

Daher ist und bleibt die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung in jedweder Form - so auch in Form institutioneller und struktureller Ungleichbehandlung - eine dauerhafte gesellschaftliche Herausforderung, die stärker als bisher zu einer gesamtkommunalen Querschnittsaufgabe gemacht und als wichtiges politisches Handlungsfeld erkannt werden muss.

Das Kölner Forum gegen Rassismus und Diskriminierung will dazu beitragen, die städtischen Maßnahmen sowohl im Hinblick auf die Information und Aufklärung der Bevölkerung über Rassismus und Diskriminierung als auch im Hinblick auf die Beseitigung und Verhinderung von Benachteiligungen von Kölnerinnen und Kölnern mit Migrationshintergrund zu begleiten und hierzu eigene Vorschläge, Initiativen und Projekte zu entwickeln.

Der Förderung der Antidiskriminierungsarbeit auf kommunaler Ebene kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu.

Zu den Gründungsmitgliedern gehören in alphabetischer Reihenfolge: agisra e.V. - Informations- und Beratungsstelle für Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen • AntiDiskriminierungsBüro (ADB) Köln/Öffentlichkeit gegen Gewalt e.V. • Caritasverband für die Stadt Köln e.V./Antidiskriminierungsbüro • Ford-Werke GmbH, Köln • Förderverein Kölner Flüchtlingsrat e.V. • Polizeipräsidium Köln/Kommissariat Vorbeugung • Stadt Köln, Interkulturelles Referat • Stadt Köln, NS-Dokumentationszentrum/Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus (ibs) • Stadt Köln, Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA)

PM Kölner Forum gegen Rassismus und Diskriminierung.

Ansprechpartner/in: Claus-Ulrich Prölß, proelss@koelner-fluechtlingsrat.de, Banu Bambal, banu.bambal@oegg.de

Raute

Mehr als 500 Stolpersteine erinnern und mahnen in Stuttgart

Am Montag, den 5., und Dienstag, den 6. Oktober 2009, wurden in Stuttgart 52 Stolpersteine an 28 Stellen in neun Stadtbezirken verlegt. Während der Kölner Künstler Gunter Demnig dies wieder selbst vornehmen wird, sorgen die Stolperstein-Initiativen der jeweiligen Stadtbezirke für das begleitende Gedenken. Jede Verlegung wird daher anders sein. So wird in Botnang ein damaliger Nachbarsjunge über Erinnerungen an den Juden Heinrich Pincus berichten. In Stuttgart-Süd wird eine hier lebende Amerikanerin ein selbst verfasstes Gedicht über die Stolpersteine vortragen ...

Mehr als 500 Stolpersteine werden nach diesen zwei Tagen in Stuttgart die Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus wach halten. Jedes Opfer hat seine eigene Geschichte, die von den Stolperstein-Initiativen der jeweiligen Stadtteile erforscht wurde: Christian Elsässer aus Vaihingen etwa wurde im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet, weil er sich am Arbeitsplatz bei Bosch kritisch über die Nazis geäußert hatte. Zu den bewegendsten Lebensgeschichten gehören:

Irene Winter, Hackstr. 24, Stuttgart-Ost: Die dreijährige Irene Winter und ihre Mutter wurden als Sinti nach Auschwitz deportiert. Während die Mutter die unvorstellbaren Hygienezustände dort überlebte, kam das Kind in die Krankenbaracke und starb. Den Totenschein stellte Josef Mengele, der berüchtigte "Todesengel von Auschwitz" aus. Bei der Verlegung wird das Zigeli Winter Quartett spielen.

Gertrud Lutz, geborene Schlotterbeck, Auf dem Haigst 6, Stuttgart-Degerloch: Die überzeugte Kommunistin kämpfte wie ihre ganze Familie von 1933 an gegen die NS-Herrschaft. Von einem Spitzel verraten, wurde sie verhaftet und am 30. November 1944 zusammen mit 9 Angehörigen und Freunden hingerichtet. Ihre zweijährige Tochter Wilfriede kam in ein NS-Kinderheim. Nach dem Krieg lebte sie bei Frieder Schlotterbeck, dem Bruder ihrer Mutter, der den Mächtigen der DDR zu unbequem war und unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert wurde. Wilfriede kam nun in ein DDR-Kinderheim.

Otto Hirsch, Gähkopf 33, Stuttgart-Nord: Im Ersten Weltkrieg durfte der Rechtsanwalt und Rechtsrat nicht kämpfen, weil ihn sein Arbeitgeber, die Stadt Stuttgart, nicht freigab. Später war er erstes Vorstandsmitglied der Neckar AG. Der Bau des Neckarkanals Plochingen-Mannheim beherrschte sein Berufsleben, das er 1933 als Jude aufgeben musste. Er wurde nun geschäftsführender Vorsitzender der "Reichvertretung der deutschen Juden", der späteren "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" in Berlin.

Margarete Königshöfer, Hohenheimer Str. 67, Stuttgart-Mitte: Die 1891 getaufte Frau war die Tochter des bekannten jüdischen Augenarztes Dr. Oskar Königshöfer, der vielen tausend Patienten ihr Augenlicht wiedergegeben hat, der auch arme Augenkranke behandelte und die Stuttgarter Charlottenklinik für Augenkranke, eine der großen Augenkliniken Deutschlands, begründet hat.

Adolf Cahn, Pfalzstr. 66, Stuttgart-Bad Cannstatt: Cahn lebte in "privilegierter Mischehe", musste also nicht in den "Judenladen". In einem Geschäft traf er einen Bekannten, der es zum kleinen Nazi-Funktionär geschafft hatte und ihn fragte, was er denn hier zu suchen hätte. Die empörte Antwort überprüfte der Bekannte bei Cahns Arbeitgeber und beim NS-Ortsgruppenleiter. Als Folge wurde Cahn verhaftet, kam erst ins KZ Welzheim und dann ins KZ Mauthausen, wo er angeblich "auf der Flucht erschossen" wurde.

Nach der Verlegung von 11 Stolpersteinen im Hospitalviertel wird es am Dienstagnachmittag gegen 15 Uhr zum Abschluss eine gemeinsame Veranstaltung der Initiative Stolpersteine Stuttgart-Mitte und des Forums Hospitalviertel e.V. geben, die von Jugendlichen aus verschiedenen Schulen mitgestaltet wird und an der auch die Israelitische Religionsgemeinschaft beteiligt ist.

(Die einzelnen Termine und weitere Infos über die Stadtteilinitiativen - im Internet unter www.stolpersteine-stuttgart.de.)

Am Montag, den 12. Oktober 2009, findet ab 14:30 Uhr im Sitzungssaal des Rathauses ein wissenschaftliches Symposium über die NS-Krankenmorde als Auftakt- und Begleitveranstaltung zur "Spur der Erinnerung" statt. Hierzu laden der Zentrale Aktionskreis "Spur der Erinnerung", die Gedenkstätte Grafeneck und das Stadtarchiv Stuttgart herzlich ein.

PM Stolperstein-Initiativen

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Kommunen brauchen mehr Finanzmittel. BOCHUM. Eine gemeinsame Initiative von Wohlfahrts- und Jugendverbänden, Kultureinrichtungen und DGB sammelt Unterschriften zur Unterstützung der "Bochumer Erklärung", die PolitikerInnen in Bund und Land auffordert, die Städte "finanziell nicht ausbluten zu lassen". Inzwischen hat die Zahl der unterstützenden Organisationen im Internet-Aufruf die 100 überschritten und die Zahl der unterstützenden Personen die 700. Zusätzlich wurden noch viele Listen mit Unterschriften von Unterstützern eingereicht. In einer Pressemitteilung der InitiatorInnen heißt es: "Die Finanzzuweisungen an die Kommunen ist Ländersache, deswegen waren die Landtagsabgeordneten angeschrieben worden. Viele Bochumer bzw. für Bochum zuständigen Landtagsabgeordneten haben sich dafür ausgesprochen, die Bochumer Erklärung zu unterstützen. Auch Bundestagsabgeordnete bezogen Stellung ­... Es sind vielfach Auflagen und Vorgaben anderer Politik-Ebenen, durch die die Städte finanziell mit neuen Verpflichtungen und Aufgaben in die Knie gezwungen werden".
www.bo-alternativ.de


So geht das nicht! QUICKBORN. Quickborn hatte sich vor dem Hintergrund leerer Gemeindekassen etwas ausgedacht, was bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Anstatt sich das Geld für relativ hohe Zinsen bei den Banken zu leihen, tat die Verwaltung das bei den BürgerInnen (wir berichteten). Dabei wurden alle Erwartungen übertroffen: innerhalb von drei Tagen waren so vier Millionen Euro zusammengekommen. Bei einer Laufzeit von einem Jahr bekommen die BürgerInnen drei Prozent Zinsen. Die Sache ging so schnell über die Bühne, dass das Kieler Innenministerium gar nicht reagieren konnte.

Die Quickborner Verwaltung machte vorsichtshalber schon bei der Summe von vier Millionen Euro Schluss: "Alles weitere bewegt sich nicht mehr im Rahmen der Kassenkredite", so Stadtkämmerin Meike Wölfel bereits im August 2009. "Unseren weiteren Kreditbedarf im Zuge der Schulneubauten und -sanierungen müssen wir über Investitionsdarlehen aufnehmen." Nun entschieden das Kieler Innenministerium und die Bankenaufsicht, dass die Bürgerdarlehen seien ein Bankgeschäft und damit für Kommunen verboten seien. Für die bereits abgeschlossenen Verträge ändert sich nichts, nur neue Kreditverträge darf Quickborn nicht abschließen.
www.infoarchiv-norderstedt.org


Steuererhöhungen: Macht Wahlstedt nur den Anfang? WAHLSTEDT hat Finanzprobleme. Der gegenwärtige Schuldenstand liegt bei 5,7 Millionen Euro und wird wahrscheinlich im Jahre 2010 auf acht Millionen anwachsen. Und das bei einem Gesamt-Haushaltsvolumen von ca. 15 Millionen Euro (2009). Weil, wie in vielen anderen Kommunen auch, die Instandhaltung und Weiterentwicklung der Schulbauten verschlampt wurde, kommen alleine in diesem Bereich Millionenausgaben auf Wahlstedt zu. Finanziert werden kann dies nur über Kredite. Und über höhere Steuereinnahmen. Die erste Steuererhöhung trifft die Hundehalter. Ab Januar 2010 wird der Steuersatz um über 75 Prozent angehoben. Vor dem Hintergrund, dass Wahlstedt bei der miesen Finanzlage eventuell auf Zuschüsse des Landes zurückgreifen muss wird das aber nicht reichen. Dazu müsste die Stadt alle Einnahmemöglichkeiten ausschöpfen, die ihr zur Verfügung stehen. Also weist Bürgermeister Sven Diedrichsen schon mal darauf hin, dass ab dem nächsten Jahr auch die Grund- und Gewerbesteuer angehoben werden müssen. Mit einem derzeitigen Gewerbesteuer-Hebesatz von 320 liegt Wahlstedt im Kreis Segeberg im unteren Drittel, bei einer Spannbreite von 310 in Kaltenkirchen und Henstedt-Ulzburg bis 390 in Norderstedt. Landesweit liegen die Hebesätze zwischen 275 in Oststeinbek und 430 in Lübeck.
www.infoarchiv-norderstedt.org


Linksfraktion will Verschiebungen im städtischen Haushalt. BRAUNSCHWEIG. 17 konkrete Anträge hat Die Linke im Rat der Stadt Braunschweig in die Beratungen zum Braunschweiger Haushalt 2010 eingebracht. Die Linksfraktion will damit erreichen, dass dem Sozialbereich, dem Breitensport, der Kinderbetreuung und der Kultur eine größere finanzielle Bedeutung zukommt. Würde die Anträge der Linken angenommen, würde dies zu Mehrausgaben in den genannten Bereichen in Höhe von rund 700.000 Euro kommen. Eine zusätzliche Haushaltsbelastung würde aber nicht entstehen, da Die Linke beim Straßenbau kürzen will. Der Ansatz beim Straßenbau würde von rund 4,5 Mio. Euro auf 3,8 Mio. Euro sinken. Daneben hat Die Linke vier Haushaltsanfragen gestellt. So will sie - wie in den vergangenen Jahren auch - wissen, wie viele Spielgeräte aufgrund fehlender Haushaltsmittel abgebaut wurden. Nach der Anfrage im letzten Jahr stellte sich heraus, dass 75 Spielgeräte abgebaut wurden. Daraufhin stellte die Linksfraktion den Antrag diese wieder aufzustellen. Dieser Antrag wurde von der CDU/FDP-Mehrheit abgelehnt.
www.linksfraktion-braunschweig.de


Sozialpolitischer Offenbarungseid. FRANKFURT A.M. "Der Notfallplan für das Rhein-Main Jobcenter ist ein sozialpolitischer Offenbarungseid", erklärt Stadtrat Achim Kessler (Die Linke) zu einem Magistratsbeschluss: "Anstatt, wie von mir bereits im März vorgeschlagen, das Personal des Rhein-Main Jobcenters (RMJ) zu erhöhen, um auf den im Herbst zu erwartenden dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit vorbereitet zu sein, sollen die öffentlichen Sprechstunden reduziert, Beratungsgespräche eingeschränkt und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Überstunden und Samstagsarbeit verpflichtet werden. Wer Massenarbeitslosigkeit als 'erhebliche Kundensteigerung infolge der Wirtschaftskrise' bezeichnet, wer zunächst die Betreuung von Menschen mit besonderen Problemlagen einschränkt, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, der braucht sich nicht zu wundern, wenn die soziale Unruhe wächst ... Ich fordere das Sozialdezernat auf, sofort ein Krisenplan vorzulegen ... Die OECD erwartet einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in Deutschland auf 12 %. Darauf muss die Stadt vorbereitet sein: Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des RMJ muss drastisch erhöht werden und sie müssen eine Arbeitsplatzgarantie der Stadt erhalten, damit die hohe Fluktuation ... endlich aufhört. Es muss Geld bereitgestellt werden für ein städtisches Beschäftigungsprogramm und ein Weiterbildungsprogramm für Arbeitslose. Es kann doch nicht sein, dass für die optische Aufwertung der Innenstadt dreistellige Millionenbeträge ausgegeben werden, für die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit aber kein Geld vorhanden ist."
www.frankfurter-info.org


"Randgruppen-VO" abgeschmettert. FREIBURG. Die beiden Schutzverordnungen, mit denen sich die grüne-schwarze Freiburger Stadtregierung als Retter der Innenstadt Gastronomie, Handel und Grundeigentümer profilieren wollte, sind vom VGH Mannheim für rechtswidrig erklärt worden. Wie von unterlegenen Gemeinderäten schon bemängelt und John Philipp Thurn Arbeitskreis Kritischer Juristinnen als Kläger gerügt, ist die so genannte Bermudadreiecks-Verordnung zum Freiburger Innenstadt-Kneipenviertel deshalb rechtswidrig, weil die Generalermächtigung des Polizeigesetzes selbst geringfügige Freiheitseinschränkung durch Verordnung nur erlaube, wenn typischerweise von jedem Normadressaten auch eine Gefahr ausgeht. Dies sei aber bei mitgebrachtem Alkohol nicht typischerweise der Fall. Auch der vom Rechtsvertreter der Stadt ernsthaft als "Randgruppen VO" begründete "Gruppentrink-Belästigungsparagraf" sei deshalb unwirksam, weil er zu unbestimmt sei. Damit endet OB Dieter Salomons Profilierungsversuch als grüner Polizeiminister mit einer doppelten Bruchlandung. Dazu Michael Moos, Fraktionsvorsitzender der UL: "Die Entscheidung des höchsten Gerichts in Baden-Württemberg ist mehr als erfreulich. Gegen beide Polizeiverordnungen hatte als einzige Fraktion die UL gestimmt, einmal mehr Minderheit im Rat. In der Debatte hatte der Sprecher der UL auf ernsthafte politische, aber auch rechtliche Bedenken, hingewiesen, die OB Salomon jovial vom Tisch gefegt hatte. 'Man muss was tun', genügt offensichtlich nicht als Devise kommunalpolitischen Handelns. Man muss es auch so tun, dass es im Einklang mit dem Grundgesetz steht, insbesondere den Freiheitsrechten des Einzelnen. Das ist die Botschaft des VGH an die Adresse des OB, des 1. Bürgermeisters und des Gemeinderates."
www.linke-liste-freiburg.de


Die Linke stoppt illegale Videoüberwachung. HAMBURG. Mit zwei Kleinen Anfragen und einer Verhüllungs-Aktion gegen die illegale Videoüberwachung in Hamburg hat Die Linke einen Erfolg für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erstritten: Der Senat erklärte, dass er "alle Überwachungskameras in seinen Behörden überprüfen (wird). Dort wo die Verhältnismäßigkeit unklar ist, werden diese zunächst entfernt." Dazu erklärt Christiane Schneider, rechtspolitische Sprecherin: "Die Oppositionsarbeit der Linken wirkt. Die illegale Videoüberwachung von SchülerInnen, LehrerInnen, WissenschaftlerInnen, ArbeitnehmerInnen und Hartz IV-EmpfängerInnen wurde erfolgreich gestoppt.

Die Linke wird auch im Gesetzgebungsverfahren weiter für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung streiten, damit die ausufernde und willkürliche Videoüberwachung in die Schranken gewiesen wird." Christiane Schneider hat den Überwachungsskandal mit ihrer Kleinen Anfrage aufgedeckt: In Hamburg werden in staatlichen Institutionen 397 Videokameras betrieben, in Schulen, Hochschulen, Museen, Stiftungen und bei der ARGE. Nach Auffassung der Linken und des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten Prof. Dr. Caspar, fehlt es zbei diesem erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger an einer gesetzlichen Grundlage. Deshalb müssen die Videokameras unverzüglich abgebaut und die Videoaufnahmen gelöscht werden.
www.linksfraktion-hamburg.de


Städtische Beteiligungen auf dem Prüfstand. ESSEN. Der Kreisverband Die Linke Essen fordert angesichts der Kritik des Bundes der Steuerzahler an den städtischen Beteiligungen eine gründliche Debatte zu diesem Thema. Die Linke warnt dabei vor Schnellschüssen, sieht aber in vielen Bereichen einen hohen Handlungsbedarf. So existieren z.B. in der ausgegliederten "Jugendhilfe gGmbH" vier verschiedene Vergütungsebenen, die dazu führen, dass es bei gleicher Arbeit Gehaltsunterschiede bis zu 500 Euro gibt. Aus diesen Gründen hat die gemeinsame Ratsfraktion von Linke, DKP und AUF auch immer Ausgliederungen, die wie bei der gGmbH zu Tarifflucht führen, abgelehnt. "Wenn die von Rot-Grün ins Gespräch gebrachte Rückgliederung der Jugendhilfe zur Stadt zum gleichem Lohn für gleiche Arbeit unter tariflichen Bedingungen führt, begrüßen wir diesen Schritt", so die Kreisverbandssprecherin Cornelia Swillus-Knöchel. "Damit würden sich die Grünen korrigieren und eine Kehrtwende um 180 Grad vollziehen, denn sie haben der Ausgliederung zugestimmt. Die Linke hat immer gefordert, dass die Jugendhilfe bei der Stadt bleiben soll. Aber es bleiben noch andere offene Baustellen, wie die von Stadtdirektor Christian Hülsmann zugesagte Umsetzung des Antrages der Ratsfraktion Linke/DKP/AUF für mehr Transparenz in den städtischen Gesellschaften." Das Rechtsamt hatte Anfang des Jahres grünes Licht zu dem Anliegen der linken Fraktion gegeben. Der Antrag verfolgt das Ziel, die Geheimhaltungspflicht der städtischen Aufsichtsratsmitglieder auf die Punkte zu beschränken, die zwingend der Geheimhaltung bedürfen. Der Rat und seine Gremien sollen vor wichtigen Entscheidungen der Aufsichtsräte beteiligt und angehört werden. Außerdem sollen sich die Aufsichtsratssitzungen in einen öffentlichen und einen nichtöffentlichen Teil aufteilen und die Presse über die Tagesordnungspunkte im Vorfeld informiert werden. Die Grundlage für diesen Antrag ist ein Gerichtsurteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg (Az. RN 3 K 04.1408) und ein Urteil des Bundesgerichtshofes (Az. III ZR 294/04). "Wir begrüßen es, dass der Bund der Steuerzahler ausdrücklich Rekommunalisierungen fordert", so Cornelia Swillus-Knöchel. "Eine 'Lösung' der Strukturprobleme städtischer Gesellschaften durch Privatisierungen wäre mit uns auch nicht zu machen."
www.dielinke-essen.de

(Zusammenstelluing: ulj)

Raute

Wenn Investoren in Erregung geraten, nehmen Arbeitnehmer Deckung

Kraft schluckt Cadbury

Gerade als die OECD ihre jüngste Beschäftigungsprognose veröffentlichte, die für das nächste Jahr von 57 Millionen Arbeitslosen in den 30 reichsten Ländern der Welt ausgeht, tobte die Schlacht um den Preis einer Übernahme des britischen Süßwarenunternehmens Cadbury durch Kraft, den zweitgrößten Lebensmittelkonzern der Welt, immer heftiger.

Der Cadbury-Chef Todd Stitzer hat am 22. September seinen Preis genannt: 20,4 Milliarden US-Dollar, also deutlich mehr als die von Kraft zunächst gebotenen 16,7 Milliarden. Das Preisgeplänkel, das Analysten auch zu Spekulationen über mögliche Initiativen von Nestlé und Hershey veranlasste, ließ Finanzanalysten bereits über eine "Spritze" für Fusionen und Übernahmen und "eine neue Welle der Fusionen und Übernahmen" jubilieren. Die Aktien europäischer Lebensmittelkonzerne kletterten, angeheizt von "Konsolidierungshoffnungen" für den Lebensmittelsektor, wie Reuters es nannte. Am Tage der Bekanntgabe des Übernahmeangebots sprang der Aktienkurs von Cadbury im frühen Handel um 40%. ...

Was bedeutet all diese Aufregung für die Arbeitnehmer? Nach dem Kollaps der Aktienmärkte und der Dotcom-Unternehmen in den Jahren 2001 bis 2002 erreichten die globalen Fusionen und Übernahmen immer neue Rekordhöhen und nahmen von 2004 bis 2006 exponentiell bis auf atemberaubende 3,6 Billionen US-Dollar zu. Lebensmittel und Getränke gehörten zu den aktivsten Sektoren. Angetrieben durch die massive Intervention von Beteiligungsfonds nahmen die einzelnen Transaktionen einen immer größeren Umfang an. Unter dem erbarmungslosen Druck, "Mehrwert für die Aktionäre" zu schaffen, wurden soeben "konsolidierte" Vermögenswerte liquidiert, um den Investoren über Dividenden und Aktienrückkäufe Erträge zu liefern. Veräußerungen, Schließungen und Umstrukturierungen beseitigten Arbeitsplätze, Auslagerungen und Prekarisierung der Beschäftigung werteten ab, was übrig blieb. "Jeder kann innerhalb von 24 Stunden ersetzt werden", wie Nestlé-Chef Brabeck vor kurzem der Presse erklärte. Pensionskassen wurden angesichts steigender Verbindlichkeiten abgewickelt und geschlossen, während Investitionsbanken und Anwälte, die die Transaktionen eingefädelt und dabei "als Berater fungiert" hatten, Milliarden einstrichen.

Im Zeitraum 2004 bis 2006, als Fusionen und Übernahmen eine Blütezeit erlebten, beseitigte der europäische Lebensmittelsektor mehr Arbeitsplätze als jede andere Branche, einschließlich der Metall- und Textilindustrie, mit Ausnahme allein der Landwirtschaft.

Ursächlich für dieses Blutbad waren nicht technologische Entwicklungen - vielmehr waren die Unternehmen zu sehr damit beschäftigt, ihre Aktien zurückzukaufen und die Dividenden anzuheben, als dass sie bedeutende Investitionen in neuen Technologien oder Produktionskapazitäten getätigt hätten. Ursächlich waren auch nicht Auslagerungen oder der Handel - bei Lebensmitteln gab es so etwas wie chinesische Unterwäsche, die die Lagerhäuser in den Häfen verstopft, nicht - vielmehr wurden die Arbeitsplätze mit einer Kettensäge der Fusionen und Übernahmen gefällt, weil die Unternehmen um Ratingagenturen und Investoren buhlten, indem sie darin wetteiferten, Produktivvermögen zu vernichten und Barmittel abzuziehen.

Dieser gewaltige Vermögenstransfer - der mit Hilfe der Vernichtung von Arbeitsplätzen finanziert und mit enormen Kreditaufnahmen und der immer höheren Verschuldung der Unternehmen geschmiert wurde - erfolgte im Namen des "Wachstums". Kraft feierte seine Rückkehr an die Kapitalmärkte mit einem Plan für nachhaltiges Wachstum, der im Zeitraum 2000 bis 2004 zwanzig Betriebsschließungen und 6000 beseitigte Arbeitsplätze erbrachte. Das nachhaltige Wachstum wurde im Zeitraum 2006 bis 2008 mit weiteren 8000 vernichteten Arbeitsplätzen und zwanzig weiteren Betriebsschließungen fortgesetzt. Bis die Krise den Konzern im vorigen Jahr aus den Gleisen warf, erhöhte Kraft seine Dividende in jedem Jahr und sogar in jedem Quartal.

Eine im Februar 2008 angekündigte neue Runde der Vernichtung von Arbeitsplätzen und der Betriebsschließungen sollte Kosteneinsparungen von weiteren 1,15 Milliarden US-Dollar erbringen - die in vollem Umfang an die Aktionäre ausgeschüttet werden sollten. Dabei spielte es kaum eine Rolle, dass die Kraft-Konzernleitung selbst noch nicht wusste, wo die Axt angesetzt werden würde: weniger Personal = gesteigerter Mehrwert für die Aktionäre. Die Investoren waren höchst erfreut, und so meldeten Kraft-Manager im September 2009 weitere acht geschlossene Betriebe mit 4700 beseitigten Arbeitsplätzen.

Die gesamte Vergütung für die Konzernchefin Irene Rosenfeld stieg 2008 um 50% auf 16,9 Millionen US-Dollar. Als Kraft dies bekannt gab, bekundete der Konzern gleichzeitig seine Entschlossenheit zu Kostensenkungen, indem er ankündigte, er werde keinen aufwendigen Jahresbericht zum Versand an die Teilnehmer an der kommenden Hauptversammlung erstellen.

Die finanzielle Umgestaltung von Cadbury (nach dem britischen Observer "einem im Kern britischen Unternehmen") erfolgte 2004 nach dem Programm "Treibstoff für das Wachstum", mit dessen Hilfe die Verminderung der globalen Beschäftigtenzahl um 10% Geld in die Taschen der Aktionäre spülte. 2008 wurde Treibstoff für das Wachstum von dem auf drei Jahre angelegten Programm "Von der Vision zur Aktion" abgelöst, das die Beseitigung von 15% der Arbeitsplätze bei Cadbury vorsieht. Wie vielen relativ späten Einsteigern geht es Cadbury derzeit besser als den Frühstartern. Im Gegensatz zu Kraft, das Dividenden eingefroren und Aktienrückkäufe eingestellt hat, erhöht Cadbury nach wie vor die Dividende und hat im Mai ein neues Aktienrückkaufsprogramm gestartet.

Die Vorteile, die eine Übernahme von Cadbury für Kraft bedeutet, das jetzt unter einer Schuldenlast ächzt, die fast halb so groß ist wie sein Marktwert, gehen weit über die verlockenden "Synergien" hinaus, die die starke Markenposition Cadburys in Lateinamerika und Indien in Aussicht stellt. Die Synergien sind in erster Linie finanziell. "Das ist genau, was der Markt braucht", erklärte David Thebault, Chef der Abteilung Quantitative Sales Trading bei Global Equities am 7. September gegenüber Reuters. "Ein zweiter Wind, um die Aktien auch nach der Erholungsrally um 50% noch weiter in die Höhe zu treiben, und vor allem etwas, was das Kleinzeug wieder zurück ins zweite Glied versetzt".

Und genau dieses "Kleinzeug" hat die Arbeitnehmer ins zweite Glied gestellt und auf die Straße gesetzt. Wenn Investoren in eine solche Erregung geraten, haben Arbeitnehmer allen Grund, um ihre Arbeitsplätze zu fürchten - und Gewerkschaften müssen handeln - am Verhandlungstisch, im Parlament, auf der Straße und bei der G20, die sich mit diesem Thema nie befasst hat.

Allgemein weiß man heute, dass Finanzpapiere mit exotischen Bezeichnungen wie subprime mortgages, CDO, synthetische CDO usw. nur glänzende Namen für hochriskante Instrumente zur Bereicherung von Finanzinvestoren bei gleichzeitiger Überwälzung der Risiken waren. Die Aktions-, Visions- und Wachstumsprogramme der Konzerne, die mit Hilfe massiver Stellenstreichungen, prekärer Beschäftigungsverhältnisse, der Ausweitung gewerkschaftsfreier Betriebe und der Einstellung von Ruhestandsleistungen Milliarden für Investoren bedeuten, gehören zu derselben Kategorie. Diese Tatsache wird nur dadurch verschleiert, dass Finanzprodukte nach wie vor wie Markenlebensmittel etikettiert werden.

Quelle: www.iuf.org

Raute

FLAI-CGIL startet Kampagne gegen die Ausbeutung auf italienischen Tomatenfeldern

Rotes Gold - von der Realität zur Wahrheit

In jedem Sommer bringen Arbeitsvermittler etwa 50.000 Wanderarbeitnehmer, von denen viele keine Papiere haben, zur Tomatenernte nach Italien. Tomaten sind für die italienische Wirtschaft und die Erzeugung weltberühmter italienischer Produkte wie Dosentomaten und Tomatenmark von größter Bedeutung. Doch die Arbeitnehmer, die diese Tomaten ernten, arbeiten unter gefährlichen Bedingungen und häufig unter Verletzung des italienischen Arbeitsrechts. Durch Gewalt und Drohungen werden einige praktisch versklavt. Sie riskieren ihr Leben, wenn sie den Versuch unternehmen zu fliehen oder die Kriminellen, die sie ausbeuten, anzuzeigen.

Der IUL-Mitgliedsverband FLAI-CGIL dokumentiert und kritisiert diese Zustände seit vielen Jahren. Er hat die italienische Regierung aufgefordert, konkrete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, aber bisher hat sich noch nichts geändert. Deshalb kam die FLAI-CGIL in diesem Jahr zu der Überzeugung, sie müsse ihre Taktik ändern, und startete die Kampagne "Rotes Gold", um diese ausbeuterischen Beschäftigungspraktiken zu bekämpfen, die Arbeitnehmer über ihre Recht aufzuklären und sie zu ermutigen, der Gewerkschaft beizutreten.

Vom 2. bis 12. August 2009 waren 70 Gewerkschafter von FLAI und CGIL vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Tomatenfeldern in der Provinz Foggia. Sie trafen mit Tausenden Männern und Frauen zusammen, die auf den Feldern arbeiteten, sprachen über Rechte, verteilten in 15 Sprachen Flugblätter über die gesetzlich vorgeschriebenen Lohnsätze und bemühten sich, die Tomatenarbeiter für die Gewerkschaft zu gewinnen. In der Stadt Foggia und in den umliegenden Dörfern wurden Gewerkschaftsseminare, öffentliche Diskussionen und Konzerte veranstaltet, um auch die Bewohner einzubeziehen. Die Kampagne der FLAI-CGIL richtet sich nicht nur gegen die rücksichtslosen Arbeitsvermittler, die Wanderarbeitnehmer ausbeuten, sondern auch gegen die repressiven Sicherheitsgesetze, die das italienische Parlament vor kurzem erlassen hat. Sie weist insbesondere darauf hin, dass es keine Arbeitsaufsichtsbeamten gibt, um das Arbeitsrecht und den für die Landwirtschaft geltenden Tarifvertrag durchzusetzen.

www.iuf.org

Raute

Europaparlament: Vorgeschmack auf die nächsten fünf Jahre?

86-Stunden-Woche für LKW-Fahrer ermöglicht

29.9.09 Die neue Zusammensetzung des europäischen Parlaments bzw. hier des Beschäftigungsausschusses hat zum ersten Mal Wirkung gezeigt. Noch kurz vor den EU-Wahlen stimmten sowohl der Beschäftigungsausschuss als auch das Plenum des Europäischen Parlaments gegen den Vorschlag der Europäischen Kommission, Selbständige aus der Arbeitszeitrichtlinie auszunehmen. Nun sprachen sich die Mitglieder des Ausschusses sich mit einer knappen Mehrheit von 25 zu 24 Stimmen dafür aus, selbständige LKW-Fahrer aus der neuen geplanten Arbeitszeitrichtlinie im Straßenverkehr auszunehmen. Damit ist nun die große Zahl von LKW-Fahrer vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen, die selbständig fahren oder in den letzten Jahren in die Scheinselbständigkeit gedrängt wurden, in Wirklichkeit aber alle Merkmale eines unselbständig Beschäftigten aufweisen. Zwar steht noch die Abstimmung in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments aus, sie wird aber kaum zu einer Korrektur führen.

Neben den negativen Auswirkungen einer dann möglichen 86-Stunden Woche auf die Verkehrssicherheit wurde als Argumente auch die Verzerrung des Wettbewerbs durch die massenhafte Zunahme der Scheinselbständigkeit angeführt.

Sollte der Beschluss des Beschäftigungsausschusses bestätigt werden, wird der Druck auf Firmen mit normalen Beschäftigungsverhältnissen weiter steigen, aus ihren Beschäftigten Scheinselbständige zu machen. Es ist zu befürchten, dass sich das bisher schon bestehende Lohn- und Sozialdumping in diesem Sektor deutlich ausweitet. Aus Geschäftsordnungsgründen des Europäischen Parlaments war eine Bestätigung des ersten Votums von vor den Wahlen notwendig. Diese Bestätigung gab es im neu zusammengesetzten Europäischen Parlament leider nicht. Damit wird nun im nächsten Schritt ein neuer Bericht über die Richtlinie im Beschäftigungsausschuss verfasst. Eine nochmalige Ablehnung des Vorschlags (der Kommission), die Selbständigen aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herauszunehmen, scheint sehr unwahrscheinlich.   rog

Raute

WIRTSCHAFTSPRESSE

Arbeitgeber aus der Pflegebranche warnen vor Mindestlöhnen. FAZ, Mo. 21.9.09. Die privaten Arbeitgeber der Pflegebranche warnen vor einem Kahlschlag durch überzogene Mindestlöhne. "Es wäre eine Katastrophe, wenn die neue Pflegekommission Löhne festlegt, die dazu führen, dass Pflegeeinrichtungen insolvent werden und Arbeitsplätze wegfallen", sagte Th. Greiner, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Pflege. "Angesichts von 2 Millionen Pflegebedürftigen im Lande können wir uns keinen Pflegenotstand leisten." "Wenn wir die ... Existenz der Einrichtungen nicht gefährden wollen, bildet derzeit ein genereller Mindestlohn von 7,50 Euro im Osten und 8,50 im Westen für Pflegehilfskräfte die Obergrenze." Ihren Marktanteil beziffern die Privaten auf 60 % in der ambulanten und 40 % in der stationären Pflege. Nach Einschätzung von Verdi liegen derzeit die Stundenlöhne in der ambulanten Pflege zum Teil nur bei 4 Euro.


Wirtschaftsverbände fordern schnelle Taten. FAZ, Die., 29.9.09. Verbände der Wirtschaft und der freien Berufe haben überwiegend positiv auf den Wahlsieg von CDU/CSU und FDP reagiert. Sie fordern allerdings eine wirtschaftsfreundlichere Politik, schnelle Steuerentlastungen und weniger Regulierung. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) stellte ein Sofortprogramm für die ersten 100 Tage der Regierung vor. DIHK-Präsident H.-H. Driftmann verlangte eine zügige Reform von Unternehmen- und Erbschaftssteuer, die Möglichkeit zu leichteren Kündigungen und zu befristeten Einstellungen, den Umbau der Krankenversicherung mit einer Entlastung der Betriebe sowie längere, weil die Stromkosten senkende Laufzeiten für Kernkraftwerke. Der Zentralverband des deutschen Handwerks appellierte, das Versprechen auf Steuerentlastung, insbesondere in der Mitte der Gesellschaft, das mit entscheidend für den Wahlerfolg gewesen sei, umzusetzen. Der Hauptverband des deutschen Einzelhandels warnte vor einer Mehrwertsteuererhöhung.


Arbeitgeberverbände greifen FDP-Programm auf. FAZ, Mi. 30.9.09. "Der Kündigungsschutz sollte erst für Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten und nach einer Beschäftigungsdauer von 2 Jahren gelten", heißt es im Wahlprogramm der Liberalen. Außerdem werben sie für ein Wahlrecht des Arbeitnehmers zwischen Abfindung und Kündigungsschutz. Arbeitgeberpräsident D. Hundt plädiert dafür, den Kündigungsschutz für Neueinstellungen zu ändern. Es gehe darum, den Einstieg für Arbeitslose zu erleichtern: In der Arbeitsmarktordnung brauchen wir mehr Flexibilität.

Zusammenstellung: rst

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION


Die zehn Hauptforderungen des Deutschen Städtetages an den neuen Bundestag und die neue Bundesregierung

Beschlossen vom Präsidium des Deutschen Städtetages in seiner 375. Sitzung am 30. September 2009 in Leipzig

1. Finanzielle Handlungsfähigkeit der Städte sichern bzw. wiederherstellen

Eine aufgabengerechte Finanzausstattung für die Kommunen zu erhalten bzw. wiederherzustellen ist gerade in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ein Kernanliegen des Deutschen Städtetages.

Die Gewerbesteuer als wichtigste Steuer der Städte muss Bestand haben. Forderungen nach einer Schwächung oder gar Abschaffung der Gewerbesteuer werden auf den entschiedenen Widerstand der deutschen Städte stoßen. Die Städte bauen hierzu auf eine klare Aussage der Bundeskanzlerin vom 26. Mai 2009 in Berlin: "Ich habe auf dem Deutschen Städtetag eine Zusage gemacht, die wir auch halten werden. Die Gewerbesteuer bleibt unangetastet."

Vorrangiges Ziel der Städte bleibt es, die Gewerbesteuer als kommunale Steuerquelle weiter zu stabilisieren und auszubauen. Auch wenn mit der Unternehmenssteuerreform bereits erste wichtige Schritte unternommen wurden, sind weitere Maßnahmen zur Stärkung der Gewerbesteuer erforderlich. Im Mittelpunkt müssen dabei folgende Maßnahmen stehen:

Weitere Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage,
Beendigung der gewerbesteuerlichen Organschaft,
Beendigung der Steuerfreiheit von Gewinnen aus der Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften.

Die Absenkung der Gewerbesteuerumlage ist ein weiterer Baustein zur Stärkung der kommunalen Finanzkraft. Insbesondere die zur Finanzierung der Deutschen Einheit bis 2019 beschlossene Erhöhung der Umlage entbehrte von vornherein jeglicher Grundlage. Dieser ungerechtfertigte Zugriff von Bund und Ländern auf das Gewerbesteueraufkommen muss rückgängig gemacht werden.

Darüber hinaus ist die Ertragskraft der Grundsteuer als solider Eckpfeiler im kommunalen Steuersystem zu stärken. Eine Reform ist seit Jahren überfällig. Die Anforderungen der Städte an eine solche Reform liegen auf dem Tisch.

Zur Erhaltung einer aufgabengerechten Finanzausstattung gehört auch, dass rechtssichere und zukunftsfähige Regelungen auf der Ausgabenseite getroffen werden. Insbesondere darf die Finanzverantwortung nicht innerhalb des föderalen Bundesstaates auf eine andere Ebene verschoben werden. Nach dem Prinzip: "Wer bestellt, bezahlt!" muss sie vielmehr bei derjenigen Ebene im bundesstaatlichen Gefüge verbleiben, die über die Schaffung oder Veränderung von Aufgaben und Leistungspflichten entscheidet und damit Verursacher entstehender finanzieller Belastungen ist. Es bedarf daher sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene wirksamer Regelungen, die die Einhaltung des Konnexitätsprinzips sichern.


2. Lösung für künftige Umsetzung des SGB II duldet keinen Aufschub

Sofort nach Bildung der neuen Regierung müssen die Entscheidungen zur künftigen Organisation der Hilfen für Langzeitarbeitslose fallen. Im Interesse der langzeitarbeitslosen Menschen, deren Zahl wieder dramatisch anwachsen wird, bedarf es schnell arbeitsfähiger Strukturen. Wertvolle Zeit ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2007 zur Verfassungswidrigkeit der Arbeitsgemeinschaften ungenutzt verstrichen. Der Deutsche Städtetag plädiert in erster Linie für eine zügige Änderung der Verfassung zur Absicherung der Arbeitsgemeinschaften. Sollten dafür die politischen Mehrheiten fehlen, müssen geeignete Kooperationsstrukturen für die beiden Träger geschaffen werden.


3. Städte bei Sozialausgaben entlasten - Belastung durch Unterkunftskosten reduzieren

Der stetig wachsende Kostenblock der kommunalen Sozialausgaben ist eine der wesentlichen Ursachen für die katastrophale Haushaltslage vieler Kommunen. Die hohen Soziallasten - verbunden mit geringer Finanzkraft - gehören zu den Hauptursachen für die sich immer weiter öffnende Schere zwischen armen und reichen Städten. Die negativen Folgen der Verletzung der Konnexitätsregeln werden hier besonders deutlich.

Die Regelungen zu den Unterkunftskosten im SGB II zu Lasten der Kommunen stellen eine besonders drastische Verletzung der Konnexitätsregeln dar. Die Zusagen im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, insbesondere die strukturschwachen Kommunen bei den Sozialausgaben zu entlasten, sind nicht eingehalten worden. Aufgrund einer nicht sachgerechten Anpassungsformel wird die Beteiligungsquote des Bundes im SGB II stetig reduziert, wodurch die tatsächliche Belastung der Kommunen stark steigt. Die Beteiligungsquote des Bundes an den Kosten für Unterkunft und Heizung muss deshalb unverzüglich an die tatsächliche Kostenentwicklung angepasst werden. Bis dahin darf keine weitere Absenkung erfolgen.


4. Ausbau der Kinderbetreuung verlässlich finanzieren

Bund und Länder müssen endlich erkennen, dass der Ausbau der Kinderbetreuung für unter dreijährige Kinder nach wie vor unterfinanziert ist. Die Umsetzung des Rechtsanspruches ab dem Jahre 2013, der eine Versorgungsquote weit über 35 Prozent erforderlich machen wird, werden die Kommunen ohne weitere Finanzhilfen nicht schaffen können.


5. Städtische Zentren stärken - Zersiedelung vermeiden

Urbanität, Nutzungsvielfalt und Lebendigkeit der städtischen Zentren müssen zu Hauptzielen stadtpolitischen Handelns werden. Dazu ist eine stärkere Verbindung städtebaulicher Maßnahmen zur Erhaltung und Schaffung gemischter Strukturen mit arbeitsmarkt- und wirtschaftsfördernden sowie steuerlichen Maßnahmen erforderlich.


6. Verkehrsfinanzierung sichern - ÖPNV stärken

Unter der dramatischen Lage der Kommunalfinanzen leidet auch die städtische Verkehrsinfrastruktur. Insbesondere die wachsenden Finanzierungslasten bei der Grundsanierung, der wachsende Finanzierungsbedarf durch Anpassung an den demografischen Wandel, Vorgaben zum Umweltschutz und zur Barrierefreiheit sowie das Ende der Zweckbindung der Finanzmittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz stellen die Städte vor große Herausforderungen. Angesichts der dringend notwendigen Investitionen vor allem im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) müssen die Finanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und dem Regionalisierungsgesetz mindestens auf dem bisherigen Niveau erhalten bleiben.


7. Klimaschutz in den Städten unterstützen - Schadstoff- und Lärmbelastung senken

Angesichts der bereits eingetretenen und der weiter zu erwartenden Auswirkungen des Klimawandels steht Deutschland vor einer gewaltigen Herausforderung. Die Städte müssen stärker als in der Vergangenheit durch verbesserte gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen dabei unterstützt werden, dezentrale Instrumente zur CO2-Senkung zu erarbeiten. Zu einer konsequenten Umweltpolitik gehört darüber hinaus auch die Unterstützung der Städte in ihren Anstrengungen zur Verbesserung der Luftqualität und zur Verminderung des Umgebungslärms.


8. Zukunft der Sparkassen sichern

Die kommunalen Sparkassen tragen wegen ihrer Dezentralität und Kundennähe ganz erheblich zur Stabilisierung des deutschen Bankensystems bei. Sie stellen gerade auch in der Finanzmarktkrise die Kreditversorgung der heimischen Wirtschaft und Bevölkerung sicher. Für die Kommunen als öffentlich-rechtliche Eigentümer der Sparkassen hat deshalb der Schutz ihrer Sparkassen Vorrang vor der Bestandssicherung einzelner Landesbanken. Vorschläge zur Stabilisierung des Finanzsystems dürfen nicht zu einer Schwächung der Institute führen, die in der Krise ihre besondere Stärke bewiesen haben und das besondere Vertrauen der Bevölkerung genießen. Die rechtliche und wirtschaftliche Selbständigkeit der kommunalen Sparkassen muss deshalb erhalten und gestärkt werden.


9. EU-Vergaberecht kommunalfreundlich gestalten

Die bestehenden Rechtsunsicherheiten im EU-Vergaberecht bei der interkommunalen Zusammenarbeit und anderen innerstaatlichen Kooperationen müssen beseitigt werden, und die Möglichkeit der Inhouse-Vergabe für kommunal beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen muss geschaffen werden. Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich hierfür gegenüber der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten einzusetzen.


10. Für starke Kommunen in Europa

Der Deutsche Städtetag erwartet vom neugewählten Bundestag, dass er die Kommunen an den erweiterten Mitwirkungsmöglichkeiten beteiligt, die ihm durch den Lissabon-Vertrag und die damit verbundenen innerstaatlichen Regelungen gewährt werden. Insbesondere bei der Subsidiaritätskontrolle durch den Deutschen Bundestag erwarten die Städte den engen Schulterschluss mit der kommunalen Ebene, um ungerechtfertigte Eingriffe der EU in kommunale Aufgaben- und Verantwortungsbereiche zu unterbinden.

Von der Bundesregierung erwarten die Städte eine größere Dialogbereitschaft in EU-Angelegenheiten von kommunaler Bedeutung. Hierzu bedarf es keiner neuen aufwendigen Strukturen. Es würde vielmehr ausreichen, einige der Unterrichtungsrechte, die die Bundesregierung dem Bundestag zugesichert hat, auch den kommunalen Spitzenverbänden zu gewähren.

Die deutschen Städte erwarten darüber hinaus, dass im Zuge der Neuordnung der Zusammensetzung des Ausschusses der Regionen (AdR) die Zahl der auf die Kommunen entfallenden Sitze in der deutschen AdR-Delegation erhöht wird.

Raute

Berliner Erklärung:

Für Gleichstellung der Kurdinnen und Kurden mit anderen Migrantengruppen

Die TeilnehmerInnen der Konferenz "Kurden in Deutschland - Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung" am 9. September 2009 im Abgeordnetenhaus von Berlin erklären:

Nach über 45 jähriger Migration leben nun fast eine Million KurdInnen in Deutschland, die als ArbeitsmigrantInnen, Flüchtlinge oder AkademikerInnen aus der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien gekommen oder geflohen sind. Etwa ein Drittel von ihnen besitzt inzwischen die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik. Die zweitgrößte MigrantInnengruppe ist bis heute nicht als eigenständige MigrantInnengruppe anerkannt, da sie in der Regel entweder als türkische, iranische, irakische oder syrische Staatsangehörige gelten. Dadurch werden ihnen fundamentale Rechte wie muttersprachlicher Unterricht, Beratung und Betreuung in der eigenen Sprache, Teilhabe an spezifischen Integrationsmaßnahmen und vieles andere mehr verwehrt. Es ist nun an der Zeit, dass diese Bevölkerungsgruppe als eigenständige MigrantInnengruppe anerkannt wird um sie damit in der öffentlichen Unterstützung und Förderung der sozio-kulturellen Anliegen den anderen MigrantInnengruppen gleichzustellen.

Die Tatsache, dass seit 1993 aufgrund politischer Erwägungen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verboten wurde, führt dazu, dass kurdische MigrantInnen und insbesondere ihre Selbstorganisationen kriminalisiert, stigmatisiert und als Folge dessen, doppelter Ausgrenzung ausgesetzt werden. Die Organisationsverbote und zahlreichen Repressionsmaßnahmen stellen sich derzeit als große Integrationshindernisse dar. Die KurdInnen, die seit Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden sind, werden so an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Diese Tatsachen zeugen von einem fatalen Defizit der Demokratie in Deutschland. Es ist dringlicher denn je, diesen Umstand zu ändern.

Die TeilnehmerInnen sind der Auffassung, dass ein grundlegender Paradigmenwechsel notwendig ist. Um dies gewährleisten zu können, fordern sie Politik und Gesellschaft auf, Schritte zur Beseitigung der Folgen des bisherigen Umganges mit KurdInnen zu unternehmen. Dazu gehören insbesondere:

1. Die Anerkennung der kurdischen MigrantInnen als eigenständige MigrantInnengruppe und Gleichstellung mit den anderen MigrantInnengruppen;

2. Aufhebung der seit 1993 bestehenden Verbote gegen die PKK und gegen kurdische Organisationen und Beendigung der Repressionsmaßnahmen;

3. Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten auch für kurdische MigrantInnen und Flüchtlinge in ihrer Muttersprache und Herausgabe von Informationsmaterialien in kurdischer Sprache;

4. Muttersprachlicher Ergänzungsunterricht für kurdische SchülerInnen;

5. Das Zulassen von kurdischen Namen, auch wenn diese von den Behörden der Herkunftsländer nicht anerkannt werden;

6. Gleichbehandlung der KurdInnen bei den fremdsprachigen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten;

7. Aufhebung der Betätigungsverbote für kurdische Medien wie ROJ TV in Deutschland;

8. Aufnahme der Selbstorganisationen der KurdInnen in den Integrationsgipfel und Förderung der Selbsthilfe sowie der Bestrebungen für muttersprachlichen politischen und kulturellen Information und Bildung;

9. Einstellung von Abschiebungen von politisch aktiven KurdInnen und der Widerrufsverfahren gegen anerkannte kurdische Flüchtlinge;

10. Verstärkter Einsatz der Bundesregierung für die friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage.

Die TeilnehmerInnen der Konferenz sind der Auffassung, dass diese Forderungen einen wichtigen Schritt für die überfällige Integration eines nicht unwesentlichen Teiles unserer Bevölkerung bedeuten. Sie sind der Überzeugung, dass Zivilgesellschaft, die demokratischen Kräfte unseres Landes, die Selbstorganisationen der KurdInnen und die verantwortliche Politik große Anstrengungen unternehmen müssen, um eine friedliche, gleichberechtigte und demokratischere Zukunft gestalten zu können. Die aus der Migration der KurdInnen in Deutschland herauswachsenden Probleme sollten als eine Herausforderung für Gesellschaft und Politik verstanden werden. Daher erklären die TeilnehmerInnen der Konferenz ihren Willen, auch in der Zukunft sich gemeinsam für die Lösung der Probleme der kurdischen MigrantInnen einzusetzen. Sie erachten die heutige Konferenz als einen Beginn weiterer Aktivitäten.

Raute

IN & BEI DER LINKEN


SPD verspielt den Politikwechsel in Thüringen und die Chance auf Neues

Sieg des Kleingeistes über die Politik

In der Nacht zum 1.10.2009 entschied sich der Landesvorstand der SPD in Thüringen mit 18 zu 6 Stimmen, nach Sondierungsgesprächen zwischen der CDU einerseits und der Linken sowie den Grünen andererseits mit der thüringischen CDU Koalitionsverhandlungen aufzunehmen.

Von Dr. Benjamin-Immanuel Hoff*

Ausgangskonstellation: Die CDU wird abgewählt - Politikwechsel gewünscht

Am 30. August 2009 wurde die seit 1990 ununterbrochen regierende CDU von den Wählerinnen und Wählern in Thüringen abgewählt. Sie verlor gegenüber der Landtagswahl 2004 insgesamt 104.847 Wählerinnen und Wähler, das entspricht rund 24% ihrer damals erhaltenen Stimmen. Ihre drei Wahlziele wurden deutlich verfehlt: Sie konnte die absolute Mehrheit nicht verteidigen, sie unterschritt ihr Wahlziel von 45% + x deutlich und obwohl die FDP zwar in den Landtag gewählt wurde, sahen die Wähler/-innen ein schwarz-gelbes Bündnis, als Ersatz für die verloren gegangene Alleinregierung von der CDU angestrebt, nicht vor.

Auch wenn die Ablehnung der CDU in wesentlichem Maße mit dem dramatischen Autoritätsverlust des mittlerweile zurückgetretenen Ministerpräsidenten Dieter Althaus verknüpft wurde, so kann der Niedergang der thüringischen CDU nicht allein der Person Althaus angelastet und damit der Wille der thüringischen Wählerinnen und Wähler für einen Politikwechsel negiert werden.

In der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik musste die Landes-CDU innerhalb der letzten zwei Legislaturperioden Vertrauenseinbußen von bis zu 20 Prozentpunkten verkraften. Nach Infratest dimap-Angaben waren im Vorfeld der Landtagswahl 67% der Befragten der Auffassung, dass die Partei in den letzten Jahren viele Fehler gemacht habe. Die thüringische CDU wurde als Partei der sozialen Ungerechtigkeit wahrgenommen: Sieben von zehn befragten Wahlberechtigten vertrat die Auffassung, dass sich mit der CDU die sozialen Ungleichheiten verstärken und Arbeitnehmerinteressen vernachlässigt würden. Nur für 17% der Befragten war die CDU die Partei, die sich für angemessene Löhne einsetzt.(1)

Es überrascht deshalb nicht, dass im August 2009 nur noch 43% der von Infratest dimap befragten Wahlberechtigten im Land mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden war. Eine absolute Mehrheit von 55% war hingegen unzufrieden.

Allein die CDU-Anhänger/-innen waren mit ihrer Landesregierung zufrieden (83% zu 15%), während die Anhänger/-innen von SPD, Grünen und FDP zu jeweils zwei Drittel, die Anhänger/-innen der Linken sogar zu mehr als vier Fünftel (85%) mit der CDU-Regierung unzufrieden waren.

Lediglich 39% befürworteten nach Infratest dimap-Angaben auch nach dem Wahltag eine unionsgeführte Regierung. Eine CDU-Alleinregierung schätzten nur noch 30% als gut für das Land ein, 14 Punkte weniger als vor fünf Jahren.(2)

Befragt nach den Koalitionsbewertungen bewerteten im August 2009 nach Infratest dimap 40% der Befragten ein rot-rot-grünes sowie 37% ein rot-rotes Bündnis mit "sehr gut/gut". Im Vergleich zur Landtagswahl 2004 entspricht dies einer Zunahme für rot-rot-grün um 15% und zu rot-rot um 12%.

Ein schwarz-rotes bewerteten hingegen nur 35% mit "sehr gut/gut", dies sind 7% weniger als bei der Landtagswahl 2004.(3)

Die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte kurz vor der Landtagswahl 54% Zustimmung für ein Bündnis von Linken und SPD bzw. den beiden Parteien zuzüglich der Grünen, während ein Bündnis aus CDU und SPD mit 34% bewertet wurde. Infratest dimap verzeichnete 38% Zustimmung zu einem rot-roten bzw. rot-rot-grünem Bündnis gegenüber 22 % für schwarzrot, das im Vergleich zu Anfang August um 1% abgenommen hatte.(4)


Schwierige Sondierungsgespräche mit guten Ergebnissen

Wie bereits rund eineinhalb Jahre zuvor in Hessen hatte sich die thüringische SPD die Möglichkeiten strategischen Handelns selbst beschränkt. Wurde der SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti ihre im Landtagswahlkampf mehrfach zu Protokoll gegebene strikte Ablehnung einer Unterstützung einer rot-grünen Reformregierung durch Die Linke dann zum Verhängnis, als sie mit Blick auf die von den Wähler/-innen gewünschte politischen Machtverhältnisse eine Modifizierung vornehmen wollte, hatte auch der SPD-Vorsitzende in Thüringen, Christoph Matschie, seine Partei gegen Die Linke gebunden.

Im Ergebnis eines innerparteilichen Machtkampfes mit dem linken Flügel um den früheren SPD-Innenminister Richard Dewes und den Erfurter Bürgermeister Bausewein, setzte Matschie in einer Urabstimmung durch, dass die SPD nach der Wahl - egal wie die Mehrheitsverhältnisse aussehen würden - einen Ministerpräsidenten der Linken nicht wählen würden.

Diese Mitgliederbefragung musste als Votum für eine Junior-Rolle der SPD in einer schwarzroten Koalition erscheinen, also als die Fortsetzung der babylonischen Gefangenschaft der SPD, aus der der linke Flügel der thüringischen SPD die eigene Partei seit dem unehrenhaften Ausscheiden der SPD nach fünf Jahren Regierungsarbeit 1999 befreien wollte.

Während des Landtagswahlkampfes modifizierte der Spitzenkandidat der SPD, Matschie, seine Aussagen zur Linken mehrfach und legte sich kurz vor dem Wahlkampf allein dahingehend fest, dass die Wahl des Linken-Ministerpräsidentenkandidaten Bodo Ramelow ausgeschlossen sei und - sofern sowohl SPD als auch Grüne stärker seien, als Die Linke - der rot-grüne Teil eines rot-rotgrünen Bündnisses, das Vorschlagsrecht in der Ministerpräsidentenfrage haben sollten.(5)

Der fulminante Wahlsieg des rot-rotgrünen Lagers, das im Landtag über 51 von 88 Mandaten verfügt, wurde durch diese von der SPD initiierte Verengung des Politik- und Regierungswechsels auf eine Personalfrage, überschattet.

Statt gemeinsam Inhalte und Reformprojekte eines Politikwechsels in den Vordergrund zu stellen, wurde Die Linke vom Wahlabend an mit dem Anspruch von Christoph Matschie und den ihn tragenden SPD-Kräften konfrontiert, den Anspruch auf das Ministerpräsidentenamt zurückzuziehen und einen SPD-Ministerpräsidenten Matschie zu akzeptieren.

Auf die Gefahr hin, in der Bundespartei und im eigenen Landesverband an Rückhalt zu verlieren, entschieden sich Bodo Ramelow und die Sondierungsgruppe der Linken, den Anspruch der Linken auf das Ministerpräsidentenamt nicht zum Hindernis eines Politikwechsels zu machen. Mit den Worten von Bodo Ramelow und Knut Korschewsky, dem Linken-Landesvorsitzenden: Inhalte und Projekte sollten im Vordergrund stehen, nicht eitle Machtansprüche.

Auf dieser Basis ging Die Linke in Sondierungsgespräche mit der SPD und den Grünen, die in mehrfacher Hinsicht nicht einfach waren:

- Obwohl alle drei Parteien bereits in den vergangenen Jahren an verschiedenen praktischen politischen Vorhaben gemeinsam tätig waren, hatte ein tiefergehender politischer Dialog nicht stattgefunden.

- Dies führte dazu, dass zwar in den Sachfragen thüringischer Landespolitik fast ausnahmslos Übereinstimmung bestand, jedoch im Fragen der Bewertung historischer Ereignisse sowie im Hinblick auf ein gemeinsames Verständnis von politischer Kooperation bei allen drei Parteien Hindernisse zu verzeichnen waren.

- Hierbei war auch Die Linke nicht frei von Vorurteilen und Fehlern. So trugen auch Die Linken-Vertreter/-innen in einer Sondierungsrunde durch intensives Beharren auf bundespolitischen Differenzen (Agenda 2010, Hartz IV-Regelsätze etc.) dazu bei, die Gemeinsamkeiten in der Landespolitik in den Hintergrund treten zu lassen. Ein Fehler, der eingesehen und in der nächsten Sondierungsrunde vermieden wurde - mit durchschlagendem inhaltlichen Erfolg.

So konnten diese Hindernisse im Verlauf der Sondierungsgespräche weitgehend ausgeräumt werden. Mehr noch: in zentralen Politikfeldern wurden gemeinsame Projekte definiert. Dazu gehörten neben vielem anderen:

- Notwendige Reformen in der Bildungspolitik und der Schulstrukturen in Richtung längerem gemeinsamen Lernen,
- Die Umsetzung des Volksbegehrens für 2000 Erzieher/-innen mehr in Kindertagesstätten,
- Ein Wechsel in Richtung erneuerbarer Energien,
- Neue Wege in der Arbeitsmarktpolitik,
- Mehr Gerechtigkeit durch ein Mindestlohngesetz.

Weitere Einigungen sowohl bei der Haushaltspolitik als auch noch offenen Diskussionspunkten, wie z.B. der Zukunft der thüringischen Flughäfen im Kontext einer nachhaltigen Verkehrspolitik waren weitgehend vorbereitet.

Darüber hinaus ist die Bewertung der DDR-Geschichte hervorzuheben und eine dramatisch verpasste Chance zu konstatieren:

Ähnlich wie in Berlin 2001 zwischen SPD und damaliger PDS hätte auch in Thüringen die Chance bestanden, im Hinblick auf die Bewertung der DDR-Vergangenheit, darunter die in der DDR begangenen Menschenrechtsverletzungen, eine Verständigung zu erreichen. Eine solche Verständigung, bei der sich Linke und Grüne erheblich angenähert hatten, wie der Landesvorstand der Grünen noch am 30. September 2009 konstatierte, wäre für die politische Kultur des Landes, 20 Jahre nach der Wende in der DDR ein wichtiger Schritt gewesen. Erstmals hätte es gelingen können, das Vertreter/-innen des Erbes der Bürger/-innenbewegung der DDR, vertreten durch Grüne und SPD, gemeinsam mit den Vertreter/-innen der Linken eine Bewertung der DDR-Geschichte vorgenommen hätten, ohne dem seit 1990 dominierenden Diktum und der einseitigen Geschichtswahrnehmung der Landes-CDU zu unterstehen, die es weitgehend versäumt hat, ihre Rolle als ehemalige Blockflötenpartei CDU, einschließlich der früheren DDR-Bauernpartei, aufzuarbeiten.


Personal- und Machtfragen bzw. -missverständnisse der SPD

Wie bereits dargestellt, standen bei der SPD - neben der spürbaren Neigung des Verhandlungsführers Christoph Matschie an einem Bündnis mit der CDU - im Hinblick auf ein mögliches rot-rotgrünes Bündnis allein Personal- und Machtfragen im Vordergrund.

Die Faustformel Matschies lautete, rückblickend betrachtet, "Wenn meine Partei - gegen meinen Willen - ein Bündnis mit Linken und Grünen eingehen will, dann kann der Preis dafür nur ein SPD-Ministerpräsident Matschie oder zumindest ein SPD-Ministerpräsident mit Richtlinienkompetenz sein."

Mit anderen Worten: Entgegen dem Wunsch einer absolut überwiegenden Mehrheit der SPD-Kreise, der SPD-nahen Gewerkschafter/-innen und einer Vielzahl von SPD-Mitgliedern in Vereinen sowie entgegen dem am 30. August 2009 ausgedrückten Wähler/-innenwillen, standen bei Christoph Matschie und den ihn tragenden Teilen der Sondierungsgruppe sowie der Landespartei nicht die inhaltlichen Projekte eines rot-rot-grünen Bündnisses, sondern die Zahl von Ministerien und den Erhalt der Staatskanzlei im Vordergrund.

Mit dieser inhaltsleeren Fokussierung auf Personal- und Machtfragen wurde insbesondere in der letzten Sondierungsrunde am 30. September 2009 durch die SPD-Verhandler Matschie und Machnig viel politisches Geschirr im rot-rot-grünen Lager zerschlagen. Denn während das Bekenntnis von Christoph Matschie, am 29. September 2009, nicht mehr auf dem Amt des Ministerpräsidenten zu bestehen, allgemein als Signal für eine rot-rot-grüne Regierung gewertet wurde, handelte es sich vielmehr um die Vorbereitung des Einstiegs in ein schwarz-rotes Bündnis, in dem Matschie sowieso nur das Amt eines Vize-Ministerpräsidenten bleiben kann.

Die Linke war in das Sondierungsgespräch am 30. September 2009 mit folgenden Aussagen gegangen:

1. Zwischen den drei Parteien besteht Einigkeit darüber, dass ein politischer Wechsel auf Basis gemeinsamer Inhalte und Projekte möglich ist.

2. Ein Politikwechsel darf an Personen nicht scheitern. Deshalb haben wir vor dem Verzicht von Christoph Matschie auf das Amt des Ministerpräsidenten großen Respekt. Mit Blick auf den gleichen Verzicht von Bodo Ramelow haben wir Verständnis, was dies persönlich bedeutet.

3. Vor dem Hintergrund des Rückzugs beider MP-Kandidaten schlagen vor, dass die Zeit der Verhandlungen über einen rot-rot-grünen Koalitionsvertrag dazu genutzt wird, sich zwischen den drei beteiligten Parteien auf eine gemeinsame Kandidatin oder einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten zu verständigen und im Zusammenhang mit der Festlegung von Personal und Ministerien am Ende der Koalitionsverhandlungen, wie üblich, auch diese Frage abschließend und verbindlich zu klären.

4. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass die gemeinsame Kandidatin oder der gemeinsame Kandidat für das Ministerpräsident-Amt, ein Parteibuch der Grünen, der SPD oder der Linken hat.

Dieses Angebot wurde durch die Hälfte der SPD-Sondierungsgruppe, Matschie und Machnig, hochmütig und apodiktisch zurückgewiesen. Ein Bündnis aus den drei Parteien, die - zur Erinnerung - bei der Landtagswahl mit 6,2% (Grüne), 18,5% (SPD) und 27,5% (Linke) gewählt wurden - sei ausschließlich möglich, wenn Grüne und Linke akzeptierten, dass

- die SPD den Ministerpräsidenten stelle,
- der Ministerpräsident über die Richtlinienkompetenz verfüge, also jederzeit das Recht habe, die Minister/-innen zu entlassen und die Koalition zu beenden.

Diese ultimative Positionierung der SPD, die letztlich den Ausstieg aus rot-rot-grün vorbereitete, mit dem Ergebnis, dass die SPD-Verhandler bereits in der anschließenden Sondierung mit der CDU und noch vor der entscheidenden Landesvorstandssitzung seitens der CDU mit den SPD-Wunschministerien "beschenkt" wurden, war nicht anders als ein Affront zu interpretieren. Die SPD-Positionierung ist jedoch letztlich insbesondere ein Eingeständnis politischer Lustlosigkeit am Politikwechsel sowie eines autoritären Politikverständnisses.

Mit ihrer Fixierung auf das Ministerpräsidentenamt und die Richtlinienkompetenz zeigte die SPD, dass es ihr vor allem um Ministerien, Macht und nicht um tatsächliche links-alternative Gestaltungspolitik geht.

Bleiben wir nur kurz beim Beispiel Richtlinienkompetenz: Unzweifelhaft ist die Richtlinienkompetenz in der Verfassung des Freistaates Thüringen festgelegt. Art. 76 Abs. 1 und 3 S. 1 der Verfassung von Thüringen lautet:

"(1) Der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Regierungspolitik und trägt dafür gegenüber dem Landtag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leiten und verantworten die Minister ihren Geschäftsbereich selbständig.

(3) Der Ministerpräsident führt den Vorsitz in der Landesregierung und leitet deren Geschäfte."

Die Richtlinienkompetenz ist also kein Phantom, sie ist verfassungsrechtlich verbürgt und damit Realität. Und dennoch wird die Richtlinienkompetenz nicht selten missverstanden.

Es gibt viele überzeugende Beispiele aus der Regierungspraxis die zeigen, dass die Richtlinienkompetenz ein verfassungsrechtliches Relikt ist, das in der täglichen Regierungspraxis keine Relevanz entfaltet. Denn die praktische Bedeutungslosigkeit der Richtlinienkompetenz beruht auf der Tatsache, dass es sich dabei um ein Element hierarchischer, das heißt auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam beruhender politischer Führung handelt. Hierarchische Führung aber ist in einem demokratischen Kontext, insbesondere in einer Koalitionsregierung nicht durchsetzbar. Die Richtlinien"kompetenz" eines Ministerpräsidenten findet dort seine Grenze, wo ihm entweder die Koalitionspartner oder die eigene Fraktion und Partei, auf die er, um Ministerpräsident sein zu können zwingend angewiesen ist, Grenzen der Zustimmung setzen - also die Mehrheit nicht mehr gesichert ist.(6)

So beantwortete beispielsweise die frühere Ministerpräsidentin Heide Simonis die Frage, wie sie im Kabinett von der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht habe, mit zwei Sätzen:

"Nie, denn das macht man nur einmal. Danach könnte man zurücktreten."

Deutlicher formuliert: Ein Ministerpräsident, der Ministerpräsident bleiben will, darf sich - so Simonis sinngemäß - auf keinen Fall auf seine Richtlinienkompetenz berufen, um persönliche Entscheidungen durchzusetzen. Das wäre sein Ende als Ministerpräsident. Er benötigt vielmehr überzeugende Argumente bzw. andere Mechanismen der kollektiven Führung bzw. Machtausübung. Was dies bedeutet, darauf verwies der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der im September 1982 im Plenum des Deutschen Bundestages ausdrücklich bestätigte, dass er nie von der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht habe:

"Ich habe bisher, in über acht Jahren, von der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 des Grundgesetzes keinen Gebrauch gemacht. Ich habe es vielmehr immer als meine Pflicht angesehen, große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden. Insofern waren die Richtlinien der Politik immer gemeinsam erarbeitet."(7)

Wer sich daran erinnert, in welch schwierigen Zeiten Helmut Schmidt Bundeskanzler war und wie fremd sich die Koalitionsparteien SPD und FDP zum Ende der sozial-liberalen Koalition geworden waren, der wird sehen, dass die Richtlinienkompetenz für eine stabile Regierungspolitik unerheblich ist. Die Techniken des Machterhalts bzw. des Koalitionskompromisses bestehen vielmehr in Verhandlungen. Die fünf Grundprinzipien, auf die es in einem Koalitionsbündnis unter den herrschenden Bedingungen in Thüringen angekommen wäre, hätten demnach gelautet:

1. Es gibt den übereinstimmenden Willen, für die gesamte Wahlperiode gemeinsam die Macht auszuüben.

2. Zwischen den Koalitionspartnern besteht ein Vertrauensverhältnis dahingehend, dass für die Dauer der Wahlperiode gemeinsame Ergebnisse erzielt werden sollen, die Kompromisse beinhalten.

3. Es besteht die Bereitschaft zu akzeptieren, dass die handelnden Personen aus verschiedenen Parteien kommen und vollständige Übereinstimmung weder das Ziel noch das Ergebnis von Vereinbarungen sein können. Kompromisse müssen also mit Bedacht und gegenseitiger Rücksichtnahme erzielt werden, damit alle Partner das Ergebnis auch gemeinsam in die eigene Partei, die eigene Fraktion sowie gegenüber der Öffentlichkeit vertreten können. Ein Spiel auf Gewinn und Verlust trägt nicht lange.

4. Es braucht Spitzenleute, die persönlich und funktional in der Lage sind, einer Koalition Stabilität zu geben. Dazu gehört in erster Linie Vertrauen, die Fähigkeit, dem anderen mitzuteilen, wie weit man gehen kann, sowie zu akzeptieren, wie weit der Partner gehen kann, damit ein gemeinsames Ergebnis erreicht werden kann.

5. Vor dem Hintergrund, dass die Grünen zu Recht die Frage stellten, inwieweit die beiden größeren potentiellen Partner tatsächlich an einem Bündnis mit ihnen interessiert seien, hätte es sich angeboten, einen Grundsatz in die Koalitionsvereinbarung aufzunehmen, der das besondere Verhältnis der drei Parteien zueinander geregelt und den Grünen eine Sicherheit in der Koalition gegeben hätte. Dieser Grundsatz hätte lauten können:

"Die Koalitionspartner sind sich darüber einig, dass die Koalition als beendet gilt, sofern ein Koalitionspartner die Koalition verlässt, selbst wenn die verbleibenden Partner über eine parlamentarische Mehrheit verfügen sollten."

Eine Koalition ist bereits in den Sondierungsgesprächen - insbesondere unter solch schwierigen Bedingungen wie in Thüringen - politische Beziehungsarbeit. Wie im persönlichen Leben sind dafür glaubwürdige Botschaften nach innen und nach außen zu versenden, mit Verletzungen oder Verstimmungen so umzugehen, dass die Beziehung gepflegt und nicht ständig in Frage gestellt wird.

Die Linke hatte diesbezüglich, ebenso wie die Grünen, in den Sondierungswochen dazugelernt und intensive Beziehungsarbeit, bis an den Rand innerer Spannungen, geleistet.

Die SPD hingegen hatte bedauerlicherweise die Beziehung vor der letzten Sondierungsrunde aufgegeben und entschieden, sich in das von der CDU bereitete Koalitionsbett zu legen.


Ausblick: schwarz-rote Koalition, verpfuschter Regierungswechsel, falsches Signal

Bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 erreichte die SPD bundesweit mit 23,0% nochmals 5,8 Prozentpunkte weniger als bei ihrem bisherigen Tiefpunkt 1953. Dies kommt einem politischen Erdrutsch gleich. Keine der beiden Regierungsparteien im Bund konnte hinzugewinnen. Die Union verlor knapp 2 Millionen Stimmen, die SPD 6,2 Millionen. Trotz der Stimmverluste gewann die Union durch die Direktmandate 13 Sitze hinzu, während die SPD ein Drittel ihrer Abgeordneten einbüßte.(8)

In Thüringen musste die SPD bei der Bundestagswahl 2009 einen dramatischen Stimmverlust mit 12,2 Prozentpunkten gegenüber der Bundestagswahl 2005 erleiden. Sie erhielt noch 17,6% der Stimmen gegenüber 29,8% in 2005. Damit liegt die SPD in Thüringen bei den Bundestagswahlen noch unter dem Niveau der Landtagswahl 2009. Bei den vergangenen Wahlgängen lag sie bei Bundestagswahlen immer über dem Landtagsergebnis.

Umgekehrt konnte die CDU deutlich hinzugewinnen und mit 31,2% ihr Landtagswahlergebnis von vor vier Wochen bestätigen. Die Linke erhöhte ihren Stimmenanteil auf 28,8%, plus 2,7% gegenüber 2005 und damit nochmals eine Steigerung gegenüber dem Landtagswahlergebnis.

Für Thüringen ergibt sich für die Wahlen seit 2004 folgendes Bild.

Thüringen: Verteilung der Wahlberechtigten

LTW04
BTW05
EP09
LTW09
BTW09
Nichtwähler
Ungültig
CDU
SPD
Grüne
FDP
PDS/Linke
Sonstige
46,2%
2,2%
22,2%
7,5%
2,3%
1,9%
13,5%
4,3%
24,5%
1,4%
19,0%
22,1%
3,6%
5,9%
19,3%
4,2%
47,0%
2,0%
15,9%
8,0%
2,9%
4,2%
12,1%
7,9%
43,8%
1,0%
17,2%
10,2%
3,4%
4,2%
15,1%
5,0%
34,8%
1,4%
20,1%
11,3%
3,9%
6,3%
18,6%
4,3%

Die Tabelle zeigt, dass es der CDU relativ gut gelungen ist, ihre Wählerschaft in Thüringen zur Bundestagswahl zu mobilisieren. Sie leidet kaum unter der gesunkenen Wahlbeteiligung. Die Linke erreicht annähernd genau so große Teile der Wählerschaft wie 2005 und bei der Landtagswahl, leidet also kaum unter der gesunkenen Wahlbeteiligung. Ohne Wählerwanderungen zwischen den zu berücksichtigen, scheint der Rückgang der Wahlbeteiligung in Thüringen vor allem durch enttäuschte SPD-Wähler hervorgerufen worden zu sein. Sie erreicht wie bereits vier Wochen zuvor bei den Landtagswahlen etwa nur noch jeden zehnten Wähler.(9)

Auf der Basis dieser desaströsen Wahlergebnisse möchte die thüringische SPD nunmehr als Juniorpartner in einem schwarz-roten Bündnis tätig sein. Sie erhält damit zwar in diesem Zweierbündnis mehr Ministerien, als ihr dies in einem Dreierbündnis bei einer stärkeren Linken möglich gewesen wäre, doch ist - und darin liegt der Irrtum der thüringischen SPD Spitze - die Zahl der Ministerien in einem solchen Bündnis unerheblich für die Durchsetzung und Wahrnehmbarkeit sozialdemokratischer Politik.

Die SPD in Thüringen hat ersichtlich nichts gelernt aus den Erfahrungen:

- der schwarz-roten Koalition von 1994 bis 1999 in Thüringen,

- der großen Koalition im Bund, die am vergangenen Sonntag abgewählt wurde,

- dem Niedergang der Berliner Sozialdemokratie in der großen Koalition ab 1990, aus der sich die Berliner SPD nur durch den Befreiungsschlag zu rot-rot 2001 befreien konnte, bzw.

- aus dem desaströsen Verharren der sächsischen Sozialdemokratie bei 10% nach fünf Jahren schwarz-roter Koalition.

Die thüringische SPD wird versuchen wollen, sich in einer schwarz-roten Regierung als soziales Korrektiv zu präsentieren. Dafür sind die Ausgangsbedingungen jedoch denkbar unkomfortabel, wie die SPD durch einen Blick in die Wahlanalysen der vergangenen Wochen erkennen sollte. Trotz allen Wechselwillens in der Wähler/-innenschaft in Thüringen bestand eine Grundskepsis gegenüber der SPD:

- Mehr als die Hälfte der befragten Wahlberechtigten (58%) vertraten die Auffassung, dass die SPD keine wirkliche Alternative zur CDU sei.

- Demgegenüber wurde der Linken durch knapp 2/3 (64%) der durch Infratest dimap befragten Wahlberechtigten bescheinigt, als Regierungspartei geeignet zu sein und mehr als die Hälfte (57%) wünschten sich explizit eine Beteiligung der Linken in der Regierung.(10)

- Wie 2004 fiel es der SPD schwer, sich inhaltlich zu profilieren. Nur beim Einsatz für angemessene Löhne wurde ihr mehr zugetraut als den anderen Parteien.

- In der Frage sozialer Gerechtigkeit erhielten die Sozialdemokraten zwar mehr Kompetenzzuschreibung als 2004, blieben aber dennoch knapp hinter der Linken. Ihr werden die Reform der Sozialgesetzgebung und die Einführung der Rente mit 67 nachgetragen.

- In der Folge ist aus Sicht der Bevölkerung die SPD keine Partei der kleinen Leute mehr, die zudem die Bodenhaftung verloren habe.(11)

Nicht zuletzt wird die Entscheidung des SPD-Landesvorstandes die Politikverdrossenheit und den Schwund an Wahlbeteiligung deutlich erhöhen. Die beiden Parteien CDU und SPD haben seit der Landtagswahl 1994, in deren Ergebnis sie eine Koalition eingingen, beständig an Wähler/-innenrückhalt verloren. Entfielen auf beide Parteien zur Landtagswahl 1994 noch 72,2% der abgegebenen Zweitstimmen, reduzierte sich dieser Anteil in den nachfolgenden Wahlen auf 69,5% (1999), 57,5% (2004) auf das niedrigste Niveau seit 1990: 49,8% (2009). Beide Parteien, die nunmehr in eine Koalition eintreten möchten, vertreten also weniger als die Hälfte der abgegebenen Zweitstimmen und gerade einmal rund 524.600 abgegebene Stimmen, der rund 1,9 Mio. Wahlberechtigten in Thüringen.

Vor der Landtagswahl formulierte die SPD die Entscheidungsfragen:

"Jetzt ist es Zeit, sich zu entscheiden. Neuer Schwung für Thüringen oder weiter Stillstand. Am 30. August geht es darum, ob wir eine Regierung bekommen, die für faire Löhne kämpft. Oder: Thüringen bleibt Billiglohnland. Es geht darum, ob wir bessere Bildung organisieren mit zusätzlichen Stellen in den Kindergärten und längerem gemeinsamen Lernen - oder es bleibt beim Stillstand der CDU. Es geht auch darum, ob wir 20 Jahre nach der friedlichen Revolution die soziale Einheit vollenden."(12)

Die Fragen hat die SPD beantwortet: Durch die SPD-Stimmen im Landtag, die SPD-Minister/-innen in der Landesregierung und die Mitarbeit des SPD-Landesverbandes bleibt die Wahlverliererin CDU auch weitere fünf Jahre an der Macht, bleiben Stillstand und unsoziale Politik, auch wenn sie im modernisierten Gewand von Frau Lieberknecht präsentiert wird.

Damit werden - und darin besteht neben der verpassten Chance eines Politikwechsels die politische Dramatik - die Möglichkeiten einer Ablösung der CDU von der Macht und die Kooperationsmöglichkeiten zwischen SPD, Grünen und Linken nachhaltig beschädigt.

Im Landtagswahlkampf 2009 standen zwei Lager einander gegenüber: Das konservative Lager, vertreten durch die CDU und unterstützt durch die wirtschaftsliberale FDP sowie ein progressives Lager, vertreten durch die rot-rot-grünen Parteien. Im kommenden Landtagswahlkampf wird diese Lagerkonstellation in dieser Form nicht mehr möglich sein, werden Linke und Grüne, gezwungenermaßen, einen Wahlkampf gegen die Landesregierung, vertreten aus CDU und SPD führen müssen. Inwieweit die SPD aus der Regierung heraus die Möglichkeit eines überzeugenden Politikwechsels führen möchte, steht in den Sternen, zumal überzeugende Beispiele in der bundesdeutschen Parteiengeschichte dafür nicht bestehen.

Damit wird das zweite Problem angesprochen: Die Sondierungsgespräche und eine mögliche Koalition hätten es gewährleisten können, das ausgesprochen schlechte Verhältnis zwischen den Parteien und die politische Kultur in Thüringen zu verändern. Es hätte deutlich werden können, dass Parteien in Kooperation, Verhandlungskultur und Respekt miteinander umgehen können. Das Scheitern der Koalitionsverhandlungen leistet nunmehr all denjenigen Ewiggestrigen in allen Parteien Vorschub, die jeweils die anderen Parteien allein als Gegner und nicht als Kooperationspartner und Architekten gemeinsamer Projekte sehen. Auf dieser Grundlage und nach der Enttäuschung dieser Sondierungsgespräche Vertrauen für einen erneuten Anlauf rot-roter oder rot-rot-grüner Reformpolitik aufzubauen, wird ein hartes Stück Arbeit sein, dessen Kraftaufwand besser hätte investiert werden können.


Anmerkungen

(1) Infratest dimap 2009, WAHLREPORT. Landtagswahl in Thüringen am 30. August 2009, S. 21.
(2) Infratest dimap 2009, a.a.O., S. 23.
(3) Infratest dimap 2009, a.a.O., S. 37.
(4) Benjamin-Immanuel Hoff/Horst Kahrs 2009, Die Ergebnisse der Landtagswahl in Thüringen am 30. August 2009 - Wahlnachtbericht und erste Analyse, S. 9.
(5) Hoff/Kahrs, a.a.O., S. 5.
(6) Eberhard Schuett-Wetschky 2008 Richtlinienkompetenz (hierarchische Führung) oder demokratische politische Führung? Antwort an Everhard Holtmann, in: Everhard Holtmann/ Werner J. Patzelt (Hrsg.), Führen Regierungen tatsächlich? Zur Praxis gouvernementalen Handelns, Wiesbaden, S. 85-97.
(7) Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 9/111, S. 6757A.
(8) Benjamin-Immanuel Hoff / Horst Kahrs 2009a, Die Ergebnisse der Bundestagswahl am 27. September 2009. Wahlbericht und erste Analyse, S. 2.
(9) Hoff/Kahrs 2009a, a.a.O., S. 42f.
(10) Infratest dimap 2009, a.a.O., S. 29f.
(11) Infratest dimap 2009, a.a.O., S. 22 .
(12) Einen neuen Aufbruch in Thüringen gibt es nur mit einer starken SPD, http://www.spdthueringen.de/index.php?nr=6846&menu=1.


Unveränderter Nachdruck [auch im Schattenblick] mit freundlicher Genehmigung des Autors.

* Der Autor ist Staatssekretär für Die Linke in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz. Er war bei den Sondierungsgesprächen der Linken mit SPD und Grünen in Thüringen beratend tätig und Mitglied im Kompetenzteam von Bodo Ramelow (Linke) zur Landtagswahl 2009.

post@benjaminhoff.de
http://www.benjamin-hoff.de

Raute

VORGESTELLT

Die extreme Rechte bei den Landtagswahlen vom 30. August 2009

Dr. Gerd Wiegel, Ref. Rechtsextremismus/Antifaschismus bei der Bundestagsfraktion Die Linke, und Fritz Burschel, Ref. Rechtsextremismus/Antisemitismus bzw. Antifaschismus bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben eine Studie zum Abschneiden der NPD bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und dem Saarland vorgelegt. Wir dokumentieren den Teil zu Sachsen, wo die NPD erneut in den Landtag gewählt wurde. Vollständig ist der Text bei www.rosalux.de abrufbar.

Mit dem Wiedereinzug in den Sächsischen Landtag hat die NPD ihr Minimalziel erreicht, wenngleich das knappe Scheitern in Thüringen und das desaströse Ergebnis im Saarland deutliche Dämpfer für die Ambitionen der Nazis sind. Als "Schritt in die richtige Richtung, dem jetzt weitere folgen müssen", bezeichnet Parteichef Udo Voigt das Ergebnis der Landtagswahlen für die NPD. Aber der gequälte Ton der Stellungnahmen zeigt, dass sich die NPD mehr ausgerechnet hatte für den 30. August. Dabei sind die Zahlen aus antifaschistischer Sicht erschreckend genug: Mit 5,6 Prozent gelang der NPD der Wiedereinzug in Sachsen, mit 4,3 Prozent scheiterte die Partei in Thüringen nur knapp und selbst die enttäuschenden 1,5 Prozent im Saarland reichen immer noch für eine weitere Finanzspritze durch die Wahlkampfkostenerstattung. Dennoch und trotz des historischen Wiedereinzugs in Sachsen (der DVU gelang dies bereits in Brandenburg und Bremerhaven) - die Wahlen vom 30. August waren keine reine Erfolgsgeschichte für die extreme Rechte: Schwere Verluste in Sachsen, schwere Verluste im Saarland und keine signifikante Steigerung des WählerInnenpotenzials in Thüringen, vergleicht man das Ergebnis mit dem Bundestagswahlergebnis 2005 der NPD in Thüringen. Vor dem Hintergrund eines kaum steigerungsfähigen materiellen Einsatzes in Sachsen und Thüringen scheint die NPD ohne thematische Hilfe (Hartz IV vor fünf Jahren) an die augenblickliche Grenze ihres WählerInnenpotenzials gestoßen zu sein.

Sachsen: Bei den Kommunalwahlen im Juni 2009 kam die NPD landesweit auf ein Ergebnis von 2,3 Prozent, war allerdings nicht in allen Wahlkreisen angetreten. Dennoch konnte sie ihre kommunale Basis (2004 = 26 Mandate, 2009 = 73 Mandate) deutlich ausbauen. Von dieser Basis ausgehend setzte die Partei alles daran, den Erfolg von 2004 zu bestätigen und den Wiedereinzug in den Landtag zu schaffen. Mit einer wahren Materialschlacht zeigte die NPD dabei eine Präsenz im Land, die alle anderen Parteien übertraf. Vor diesem Hintergrund ist mit dem Ergebnis von 5,6 Prozent tatsächlich nur das Minimalziel erreicht worden. Das Ergebnis von 2004 mit 9,2 Prozent ist für die NPD in weite Ferne gerückt und ihre Stimmenzahl hat sich von 190 Tsd. auf gut 100 Tsd. fast halbiert. Schwerpunktregionen der NPD sind nach wie vor im ländlichen Bereich auszumachen, so in der Sächsischen Schweiz mit 10,1 Prozent oder dem Wahlkreis Riesa-Großenhain mit 8,8 Prozent. Gerade in diesen Gebieten mussten mit 5 Prozent und mehr aber auch die größten Verluste hingenommen werden.

Gab es zur Landtagswahl 2004 mit der gesellschaftspolitischen Debatte um die Hartz IV-Gesetze ein eindeutiges Mobilisierungsthema für die Nazis, so war das bei dieser Wahl nicht der Fall. Die thematische Ausrichtung der NPD auf die rassistische Lösung der sozialen Frage und den Appell an "Volksgemeinschaft" und Nation ist an ihre Plakatierung ablesbar, die auf Altbewährtes setzte: "Heimreise statt Einreise", "Arbeit für Deutsche", "Kriminelle Ausländer raus", "Lohndrücker stoppen" aber auch "Volksgesundheit statt Ärztemangel", "Kinder, Heimat, Vaterland". Dazu immer wieder "Wehrt euch: NPD". Sieht man sich an, wen die NPD mit diesen Parolen erreicht hat, dann zeigen sich die seit langem bekannten Muster.

Weit überdurchschnittlich wurde die NPD von jungen WählerInnen gewählt: 15 Prozent der 18-24 jährigen machten ihr Kreuz bei den Nazis (bei den ErstwählerInnen kam sie ebenfalls auf 15 Prozent), 9 Prozent der 25-34 jährigen und noch überdurchschnittliche 7 Prozent der 35-44 jährigen. Während die NPD bei Frauen auf einen Anteil von 4 Prozent kommt, sind es bei Männern 8. Aufgeschlüsselt nach sozialen Kriterien erzielte die NPD ihr bestes Ergebnis bei Arbeitslosen mit 13 Prozent (Die Linke liegt hier mit 33 Prozent vor allen anderen), gefolgt von ArbeiterInnen mit 10 Prozent (Linke 18 Prozent und Platz 2; CDU = 40 Prozent). Interessant auch die Wanderungsbewegungen bei der NPD: Während die NPD an SPD und Linke marginal (je 3.000) Stimmen abgab und an die Grünen nichts, gingen 11.000 Wähler zur CDU und 15.000 zur FDP. Den größten Verlust verzeichnete die NPD zu den Nichtwählern (39.000).

Das für NPD-WählerInnen wahlentscheidende Thema "Integrationspolitik" (43 Prozent Nennungen) zeigt, dass der rassistische Ansatz der Partei genau die Bedürfnisse ihrer WählerInnen trifft. Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den 5,6 Prozent hauptsächlich um ideologische Überzeugungswähler handelt, die NPD somit ein Stammwählerpotenzial in Sachsen hat, das ihr das parlamentarische Überleben ermöglicht. Vor dem Hintergrund der sehr jungen Wählerschaft dürfte es sich um ein langfristiges Problem handeln.

Festzuhalten bleibt: Mit einer in allen drei Ländern deutlich rassistischen Wahlkampagne gelingt es der NPD dort, wo sie starke kommunale Strukturen hat bzw. diese entwickelt (Sachsen und Thüringen), in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Auch ohne Mobilisierungsthema und größere mediale Aufmerksamkeit hat sie offensichtlich hier eine junge Stammwählerschaft herausgebildet, die ihr auch zukünftig die Chance auf Parlamentsmandate eröffnet. Folgerung aus allem: der entscheidende Kampf gegen die Nazis findet auf der kommunalen Ebene statt, hier gilt es anzusetzen, antifaschistische Strukturen zu stärken und weiter Aufklärungsarbeit zu leisten. (5.9.2009)

Raute

Vorschau auf Wahlen
Jahr
Monat
Wo?
Was?
Termin
Wahlperiode
2010
Frühj.
NRW
Landtag
9.5.
5 Jahre
2011







Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Herbst
Herbst
Herbst
Baden-Württemb.
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Hessen
Bremen
Niedersachsen
Berlin
Mecklenb.-Vorp.
Landtag
Landtag
Landtag
Kommunal
Landtag/K
Kommunal
Landtag/K
Landtag








5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
2012
Frühj.
Hamburg
Landtag/K

4 Jahre

Quelle: www.wahlrecht.de/termine.htm

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein politische
Bildung, linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph Cornides,
Ulrike Detjen, Emil Hruska, Claus-Udo Monica,
Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsanschriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
Auslandsberichterstattung:
Christiane Schneider, (verantwortlich),
GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg,
Tel. 040/43 18 88 20, Fax: 040/43 18 88 21.
E-mail: gnn-hamburg@freenet.de - Alfred Küstler,
GNN-Verlag, Postfach 60 02 30, 70302 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32.
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Regionales / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,
GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32,
E-mail: pb@gnn-verlage.de

Diskussion / Dokumentation: Rüdiger Lötzer,
Postfach 210 112, 10501 Berlin,
E-mail: gnn-berlin@onlinehome.de

In & bei der Linken: Jörg Detjen,
GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH,
50825 Köln, Venloer Str. 440, Tel. 0221/21 16 58,
Fax: 0221/21 53 73. E-mail: gnn-koeln@netcologne.de

Termine: Alfred Küstler, Anschrift s. Aktuelles.

Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft
der Partei die Linke Konkrete Demokratie - Soziale
Befreiung" werden in den Politischen Berichten
veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische
Berichte mbH, 50825 Köln, Venloer Str. 440
und GNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2,
70327 Stuttgart, Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Bezugsbedingungen: Einzelpreis 4,00 Euro. Ein
Halbjahresabonnement kostet 29,90 Euro (Förderabo
42,90 Euro), ein Jahresabonnement kostet 59,80 Euro
(Förderabo 85,80 Euro). Ein Jahresabo für Bezieher
aus den neuen Bundesländern: 54,60 Euro,
Sozialabo: 46,80 Euro. Ausland: + 6,50 Euro
Porto. Buchläden und andere Weiterverkäufer erhalten
30 % Rabatt.

Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


*


Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 10, 8. Oktober 2009
Herausgegeben vom: Verein politische Bildung, linke Kritik und
Kommunikation
Venloer Str. 440, 50825 Köln
E-Mail: gnn-koeln@netcologne.de
Internet: www.gnn-verlage.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2009