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POLITISCHE BERICHTE/121: Zeitschrift für linke Politik 2/09


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 2 am 12. Februar 2009


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
US-Präsidentschaftswahlen - Teil 3 (Schluss)
"Weitreichende Reform des Einwanderungswesens"?
Entsprechende Weichenstellungen nicht absehbar
"Nur einige schwarze Schafe ... oder ein verabscheuungswürdiges System?"
Wirtschaftskrise in Russland: Drei Jahre Stagnation?
Nach dem Suizid zweier Gefangener
Untersuchungshaft in der Kritik
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Am 7. Juni: Kommunalwahlen in Baden-Württemberg
Kommunale Politik
Gewerkschaftsfeindlichkeit forderte 91 Menschenleben
Mit einem Projekt hat Verdi geholfen, rumänische Gewerkschaften aufzubauen
Wirtschaftspresse
"Das skandinavische Wohlfahrtsmodell" - Geschichte, Analysen und Vergleiche

Diskussion und Dokumentation
Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Karlsruhe
"Wohnungslose im Nationalsozialismus"
Der Papst und die Piusbrüder: Alles kein Zufall
Von Anbeginn gehört der Anti-Judaismus zur christlichen Tradition
In & bei der Linken
Europadebatte kommt in Bewegung

Termine

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet


Einstieg in die Internetzensur

www.golem.de, alk. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) will die sieben größten Internetanbieter des Landes bis Ende Februar 2009 vertraglich verpflichten, den Zugang zu ausländischen Kinderpornografie-Seiten zu blockieren. Das berichtete der "Kölner Stadt-Anzeiger". In den folgenden Monaten werde dann wie angekündigt das Telemediengesetz angepasst, um alle anderen Provider zur Blockade von kinderpornografischen Angeboten zu zwingen. Eine entsprechende Sperrliste wird vom Bundeskriminalamt geführt und ständig aktualisiert.

Eine gute Idee der Ministerin gegen schändliche Taten? Die Fachleute sehen das anders: Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags kommt zu dem Ergebnis, dass Internetsperren gegen Kinderpornografie nur mit Zensurvorrichtungen wie in China möglich wären. Der Grundgedanke der dezentralen Vernetzung von Computern müsste dafür aufgegeben werden. Die geplanten zentralen technischen Filtersysteme bedeuteten ein großes Missbrauchspotential, heißt es in dem Gutachten. Aus Angst vor Geldstrafen könnten Provider auch Inhalte sperren, "die an sich unbedenklich sind". Die damit verbundene Gefahr des weiteren Abbaus demokratischer Rechte müsse "als besonders schwerwiegend angesehen werden". Auch der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) hat sich gegen Internetsperren im Kampf gegen Kinderpornografie ausgesprochen.

Die öffentliche Expertenbefragung des Unterausschusses Neue Medien des Bundestags findet am 12. Februar 2009 statt.


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Hypo Real Estate: Streit um Staatseinstieg

Focus, 6.2., Spiegel, 7.2., SZ, 4.2. rül. In der Bundesregierung gibt es weiter Streit um den staatlichen Einstieg bei der schwer angeschlagenen Immobilienbank Hypo Real Estate. Die Bank hat bisher bereits staatliche Hilfen (Bürgschaften und Eigenkapital-Zuschüsse) von zusammen 92 Milliarden Euro erhalten. Sie braucht offensichtlich weiteres Geld, da ihr keine Bank mehr Kredit gibt. Noch Ende Januar hatte es so ausgesehen, als wenn eine Gesetzesvorlage aus dem Finanzministerium kurz vor der Verabschiedung im Kabinett stünde, die eine Verstaatlichung der HRE vorsieht. Das Grundgesetz sieht vor, dass eine Enteignung nur zum Wohl der Allgemeinheit und nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen kann. Jetzt ist die Regierung unsicher, wie der US-Finanzinvestor Flowers, der bei der HRE einen Anteil von 25 Prozent hält, auf eine solche Maßnahme reagieren wird. Flowers hat bisher bereits mehr als 1 Milliarde Euro verloren, weil die Kurse der HRE binnen eines Jahres auf weniger als ein Zehntel des Preises gefallen sind, den Flowers bei seinem Einkauf in die HRE zahlte. Sollte die Bundesregierung ihm nun seinen Anteil durch Enteignung abnehmen, kann es zu einem langen Streit um die Höhe der Entschädigung kommen - womöglich vor internationalen Gerichten. Das macht die Regierung nervös. Der Gesetzentwurf aus dem Finanzministerium liegt deshalb erst mal auf Eis. Jetzt prüfen die Juristen, ob es andere Wege gibt. Viel Zeit haben sie nicht. Bis 31. März muss die HRE ihre Bilanz vorlegen, und wenn bis dahin keine Lösung gefunden ist, müsste die Bank vermutlich Insolvenz anmelden.


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Gerechte Bankensanierung durch "eingeschränkte Insolvenz"

FAZ, 7.2., gst. Das Misstrauen der Banken gegenüber dem vermuteten Giftmüll ("toxische Papiere") im Keller der jeweiligen Partnerbank ist immer noch ungebrochen. Ohne Interbankenhandel kommt die Finanzierung der "Realwirtschaft" national oder international nicht wieder in Schwung. Die staatliche Garantieerklärung für die Einlagen kann daran nichts ändern, die Diskussion bewegt sich inzwischen über "Bad Banks" für Risikopapiere hin zur Verstaatlichung großer Teile des Bankensektors zwecks Sanierung; eine Insolvenz wird aber nach den Erfahrungen der Lehman-Insolvenz ausgeschlossen. Aktuell geht es um die Enteignung der Aktionäre der Hypo Real Estate (siehe vorige Meldung). Diese ist nach Art. 14 Grundgesetz nur gegen Entschädigung möglich, was eine Besserstellung für Aktionäre eigentlich insolventer Banken sowohl gegenüber Aktionären "gesunder" Banken als auch anderer insolventer Unternehmen darstellt. Hier meldet sich nun die Konkurrenz zur Wort: Die Enteignung von Aktionären darf nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank nur "ultima ratio" sein. Auf der Bilanzpressekonferenz der Deutschen Bank forderte Ackermann ein "flexibleres Insolvenzrecht".

Tags darauf kommt aus dem Bundeswirtschaftsministerium prompt der Vorschlag einer "eingeschränkten Insolvenz". Diese könne dann festgestellt werden, wenn eine sicher eintretende Insolvenz nur dadurch verhindert werde, dass die Finanzmarktstabilisierungsanstalt (FMSA) Hilfen zusage. Durch gesetzliche Definition könne vorgesehen werden, dass die bisherigen Aktionäre so behandelt würden, als wäre das Unternehmen insolvent. Da diese "kein werthaltiges Eigentum" mehr hätten, ermöglicht die eingeschränkte Insolvenz de facto ihre entschädigungslose Enteignung. Auswirkungen auf Gläubiger etc. blieben ausgeschlossen. Da nunmehr der Staat als Eigentümer für die Veranstaltung haftet, kann das Vertrauen der Geschäftspartner wieder aufleben. Anschließend werde die Bank durch den von der FMSA eingesetzten Insolvenzverwalter saniert oder abgewickelt. Falls dieser Notvorstand Erfolg habe, könnten später zur Privatisierung neue Anteile verkauft und damit die Sanierungskosten des Staates gedeckt werden. Die FAZ resümiert, dass die dann neu geschaffenen Werte nicht den bisherigen Eigentümern zugute kämen, was "für eine Gerechtigkeitsdebatte von einiger Bedeutung" sei. Nicht in der FAZ steht, dass mit der entschädigungslosen Enteignung der Aktionäre auch der Schutz vor Massenentlassungen im Bankgewerbe beendet sein dürfte.


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Schelsky und AUB sollen zahlen

Spiegel-Online, 7.2. rül. Der Siemens-Konzern will Schadenersatz vom Ex-Chef der jahrelang vom Konzern mitfinanzierten gelben "Betriebsrätegruppe" AUB. Wilhelm Schelsky soll 3,4 Millionen Euro an den Münchener Technikkonzern zurück zahlen. Der Siemens-Konzern wollte zu dem Bericht keine Stellung nehmen. Hintergrund der jetzt bekannt gewordenen Forderungen des Konzerns sind die Urteile gegen das frühere Siemens-Vorstandsmitglied Feldmayer und den AUB-Chef Schelsky. Feldmayer war im November 2008 vom Landgericht Nürnberg-Fürth zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und 228.800 Euro Geldbuße verurteilt worden, weil er mit verdeckten Millionenzahlungen an die AUB Firmengelder "veruntreut" und gesetzeswidrig die Betriebsratswahlen beeinflusst habe. Die Beeinflussung von Betriebsratswahlen durch Vorstandsmitglieder eines Unternehmens ist illegal und kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden. Der ebenfalls vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth angeklagte AUB-Chef Schelsky erhielt wegen Beihilfe zur Untreue, Betrug und Steuerdelikten eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren. Die Verteidiger von Feldmayer und Schelsky wollen gegen die Urteile Revision beim Bundesgerichtshof einlegen, das Urteil ist damit also noch nicht rechtskräftig. Der Vorsitzende Richter beim Landgericht Nürnberg-Fürth hatte in dem Verfahren erklärt, die AUB sei praktisch eine Marionettenorganisation der Konzernspitze gewesen.


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EU-Parlament beklagt katastrophale Zustände in Flüchtlingslagern

ap, 5.2., hav. Das EU-Parlament hat die Zustände in mehreren Aufnahmelagern für Flüchtlinge als katastrophal gegeißelt. Einige Einrichtung seien unhygienisch und müssten geschlossen werden, erklärte das Parlament in einem am 5.2. in Straßburg verabschiedeten Bericht. Die Abgeordneten forderten ein ständiges Besuchs- und Inspektionssystem, um die Einhaltung grundlegender Standards sicherzustellen. Der Bericht beruht auf den Eindrücken einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten, die zwischen 2006 und 2008 unter anderem Flüchtlingslager auf der italienischen Insel Lampedusa, in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, auf den Kanarischen Inseln sowie in Malta und Zypern besichtigten. Auch Einrichtungen in Griechenland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Polen, Großbritannien und Dänemark wurden in Augenschein genommen. In der Mehrzahl der besuchten Einrichtungen hätten die Flüchtlinge über eine unzureichende medizinische Versorgung geklagt, heißt es in dem Parlamentsbericht. Oft fehlten Behandlungsmöglichkeiten für besonders gefährdete Flüchtlinge wie Schwangere oder Folteropfer.


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EU-Parlament: Strafen für illegale Beschäftigung

apa, 4.2., hav. Das Europäische Parlament stimmte für Sanktionen gegen Firmen, die auf illegale Weise Arbeitskräfte anheuern. Sie können bis zur Firmenschließung führen. Nach Schätzungen des Europaparlaments sind zwischen 5 und 8 Millionen in der EU illegal beschäftigt. Nach den von 21 EU-Staaten zur Verfügung gestellten Statistiken kommen jedes Jahr geschätzte 900 000 Einwanderer in die Union, die von den Unternehmen ohne gesetzlichen Schutz und gegen die geltenden Tarifbedingungen ausgebeutet werden. Die Mehrheit der Abgeordneten in Straßburg votierten für die EU-weiten Strafen, die per Richtlinie erlassen werden. Ein endgültiger Gesetzesbeschluss steht aber noch aus, er soll im März kommen. Nach der geplanten EU-Richtlinie sollen Arbeitgeber, die Personen illegal beschäftigen, zu Strafzahlungen gezwungen werden. Auch ausstehende Steuern und Sozialversicherungsabgaben können nachträglich eingetrieben werden, den Firmen droht außerdem ein fünfjähriger Stopp von staatlichen Beihilfen und EU-Subventionen. Bei Verstößen können die Firmen auch zur Zahlung der Kosten für Abschiebungen gezwungen werden. Auf Druck des Europaparlaments werden außerdem die Namen von Unternehmen veröffentlicht, die gegen die Richtlinie verstoßen. Auch strafrechtliche Verfolgung möglich. Die Strafe, die Abschiebung zu finanzieren, ist natürlich daneben. Besser wäre es die Einwanderer unter allen geltenden tariflichen und gesetzlichen Bedingungen weiter zu beschäftigen.


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Nach Pressemeldungen von Ende Januar wird Russland auf eine Stationierung der Iskander-Raketen in der Exklave Kaliningrad verzichten, die als Antwort auf die Raktenstationierung der USA in Polen bzw. Tschechien gedacht war. Wie es heißt, funktioniert die lenkbare Flügel-Version der Iskander-Raketen bisher nicht. Genau die wäre aber erforderlich, um die Abwehr der US-Raketenstellungen zu durchdringen. Zu hoffen bleibt, dass die USA die Iskander-Nicht-Stationierung dennoch als Angebot zur Abrüstung auffassen und dass sich ein Weg findet, die weit gediehenen Vereinbarungen mit Polen bzw. Tschechien noch einmal rückgängig zu machen. Kommt es dazu nicht, wird Russland versuchen, ein wirksames Potential gegen die US-Stellungen aufzubauen (und es werden sich schon Mittel finden, Jagdbomber, luftbewegliche Truppen, Panzerangriffe, letztlich ist es vom russischen Stadtgebiet bis zu den Stellungen nicht weit). Die USA werden dann eine dementsprechende Abschirmung einrichten. - Es würde sich an diesem Fall einmal mehr studieren lassen, was eine "Rüstungsspirale" ist und wie die Logik solcher zunächst rein militärtechnischer Arrangements auf die zivilen Beziehungen übergreift. Sollte die neue US-Regierung einen Ausweg finden, so wäre das etwas wirklich neues.


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Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 12. März 2009. Redaktionsschluss: Freitag, 6. März. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die übrigen Erscheinungstermine für 2009, jeweils donnerstags: 9. April, 7. Mai, 4. Juni, 2. Juli, 30. Juli, 10. September, 8. Oktober, 5. November und 3. Dezember.

Raute

US-Präsidentschaftswahlen - Teil 3 (Schluss)*

"Weitreichende Reform des Einwanderungswesens"?
Entsprechende Weichenstellungen nicht absehbar

Als Ergebnis einer ersten Zwischenbilanz lässt sich hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang die verschiedenen Unterstützerkräfte sich haben einbringen können in die Politik der neuen US-Regierung, vorläufig folgendes feststellen - wobei hier auch entsprechende Weichenstellungen zu berücksichtigen sind:


Lebensbedingungen vor Ort, Öffentliche Dienstleistungen

Das Finanzpaket ("Stimulus Package") zur Wiederbelebung der Wirtschaft und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist, nach Zustimmung einer Mehrheit der Demokratischen Partei im Kongress, nunmehr vonseiten einer Zwei-Parteien-Mehrheit (mit gewissen Kürzungen) auch im Senat gebilligt worden. Die bestimmenden bzw. übergreifenden Themen jener Interessenkoalition (Gesundheitsfürsorge, Wohnen, Arbeitsplatz, Transport), die dem neugewählten Präsidenten ins Amt verhalf, finden sich - wenn man hier abgleicht mit den anderen Positionen des Finanzpakets(1) - in nicht unbeträchtlichen Finanzvolumina bedient. Für die Beantwortung der Fragen: Wo in den USA und in welchem Umfang gelangen diese Mittel jeweils in Ansatz? - muss die nächste Zeit abgewartet werden. Von besonderem Interesse ist dabei folgendes: Den Ausgangspunkt für die Formulierung der betreffenden Gesetzesvorlage lieferte nicht die (Übergangs-)Administration des neugewählten Präsidenten selbst - sondern die jeweils zuständigen Kongress-Ausschüsse. Und in deren Bedarfsanmeldungen flossen (mehr oder minder) die - auf den eigenen Wahlkreis zurückgehenden - Vorschläge der einzelnen Kongress-Abgeordneten ein. Sowohl das basisdemokratische Netzwerk "Cities for Progress"(2) wie auch die von ihr mitunterstützte "National Jobs for All Coalition" wirken hier bereits seit Dezember 2008 auf entsprechende Einmischung der betroffenen Bürger vor Ort hin. Man muss abwarten, inwieweit sich daraus entsprechende Volksabstimmungs-Initiativen ergeben.


Arbeitsbedingungen in den Betrieben, gesetzliche Ausgestaltung dazu

Hierzu fand die betreffende Gesetzvorlage bereits im Februar 2007, d.h. zu Zeiten der vormaligen Bush-Administration, eine mehrheitliche Zustimmung im Kongress. Der damalige Entwurf des "Employee Free Choice Act" (EFCA) erhielt zwar anschließend im Senat die Zustimmung von fast allen Senatoren der Demokratischen Partei - er scheiterte aber schließlich an der Sperr-Minorität aller republikanischen Senatoren (bis auf eine Ausnahme). Diese Erstfassung des EFCA, die mittlerweile - aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnisse in beiden Abgeordnetenhäusern - bei erneuter Vorlage keine Sperrminorität mehr fürchten muss, enthält drei Zwecksetzungen: - "Erstens die Garantie der freien Wahl einer gewerkschaftlich organisierten Vertretungskörperschaft im Betrieb. Falls eine Mehrheit der Beschäftigten dies wünscht, soll sie das Recht dazu wahrnehmen können - und zwar mittels Kennzeichnung von Karten, die die Vertreter der betreffenden Gewerkschaft zu dieser Organisierung ermächtigen.

- Zweitens die Bereitstellung von Schlichtungsstellen und Schiedsgerichtsbarkeiten für die ersten Vertragsverhandlungen.

- Drittens die Einführung wirksamerer Bestrafungen im Falle der Verletzung jener Rechte der Beschäftigten a) auf Bildung gewerkschaftlich organisierter Vertretungen und b) während der ersten Vertragsverhandlungen."(3)

Wie sowohl aus der damaligen (2007) wie auch aus der aktuellen Kampagne der Arbeitgeberseite gegen den EFCA ersichtlich wird, will sie in dieser Sache weiterhin vor allem die seit langem bestehende uneingeschränkte Hoheit über die betreffende Willensbildung aufseiten der Beschäftigten sichergestellt wissen. Wie lange diese Hoheit bereits währt, wird z.B. aus dem aktuellen Gutachten der Organisation 'Human Rights Watch' zum EFCA deutlich. Hier wird u.a. darauf hingewiesen, dass solche Regelungen, wie diese Vorlage sie jetzt vorsieht, in früheren Zeiten schon einmal Bestand hatten: "Für gut zehn Jahre, ungefähr von Mitte der 30er bis Mitte der 40er Jahre, waren die Arbeitgeber von Gesetzes wegen dazu aufgefordert, eine gewerkschaftliche Vertretung, die ihre Unterstützung durch die Beschäftigtenmehrheit anhand der gekennzeichneten Karten nachweisen konnte, anzuerkennen."(4) Es gibt aktuelle Stellungnahmen aus der neuen US-Administration, die deutlich werden lassen, dass der EFCA noch im ersten Halbjahr 2009 Gesetzeskraft erlangen soll.


"Weitreichende Reform des Einwanderungswesens"?

In einem Artikel vom 11.9.2008 auf der Webseite des AFL-CIO wird über den Vortrag von David Bacon zu diesem Thema, den er auf Einladung des Dachverbands der US-Gewerkschaften am Vortag in der Washingtoner Zentrale hielt, berichtet:

"Bacon sagt, dass der sogenannte Freihandel bei unseren Handelspartnern Armut und Ungleichheit verschlimmert und dadurch Migrationsbewegungen in Gang setzt. Ein Beispiel, das er nennt, ist die Art und Weise wie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen den mexikanischen Maismarkt für billig produzierten US-Mais öffnete - und es dadurch für die mexikanischen Bauern unmöglich machte, 'denjenigen Preis für ihren Mais zu erhalten, der ihren Anbaukosten Rechnung getragen hätte'. Dann müssen die Leute - so Bacon - das tun, was notwendig ist, um zu überleben. Und das bedeutet, dass viele von ihnen in die Vereinigten Staaten kommen. Wenn sie hier sind, werden sie in eine Lage gebracht, in der dieselbe Unternehmensstruktur, die die Migration verursacht hat, ihre Arbeit zu einem billigen Preis benutzen will. Die ... Arbeitgeber ... sind dadurch, dass sie unsere Einwanderungsgesetze nutzen können für den Zweck der Einschüchterung durch Deportations-Androhung, imstande niedrige Löhne an die immigrierten Arbeiter zu zahlen. Eines der Zwecke unserer Einwanderungspolitik - so Bacon - ... ist die Bereitstellung von Arbeit für die Unternehmen zu einem Preis, den diese bezahlen wollen'..."(5) Gegenüber dieser Dauerbedrohung der mühsam errungenen Regelungen des "Employee Free Choice Act" zeichnen sich innerhalb des AFL-CIO sowie in seinem Umkreis folgende Argumente einer Selbstverständigung über eine tatsächlich "weitreichende Reform des Einwanderungswesens" ab:

In den USA leben derzeit rund 12 Mio. "illegale Immigranten", wovon viele einerseits zu diesen Bedingungen arbeiten müssen und andererseits - wenn sie von den Spezialkräften des Department of Homeland Security [Heimatschutz-Behörde / Verf.] gefasst werden - zu faktisch unentgeltlicher Gefangenenarbeit auf Basis vielfältiger Zulieferverträge gezwungen werden. Allein der größte private Betreiber von Immigranten-Gefängnissen, die "Corrections Corporation of America" (CCA), weist derzeit bereits eine Gesamtzahl "von ungefähr 80.000 Straftätern in mehr als 60 Einrichtungen, 43 davon im firmeneigenen Besitz",(6) aus - d.h. von 80.000 für jene Gefangenenarbeit verwendbare Insassen. Um etwa den o. a. Regelungen des EFCA im gesamten Arbeitsleben der USA wirkliche Geltung zu verschaffen, müssten nicht nur diese beiden Verwendungsbereiche von Arbeitskraft durch eine entsprechende Reform der bestehenden Einwanderungsgesetze aufgehoben werden. Sondern es müsste - das belegen bereits früher gesammelte Erfahrungen mit einer allgemeinen Amnestie für alle 'Illegalen' - zugleich auch die gesamte bisherige, Armut und Ungleichheit erzeugende, Außenwirtschaftspolitik (nicht nur gegenüber den unmittelbaren Nachbarstaaten) einer Überprüfung und Korrektur unterzogen werden. Ohne Sicherstellung von entsprechenden Lebensbedingungen in den Heimatländern der Immigranten, wird der Zwang für sie, diese zu verlassen, fortbestehen.

Soweit diese Argumente. Derzeit kann folgendes festgestellt werden: Die neue US-Administration hat hinsichtlich der Reform des Einwanderungswesens große Erwartungen geweckt. Obwohl sie damit einen schwindenden Zuspruch ihrer diesbezüglichen Wählerschaft riskiert, sind jedoch bislang keine ausreichenden Weichenstellungen in diese Richtung erkennbar.

Hunno Hochberger


* Teil 1 war in den der Ausgabe Nr. 12/2008 veröffentlicht worden und umfasste die folgenden Teile: "Bekräftigung sowohl der Vielfalt wie auch des noch nie dagewesenen Ausmaßes der Bürgerbeteiligung" • Wahlanalyse von Lara Carlsen - The Huffington Post, 11. November 2008, Obama und die Minderheiten-Mehrheit • Stellungnahme in 'Columbia's free weekly', 11.11.2008, Städte: Bürgermeister Bob Coble, Hoffnung für die Wirtschaft • 7. November 2008, Stellungnahme zur Wahl Barack Obamas Netzwerk "Vereinigt für Frieden und Gerechtigkeit" • Dachverband der US-Gewerkschaften AFL-CIO, Präsident John J. Sweeney, "Bleibt jetzt nicht stehen"

Teil 2 wurde in PB-1/2009 veröffentlicht. Er befasste sich mit den Verhältnissen, die eine mehrheitliche Interesseneinheit ermöglicht haben - bei gleichzeitiger wechselseitiger Akzeptanz sonstiger Unterschiede bzw. minoritärer Interessen. Was an der geographischen Verteilung des Ergebnisses dieser US-Präsidentschaftswahl sofort ins Auge sticht, ist die weitgehende Übereinstimmung der bundesstaatlichen Erfolge der Demokratischen Partei inerseits mit dem gebietlichen Gesamtumfang der sogenannten "US-Megaregionen" innerhalb dieser kontinentalen Union andererseits. Hier haben sich offenkundig weitgehend einheitliche Lebensumstände herausgebildet, die eine ebenso einheitliche Interessenwahrnehmung erlauben bzw. erzwingen.

Quellen:
(1) siehe sehr detaillierte Graphik in: Washington Post / Taking apart the $819 billion Stimulus package; 1.2.2009
(2) Cities for progress, 1.12.2008: Organize a town hall meeting or local teach-in about the
    economic crisis; 5.12.2008: Pass local resolution in support of a Main Street Stimulus package
(3) AFL-CIO, website: Employee Free Choice Act - Key Facts,. 5. (eigene Übers.)
(4) Human Rights Watch - The Employee Free Choice Act. A Human Rights Imperative, January 2009 (eigene Übers.)
(5) AFL-CIO, website - Blog News: James Parks/Immigration Laws, U.S. Trade Policy Hurt All Workers;
    11.09.2008 (eigene Übers.)
(6) www.correctionscorp.com; u.a.: about us

Raute

Laura Carlsen in einem Beitrag in der Monatszeitschrift "Foreign Policy in Focus" - 12/2008

"Nur einige schwarze Schafe ... oder ein verabscheuungswürdiges System?"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Wirtschaftskrise in Russland

Drei Jahre Stagnation?

Während hierzulande noch alle auf eine kurze wirtschaftliche Krise und eine baldige Rückkehr zu wirtschaftlichem Wachstum hoffen, verbreitet die russische Regierung andere Szenarien. Die globale Wirtschaftskrise könne drei Jahre dauern, erklärte der russische Vize-Premier Schuwalow Ende Januar in der Staatsduma. Das gelte auch für Russland, pflichtete ihm eine Woche später der frühere Wirtschaftsminister und jetzige Chef der größten russischen Staatsbank "Sberbank", German Gref, bei. "In den Jahren 2010 und 2011 wird es kein Wachstum, sondern eine Stagnation geben. Man muss auf eine dreijährige Krise gefasst sein", erklärte er auf einem Investitionsforum in Moskau.

Tatsächlich ist die russische Wirtschaft nach jahrelangem hohen Wachstum von der Weltwirtschaftskrise gleich doppelt getroffen: einmal durch den weltweiten Rückgang der Konjunktur, zweitens durch den enormen Fall der Rohstoffpreise und damit der Grundrente.


Ende einer Wachstumsstory?

Nach den schweren wirtschaftlichen Einbrüchen der Jelzin-Ära war Russland unter Putin jahrelang eine "Wachstumsstory", einer der großen Aufsteiger unter den "Schwellenstaaten" der "BRIC-Gruppe" (BRIC = Brasilien, Russland, Indien, China). Sechs Jahre lang, von 2001 bis 2007, stieg das Bruttoinlandprodukt in Russland jedes Jahr um durchschnittlich 7%, d.h. drei Mal so schnell wie die deutsche Wirtschaft, verzeichnete der russische Staatshaushalt ständig wachsende Überschüsse, tilgte die russische Regierung alle Auslandsschulden, beschloss sie enorme Investitionsprogramme, vor allem zur Modernisierung der Verkehrsnetze und der Energieversorgung, und legte große "Reservefonds" für Notzeiten an.

Während deutsche Maschinen- und Anlagenbauer sich über ständig steigende Aufträge aus Russland freuten, weil russische Firmen ihre Produktionsanlagen modernisierten, verkündeten VW und andere den Bau neuer Autowerke in Russland, um den Bedarf einer rasch wachsenden zahlungskräftigen russischen Mittelklasse zu befriedigen. In Petersburg verkündete ein sichtlich stolzer Regierungschef Putin, die russische Software- und IT-Branche werde in Kürze zur Weltspitze vorstoßen, Petersburg werde Bangalore in den Schatten stellen, und auch die russische Luft- und Raumfahrtindustrie werde bald wieder global auftrumpfen.

Inzwischen herrscht Katerstimmung. Im vierten Quartal 2008 stagnierte die russische Wirtschaft, das Jahreswachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) fiel deshalb mit 5,6% deutlich niedriger aus als in den Vorjahren. Für 2009 erwartet die Regierung einen Rückgang des BIP um 0,2%. Die offizielle Arbeitslosenzahl, derzeit bei 1,6 Millionen (hinzu kommen nach Medienberichten ca. 650.000 nicht erfasste Arbeitslose), könnte 2009 um eine Million ansteigen, d.h. um 60%. Zum erstem Mal seit zehn Jahren wird für 2009 wieder ein Defizit im staatlichen Haushalt erwartet, bis zu 6,1% des BIP, heißt es in der Presse.


Besonders getroffen: Rohstoffe

Besonders hart ist der Rohstoffsektor getroffen. Fast die Hälfte der russischen Exporte besteht aus Öl und Ölprodukten, ein Sechstel aus Erdgas und ein weiteres Sechstel aus Metall und Metallprodukten. Fast die Hälfte der russischen Ölförderung wird exportiert, bei Erdgas beträgt der Exportanteil an der Förderung knapp ein Drittel.

Der Ölpreis ist gegenüber Sommer 2008 auf ein Viertel gefallen, wegen der Wirtschaftskrise sinkt zudem die Nachfrage. Entsprechend sank im Januar 2009 die russische Ölförderung um ein Prozent, der russische Ölexport ging, in Tonnen gemessen, um 2,3 Prozent zurück. Gazprom, größter Gaskonzern und damit auch größter Gasexporteur, hat jetzt angekündigt, den durchschnittlichen Gaspreis für europäische Energieversorger in 2009 von 409 Dollar pro 1000 Kubikmeter auf 280 Dollar zu senken. Außerdem werde der Konzern wegen sinkender Nachfrage seine Gasexporte um 5 Prozent verringern. Die russische Kohlegewinnung, 2008 noch um 3% auf 326 Millionen Tonnen gestiegen, sank im Januar 2009 um 14%. Der russische Metallkonzern UC Rusal kündigte Anfang Februar an, die Tonerdeproduktion 2009 um 30% zu kürzen und die Produktion von Aluminium um 11 Prozent. Außerdem sollen die Verwaltungskosten um 60% verringert werden. Der Aluminiumpreis auf dem Weltmarkt ist gegenüber den Spitzenwerten von 2007/2008 um 60 Prozent gefallen, westliche Konzerne wie Alcoa melden deshalb derzeit Rekordverluste. Auch für die russischen Oligarchen scheint die Ära der Super-Renditen im Rohstoffgeschäft zu Ende zu gehen.


Rubelkurs fällt ebenfalls

Zusätzlich zu den Rückschlägen in der Realwirtschaft sank seit Herbst 2008 der Kurs des russischen Rubel gegenüber dem Dollar um etwa 20%. Die russische Zentralbank stemmt sich gegen diese Entwicklung und versucht, den Kurs des Rubels gegenüber Dollar und Euro konstant zu halten - bisher vergeblich. Ein sinkender Rubelkurs bedeutet steigende Preise für Importgüter und sinkende Preise (in Rubel) im Export. Die steigenden Preise für Importgüter könnten der russischen Industrie ins Konzept passen, aber die ohnehin durch Preis- und Nachfragerückgänge gebeutelte Rohstoffbranche wird durch den fallenden Rubelkurs zusätzlich um dringend benötigte Exporterlöse gebracht. Hinzu kommt: Viele russische Unternehmen, sowohl in der Industrie wie im Rohstoffsektor, haben in den letzten Jahren erhebliche Kredite auch im Ausland aufgenommen, um ihre Wachstums- und Modernisierungsprogramme zu finanzieren. Allein Gazprom, ein finanziell gut ausgestatteter Konzern, hat Auslandsschulden von 55 Milliarden Dollar. Ein fallender Kurs des Rubels ist für diese Unternehmen gleichbedeutend mit Zinsanhebung: 20% niedrigerer Rubelkurs heißt 20% höhere Zinskosten auf Auslandskredite.

Kein Wunder, dass nicht nur in russischen Medien das Gerücht umgeht, hinter dem fallenden Rubelkurs stünden britische und US-amerikanische Banken und Hedge-Fonds, die von der britischen Regierung und der US-Regierung unter Bush gestützt würden, um Russland als globale Macht und insbesondere die russischen Öl- und Gaskonzerne als Konkurrenten der britischen und US-Ölwirtschaft zu schwächen.

Wie auch immer: Seit Herbst 2008 hat die russische Zentralbank fast 200 Milliarden Dollar, ein Drittel ihrer Devisenreserven, für Devisenmarktaktionen verwendet, um dem Kurs des Rubels zu stabilisieren. Eine durchschlagende Wirkung konnte sie damit bisher nicht erzielen.


Konjunkturprogramme

Bereits 2008 hatte die russische Regierung begonnen, der Krise gegenzusteuern - zunächst vor allem mit Hilfen für russische Banken, damit diese ihre Auslandsschulden abbauen. Fast 200 Milliarden US-Dollar hat die Regierung bereits zusätzlich ausgegeben. Anfang Februar verkündete sie ein neues Bankenhilfsprogramm. Die Wachstumsrate der Bankkredite an die Realwirtschaft sei mit 1 Prozent zu niedrig, hieß es zur Begründung. Die Mittel zur sozialen Absicherung für Arbeitslose wurden ebenfalls erhöht. Weitere Programme für die Realwirtschaft sollen folgen. Wie sie sich reell auswirken, bleibt abzuwarten. Finanzielle Mittel für solche Konjunkturprogramme sind noch genügend vorhanden. Noch immer hat die russische Zentralbank mit etwa 400 Milliarden Dollar die drittgrößten Devisenreserven der Welt nach China und Japan. Auch die Reservefonds der Regierung, die sie in den Wachstumsjahren der Putin-Zeit angelegt hatte, sind noch gut gefüllt.

rül

Quellen: FAZ, Handelsblatt, Süddeutsche Zeitung, Novosti (russische Nachrichtenagentur), "Russland aktuell" und "Russland.RU" (russische Internet-Zeitungen), div. Ausgaben

Raute

Nach dem Suizid zweier Gefangener

Untersuchungshaft in der Kritik

Innerhalb von acht Tagen wurden zwei Untersuchungsgefangene frühmorgens erhängt in ihrer Zelle in der UHA Hamburg-Holstenglacis aufgefunden. Die erst 24 Jahre alte Natascha W. starb in der Nacht zum 24. Januar, der 41-jährige Oliver B. in der Nacht zum 1. Februar. Beide erhängten sich in den ersten 24 Stunden nach ihrer Inhaftierung. Von Natascha W. ist inzwischen bekannt, dass sie zuletzt zum Zeitpunkt 41-jährige Oliver B. in der Nacht zum 1. Februar. Beide erhängten sich in den ersten 24 Stunden nach ihrer Inhaftierung. Von Natascha W. ist inzwischen bekannt, dass sie zuletzt zum Zeitpunkt ihres Einschlusses gegen 18 Uhr lebend gesehen wurde. Zwölf Stunden hat offensichtlich niemand nach ihr gesehen. Auch hatte die junge Frau kein Gespräch, keinen Kontakt mit dem psychologischen Dienst oder anderen entsprechend ausgebildeten Personen, sondern lediglich mit dem Stationspersonal bzw. einer "erfahrenen Bediensteten". Am Wochenende befinden sich weder Angehörige des psychologischen Dienstes noch Seelsorger in der UHA. So hatte auch Oliver B. niemanden, an den er sich, wenn er es gewollt hätte, hätte wenden können.

Dass Gefangene in Untersuchungshaft Suizid begehen, kommt erschreckend häufig vor. In Hamburg kamen von 1999 bis heute 29 Gefangene durch Suizid ums Leben - 17 von ihnen, also knapp 60%, befanden sich in Untersuchungshaft, obwohl der Anteil der Untersuchungs- an allen Gefangenen nur bei einem Viertel liegt. Die bundesweiten Zahlen bestätigen das. Die Studie "Suizide in Justizvollzugsanstalten der Bundesrepublik Deutschland 200 bis 2004" des Kriminologischen Dienstes im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzugs weist aus, dass 57,8% aller Suizide von Gefangenen in U-Haft geschehen, sehr viele, nämlich 6% aller Suizide, in den ersten 24 Stunden, rund 18% in den ersten sieben Tagen. Unter den Gefangenen, die auf diese Weise sterben, sind überdurchschnittlich viele junge Menschen. Neun der 17 Untersuchungsgefangenen, die sich seit 1999 in Hamburg töteten, waren jünger als 33 Jahre.

Die bedrückende Realität hat verschiedene Gründe. Die U-Haft wird von vielen Inhaftierten als noch belastender empfunden als die Strafhaft. Nicht wenige Gefangene werden durch die Inhaftierung traumatisiert. Sie finden sich plötzlich aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen, von allen Kontakten abgeschnitten, ihre Zukunft ist ungewiss.

Hinzu kommt, dass die UHA Holstenglacis als eines der am meisten berüchtigten Gefängnisse gilt, das von Gefangenen als "Ort des Bösen" gefürchtet wird. 2006 hatte das Anti-Folter-Komitee des Europarats die Haftbedingungen der Abschiebegefangenen im UHA hart kritisiert. Der Bau ist rund 130 Jahre alt, viele Zellen liegen im Keller. Zumindest bis 2007 war ein Großteil der Zellen ohne Stromanschluss, so dass die Gefangenen nicht einmal Kaffee oder Tee kochen können. Die Zellen sind heruntergekommen und verdreckt. Im letzten Jahr verfügte der damalige CDU-Justizsenator eine weitere Abschottung von der Außenwelt: "Soweit die Fenster im oberen Drittel zu Lüftungszwecken zu öffnen sind, werden sie von außen mit einem Lochblech gesichert." (PE Senat, 11.1.08) Aktive Freizeitgestaltung? Fehlanzeige. Die Organisation gilt als absolut chaotisch, so dass die Gefangenen oft ewig auf Sachen, die sie benötigen, oder auch Fernseher, die ihnen zustehen, warten müssen.

Doch ganz allgemein sind die Beschränkungen in der U-Haft noch restriktiver, die Haftbedingungen teilweise noch rigider als in der Strafhaft. Und das, obwohl für die Gefangenen die Unschuldsvermutung gilt.

Untersuchungsgefangene sind in der Regel 23 Stunden am Tag in der Zelle eingeschlossen. Da für sie keine Arbeitspflicht besteht, erhalten sie in der Regel auch dann keine Arbeit, wenn sie arbeiten wollen - so bleibt meist nichts als tödliche Langeweile. Der Vollzug hat weitgehende Vollmachten, im Zuge von "Sicherungsverfügungen" die Freiheitsrechte der Gefangenen über den Freiheitsentzug hinaus noch weiter einzuschränken, sie z.B. von Gruppenveranstaltungen oder vom täglichen Hofgang auszuschließen. Die Möglichkeiten der Gefangenen, ihre Zellen mit privaten Gegenständen auszustatten, sind äußerst reduziert. Ihre Kommunikation mit der Außenwelt wird rigide einschränkt: Die Post wird kontrolliert und ist, jedenfalls in Hamburg, mindestens 14 Tage unterwegs. Besuche - bisher reduziert auf zwei halbe Stunden im Monat - werden akustisch überwacht. Eine freie Arztwahl gibt es nicht ... Und all diese weit reichenden Beschränkungen treffen Menschen, für die, wie gesagt, die Unschuldsvermutung gilt. Immerhin werden 15% der Untersuchungsgefangenen später nicht zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Bisher ist die Untersuchungshaft gesetzlich absolut unzureichend geregelt. Das ist ein riesiger Skandal, der nun beendet werden soll. Ob und wieweit das gelingt, ist aber eher fraglich.

Infolge der Föderalismusreform sind die Länder für die Regelung der Haftbedingungen zuständig, während der Bund weiter die Voraussetzungen und die Dauer der U-Haft regelt. In dieser Rechtszersplitterung liegt ein Riesenproblem auf Kosten der Untersuchungsgefangenen. Vor allem werden dadurch die gravierenden Eingriffe in die Freiheitsrechte der Betroffenen kaum eingeschränkt.

Auf Bundesebene liegt inzwischen ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums vor, der nach Auffassung der Fachverbände einige, aber eher kleine Fortschritte enthält: So sollen Beschuldigte bei ihrer Festnahme unverzüglich über ihre Rechte informiert werden, was sie bisher offensichtlich nicht mussten. Insgesamt kritisiert aber z.B. der Deutsche Anwaltverein, dass die historische Chance einer Reform des Untersuchungshaftrechts "nachhaltig vertan" werde, weil der seit Jahrzehnten herrschende Zustand konserviert wird.

Was die in Länderzuständigkeit fallende gesetzliche Regelung der U-Haftbedingungen betrifft, liegt zurzeit ein Musterentwurf von zwölf Bundesländern, u.a. Hamburg, vor. Auch er enthält einige, aber ebenso nur kleine Fortschritte - so soll die Besuchszeit von einer auf zwei Stunden monatlich erhöht werden, eine "angemessene" Ausstattung der Zellen mit eigenen Sachen ermöglicht werden usw. Aber selbst solche Mindestbedingungen harren in Hamburg bisher der Umsetzung.

Ob eine Reform der Untersuchungshaft und die Lockerung der Haftbedingungen den traurigen Tod zweier Menschen verhindert hätten, kann niemand wissen. Doch die Verantwortlichen müssen sich vorwerfen lassen, dass sie nichts unternommen haben, um ihn zu verhindern.

Christiane Schneider

Raute

AUSLANDSNACHRICHTEN

Rund 100 km ist die Sperranlage, die die USA an der 3000 km langen Grenze zu Mexiko errichten, inzwischen lang. Das Hauptprojekt ist ein Sicherheitszaun zur Abwehr von Migranten, der durch eine virtuelle Hightech-Mauer und Drohnen ergänzt wird. Neu errichtet wurden 600 km "Fußgängerzäune", die 3 Meter, an manchen Stellen auch 6 Meter hoch sind und die meist aus einem Zaun aus Stahlgeflecht, manchmal aus zwei parallel verlaufenden Zäunen bestehen, die teilweise mit Stacheldraht überzogen sind und in deren Mitte eine Sicherheitszone liegt, die mit Kameras, Scheinwerferanlagen und anderen Sensoren bestückt ist. Der Prototyp einer neuen High-Tech-Grenze P-28, ein 45 km langes, für 400 Millionen Dollar errichtetes Teilstück mit 33 Meter hohen Türmen, mehreren Kameras, Radarsystemen und Sendern, weist jedoch so viele Mängel auf, dass der Weiterbau nun erst einmal gestoppt wurde. Seit 2006 wurden für die menschenverachtende Sperranlage 3,6 Mrd. Dollar bewilligt, von denen bisher 2,4 Mrd. ausgegeben wurden. Die Behörden behaupten, die illegale Einwanderung sei zumindest teilweise aufgrund der Sperranlage um 18% zurückgegangen. Doch andererseits beklagen sie, dass Einwanderer und Drogenschmuggler die Anlagen immer wieder überwinden, indem sie Tunnel graben, mit Schweißbrennern Löcher machen, Stahlpfosten niederreißen und sie durch Pfosten aus Karton ersetzen . Ungeachtet dessen wollen die USA, so jedenfalls die bisherige Planung, eine ähnliche Sperrmauer auch an der Grenze zu Kanada errichten. Im Wahlkampf hatten sowohl Obama wie auch Außenministerin Clinton die Errichtung sowohl von Sperranlagen wie auch von High-Tech-Überwachung abgelehnt. (Quelle: Florian Rötzer, Telepolis)


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Italien: Proteste gegen Denunziantenpflicht

Der Senat hat in der letzten Woche einem Artikel des neuen "Sicherheitspakets" der Regierung Berlusconi zugestimmt, laut dem medizinisches Personal dazu gezwungen werden kann, Daten von illegalisierten Einwanderern an Behörden weiterzugeben (siehe auch letzte Ausgabe). Der Beschluss des Senats hat zu heftigen Protesten geführt. Der Einsatzleiter von "Ärzten ohne Grenzen" in Italien warnte vor "gravierenden Folgen". Der Artikel verletze nicht nur den universellen Zugang zu medizinischer Versorgung, sondern führe auch zu einer Verschlechterung der gesundheitlichen Lage der Migranten und berge auch für die allgemeine Öffentlichkeit gesundheitliche Gefahren. Das bekräftigte auch der Vorsitzende des Dachverbandes der Ärztevereinigungen, der von einer "Norm gegen die Ethik und die Pflicht" von Medizinern sprach: Er warnte vor einer erhöhten Gefahr von Epidemien. Die italienische Caritas kritisierte das ganze Gesetzespaket, das "alles Mögliche von der Einwanderung bis zur Obdachlosigkeit [enthält], was mit Sicherheit wenig zu tun hat". Bischof Sigalini, Sekretär der Kommission für Migrationsfragen in der Italienischen Sicherheitskonferenz, erklärte, die Kirche werde bei ihrer Unterstützung für Einwanderer notfalls auch Strafsanktionen in Kauf nehmen. Die katholische Arbeitnehmerbewegung ACLI nannte das Gesetz einen "schwerwiegenden Rückschritt für die Integration und die Sicherheit selbst". Die Oppositionsparteien riefen die Ärzte zu Ungehorsam gegenüber der Meldepflicht auf. (Quelle: Standard, Die Presse)


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Ungarn: Roma gründen eigene Garde

Als Antwort auf die neofaschistische "Ungarische Garde" und die zunehmende Gewalt gegen Roma planen ungarische Roma in Westungarn die Bildung einer eigenen Garde, die dem Ziel der "wirksameren Durchsetzung der eigenen Interessen" dienen soll. In den letzten Monaten war es immer wieder zu "Märschen" uniformierter Mitglieder der "Ungarischen Garde" durch Orte mit hohem Roma-Anteil gekommen. Ausdrücklich heißt es von den Initiatoren, die Garde der Roma werde "ausschließlich mit friedlichen Mitteln" arbeiten. Sie kritisieren, es wachse eine Roma-Generation heran, die den Begriff "sicherer Arbeitsplatz" nicht kenne. Dabei würde ein Arbeitsplatz den Roma ihre "Selbstachtung" zurückgeben. Ein sicheres Einkommen würde die aus Armut und Not heraus begangenen Straftaten zurückdrängen. - Der Trägerverein der im August 2007 gegründete "Ungarische Garde" war im Dezember 2008 von einem Budapester Gericht in erster Instanz verboten worden. Garde-Führer Vona erklärte daraufhin, die "Bewegung" werde ihre Aktivitäten fortsetzen, die "Ungarische Garde" sei "unauflösbar" und werde ihre Tätigkeit mit dem Ziel der "Rettung der Nation und Gesellschaft" fortsetzen. (Quelle: APA)


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Russland: Gewalt der extremen Rechten nimmt zu

Allein im Dezember und Januar gab es in Russland 50 bekannt gewordene Personenangriffe mit rechtsextremem Hintergrund. 26 Menschen haben den Überfall mit ihrem Leben bezahlt. Rechtsextreme Organisationen schießen aus dem Boden. Immer häufiger tauchen ihre Gewaltvideos im Internet auf, die Hetzjagden auf Juden, ausländische Studenten und Menschen aus dem Kaukasus aufrufen. Zwar sind die Täter nicht ermittelt, die am 19.1. den Menschenrechtsanwalt Markelow und die ihn begleitende Journalistin Baburowa ermordeten, doch die Nazis rühmen sich des Mordes und verbreiten Hass- und Mordbotschaften auf zahlreichen Internetforen. Beunruhigend ist, dass sich die Miliz immer wieder rechtsextremer Organisationen bedient, um kritischen Veranstaltungen oder Veranstaltungen von Minderheiten mit Gewalt aufzulösen, so z.B. die Moskauer CSD-Parade im letzten Jahr.

Zusammenstellung scc

Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

AKTIONEN ... INITIATIVEN


1.500 umzingeln das Atomforum

BERLIN. Mit einer eindrucksvollen Protestaktion hat sich die Anti-Atom-Bewegung nun auch in Berlin zurückgemeldet. Mehr als 1.500 Atomkraftgegnerinnen und Atomkraftgegner beteiligten sich am 4. Februar an einer Menschenkette rund um das Maritim-Hotel in Berlin-Mitte. An der Umzingelung nahmen auch 20 IPPNW-ÄrztInnen in weißen Kitteln teil. Die Aktion stand unter dem Motto "Atomforum umzingeln", da sich in dem Hotel die Lobbyvereinigung "Deutsches Atomforum" zu ihrer Wintertagung traf. Der Sprecher der Kampagne "ausgestrahlt" Jochen Stay, die gemeinsam mit "campact" und "nixatom" zu den Veranstaltern der Umzingelung gehört, freute sich: "So groß war die Beteiligung an Protestaktionen gegen die Tagungen des Atomforums noch nie. ... Die Atomlobby will dafür sorgen, dass die Stromkonzerne mit alten gefährlichen Reaktoren weiter Gewinne machen. Dem stellen sich immer mehr Menschen entgegen. Wir fordern einen Atomausstieg, der diesen Namen auch verdient. Die AKW müssen endlich vom Netz!"
www.lebenshaus-alb.de


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Bayerisches Verfassungsgericht weist Mindestlohn-Volksbegehren ab

MÜNCHEN. Das vom DGB Bayern initiierte Mindestlohn-Volksbegehren ist am 3. Februar 2009 vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof für unzulässig erklärt worden. Das Gericht bestätigte damit die Auffassung des bayerischen Innenministeriums, wonach für die Festsetzung von Mindestlöhnen nicht das Land, sondern der Bund zuständig ist. "Damit über Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die die Menschen immer stärker bewegen, endlich abgestimmt werden kann, brauchen wir bundesweite Volksentscheide", erklärt dazu der Verein Mehr Demokratie. 14 Prozent aller bisher in der Bundesrepublik gestarteten 266 Volksbegehren und -initiativen hatten dem von Mehr Demokratie erstellten Volksbegehrensbericht zufolge soziale Themen zum Gegenstand; 2007 waren es sogar 29 Prozent. In der Kampagne "Volksentscheid ins Grundgesetz" fordert Mehr Demokratie deshalb gemeinsam mit Bündnispartnern die Einführung von bundesweiten Volksbegehren und -entscheiden.
www.mehr-demokratie.de


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Brandenburg: Verbände gründen Konferenz gegen Armut

POTSDAM. In Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen und dem Saarland setzen sich bereits seit längerem Landesarmutskonferenzen für soziale Sicherheit und gegen eine wachsende Einkommenskluft ein. Sozialverbände und Gewerkschaften haben Ende Januar nun auch für Brandenburg eine Landesarmutskonferenz gegründet. Sie soll "eine kritische Begleitung der gesamten Sozialpolitik" sein, sagte Rainer Krebs vom Diakonischen Werk Berlin. Zu den 30 Gründungsmitgliedern der Konferenz gehören neben den Gewerkschaften das Diakonische Werk, der Paritätische Wohlfahrtsverband des Landes, das Deutsche Rote Kreuz, die Volkssolidarität, die Caritas und der Verein der Hartz IV-Betroffenen.
www.mindestlohn.de


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"Bildung für alle" - Demonstration für freie Bildung

HANNOVER. Am 24.1.09 hat Hannover ein Zeichen für freie Bildung gesetzt. Schüler, Studenten, Lehrer und Eltern trafen sich am Kröpcke, um gegen die Politik der Landesregierung zu protestieren. Aufgerufen zu der Demo hatten neben dem B-Team auch der AStA, Gewerkschaften und Parteien. "Es bleibet dabei, die Bildung ist frei - Für ein gerechtes Bildungssystem": Unter diesem Motto stand der friedliche Protestmarsch quer durch Hannovers Innenstadt. Das B-Team als Veranstalter spricht von rund 4 000 Teilnehmern, die Polizei hat hingegen nur 1 500 Menschen auf den Straßen gesehen - die eigene Hundertschaft nicht mit eingerechnet. Der Fokus lag bei der diesjährigen Demo nicht nur auf der Abschaffung der Studiengebühren (wie im letzten Jahr), sondern auch auf Forderungen, die Schul- und Kindergartenpolitik betreffen. Neben vielen Schülern und Studenten zogen auch zahlreiche Lehrer, Dozenten und Eltern durch die Straßen und forderten die Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit, kleinere Schulklassen und die Abschaffung von KiTa-Gebühren.
eisbergonline.de; www.wir-zahlen-nicht.de


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Große Demonstration gegen Münchner Kriegskonferenz

MÜNCHEN. Die Demonstration am 6. Februar gegen die so genannte Sicherheitskonferenz in München war ein wirkungsvoller Auftakt für die weiteren Proteste gegen die NATO in diesem Jahr. Mehr als 6.000 TeilnehmerInnen machten deutlich, dass in München die Kriegspolitik der NATO und die deutsche Beteiligung an Kriegen nicht erwünscht sind - trotz der neuen Leitung der "Sicherheitskonferenz" unter Wolfgang Ischinger und der neuen US-Administration. Vertreter/innen der Gruppe "Widerstand der zwei Ufer" sowie der EU-Abgeordnete Tobias Pflüger riefen auf den Kundgebungen vor und nach der Demonstration zur Teilnahme an den Protesten gegen das 60-jährige Bestehen der NATO Anfang April in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden auf. Tobias Pflüger kritisierte den neuen Leiter der "Sicherheitskonferenz", Wolfgang Ischinger, der für Militarisierung und deutsche Machtansprüche stehe. Den Preisträger der neuen Eduard-von-Kleist-Medaille, Henry Kissinger, bezeichnete Pflüger als Kriegsverbrecher. Im Gegenzug verlieh das Munich American Peace Committee dem gerade in der Bundesrepublik Asyl suchenden André Shepherd einen Friedenspreis für seinen Mut, Ende 2008 als US-Soldat vor seinem Einsatz im Irak zu desertieren. Versammlungsleiter Jan Tepperies: "Es ist sehr ermutigend, dass sich die Teilnehmer/innen auch dieses Jahr wieder nicht durch die absolut unverhältnismäßige Polizeipräsenz einschüchtern ließen - wir freuen uns auf die Proteste gegen die NATO im April in Strasbourg!"
www.imi-online.de


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Diskussionsforum der Sozialämter wird abgeschaltet

DUISBURG. Die Stadt Duisburg erklärt in einer Pressemitteilung vom 14.1.2009 die Schließung des bisher auf der Domain Duisburg.de erreichbaren Internetforums "Diskussionsforum der Sozialämter" für die Öffentlichkeit. Die Beiträge und Diskussionen in dem zunächst vorübergehend geschlossenen Internetforum waren bisher zwar für jedermann einsehbar, die Schreibberechtigung war jedoch Mitarbeitern von Sozialämtern und ARGEN vorbehalten. Im Rahmen einer Diskussion um die Äußerungen des Bayreuther Volkswirtschaftlers Professor Oberender, der unter engen Voraussetzungen die Möglichkeit zum legalen Verkauf von Organen forderte, wurde von einzelnen Mitgliedern des Forums die in diesem fiktiven Fall eintreten Rechtsfolgen hinsichtlich der Anrechnung als Einkommen und Vermögen beim Bezug von ALG II diskutiert. Die auf Duisburg.de veröffentlichten Forenbeiträge seien eine nach - mittels einer Pressemitteilung kommunizierten - Ansicht der Vertreter des "Erwerbslosen Forum Deutschland" nicht hinnehmbare, "zutiefst menschenverachtende Äußerungen". Als Reaktion auf eben diese Pressemitteilung gab die Stadt Duisburg bekannt das Forum zunächst vom Netz zu nehmen und in Kürze als internes Kommunikationsforum unter Ausschluss der Öffentlichkeit wieder in Betrieb zu nehmen. Für die Betroffenen ist das in erster Linie der Verlust einer außerordentlich kompetenten Informationsquelle. Im "Diskussionsforum der Sozialämter" stellten rund 2.100 Fachautoren bislang etwa 49.000 Beiträge zu verschiedensten Fragen im Bereich des Sozialrechts öffentlich und unentgeltlich zur Verfügung.
www.sozialleistungen.info/news/2009/01/


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Offener Brief gegen Kontrollen und Überwachungskameras

REMSCHEID. 53 Flüchtlinge, von denen manche erst seit kurzem, manche schon seit Jahren in Remscheid leben, bitten in einem Offenen Brief die Stadt Remscheid, mit Würde und respektvoll behandelt zu werden. In ihrem Brief heißt es: "Wir wenden uns mit diesem Offenen Brief an Sie, weil wir uns wie Gefangene fühlen: Wir dürfen uns nicht frei bewegen. Wir werden gezwungen, jeden Tag gegenüber den Hausmeistern in unseren Wohnheimen unsere Anwesenheit durch unsere Unterschrift zu bestätigen. Wenn wir das nicht tun, werden wir bestraft: Uns wird die Sozialhilfe gestrichen, oder wir bekommen nur noch Gutscheine, oder wir werden einfach ohne unser Einverständnis ganz aus dem Wohnheim abgemeldet ... Außerdem gibt es Kameras im Eingangsbereich der Heime und im Hof, so dass praktisch jede Bewegung von uns kontrolliert wird. Dies alles führt dazu, dass wir uns wie Gefangene in einem Gefängnis fühlen. Wir haben keine Straftat begangen, wir sind nicht gefährlich und müssen nicht kontrolliert werden. In anderen Städten gibt es keine Kameras und keine Unterschriftenlisten: Weshalb werden wir Flüchtlinge in Remscheid behandelt, als wären wir Strafgefangene im offenen Vollzug?"
www.hier.geblieben.net


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Strafbefehl gegen rechtsextremen Stadtrat

NÜRNBERG. Gegen den rechtsextremen Stadtrat Sebastian Schmaus hat das Amtsgericht Nürnberg einen Strafbefehl erlassen. Da Schmaus gegen den Strafbefehl Widerspruch eingelegt hat, kommt es zu einer öffentlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht. Nürnberg. Der Strafbefehl erging wegen der "Anti-Antifa"-Aktivitäten des Stadtrats-Mitglieds der "Bürgerinitiative Ausländerstopp", die als NPD-Tarnliste angesehen wird. Schmaus (Jahrgang 1983) soll bei NPD-Veranstaltungen Gegendemonstranten fotografiert haben; die Fotos tauchten später auf steckbriefartigen "Anti-Antifa"-Internetseiten auf, auf denen Nazigegner als "Feinde" bezeichnet wurden. In Fürth war im vorigen Jahr eine Familie zum Ziel von Neonazi-Angriffen geworden, ihr Haus wurde beschmiert und das Auto wurde beschädigt. Diese und auch andere Angriffe gegen Nazigegner waren auf der "Anti-Antifa"-Internetseite "dokumentiert" worden. Die rechtsextremen Webseiten waren schon früher ins Gespräch gekommen, nachdem die Nürnberger Polizei dort gespeicherte Fotos von Nazigegnern bei Ermittlungen benutzt hatte. Im Mai 2008 veranlasste die Staatsanwaltschaft eine Hausdurchsuchung beim Stadtratsmitglied Schmaus und wurde offenbar fündig. Der jetzige Strafbefehl erging wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz, in dem das Recht am eigenen Bild verankert ist. Laut den Nürnberger Nachrichten ist von 120 Tagessätzen und einer Geldstrafe in vierstelliger Höhe die Rede. Nach dem Widerspruch von Schmaus gegen den Strafbefehl kommt es demnächst zu einer Verhandlung am Amtsgericht. Schmaus hatte zugegeben, bei verschiedenen Demonstrationen fotografiert zu haben, doch die weiteren Vorwürfe - insbesondere offenbar die Weitergabe an die Macher der "Anti-Antifa-"Seite - bestreitet er. Die Webseiten sind mittlerweile nicht mehr im Internet erreichbar.
www.redok.de


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Demonstrationen am 28. März "Wir zahlen nicht für eure Krise!"

BERLIN. Am 28. März rufen anlässlich des Londoner G20 Treffens in Berlin und in Frankfurt Attac und viele weitere Organisationen und soziale Bewegungen zu zwei zentralen Demonstrationen in Berlin und Frankfurt auf. Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise! - Für eine solidarische Gesellschaft":
www.attac-netzwerk.de


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5000 Gründe für NPD-Verbot

BERLIN. Am 27. Januar startet die neue Kampagne "nonpd". Die Kampagne "nonpd" der VVNBdA hat im Jahr 2007 das Ihrige dazu beigetragen, das Thema NPD-Verbot auf die politische Agenda zu setzen. 175.445 Unterzeichner des Aufrufes an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages warten bis heute auf eine angemessene Antwort. Am 27. Januar 2009 begann deshalb nach intensiver Vorbereitung die von vielen erwartete Fortsetzung der Kampagne, die bis zum 8. Mai 2010, dem 65. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg fortgeführt werden soll. Die Kampagne der VVN-BdA richtet sich außerdem an diejenigen, die im ganz konkreten Sinn die Verantwortung dafür tragen, dass ein neues Verbotsverfahren noch nicht auf den Weg gebracht worden ist: die Innenminister der Bundesländer. Die Kampagne fordert: "Es ist an ihnen, das vom Bundesverfassungsgericht benannte Verfahrenshindernis aus dem Weg zu räumen: die V-Leute müssen abgeschaltet werden. Und zwar in jedem Bundesland. Wir wollen darüber aufklären, dass V-Leute nichts anderes sind als bezahlte Neonazis und dass das V-Leute-System de facto zum Schutzschirm der NPD geworden ist."
www.npd-verbot-jetzt


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Fahrt des Gedenkens trotz Widerstände der Bahn

BONN. Ungeachtet andauernder Widerstände der Deutschen Bahn AG, die dem "Zug der Erinnerung" weitere Zwangsgebühren in Höhe mehrerer zehntausend Euro angedroht hat, beschloss die Bürgerinitiative jetzt einen neuen Fahrplan für das Gedenken. Erste Station der kommenden Strecke wird am Montag, 2. März, die Bundesstadt Bonn sein. Dort hat die "Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus" und eine Initiative von vielen Bonner Organisationen und Institutionen den Zug zu einem viertägigen Aufenthalt eingeladen. Unterstützt wird der Aufenthalt von der Bundesstadt Bonn mit ihrer Oberbürgermeisterin. Die Gedenkstätte entwirft zur Zeit ein Rahmenprogramm - gemeinsam mit der Initiative, der u.a. das Stadtarchiv, die VHS, die Initiative gegen Fremdenhass (Bonn-Beuel), der DGB-Region Bonn und mehrere kirchliche Organisationen (Evangelisches Forum Bonn, Katholisches Bildungswerk) sowie die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Synagogengemeine Bonn angehören.

Der Zuglaufplan:
2. März bis 5. März: Bonn,
6. März bis 8. März: Koblenz,
9. März bis 12. März: Mainz,
13. März bis 15. März: Worms,
16. März bis 18. März: Ludwigshafen,
19. März bis 21. März: Speyer:

www.zug-der-erinnerung.eu.

Raute

Ende der 70er Jahre schälten die Grün/Alternativen sich aus der außerparlamentarischen Bewegung heraus. Sie erzielten als Partei im parlamentarischen System Erfolge; aber damit war nicht die ganze Linke zufrieden. Teils, weil die die Grün/Alternativen offenbar als Klientelpartei funktionieren, teils weil die von ihnen vertretene Außenpolitik Befürchtungen zuließ. Aus der Kritik ergaben sich an einer ganzen Reihe von Orten neue Ansätze linker Kommunalpolitik, ihr Kennzeichen war Diskursbereitschaft und Bündnisfähigkeit verbunden mit einer Absage an Kriegspolitik und klarerem Blick fürs Soziale. In Baden-Württemberg mit seinem günstigen Wahrecht gelang solchen Bündnislisten 1984 in Freiburg und 1972 in Tübingen (dort zunächst als DKP) der Sprung in den Stadtrat. Nach dem Anschluss der DDR begünstigte die Politik der PDS an vielen Orten der BRD - beispielsweise in Stuttgart - die Bildung - mehr oder weniger - offener Listen. Als die PDS in NRW 1999 mit einer Klage gegen die 5-Prozent-Klausel durchkam und breit kandidierte, konnte auch im Westen niemand mehr linke Kommunalpolitik als exotischen Sonderfall abtun. Seit der Fusion der von der SPD abgespaltenen WASG mit der PDS zeigt sich nun neben der breiten kommunalpolitischen Basis in den Ländern, die aus der DDR kommen, auch bei bundesrepublikanischem Vorlauf kommunalpolitische Präsenz. Der Schritt von einer kritischen Bewegung zu einer politischen Kraft liegt nahe. Wir stellen im folgenden Texte der "Linken Liste solidarische Stadt vor", die in der Hoffnung bestärken, dass der Erfolg nicht ausbleibt, wenn die Linke für DIE LINKE und DIE LINKE für die Linke offen bleibt. In der nächsten Ausgabe werden wir über die Listenaufstellung in NRW berichten, wo ebenfalls am 7. Juni Kommunalwahlen stattfinden. (red)


Am 7. Juni: Kommunalwahlen in Baden-Württemberg

Am 7. Juni finden in Baden-Württemberg Kommunalwahlen statt. Inzwischen haben in verschiedenen Orten Linke Listen, zum Teil als Listen der Partei Die Linke, zum Teil als Listen örtlicher linker Wählergemeinschaften, begonnen ihre Kandidatinnen und Kandidaten zu wählen und ihre Programme zu veröffentlichen. Wir dokumentieren im folgenden ausführlich aus programmatischen Veröffentlichungen (Vorabdruck aus der Wahlzeitung) der Linke Liste - Solidarische Stadt Freiburg.(*)


Michael Moos: Die ganze Stadt im Blickfeld

Ausverkauf städtischer Wohnungen ist nicht vom Tisch
Und was ist am 13.11.2009? Der Bürgerentscheid hat den Verkauf städtischer Wohnungen für drei Jahre gestoppt, und die laufen am 12.11.09 aus. Wir glauben nicht, dass die Apologeten von Privatisierungen und Befürworter des Verkaufs die neuen Verkaufspläne schon in der Schublade haben. Aber wir können zwei und zwei zusammen zählen! Das eine ist die wirtschaftliche Entwicklung: ohne Schreckensszenarien zu malen, wir glauben keinen offiziellen Prognosen der Stadt, die jetzt in die andere Richtung gehen. Die Stadt sei diesmal gut gerüstet, so der OB. Was aber ist los, nach der Gemeinderatswahl, wenn die tatsächlichen Steuereinnahmen weit hinter den Prognosen zurück bleiben, auf die sich der neue Doppelhaushalt stützt? Wo wird diese Verwaltung nach aller Erfahrung mit ihr den Rotstift ansetzen und das fehlende Geld holen wollen?

Und das zweite: Eben dieser Masterplan, beschlossen von einer satten Gemeinderatsmehrheit um Schwarz/Grün, sieht bei sinkenden Einnahmen zwingend den Verkauf städtischen Vermögens vor, um mindestens 15 Mio. € pro Jahr der aufgenommenen Kommunalkredite zurück zu zahlen. Und weitere 15 Mio. € für Sanierungsmaßnahmen ausgeben zu können, vorrangig für Straßen, dann für Schulen, also 30 Mio. € für diese beiden Posten pro Jahr, bis 2015, unabhängig von der Entwicklung der Einnahmeseite. Eine für uns völlig inakzeptable Knebelung des künftigen Gemeinderats, die zeigt, dass die alten Begehrlichkeiten nicht aufgegeben sind. Will man nämlich an der profitablen Beteiligung bei Badenova festhalten, dann bleibt nur der Verkauf von Wohnungen, diesmal dann vielleicht häppchenweise. Mit uns nicht, und falls erforderlich, werden wir nochmals einen Bürgerentscheid unterstützen.


Öko-Lorbeeren und Green City
"Wir werden überrannt", erklärte OB Salomon am 20.2.08 in der BZ, und meinte damit das Plus von 14 % bei den Touristen und das wachsende internationale Interesse an Solarenergie, Mülltrennung und Vauban. Green City wurde als neuer Slogan kreiert. Damit sind aber nicht die Polizeiwannen gemeint, die Samstagnacht am Martinstor stehen und Freiburgs neue Polizeiverordnung durchsetzen sollen, wonach Alkoholkonsum nur in geschlossenen Räumen zulässig ist, wo abkassiert wird. Gemeint ist die Vermarktung von jahrzehntelangen Öko-Kämpfen, die in Wyhl begannen und noch lange nicht beendet sind. "Freiburg ruht sich auf seinen Öko-Lorbeeren aus", das war die Quintessenz einer Veranstaltung am 3.3.08 in der Universität. Intersolar in San Francisco, Freiburg für 400.000 € auf der Expo Shanghai und OB Salomon von Bill Clinton eingeladen - all das ändert nichts daran, dass Freiburg das 1996 vom Gemeinderat beschlossene Ziel einer Einsparung von 20% Kohlendioxid bis 2010 bei weitem verfehlen wird. Es werden gut gerechnet 5%-6% sein und die jüngsten Beschlüsse der Gemeinderatsmehrheit reichen bei weitem nicht aus, um das neue Ziel, 40% Einsparung von CO2 bis 2030, auch nur für annähernd realistisch zu halten.


Die ganze Stadt im Blickfeld
Eine ökologische Stadtentwicklung ist für uns von zentraler Bedeutung, reicht aber bei weitem nicht für eine lebenswerte Stadt. Wir sehen die ganze Stadt in ihrer Entwicklung. Die soziale Frage verschärft sich und die Stadtbevölkerung droht weiter auseinander zu driften. Die Einführung des Freiburg Passes zum 1.1.08 ist Ergebnis jahrelanger Bemühungen des Runden Tisches Harz IV, ein Erfolg sicherlich gegen anhaltenden Widerstand, aber bei weitem nicht ausreichend. Eine ordentliche Wohnung, der Eintritt ins Städtische Bad, die Fahrt mit der Straßenbahn, das Kind in der Kita, der Besuch im Theater und im Museum, - Freiburg könnte fürwahr stolz sein, wenn all das für keinen Mann und keine Frau in der Stadt am Geld scheitern müsste.

Millionen für Schulsanierungen sind notwendig, aber die Stadt vernachlässigt sträflich den Humanfaktor. Weiterhin wird an Menschen gespart, Ganztagesschulen gebaut, aber die Eltern und Lehrer alleine gelassen mit der neuen Situation. Für die Gemeinderatsmehrheit ist jede Million, die an die Bauwirtschaft geht, gut ausgegeben, aber jeder Euro, den ein Sozialarbeiter mehr kostet, verlorenes Geld. Dieselbe Denkweise bestimmt auch die Konjunkturprogramme aus Berlin. Wir sehen das anders: Gute und sichere Arbeitsplätze sind in jeder Hinsicht das entscheidende Kapital unserer Gesellschaft, ohne die nichts geht und schon gar nicht vorwärts geht. Der rigiden Personaleinspardoktrin des OB, weitere 3 Mio. € dieses und nächstes Jahr im Personalhaushalt zu kürzen, frei werdende Stellen einfach nicht zu besetzen, werden wir uns deshalb gemeinsam mit der Gewerkschaft und dem Personalrat widersetzen.


Die Stadt den Bürgerinnen und Bürgern zurückgeben
Wir überlegen weiter, wo wir Politik transparenter machen können, den Beteiligungshaushalt vom Kopf auf die Füße, nämlich in die Stadtteile bringen können, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vor allem für alleinerziehende Frauen, verbessern und Kinder aus armen Familien unterstützen können, sowie die Stadt, die zunehmend zum Spielball von Projektentwicklern und Bauinvestoren wird, ihren Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Gemeinderat zurückgeben können.

Bald fünf Jahre Arbeit gemeinsam mit den KollegInnen von den Unabhängigen Frauen und der Kulturliste liegen hinter uns. Fünf Jahre, in denen die Fraktionsgemeinschaft der Unabhängigen Listen (UL) sich zu einer respektablen Opposition gegen schwarz/grün im Freiburger Gemeinderat entwickelt hat. Wer meint, dass drei GemeinderätInnen der Linken Liste/Solidarische Stadt entscheiden zu wenig sind, der sollte uns seine Stimmen am 7.6. geben.


Ulrike Schubert:
Wie weiter mit dem Beteiligungshaushalt?

Am 16. Dezember 2008 fand mit den Beschlüssen zum Doppelhaushalt 2009/2010 gleichzeitig der erste Beteiligungshaushalt Freiburgs seinen vorläufigen Abschluss.

Mit der durch die BürgerInnen erstrittenen Beteiligung im Bürgerentscheid gegen den Wohnungsverkauf wurde der Gemeinderat beschleunigt - aber auch zum Erstaunen vieler engagierter BürgerInnen - sozusagen dahin getragen, einen Beteiligungshaushalt auf den Weg zu bringen. Dass sich die schwarz-grüne Allianz dabei eher bessere Einsicht ins Sparen erhoffte, ist das eine - dass die BürgerInnen selber vor allem in der Stadtkonferenz im Juni die Sparvorschläge kritisierten und kreative Vorschläge für eine soziale und kulturelle Stadt Freiburg aufstellten, ist die andere und entscheidende Seite.

Die Stadtkonferenz im Juni 2008 setzte sich in erster Linie für eine soziale Stadt mit engagierten Voten für mehr Ganztagsschulen und bessere Kinderbetreuungsangebote, gegen Kürzungen im sozialen, kulturellen und Bildungsbereich ein, für die Ausweitung des FreiburgPasses sowie eindeutig für ein "Freiburg-Ticket" für Geringverdienende und Hartz-IV-EmpfängerInnen, für bezahlbaren Wohnraum, für seniorengerechte Gestaltung öffentlicher Plätze, den Verzicht auf Großprojekte, für einen Freiburger Armuts- und Reichtumsbericht. So wurde nach Debatten in Stadtteilarbeitsgruppen, der AG Soziales und der Gruppe "Jugend im Haushalt" aus dem eher einseitig vorgegebenen Ziel "Attraktives Wohnen" (für Mieter oder für Vermieter?) die durchgehende Forderung nach "bezahlbarem Wohnraum für alle". Die exakte Dokumentation der Stadtkonferenz kann zum Nachlesen nur empfohlen werden.

Eine Evaluation der einzelnen Phasen des Beteiligungsprozesses inklusive der Bürgerbefragung und des Online-Haushalts, die Würdigung der Bürgervoten durch die Gemeinderäte und die Auswertung aller Haushaltsbeschlüsse wird jetzt im Frühjahr stattfinden. Hier zeigt es sich, ob die Gemeinderatsfraktionen die Bürger ernst nehmen oder ob sie sich nur jeweils genehme Einzelheiten herauspicken.

Wichtig für die Auswertung ist die Einbeziehung der gemeinderätlichen Arbeitsgruppe (Gemeinderäte, Verwaltung und Lokale Agenda sind daran beteiligt), des Runden Tisches mit Vertretern aus sozialen Organisationen, der Gewerkschaften, der Wirtschaft, den Kirchen, der Jugend sowie den TeilnehmerInnen der Stadtkonferenz.

Direkt anschließend an diese Evaluation sollte die rechtzeitige Planung des zweiten Beteiligungshaushaltes für das Haushaltsjahr 2011/12 beginnen, mit in den Stadtteilen gut vorbereiteten BürgerInnenversammlungen - Fragebögen im Vorfeld nicht ausgeschlossen! Besonders Jugendliche, Senioren, behinderte Menschen und MitbürgerInnen mit Migrationshintergrund sollten sich besser einbringen und mit eigenen Voten beteiligen können. Die CDU präferiert für den nächsten Beteiligungshaushalt eine sogenannte "Beteiligung" per Fragebogen - jeder einzeln und für sich allein zuhause. Demokratische Bürgerversammlungen in Stadtteil- oder Stadtkonferenzen sind nicht erwünscht. Demoskopie statt Demokratie?

Als Finanzrahmen hat der Gemeinderat für 2009 einen Betrag von ganzen 30.000 Euro, für 2010 über 40.000 Euro beschlossen - da kann man nur sagen: Auch Demokratie kostet reales Geld!

Zum Thema "Gender Budgeting" - also ein geschlechtergerechter Beteiligungshaushalt ist ein Grundsatzbeschluss des Gemeinderats für 2009 geplant. Die Linke Liste - Solidarische Stadt fordert einen gut vorbereiteten demokratisch organisierten, lebendigen Meinungsbildungsprozess in Stadtteilen oder Stadtbezirken und auf stadtübergreifenden Foren.

Die Lebendigkeit, der Ideenreichtum und die Sachkompetenz der BürgerInnen - selbstverständlich unterstützt durch umfassend aufbereitetes Datenmaterial der Verwaltung - wird mit jedem weiteren Beteiligungshaushalt eine wirkliche kommunale Demokratie für Freiburg voranbringen.


Hendrijk Guzzoni:
Die Fraktion Unabhängige Listen(*)

Viele waren skeptisch. In der Linken Liste-Solidarische Stadt. Bei den Unabhängigen Frauen und erst recht bei der Kulturliste kult. Konnte das funktionieren, drei so unterschiedliche Listen in einer Fraktion? Und wo sollte die politische Klarheit sein? Und wo kreative Spontaneität und Offenheit? Zusammengehen mit den Kommunisten? Eine Männer-dominierte Fraktion? Radikale Opposition mit bürgerlichen Kultur-Schicki-Mickis?

Wir haben es dennoch gewagt. Und das ist gut so. In aller Bescheidenheit: die Unabhängigen Listen haben die Landschaft der Freiburger Kommunalpolitik verändert. Sie haben die Opposition gegen den neoliberalen Kurs der schwarz-grünen Allianz größer und stärker gemacht und sie haben sie bunter gemacht. Und die Breite und Vielfalt der inhaltlichen Debatten in der Fraktion haben zu einer größeren Tiefe - und damit auch Schärfe geführt. So sind inhaltliche Positionen nicht verwässert worden, sondern haben im Gegenteil an Klarheit gewonnen. Wenn in der Linken Liste mehr über Theater und Museen diskutiert wurde und über die Rolle die Kultur als Identitätsstifterin in einem Gemeinwesen, das eben auch und gerade durch Kultur zu einer Gemeinschaft wird und damit auch Solidarität hervorbringen kann; wenn in der Linken das Verständnis dafür, dass Gender Mainstreaming weder die moderne Fortsetzung einer Frauenpolitik ist noch diese ersetzen kann; wenn Kulturschaffende und Kunstfreunde sich mit der Notwendigkeit einer Gewerbesteuererhöhung und einer Einführung eines Sozial-Tickets beschäftigen, dann tut sich was in den Köpfen, dann tut sich was in der Freiburger Kommunalpolitik.

Und es hat sich etwas getan. Und dann schreibt die Badische Zeitung mittlerweile von den "vier großen Fraktionen". Natürlich ist das Ausdruck einer gewachsenen Stärke der Unabhängigen Listen, der linken Opposition im Gemeinderat (ja, mittlerweile sieht sich auch kult, sehen sich die kult-Stadträte als Teil der "linken" Opposition). Diese gewachsene Stärke macht sich in der tagtäglichen Arbeit im Gemeinderat durchaus bemerkbar. Es ist aber eben auch Ausdruck eines gewissen Respekts, Ausdruck der Tatsache, dass die Fraktionsgemeinschaft der Unabhängigen Listen zu allen wesentlichen inhaltlichen Auseinandersetzungen in der Freiburger Kommunalpolitik der letzten Jahren klare und nachvollziehbare Positionen bezogen hat. Positionen, die in sich stringent und konsequent waren. Und die eine deutliche Gegenposition gegen den neoliberalen Kurs des "Sparens um jeden Preis", des "schlanken Staats" mit drastischem Personalabbau bei der Stadt und den städtischen Gesellschaften, des Privatisierens öffentlichen Eigentums, der Orientierung an Investoreninteressen, der Politik der verschlossenen Türen und mit seiner Angst vor echter Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie.

Widerstand gegen unsoziale und demokratiefeindliche Politik kann nur durch eine starke außerparlamentarische Opposition erfolgreich sein. Eindeutig gegen die UL und ihre Politik der Einbeziehung außerparlamentarischer Opposition sind die neuen Regelungen zur Verschwiegenheitspflicht gerichtet. Die UL sagt: Demokratie braucht Transparenz - für ein Gläsernes Rathaus.


* Die Fraktion "Unabhängige Listen" im Freiburger Gemeinderat besteht aus drei Gemeinderäten der Linken Liste - Solidarische Stadt, aus einer Gemeinderätin von den Unabhängigen Frauen Freiburg und zwei Gemeinderäten der Kulturliste.
Infos: www.lisst-freiburg.de


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* Freiburg. In einer mit mehr als 70 (meist wahlberechtigten) Anwesenden gutbesuchten siebenstündigen Mitgliederversammlung wählte die Linke Liste - Solidarische Stadt am 8. Februar 48 KandidatInnen und 5 ErsatzkandidatInnen für die Kommunalwahl am 7. Juni 2009. Außerdem wurde nach ca. einstündiger Diskussion einstimmig eine politische Resolution zur Kommunalwahl verabschiedet mit dem Titel: Freiburg muss bezahlbar sein - für alle Menschen in unserer Stadt! - Gewählt wurden auf Platz 1: Michael Moos, Rechtsanwalt, 2: Hendrijk Guzzoni, Altenbetreuer, 3: Ulrike Schubert, Buchhändlerin (alle drei schon bisher im Gemeinderat) Auf Platz 4 wurde gewählt Prof. Dr. med. Lothar Schuchmann, Kinderarzt und Kreisvorsitzender der Partei die Linke. Auch auf weiteren Plätzen sind Kandidatinnen und Kandidaten aus der Partei die Linke vertreten.


Die Linke in Mannheim: offene KandidatInnenliste steht.
Die Linke Mannheim hat am 17. Januar auf einem Kreisparteitag ihre Offene Liste gewählt. Der Parteitag war gut besucht. Auch zahlreiche Nicht-Parteimitglieder waren anwesend, um als BewerberInnen die Listenbildung zu unterstützen. Erklärtes Ziel des Kreisverbandes ist es, durch ein möglichst breites Bündnis die Chancen für eine starke linke Gemeinderatsvertretung zu verbessern. In geheimen Abstimmungen setzten die stimmberechtigten Parteimitglieder dieses Ziel um. So sind auf der Liste auch im vorderen Drittel Mitglieder befreundeter Organisationen und Initiativen vertreten. Gudrun Kuch, Stadträtin der Linken Liste in Mannheim, führt die Liste an. Ihr folgen Thomas Trüper, (Betriebsratsvorsitzender), Marianne Marten (Geschäftsführerin), Roland Schuster (Elektroniker), Murat Kayarslan (Industriekaufmann, DIDF), Ursel Risch (Erzieherin). Die Liste weist insgesamt 48 KandidatInnen aus.


Die Linke Stuttgart hat nominiert.
Am 24. Januar hatte der Kreisverband der Linken in Stuttgart einen Wahlmarathon zu absolvieren. Zunächst wurden die beiden Direktkandidaten für die Bundestagswahl am 27. September nominiert: Ulrich Maurer, der schon bisher für die Linke im Bundestag als Abgeordneter ist, und Marta Aparicio, gebürtige Argentinierin, die viele kommunalpolitisch Interessierte wegen ihres Einsatzes für die Migranten kennen. Der nächste Block war die Wahl der 60 Kandidatinnen und Kandidaten für die Gemeinderatswahl am 7. Juni. Der Kreisvorstand der Linken hatte eine Vorschlagsliste gemacht, die bis auf eine Ausnahme von den rund 65 anwesenden stimmberechtigten Mitgliedern bestätigt wurde. Die ersten zwölf Plätze wurden in Einzelwahlen bestimmt, die restlichen von Platz 13 bis Platz 60 (bzw. 65 mit Ersatzkandidaten) in einer Blockwahl.

Auf Platz 1 wurde mit 91% die bisherige Stadträtin Ulrike Küstler (64 Jahre) gewählt, die weiteren Plätze wie folgt: 2 Thomas Adler, Betriebsrat, 55. 3 Ariane Raad, Studentin, 25. 4 Ali Murat Gül, Lagerist, 36. 5 Dagmar Uhlig, Kundenbetreuerin, 49. 6 Ulf Hartmann, Techniker i.R., 60. 7 Laura Halding-Hoppenheit, Gastronomin, 66. 8 Harald Stingele, Diplompsychologe, 65. 9 Brigitte Tilgner, Rechtsanwältin, 59. 10 Christoph Ozasek, Student, 22. 11 Malena Alderete, Studentin, 31. 12 Karl Reif, Betriebsrat, 50

Die Wahl der Plätze 13 bis 65 erfolgte dann einstimmig. (Die vollständige Liste ist unter www.die-linke-stuttgart.de einzusehen.) Schon etwas ermüdet, wählten die Mitglieder der Stuttgarter Linken dann auch noch die 18 Kandidatinnen und Kandidaten für die ebenfalls am 7. Juni stattfindende Wahl zum Regionalparlament. Auf den aussichtsreichen Platz 1 wurde Wolfgang Hoepfner, Straßenbahnfahrer und Betriebsrat, gewählt, auf Platz 2 Christoph Ozasek, Student, und auf Platz 3 Irene Köberle. Jetzt steht nach der Wahl der Kandidatinnen und Kandidaten noch die Fertigstellung des Kommunalwahlprogramms aus. Die Mitglieder des Kreisverbandes haben bisher die Grundsätze diskutiert.  alk

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Agenda 21-Beirat empfiehlt Einführung eines Sozialtickets: BOCHUM. In seiner Sitzung am 4. Februar 2009 hat der Beirat der Bochum-Agenda 21 einstimmig beschlossen, die von einem breiten Bündnis getragene Forderung nach der Einführung eines Sozialticket zu unterstützen. In einer Erklärung heißt es: "Die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Bochum nimmt immer mehr zu. So waren nach Angaben der ARGE allein 2007 rund 38.600 Menschen auf deren Leistungen angewiesen. Tausende weitere sind von Armut betroffen, weil die Rente oder der Lohn kaum zum Leben reicht. Hartz IV-Empfänger können sich Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln bei einem Regelsatz von 351 Euro schlicht nicht leisten." ... Der Beirat hält ein Sozial-Ticket für dringend geboten, um das Grundrecht auf Mobilität und die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben zu sichern und beruft sich dabei auf die vom Rat einstimmig verabschiedeten Agenda-Leitlinien. Mobilität sei wichtig, wenn es darum gehe, einen Arbeitsplatz zu finden oder preisgünstig einzukaufen. Selbst Suppenküchen und Kleiderkammern seien oft nur über lange Anfahrtswege erreichbar.
www.bo-alternativ.de/


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Beschäftigungsprogramm bei gemeinnützigen Trägern: BRAUNSCHWEIG. Eine Anfrage der Linksfraktion zu § 16 e des Sozialgesetzbuches II hatte gezeigt: Dass es möglich, ist für Erwerblose die auf den aktuellen Arbeitsmarkt besonders geringe Chancen haben, einen Lohnzuschuss von bis zu 75% von der ARGE zu erhalten; dass die Stadt die fehlenden 25% ergänzen kann, aber dafür real nur Kosten von 150-250 € je Monat und Arbeitsplatz entstehen, da für die Stadt zugleich die Kosten für Wohnung und Heizung entfielen; dass die bei der ARGE Braunschweig dafür bereitstehenden Mittel bisher weitgehend ungenutzt blieben; dass vor diesem Hintergrund auch die Verwaltung Möglichkeiten sieht, nach diesem Modus bis zu 30 Arbeitsplätze einzurichten. Diese Initiative der Linksfraktion führte in der Sozialausschusssitzung schließlich zu einem Beschluss auf Antrag der CDU-Fraktion, welcher die Verwaltung auffordert schnellstmöglich die Voraussetzung zu schaffen, um 30 solcher Arbeitsplätze bei gemeinnützigen Trägern einzurichten.
www.linksfraktion-braunschweig.de/


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Landrat kommt Auskunftspflicht nach § 35a NLO nicht nach: GÖTTINGEN. Die Fraktion der Linken im Kreistag hat sich mit einem Schreiben an die Kommunalaufsicht gewandt, in dem sie mit rechtlichen Schritten gegen die Landkreisverwaltung droht. Anlass für den Ärger liegt in einer wiederholten Verweigerung einer Antwort der Kreisverwaltung auf eine Anfrage der Linken zur Übernahme von Heizkosten für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II und XII."
www.linkspartei-goettingen.de/


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Das Aus für den kommunalen Schulmittelfonds! FRANKFURT a.M. Mit tiefer Bestürzung haben die Stadtverordneten der Linken erfahren, dass es auf kommunaler Ebene keinen Schulmittelfonds geben wird. "Diese Entscheidung ist ein Schlag ins Gesicht und eine große Enttäuschung für viele betroffene Eltern und deren Kinder" empört sich Yildiz Köremezli-Erkiner, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke. Der Stadt Frankfurt reicht es offensichtlich völlig aus, dass über das bundesweite Familienleistungsgesetz Kinder und Jugendliche aus Hartz IV-Familien ab Schuljahresbeginn August/September 2009 100 € zu Beginn eines jeden Schuljahres für Schulmaterial erhalten. Diese Regelung gilt allerdings nur von Beginn des ersten bis zum Abschluss des zehnten Schuljahres. Jugendliche, die auf weiterführende Schulen gehen, sowie Kinder und Jugendliche, die Leistungen durch das Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, gehen leer aus. Auch Kinder von Familien, ohne Aufenthaltsstatus sind von dieser bundesweiten Regelung ausgenommen ... Gegen Armut in der Stadt müsste dringend mehr getan werden. Kinder und Jugendliche sind durch eine unzureichende Ausstattung mit Schulmitteln nicht in der Lage, den üblichen Standard zu erreichen. Sie werden u.a. auch deswegen ihrer Chancengleichheit auf Zugang zur Bildung beraubt.
www.dielinke-im-roemer.de/


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Erstausstattung für I-Dötzchen mit Köln-Pass! KÖLN. Die Fraktion Die Linke Köln hat einen Antrag in den Rat eingebracht, nach dem die Stadt für Erstklässler mit Köln-Pass die Erstausstattung bis zu 160 € finanzieren soll. Die Fraktion sieht sich in ihrem Antrag bestärkt durch das Urteil des Bundessozialgerichts vom 27.1.2009, in dem die Festsetzung der Hartz IV-Regelsätze für Kinder für verfassungswidrig erklärt wurde. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Özlem Demirel hierzu: "Die Regelsätze sind willkürlich und berücksichtigen nicht den tatsächlichen Bedarf der Kinder. Im Arbeitslosengeld II sind für Papier und Schulmaterial 1,79 € pro Monat vorgesehen." Die ALG II-Sätze sind nicht am tatsächlichen Bedarf der Kinder orientiert und decken deshalb Ausgaben wie die Erstausstattung nicht mit ab. Im Gegensatz zur Sozialhilfe können Bezieher und Bezieherinnen von ALG II keine Erstattung von Sonderausgaben wie der Erstausstattung beantragen. Eben diese Punkte bewerteten auch die Richter des Bundessozialgerichtes als dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes widersprechend. In der Festsetzung der Unterstützung auf 160 € folgt die Fraktion Die Linke Köln dem AWO Kinderfonds, der diesen Extrabedarf für die Einschulung berechnete. Schulbücher und Sportsachen sind in diesem Wert noch nicht enthalten. Die Fraktion bezieht einkommensschwache Familien, die den Köln-Pass besitzen, in diese Unterstützung ausdrücklich mit ein, da auch für sie die zusätzlichen Ausgaben für ihre I-Dötzchen kaum finanzierbar sind.
www.linksfraktion-koeln.de/


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Stadtwerke bleiben städtisch: QUEDLINBURG. Die Quedlinburger wollen die Stadtwerke behalten. Beim Bürgerentscheid am Sonntag stimmen 6241 Männer und Frauen gegen einen Anteilsverkauf. Das sind 33,2 Prozent aller Wahlberechtigten. Nur 686 Quedlinburger - das sind 3,6 Prozent der Wähler - sind für eine Teilprivatisierung der Stadtwerke. Die Wahlbeteiligung liegt bei 36,9 Prozent. Die Freude bei der Bürgerinitiative "Die Stadtwerke gehören uns Quedlinburgern" ist nach Bekanntwerden des vorläufigen Ergebnisses groß. Enttäuscht äußert sich Bürgermeister Eberhard Brecht, der das Ergebnis als Willensbekundung der Quedlinburger akzeptierte, die Anteilsveräußerung "persönlich aber nach wie vor für den besseren Weg" hält.
www.mz-web.de/artikel?id=1229852961826'


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Ein neues Stadtwerk im Ruhrgebiet? GELSENKIRCHEN. Als in den 90er Jahren im nördlichen Ruhrgebiet über die Gründung von Stadtwerken nachgedacht wurde und die RWE-Dominanz in Gefahr zu sein schien, reagierte RWE auf die Ideen der Städte mit der Gründung der Emscher Lippe Energie. Die ELE ist der führende Energieversorger für Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop. Das Unternehmen gehört RWE (58,9 Prozent), der vom RWE dominierten rhenag (20,1 Prozent) und mit je sieben Prozent den Städten Gladbeck und Bottrop sowie der stadteigenen Gelsenkirchener Gesellschaft für Energie und Wirtschaft (GEW). Am 30. Juni 2013 enden die Verträge, und es ist nicht sicher, ob die Städte diese Verträge verlängern werden. Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski macht sich in einem Papier Gedanken, ob die Gründung eines eigenen Stadtwerks oder die Kooperation mit den Nachbarstädten nicht lukrativer sein könnte. Da Ende 2014 auch die Konzessionsverträge der Stadt mit der GEW auslaufen, ist der Zeitpunkt günstig, neue Strukturen zu schaffen. Baranowski: "Das Auslaufen der Verträge eröffnet der Stadt Gelsenkirchen neue Handlungsmöglichkeiten. (...) Ein neuer Netzbetreiber könnte die GEW, ein eigenes, neu gegründetes Stadtwerk (unter Einbeziehung anderer Städte) sein oder aber ein bereits bestehender Energieversorger (z.B. benachbartes Stadtwerk, Gelsenwasser)." Es gebe, so Frank Baranowski, Beispiele dafür, dass die Städte neue Stadtwerke gründen oder Überlegungen in diese Richtung anstellen. Für eine solche Lösung sprechen nach Ansicht Baranowskis auch politische Gründe: Ziele wie den verstärkten Einsatz regenerativer Energien, Klimaschutz etc. seien mit eigenen Stadtwerken leichter zu umzusetzen. Nun soll ein externer Berater prüfen, was die für die Stadt beste Lösung ist.
www.ruhrbarone.de/


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Politik muss dezentrale Energieversorgungsstrukturen stärken: BERLIN. "Stadtwerke können einen wichtigen Beitrag leisten zu einer effizienten Energienutzung, die die europäische und deutsche Klimaschutzpolitik unterstützt und zugleich die Verbraucher über den sparsamen Umgang mit Energie informiert. Durch eine überbordende Regulierung darf allerdings nicht die Investitionsfähigkeit der kommunalen Unternehmen gefährdet werden. Deshalb ist die Forderung nach einer in sich konsistenten Energiepolitik richtig", erklärte Hans-Joachim Reck, Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU), zu dem zweiten Bericht der vom Bundeswirtschaftsministerium eingesetzten "Projektgruppe Energiepolitisches Programm" (PEPP). Die Projektgruppe spricht sich dafür aus, alle für den Energiemarkt relevanten Gesetze und Verordnungen auf ihre Konsistenz hin zu überprüfen. Nach Auffassung der Experten könnte die Vielzahl der regulatorischen Maßnahmen zu einer Überregulierung der Energiemärkte und unerwünschten Wirkungen führen. Der VKU empfiehlt dem Bundeswirtschaftsminister in diesem Zusammenhang auch, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Regulierung auf die Investitionsfähigkeit der Stadtwerke zu prüfen und entsprechende Korrekturmaßnahmen zu ergreifen.
http://www.vku.de/

(Zusammenstellung: ulj)

Raute

Landesweiter Streik- und Aktionstag der Gewerkschaften Verdi, GdP und GEW

3. Februar 2009: 50.000 Landesbedienstete beteiligen sich bundesweit, davon über 14.000 Landesbeschäftigte in Niedersachsen. Ihre Forderung: 8 % mehr Lohn, mindestens 200 Euro.

Nachdem der Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), Niedersachsens Finanzminister Hartmut Möllring, in der zweiten Verhandlungsrunde am 26. Januar in Potsdam kein Tarifangebot unterbreitet hat, erhöhen die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes nun ihrerseits mit Warnstreiks den Druck auf die TdL. Sie wollen erreichen, dass die TdL in der dritten Verhandlungsrunde am 14./15. Februar ein verhandlungsfähiges Angebot unterbreiten.

In bayerischen Städten legten Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs die Arbeit nieder.

In Mecklenburg-Vorpommern erschienen ca. 4000 Angestellte von Schulen und Straßenmeistereien und Innenministerium nicht zur Arbeit.

Der landesweite Aufruf für Niedersachsen wurde von Beschäftigte von Kliniken, u. a. 200 Beschäftigte der Medizinischen Hochschule Hannover, Hochschulen, Straßenmeistereien, Feuerwehren, Verwaltungsmitarbeitern, Lehrerinnen/Lehrern und Polizistinnen/Polizisten unterstützt. Die Gewerkschaft der Polizei hatte bundesweit zur Demonstration aufgerufen, ca. 5000 Polizistinnen/Polizisten nahmen teil.

Auf der zentralen Streikversammlung in Hannover sagte Verdi-Vorsitzender Frank Bsirske: "Respektieren denn die Finanzminister die Arbeit der Landesbeschäftigten nicht? Heute geben wir ihnen die Antwort auf ihre Verweigerungshaltung. Die Beschäftigten sind keine manövrierbare Masse der Finanzminister und keine Opferlämmer. Jetzt seid Ihr dran!"

Der Vorsitzende der GdP, Konrad Freiberg, der die Polizisten bundesweit zu diesem Aktionstag aufgerufen hat, erklärte: "Wir wollen keine 500 Milliarden, wir wollen keine 50 Milliarden, wir wollen 8 Prozent! Wir wollen nicht die Zeche für geldgierige Banker und unfähige Politiker zahlen."

Eberhard Brandt, GEW-Landesvorsitzender in Niedersachsen, betonte: "Gemeinsam mit Angestellten haben heute auch Beamte für 8 Prozent mehr Geld und 1000 neue Stellen im Schuldienst am Aktionstag teilgenommen." Eberhardt Brandt, Landesvorsitzender der GEW Niedersachsen kündigte für die kommende Woche Unterrichtsausfälle an, dann würden angestellte Lehrer in den Ausstand treten und zwar nicht "stunden- sondern tagelang".   (bee)

Quellen: "Hannoversche Allgemeine Zeitung", "Neue Hannoversche Presse", http://nds-bremen. verdi.de


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Verdi startet Kampagne für Beschäftigte in Leiharbeit

Unfaire Bezahlung, Zeitarbeit auf Dauer, schlechte Arbeitsbedingungen, unterhöhlte Tarifverträge, Ausschluss von der Weiterbildung, Leben auf Abruf und schlechtes Betriebsklima - all diese Begleitumstände prägen den Alltag der Beschäftigten in Leiharbeit. Deren Lage und den Schutz der Stammbelegschaften will die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft entscheidend verbessern. Deshalb hat sie eine Kampagne gestartet, im Internet begleitet unter der Adresse http://www.hundertprozentich.de/
Quelle: www.verdi.de


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Nestlé USA muss 6000 Arbeitnehmern Löhne nachzahlen

Die Firma Nestlé Prepared Foods, die zu Nestlé USA gehört, muss an 6000 Arbeitnehmer insgesamt 5,1 Millionen US-Dollar Lohnnachzahlungen für die zum Umziehen in Arbeits- und Schutzkleidung erforderliche Zeit leisten, weil diese Umkleidezeit nicht als Arbeitszeit galt. Hierzu die amtliche Pressemitteilung der US-Regierung: "Untersuchungsbeauftragte haben ermittelt, dass Produktions-, Wartungs- und Reinigungskräfte in den Produktionsbetrieben Chatsworth, Calif., Springville, Utah, und Jonesboro, Ark., keine Vergütung für die zum An- und Ablegen der vorgeschriebenen Ausrüstung und Kleidung vor und nach der Schicht erhielten, wie dies das Bundesgesetz über korrekte Arbeitsnormen (FLSA) vorsieht."
www.iuf.org


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Gute Arbeit für Hausangestellte: Initiative strebt ILO-Konvention an

"Respekt und Rechte für Hausangestellte" ist das Thema eines neuen Internetportals, das ein weltweites Netz knüpfen will, um gerechte Arbeitsbedingungen für Hausangestellte durchsetzen zu können. Initiator des Portals ist die Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-, Hotel-, Restaurant-, Café- und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften (IUL). Inhaltlicher Startschuss für die Kampagne war eine Konferenz 2006. Ein erster Erfolg: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) will 2010 ein Verfahren einleiten, das - so das Ziel der Initiative - 2011 zu einer internationalen Konvention über Bedingungen für Arbeit im Haushalt führt.

Das Internetportal informiert auf Englisch, Französisch und Spanisch unter: www.domesticworkerrights. org.Quelle: Publikation "Forum Migration Dezember 2008"


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Sozialer Dialog

Das Projekt "Förderung des betrieblichen sozialen Dialogs in einem multinationalen Unternehmen am Beispiel von Metro Rumänien" dauerte zwei Jahre. Bei den 14 Veranstaltungen wurden junge rumänische Gewerkschafter/innen von Praktiker/innen aus Deutschland geschult. Eine 21-köpfige Gruppe besuchte Deutschland. Finanziert wurde das Projekt vom Bundesarbeitsministerium, konzeptionell betreut von der Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Projektpartner waren Verdi und der rumänische Handelsgewerkschaftsbund FSC. Da es sich dabei um ein Projekt zur Förderung des sozialen Dialogs handelte, wurden auch Arbeitgebervertreter zu den Seminaren eingeladen.
www.verdi-news.de 29. Nov. 08

Raute

Weltweite Übersicht des IGB für das Jahr 2007:

Gewerkschaftsfeindlichkeit forderte 91 Menschenleben

BRÜSSEL, 20. November 2008: Aus der diesjährigen Jährlichen Übersicht des IGB über die Verletzungen von Gewerkschaftsrechten gehen alarmierende Gewerkschaftsfeindlichkeit, gewerkschaftsfeindliche Gesetze, Einschüchterungen und Gewalt gegen die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerschaft während des Jahres 2007 hervor. Weltweit wurden insgesamt 91 Gewerkschaftsvertreter/innen ermordet, weil sie sich für die Arbeitnehmerrechte eingesetzt hatten, wobei Kolumbien, wo 39 Menschen ihr Leben verloren, erneut das gefährlichste Land für Gewerkschafter/innen war. An zweiter Stelle stand Guinea, wo das Regime von Präsident Lansana Conté im Zuge der brutalen Unterdrückung der von den Gewerkschaften organisierten öffentlichen Demonstrationen gegen die Korruption und die Verletzungen grundlegender Rechte direkt für die Ermordung von 30 Gewerkschaftern verantwortlich war. In der Übersicht wird zudem eine erschreckende Zunahme der Gewalt in Guatemala festgestellt, der Gewerkschafter/innen verstärkt zum Opfer fielen: Vier Gewerkschafter wurden in dem Land ermordet, und es kam zu vermehrten Drohungen und Belästigungen.

Aus der Übersicht, in der Arbeitnehmerrechtsverletzungen in 138 Ländern aufgelistet werden, gehen zahlreiche beunruhigende Trends hervor, darunter Absprachen zwischen einigen Regierungen und Arbeitgebern, um den Beschäftigten ihre legitimen Rechte und eine Gewerkschaftsmitgliedschaft sowie eine gewerkschaftliche Vertretung vorzuenthalten. In 63 Ländern wurde über ernsthafte und systematische Belästigungen und Einschüchterungen berichtet. 73 Gewerkschafter/innen wurden während des Jahres 2007 inhaftiert, darunter allein 40 im Iran, wo die systematische Unterdrückung von Gewerkschaftsorganisatoren im Verkehrs- und Bildungswesen sowie in anderen Sektoren anhielt. In Marokko wurden 14 Gewerkschafter in Gefängnisse eingewiesen, in Birma, wo die Junta im Rahmen ihrer brutalen Unterdrückung jeglicher Schritte in Richtung auf Demokratie und Menschenrechte besonders hart gegen aktive Gewerkschaftsmitglieder vorging, waren es sieben.

"Die Unterdrückung legitimer Gewerkschaftsaktivitäten, die gemäß IAO-Übereinkommen garantiert sind, hielten auf allen Kontinenten unvermindert an. Es kam zu Mord, Gewalt und Folter, ebenso wie zu Belästigungen, Entlassungen und Inhaftierungen, um arbeitende Menschen daran zu hindern, Gewerkschaften zu organisieren und Tarifverhandlungen zu führen, um menschenwürdige Löhne und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Viele Regierungen sind nur zu gern bereit, skrupellose Arbeitgeber entweder offen oder verdeckt dabei zu unterstützen, ihren Beschäftigten grundlegende Rechte zu verweigern", kommentierte IGB-Generalsekretär Guy Ryder. "Die Regierungen haben entweder zu Hause oder im Rahmen ihrer internationalen diplomatischen, wirtschaftlichen oder handelspolitischen Beziehungen nicht genug getan, um die Arbeitnehmerrechte zu schützen", fügte er hinzu.

In 15 Ländern wurden neue gesetzliche und administrative Maßnahmen im Widerspruch zu den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation verfügt, hauptsächlich in Asien, aber u.a. auch im Tschad, in Ghana, Madagaskar, Mauritius, Tansania und Georgien, wo schätzungsweise 20.000 Beschäftigte von gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgebern entlassen wurden, die von dem neuen Arbeitsgesetz des Landes profitierten, das den Beschäftigten selbst grundlegendste Schutzvorkehrungen verweigert. Weißrussland, "Europas letzte Diktatur", beging weiterhin ernsthafte und anhaltende Gewerkschaftsrechtsverletzungen.

In Afrika griffen die Arbeitgeber in zahlreichen Ländern auf unzureichende Arbeitsgesetze zurück, um Gewerkschaftsspaltungen anzustacheln und zu fördern und von Arbeitgebern kontrollierte Gruppen anstelle einer legitimen Gewerkschaftsvertretung ins Leben zu rufen. Zu unverhohlener Gewerkschaftsfeindlichkeit kam es erneut in Simbabwe und Swasiland, die zudem auf einer Liste derjenigen Länder standen, in denen chinesische Betriebe oder von China finanzierte Projekte wegen schlechter Arbeitsbedingungen oder Ausbeutung ihrer Beschäftigten verurteilt wurden. Neben Guinea führt die Übersicht auch Äthiopien, Mosambik und Simbabwe als Länder an, in denen Gewerkschafter/innen ermordet wurden.

Aber auch in mehreren Industrieländern unterlagen legitime Gewerkschaftsaktivitäten weiterhin Beschränkungen, wobei vor allem den Beschäftigten im öffentlichen Dienst ihre Gewerkschaftsrechte verweigert wurden. In der Europäischen Union stellten zudem die Gerichtsurteile in den Fällen "Viking" und "Laval" eine erhebliche Gefahr für zuvor anerkannte Rechte dar, und die Regierungen Bush und Howard in den USA bzw. in Australien gingen noch entschiedener als zuvor gegen die gewerkschaftliche Organisierungsarbeit vor. Eine positive Entwicklung war die Wahlniederlage der Regierung Howard in Australien im November 2007, als die Wähler u.a. gegen deren kontroverse "Work Choices"-Gesetzgebung stimmten, die während des Wahlkampfes eine wichtige Rolle gespielt hatte.

In allen Regionen wurden Wanderarbeitskräfte ausgebeutet und Missbräuchen ausgesetzt, und häufig wurde ihnen das Recht auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft und auf eine gewerkschaftliche Vertretung abgesprochen. Viele der schlimmsten Fälle ereigneten sich im Nahen Osten, und zahlreiche Bauarbeiter kamen Berichten zufolge in Katar infolge erschreckender Lebens- und Arbeitsbedingungen ums Leben.

Wie in Freien Exportzonen (FEZ) anderswo kam es auch in den FEZ im Nahen Osten zu zahlreichen Arbeitnehmerrechtsverletzungen, und besonders hervorgehoben wurde dabei erneut die erschreckende Ausbeutung ausländischer Hausangestellter in der Region. In Saudi-Arabien, wo jede Form der Arbeitnehmerorganisation streng von den Behörden kontrolliert wird, wurden vier weibliche Hausangestellte aus Indonesien derart von ihren Arbeitgebern geschlagen, dass zwei von ihnen starben, und die Polizei holte die beiden anderen gewaltsam aus dem Krankenhaus. Zwei Gewerkschafter, von denen einer entführt und gefoltert wurde, wurden im Irak aufgrund ihrer Gewerkschaftsarbeit getötet.

Auch in Asien hatten Wanderarbeitskräfte unter Rechtsverletzungen zu leiden. In Südkorea unterdrückte die Regierung die Migrantengewerkschaft, und in Brunei, Thailand und Singapur wurde Wanderarbeitskräften ihr Vereinigungsrecht verweigert. Unter dem Militärregime in Pakistan wurden Gewerkschaftsaktivitäten ernsthaft beschränkt, und in Bangladesch wurden sie schlichtweg verboten. China wurde wegen weit reichender Rechtsverletzungen erneut hervorgehoben, und die nordkoreanische Diktatur hielt ebenfalls an ihrem absoluten Verbot einer legitimen gewerkschaftlichen Organisierung fest. Über Morde an Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern wurde wieder in Kambodscha und den Philippinen berichtet.

Lateinamerika war auch während des Jahres 2007 wieder der gefährlichste Kontinent für die Verrichtung von Gewerkschaftsaktivitäten, mit Morden, Entführungen, Morddrohungen und Überfällen in zahlreichen Ländern. Während die Zahl der Morde in Kolumbien im Vergleich zum Vorjahr leicht zurückging, scheiterten viele Mordversuche an Gewerkschaftern und andere Formen der Gewalt nahmen deutlich zu, wie etwa Zwangsvertreibungen, willkürliche Verhaftungen, illegale Razzien und Drohungen, vor allem in der Landwirtschaft, im Bildungs- und im Gesundheitswesen. Morde wurden zudem nicht nur in Guatemala, sondern auch in Argentinien, Brasilien, Chile, El Salvador, Mexiko, Panama und Peru dokumentiert.

In der jährlichen Übersicht werden zudem zahlreiche beunruhigende Trends aufgezeigt, die während des Jahres 2007 immer deutlicher hervortraten und sich 2008 fortsetzten. Viele Regierungen verwenden eine sehr breit gefasste Definition "wesentlicher Dienste", um vor allem den Beschäftigten im öffentlichen Dienst das Vereinigungs- und das Tarifverhandlungsrecht zu verweigern. Eine deutliche Zunahme der Unterdrückung von Arbeitnehmerrechten war im Mediensektor festzustellen, da sich Journalisten mit zunehmender Gewerkschaftsfeindlichkeit seitens der Regierungen konfrontiert sahen, die sich öffentlichen Untersuchungen entziehen wollten. Eine der besonders alarmierenden Entwicklungen, die sich durch den gesamten Bericht zieht, betrifft Maßnahmen sowohl nationaler als auch internationaler Arbeitgeber, häufig gestützt auf gesetzliche Bestimmungen, die darauf abzielen, unbefristete Vollzeitstellen in prekäre Beschäftigungsformen umzuwandeln, indem die Beschäftigten zu befristeten, Gelegenheits- und Teilzeittätigkeiten gezwungen werden, durch die ihre Löhne sinken, ihr Arbeitsplatz unsicher wird und sie einer ungerechten und willkürlichen Behandlung ausgesetzt werden, einschließlich der Gefahr, ihre Existenzgrundlage zu verlieren, ohne angemessene Vorwarnung oder Entschädigung. Viele Unternehmen haben diese Richtung eingeschlagen, indem sie reguläre Beschäftigte durch "Leiharbeitskräfte" ersetzt haben, um sich Aufgaben und Pflichten zu entziehen, die sie andernfalls erfüllen müssten.

"Es werden globale Muster deutlich, wie etwa Prekarisierung und Outsourcing, die eine enorme Gefahr für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überall auf der Welt darstellen. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Gefahr mit der sich verschlechternden Weltwirtschaftslage noch zunimmt, und die Regierungen müssen verantwortungsvoll handeln, um in einer Zeit, in der dies für die Beschäftigten und die Wiederbelebung der Wirtschaft notwendiger denn je ist, für sichere und menschenwürdige Arbeitsplätze zu sorgen", so Ryder.

Quelle: http://www.ituc-csi.org

Raute

Mit einem Projekt hat Verdi geholfen, rumänische Gewerkschaften aufzubauen

4800 neue Mitglieder!

(hla) Ein Nachmittag Mitgliederwerbung in den real- und Metro Cash & Carry-Märkten in Bukarest. In Zweier- oder Dreierteams sind die jungen rumänischen Gewerkschafter/innen losgezogen, um die Beschäftigten von den Vorteilen ihrer neu gegründeten Betriebsgewerkschaften zu überzeugen. Die Bilanz am Abend: über 100 neue Mitglieder. Und das Wissen über vorhandene Probleme: In einer Filiale wird der Tarifvertrag nicht eingehalten, in einer anderen werden die Gehälter willkürlich vergeben. "Darüber sind wir enttäuscht. Aber es stärkt unseren Kampfeswillen", sagt Carmen Popa, Generalsekretärin der Realitatea, der Betriebsgewerkschaft bei der zum Metro-Konzern gehörenden Einzelhandelskette Real in Rumänien.

Sie ist eine der Teilnehmerinnen an einem Projekt, mit dem die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und der rumänische Dachverband der Handelsgewerkschaften FSC den sozialen Dialog am Beispiel des Unternehmens Metro stärken wollen. Zwei Jahre lang haben sich regelmäßig zumeist junge rumänische Gewerkschafter/innen zum Seminaren getroffen. Mit deutschen Kolleg/innen - hauptamtlichen oder auch Betriebsrät/innen aus dem Metro-Konzern - haben sie sich ausgetauscht und verglichen, wie in beiden Ländern die Standards zu Arbeitsrecht oder Arbeitsschutz sind. In Rollenspielen haben sie Mitgliederwerbung geübt oder Tarifverhandlungen, haben an ihren Forderungen gefeilt oder sich über Argumente ausgetauscht.

Als die Seminarreihe vor zwei Jahren begonnen hat, gab es den Dachverband FSC, aber keine nach rumänischem Recht notwendigen Betriebsgewerkschaften. Die Bilanz bei der Abschlussveranstaltung Mitte November in Bukarest: drei neue Gewerkschaften, drei Tarifverträge und 4800 neue Mitglieder. "Ich bin tief beeindruckt von dem, was ihr in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt habt", sagt Ulrich Dalibor, Leiter der ver.di-Bundesfachgruppe Einzelhandel. Er lobte besonders den Optimismus und das Engagement der rumänischen Gewerkschafter/innen. [*] Mathias Flickschu, der das Projekt für den Bereich Europa und Internationales beim ver.di-Bundesvorstand betreut hat, sieht das Projekt keineswegs als Einbahnstraße von Deutschland nach Rumänien: "Der unvoreingenommene Enthusiasmus hat auch langgediente deutsche Betriebsräte beeindruckt."

"Gewerkschaftsarbeit kann nur mit Leuten aufgebaut werden, die den Funken haben und weitergeben", sagt der Vorsitzende des FSC, Vasile Gogescu. Zu Vorteil aller: "Mit diesem Projekt ist ein tragfähiges Netzwerk entstanden zwischen Arbeitnehmervertretern im selben Unternehmen. Das kann helfen, bei Standortverlagerungen, Rationalisierung und Entlassungen schnell zu reagieren", sagt Flickschu.
www.socialdialog-romania.eu

Sozialer Dialog

Das Projekt "Förderung des betrieblichen sozialen Dialogs in einem multinationalen Unternehmen am Beispiel von Metro Rumänien" dauerte zwei Jahre. Bei den 14 Veranstaltungen wurden junge rumänische Gewerkschafter/innen von Praktiker/innen aus Deutschland geschult. Außerdem besuchte eine 21-köpfige Gruppe Deutschland. Finanziert wurde das Projekt vom Bundesarbeitsministerium. Konzeptionell betreut hat es die Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Projektpartner waren ver.di und der rumänische Handelsgewerkschaftsbund FSC. Da es sich dabei um ein Projekt zur Förderung des sozialen Dialogs handelte, wurden auch Arbeitgebervertreter zu den Seminaren eingeladen.

Quelle: ver.di NEWS 16_2008, www.verdi-news.de

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WIRTSCHAFTSPRESSE

BDI gegen Staatsbeteiligungen an Industrieunternehmen. FAZ, Frei. 16.01.09. Der neue BDI-Präsident Keitel lobt das von der Bundesregierung beschlossene 50-Mrd.-Euro-Ausgabenprogramm, vor allem die damit verbundenen Investitionen und Steuersenkungen. Auch wenn die konjunkturellen Wirkungen erst in einigen Monaten sichtbar würden, so bedürfe es keiner weiteren staatlichen Ausgabenprogramme zur Konjunkturstützung. "Die Politik darf den Menschen nicht vorgaukeln, der Staat könne die Situation alleine beherrschen." Die Regierung forderte er auf, eine wirksame Schuldenbremse zu beschließen und für eine zügige Rückzahlung der neuen Kredite "bis 2013" zu sorgen. Ziel müsse ein, das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft nachhaltig zu stärken. Ausdrücklich lehnte Keitel Staatsbeteiligungen an Industrieunternehmen ab. Staatliche Engagements an Banken seien dagegen anders zu bewerten.


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Energiebranche gegen Gasspeicher. FAZ, Mi. 21.01.09. Die deutsche Energiewirtschaft ist gegen den Vorschlag des Wirtschaftsministers M. Glos, staatliche Gasreserven anzulegen. Es sei mit 46 privaten Speichern gelungen, während des jüngsten Konflikts die deutsche Versorgung sicher zu stellen. Für RWE-Chef J. Großmann wäre die dringendere Lehre, statt die Abhängigkeit vom Gasimport immer weiter zu erhöhen, das Ziel eines breiteren Energiemixes aus verschiedenen Quellen zu verfolgen.


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Wirtschaft gegen Investitionskontrolle. FAZ, Die. 27.01.09. "Die staatliche Kontrolle ausländischer Investitionen ist gerade zum jetzigen Zeitpunkt genau das falsche Signal an potenzielle Investoren", argumentierte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage sollte das Gesetz - wenn überhaupt - zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt werden."


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Bauindustrie fordert staatliche Bürgschaften für Projektentwicklungen. FAZ, Mi. 06.02.09. Bis die Banken wieder zum normalen Arbeiten zurückgefunden hätten, fordert der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie H. Bodner, staatliche Garantien für Projektentwicklungen der Bauwirtschaft, da die Banken sich mit der Bereitstellung von Krediten schwer täten. "Ich würde es begrüßen, wenn der staatliche Bürgschaftsrahmen für die Banken auch für Projektentwicklungen, mindestens aber für PPP-Entwicklungen zur Verfügung gestellt werden könnte," so H. Bodner.

Zusammenstellung: rst

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Waren es die Wikinger?

"Das skandinavische Wohlfahrtsmodell" - Geschichte, Analysen und Vergleiche

Nicht nur bei den Linken in Schleswig-Holstein wird das Sozialmodell der skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland gerne als ideales Modell angesehen, das die Probleme des Gesundheitswesens, der Rentenversicherung und der Zeiten von Arbeitslosigkeit bestens regele und möglichst auch in Deutschland übernommen werden sollte. Die zahlreichen Arbeitslosen Schleswig-Holsteins, die in den letzten Jahren in Dänemark eine Anstellung gefunden haben, loben neben dem hohen Lohnstandard auch die soziale Versorgung bei Krankheit und im Alter, bei der Arbeitslosigkeit und Weiterbildung. Seit der Pisa-Studie zieht außerdem das kostenlose Kinderversorgungssystem und der schulische Bildungsstandard dieser Länder Experten in seinen Bann. Manchmal versteigen sich Genossen zu der psycho-historischen Behauptung, die Skandinavier seien eben immer schon - seit Wikingerzeiten - solidarischer miteinander umgegangen als ihre deutschen Nachbarn. In diesem Artikel will ich dem gegenwärtig existierenden "nordischen Modell" sowohl historisch, wie wirtschaftlich und politisch nachgehen und dazu einen Vergleich mit anderen Sozialsystemen Europas vornehmen. In diesem Artikel will ich auf der Grundlage der unten angegeben Untersuchungen das "nordische Modell" historisch, wirtschaftlich und politisch untersuchen und einen Vergleich mit anderen Sozialsystemen Europas vornehmen.


1. Typen des Wohlfahrtsstaates in Europa

Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Wohlfahrtsstaaten besser erkennen zu können, nahm der skandinavische Sozialwissenschaftler Goesta Esping-Andersen 1990 in seinem Buch "Three Worlds of Welfare Capitalism" eine vergleichende Studie vor. Er geht dabei von zwei bedeutenden Machtfaktoren aus: dem Kapital mit ungleich verteilten Ressourcen von Unternehmern auf der einen und dem politischen Staatsgebilde mit den vorhandenen (Wahl-) Rechten für die Arbeitnehmer auf der anderen Seite. Demnach konnte sich auch erst im kapitalistischen System überhaupt das Gebilde eines "Wohlfahrtsstaates" herausbilden. Im Folgenden unterscheidet er drei Typen von Wohlfahrtsstaaten

1. Der liberale Wohlfahrtsstaat sieht vor, dass Sozialleistungen möglichst streng limitiert werden, um den Griff nach sozialer Wohlfahrt statt nach Arbeit zu erschweren. Es gibt nur schwache Sozialversicherungsleistungen, so dass es - besonders in der Mittel- und Oberschicht - zu privaten Wohlfahrtsinitiativen kommt. Arme erhalten, wenn überhaupt, nur Minimalleistungen über die Versicherungen und den Staat (USA, Australien).

2. Der konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaat ist um die Erhaltung von Statusunterschieden besorgt. Individuelle Rechtsansprüche auf bestimmte Leistungen und deren Höhe sind von der Zugehörigkeit zu eine bestimmten Klasse oder Berufsgruppe abhängig, traditionelle Familienund Frauenstrukturen sollen erhalten bleiben. Die umverteilende Wirkung ist gering (Deutschland, Frankreich, Österreich).

3. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ist durch ein universales Versicherungssystem, universale Leistungen und der Idee der damit verbundenen Umverteilung von Reichtum charakterisiert. Er strebt eine Gleichheit nicht der Minimalstbedürfnisse sondern des höchsten Standards an. Arbeiter, Angestellte und Beamte, Männer, Frauen und deren Kinder, Jung und Alt, werden solidarisch in allen Lebenssituationen unterstützt und gefördert. Der soziale Staat übernimmt dafür die Verantwortung und Kontrolle (skandinavische Länder).


2. Die geschichtliche Entwicklung der Sozialversicherungen

Wohlfahrtsstaaten entstanden ausschließlich in Gesellschaften, in denen die kapitalistische Wirtschaft und der Nationalstaat bereits fest etabliert waren. Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde zunächst in den Ländern in Nordamerika, Australien, Neuseeland und Westeuropa mit der Einführung von öffentlichen Leistungen im Gesundheits- und Bildungswesen begonnen. Unter dem Kanzler Otto von Bismarck schuf das deutsche Kaiserreich im Zusammenhang mit seiner Staatsgründung 1871 als eines der ersten weltweit eine Kranken-, bzw. Unfall- und Pensionsversicherung. Diesem Beispiel einer "Sozialpolitik von oben" folgten bald die meisten westeuropäischen Staaten. Natürlich mit dem politischen Ziel, den aufkommenden sozialen und revolutionären Bewegungen den Boden zu entziehen. Erst Ende des 1. Weltkrieges zogen auch die USA nach und in den meisten westeuropäischen Ländern wurde nun auch eine Arbeitslosenversicherung etabliert. In der Regel geschah das nach dem liberalen und konservativen Wohlfahrtsmodell mit moderaten Leistungen, in die auch die Ärmsten einbezogen wurden. Diese Entwicklung setzte nach dem 2. Weltkrieg fort. Ab 1975 wurden im Zuge der Globalisierung des Kapitals und einer wachsender Konkurrenzsituation auf den Weltmärkten schrittweise - trotz erheblichem Widerstand der Betroffenen - soziale Abstriche gemacht und Einschränkungen vorgenommen.

In den nordischen Ländern setzte die Entwicklung vom armen Agrarland zum modernen Industriestaat erheblich später ein. Dennoch haben sie ihre Sozialgesetzgebung parallel zu den anderen europäischen Ländern Ende des 19. Jahrhunderts erstaunlich früh etabliert und in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verbessert. Erst nach 1945 entstand aber das eigentliche "nordische Modell". Besonders bekannt wurden schon frühzeitig die Maßnahmen des schwedischen Sozialdemokraten Olaf Palme, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, mit seinem "schwedischen Experiment" ab 1960. Er forcierte eine hohe interventionistische Politik, ein starkes Ansteigen der Regierungsausgaben für soziale Zwecke und die Schaffung eines stark progressiven Steuersystems (in den höchsten Einkommensklassen bis zu 83%). Die übrigen drei nordischen Länder folgten im wesentlichen diesem "Dritten Weg".

In den 80er und 90er Jahren wurde auch Skandinavien wie seine europäischen Nachbarn nicht von der Globalisierung, dem Konkurrenzdruck, Firmenpleiten und wachsender Arbeitslosigkeit verschont. Neue "bürgerliche" und nicht mehr ausschließlich die sozialdemokratischen Parteien kamen in den skandinavischen Ländern an die Regierung und versuchten Abstriche an der staatlichen Sozialfürsorge zu machen: Einfrieren der Löhne, Reduzierung des Krankengeldes, Senkung der Leistungen zur Arbeitslosigkeit u.a. Sie stießen dabei auf heftigen gewerkschaftlichen und bürgerlichen Widerstand. 1998 legten bis zu 500.000 Beschäftigte in einem Generalstreik fast zwei Wochen lang ganz Dänemark lahm. Das Ergebnis: Beibehaltung der sozialen Errungenschaften und der weiteren Zahlung eines hohen Arbeitslosengeldes, sowie zusätzliche Urlaubs- und Feiertage.

Aber die Regierung führte auch das sogenannte "flexicurity"-System ein, das den bisherigen Kündigungsschutz aufhob und eine starke Reglementierung des Arbeitsmarktes durch den Staat beinhaltet. Auf jeden Fall konnte es sich bisher keine skandinavische Regierungsmehrheit von der Sozialdemokratie über die Mitte bis zu den Rechten leisten, die "heilige Kuh", die staatlich finanzierte, umfassende Sozialfürsorge zu schlachten.


3. Die Ursachen für die Entwicklung der unterschiedlichen Sozialsysteme

Goesta Esping-Andersen selbst erklärt die Tatsache, dass es drei ganz unterschiedliche Arten von Umverteilung gibt, durch unterschiedliche "politische Klassenkoalitionen". Die Mittelschicht habe in verschiedenen Ländern jeweils ein unterschiedliches Interesse an sozialstaatlicher Umverteilung gezeigt. In Großbritannien z.B. gelang die Koalition mit den Sozialisten nicht, die Mittelschicht setzte nicht auf den Staat, sondern auf den freien Markt und private Versicherung. Auf dem Kontinent wiederum waren bei der Konstruktion des Sozialstaats konservative Interessen im Spiel, an denen die Kirchen besonders beteiligt waren und die schon früh die "Christdemokraten" entstehen ließen.

Diese Analyse führt nun der Konstanzer Politikwissenschaftler Philip Manow fort, worüber Jürgen Kaube in seinem unten aufgeführten Artikel berichtet. "Er setzt, ... bei den unterschiedlichen europäischen Wahlsystemen an... Bei Mehrheitswahlrecht tendiert das Parteiensystem zur Ausbildung zweier starker Parteien, einer Mitte-Links-Partei, die von der Unterschicht, und eine Mitte-Rechts-Partei, die von der Oberschicht präferiert wird... Die Mittelschicht aber schlägt sich auf die Seite rechts der Mitte, weil sie andernfalls zu hohe Steuern fürchten muss, ohne wie die Arbeiterschicht in den vollen Genuss des durch sie finanzierten Sozialstaates zu kommen. Herrscht jedoch Verhältniswahlrecht, bilden sich zumindest mehrere Parteien aus. Damit steigt die Chance für die Mittelschicht zu Koalitionen, die eine progressive Besteuerung und Transfer durchsetzen, die auch ihr zugute kommen. Die Mittelschicht stimmt allerdings nur links, wenn aus Sozialisten Sozialdemokraten werden!"

Als ein weiterer Faktor kommt hinzu: "In Skandinavien und auf dem Kontinent habe es diesseits von Linksrechts-Konflikten historisch jeweils andere gesellschaftliche Spaltungslinien gegeben. Im Norden war es die zwischen Stadt und Land, Agrarsektor und Industrie, auf dem Kontinent hingegen die zwischen Staat und Kirche. Überall gab es in Skandinavien starke Bauernparteien, die wiederum in Deutschland oder Frankreich weitgehend unbekannt sind. Jeweils etwa 25, 21, 14 und 9 Prozent erlangten über die gesamte Nachkriegsgeschichte hinweg die Agrarier bei Wahlen in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden." Die Bauernparteien im Norden wehrten sich gegen einkommensabhängige Sozialversicherungen, weil ihre Klientel oft kein kontinuierliches Einkommen hatte. Sie waren also geneigt, dem sozialdemokratischen staatlichen Modell zuzustimmen, weil sie dadurch von dauerhafter Versicherungsleistung befreit waren und nur noch darauf zu achten hatten, dass in der Steuerfinanzierung ein Wechsel von der Grund- zur Konsumsteuer stattfand und die progressiven Steuerlasten erträglich blieben.

"Was dem Norden die Bauern, waren dem Kontinent die Katholiken - so könnte man Manows Argument zusammenfassen. Deutschland, die Niederlande, Italien, Frankreich, Belgien und Österreich sind historisch vom Konflikt zwischen katholischer Kirche und den liberalen Staatseliten geprägt ... Die durchschnittliche Dauer der Regierungsbeteiligung der Christdemokraten von 1945 bis 1999 beträgt 43,5 Jahre gegenüber 34,3 Jahren bei den Sozialdemokraten. In Skandinavien kommen die Christdemokraten gerade einmal auf sechseinhalb Regierungsjahre im halben Jahrhundert, die Agrarparteien hingegen auf gut achtzehn ... Es sind diese starken historischen und politischen Unterschiede von Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht und die Besonderheit der bäuerlichen-sozialdemokratischen Parteien in Skandinavien gegenüber den kirchlich-christdemokratischen Parteien auf dem Kontinent, die so verschieden Typen von Vorsorgestaaten hervorgebracht haben." Mit den Wikingern und einem generell solidarischen Menschentyp hat dies nichts zu tun.

(Alle Zitate dieses Abschnittes stammen aus dem Artikel Jürgen Kaubes, worin er das in diesem Jahr erschienene Buch von Philip Manow vorstellt, siehe Quellenangaben)


4. Vergleichsweise

Betrachten wir jetzt die unterschiedlichen Sozialsysteme zwischen den skandinavischen Ländern und dem westlichen Europa anhand konkreter Beispiele vor allem in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse.

• Das hohe Beschäftigungsniveau ist der entscheidende Aspekt für Skandinavien. Es liegt bei 75% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren. Nur die Niederlande - allerdings durch Teilzeitarbeit - und annähernd die Schweiz und die angelsächsischen Länder erreichen diese Werte, Deutschland, Frankreich und Italien zeigen ein besonders niedriges Niveau. Dieses Beschäftigungsniveau schließt Frauen und Ältere mit ein. Die Beschäftigung der über 55 Jährigen ist um mehr als 50% höher als in Deutschland. Außerdem haben Frauen in den nordischen Ländern feste Vollzeit- und kaum Teilzeitarbeitsplätze. Die hiesige Beruf-oder-Haushalt-Ideologie ist diesen Ländern fremd. Der Prozentsatz befristeter Arbeitsverhältnisse im skandinavischen Durchschnitt gleicht dem auf dem Kontinent. Der Kündigungsschutz ist Teil des Sozialsystems. Eine Ausnahme bildet nur - wie schon erwähnt - das flexicurity-System in Dänemark. Bei einem breit angelegten Vergleich über den Zusammenhang von Arbeitsmarktstruktur, sozialer Sicherung und Beschäftigung schnitt dieses Land aber dennoch 2007 mit "best case" ab.

• Dänemark hat nicht nur im Verhältnis zu Schleswig-Holstein vergleichsweise hohe Löhne. Lohndifferenzen zwischen Frauen- und Männerlöhnen sind eher gering. Der Niedriglohnsektor ist dem des Kontinents ähnlich und etwas zunehmend. Außer von 1996-2000 sind die Löhne in Skandinavien stärker gestiegen als auf dem europäischen Kontinent. Ursache dafür ist u.a. der hohe gewerkschaftlicher Organisationsgrad (bis zu 80% aller Arbeitnehmer), die politische Verbindung der Gewerkschaften mit der sozialdemokratischen Staatsführung und ein gegen Neoliberalismus und Monetarismus beibehaltenes keynesianisches Denkmuster der nordischen Ökonomen. Streiks sind aber durchaus auf der Tagesordnung. Ein auf Streiten und Miteinander-Reden basierender Konsensualismus bleibt aber weiterhin bestehen. Mindestlöhne gibt es im skandinavischen Sozialstaatsmodell nicht, aber in der Regel werden die tariflich vereinbarten Mindestlöhne anerkannt.

• Die Arbeitslosigkeit ist im Norden durchschnittlich nur halb so hoch wie auf dem Kontinent, nur Finnland steht etwas schlechter da, erklärbar durch den Verlust des Exportmarktes in der ehemaligen Sowjetunion 1990. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in Skandinavien besonders niedrig im europäischen Vergleich, entsprechend dem Beschäftigungsniveau von Frauen und älteren Menschen. Die Lohnersatzquote mit 90% für Niedriglöhner in Dänemark ist wesentlich höher als z.B. in Deutschland mit 60%. Werden allerdings die verschiedenen Einkommensgruppen, die verschiedenen Zahlungen zu Beginn oder nach 60 Monaten Arbeitslosigkeit, sowie die Dauer der Zahlungen berücksichtigt, so gleichen sich die Summen eher an. Anders als im Gesundheitswesen und bei der Rentenversorgung ist die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit freiwillig, die Beiträge werden von Arbeitnehmern und anteilig von den Arbeitgebern bezahlt, die Auszahlung erfolgt nach staatlichen Regelungen aber nicht durch die Staatskasse. Traditionell ist der Beitritt zur Gewerkschaft verbunden mit dem Abschluss einer Arbeitslosenversicherung, daher auch der hohe Organisationsgrad. Heute gibt es aber auch - in Dänemark z.B. 37 - zusätzliche Privatversicherungen.

• Eine Besonderheit sozialer Regelung sind die zahlreichen Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten durch die Einrichtung von Sonderurlauben, die auch als Elternschaftsurlaube gewährt werden. Bis 1999 gab es sogar ein sogenanntes "Sabbatjahr" (Berufsurlaub für ein Jahr). Bei Erhalt des Arbeitsplatzes werden sie mit 60% des vorherigen Lohnes vergütet und über 25-Jährigen mit Berufserfahrung gewährt. Natürlich senken die freigemachten Stellen die Arbeitslosigkeit - aber diese verursacht ja ebenfalls gesellschaftliche Kosten. Ideologisch bewirkt diese Form des Umgangs mit den Arbeitnehmern auf jeden Fall einen höheren Grad an sozialer Wertschätzung.

• Das nordische Modell hat ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem mit geringem Anteil von Eigenleistungen für Zahnersatz und Arzneimitteln und einer hohen Krankengeldzahlung bis zu 1900 Euro monatlich in Dänemark. Ein Kritikpunkt gegen das nordische System ist der relativ hohe Krankenstand: in Schweden durchschnittlich pro Arbeitnehmer 26 Tage, in Finnland 15 Tage. Dänemark passt sich mit "nur" 10 Tagen dem sonstigen europäischen Standard an: Deutschland mit 8, Irland mit 6 Tagen. Kritiker werten auch diesen Zustand als Billigung "versteckter Arbeitslosigkeit". Dazu müsste man im europäischen Vergleich dann aber auch andere Faktoren wie hohe Frühinvalidität (Großbritannien) und Frühpensionierung (Österreich), sowie die Nutzung saisonal befristeter, meist ausländischer Arbeitskräfte (besonders in der Schweiz) zählen. Die Folgen "zu geringen" Krankenstandes bleiben auf jeden Fall in den skandinavischen Ländern aus: sie kommen bei der Bewertung des Gesundheitszustandes in ihrer Gesellschaften weltweit am besten weg, obwohl sie als Länder mit z.T. sehr geringer Einwohnerzahl besondere Schwierigkeiten für eine flächendeckende Ärzte-, Krankenhäuser und Pflegeversorgung haben. Schweden gehört zu den gesündesten Völkern der Welt!

• Die Versorgung im Alter wird von einer steuerfinanzierten Grundrente (Schweden 731 Euro, Dänemark 1280 Euro), einer weiteren Rentenzulage - nach oben begrenzt - und einer kapitalgedeckten Zusatzpension als Versicherungsleistung auf eingezahlte Beiträge bestritten. Die dänische und schwedische Grundrente steht allen Bürgern und EinwohnerInnen ab dem 65. Lebensjahr mit drei Jahren Wohnsitz im Lande, allen AusländerInnen mit 10 Jahren Wohnsitz auch ohne Arbeitsverhältnisse zu.

• So großzügig die Sozialleistungen bemessen werden, so stark sind zum Ausgleich die Steuerprogressionen und die Mehrwertsteuern (Dänemark und Schweden 25%, Finnland 22 %). Besonders hervorzuheben ist aber, dass die gesamte Steuerfinanzierung von der Einnahme bis zur Verteilung über die Kommunen abgewickelt wird. Sie können also kurzfristig für den Bau einer sozialen Einrichtung die Steuern erhöhen und wieder senken und haben eine uns sehr ungewohnt erscheinende rigorose öffentliche Kontrolle, was aber bestimmt gut gegen Steuerbetrug wirkt. Gut Verdienende erhalten als Ausgleich für ihre hohe Steuerbelastung (bis über 50% des Lohnes in Dänemark) garantiert eine grundlegende Gesundheitsversorgung und eine akzeptable, auch progressiv steigende Altersversorgung. Bedeutend ist aber vor allem der sozialstaatliche Umverteilungseffekt, der größer ist als in den Sozialsystemen beinahe aller anderen Länder und der von der Bevölkerung offensichtlich angenommen und gewünscht wird. Arbeitslose, Niedrigverdienende, Frauen, Ältere und vor allem Kinder profitieren davon. Wenn auch die Armutsentwicklung im Zusammenhang mit leichteren Sozialleistungskürzungen in Dänemark, Schweden und Finnland parallel zum internationalen Trend verlief und in den letzten Jahren eine Zunahme verzeichnet, so bleiben doch vor allem Kindern von Armut fast gänzlich verschont. Für sie gibt es eine extensive Betreuung von Geburt an mit kostenloser Gesundheitsversorgung (Erwachsene müssen z.B. bei Zahnbehandlung zuzahlen) über ausreichende Krippen, Vorschulerziehung bis zu den Ganztags- und Gemeinschaftsschulen bis zur 10. Klasse oder zum Abitur. Und für alle Eltern weitgehend kostenlos. Die Pisa-Studien bescheinigen dieser Politik vor allem eine Höchststufe der Effektivität, um sozial bedingte Nachteile auszugleichen.


Was ist dran am skandinavischen Modell?

Soziale Basisdaten: Befristete Arbeitsverhältnisse und Niedriglohnsektor (Einkommen niedriger als 2/3 des Medianeinkommens) 2004 in Prozent der Gesamtbeschäftigung, Einkommensungleichheit, Armutsquoten (Einkommen Vollzeitbeschäftigter[3] niedriger als 50 Prozent des Medianeinkommens) in den Jahren 1999/2000, Nettolohnersatzquoten bei Arbeitslosigkeit (inkl. Mietzuschuss) in 2004 und Niveau des Kündigungsschutzes in 2003
(Quelle am Ende dieses Artikels)




Befristete
Arbeitsver-
hältnisse
Niedrig-
lohn-
sektor
Gini-Ko-
effizient

Percentil
Ratio
 90/10
Armuts-
raten +

Lohnersatz-
quoten *
Start
Lohnersatz-
quoten *
 60 M
Kündi-
gungs-
schutz**
Belgien
Dänemark
Deutschland
Finnland
Frankreich
Irland
Italien
Niederlande
Norwegen
Österreich
Schweiz
Spanien
UK
USA
8,7
9,8
12,2
16,2
12,3
3,4
11,9
14,6
9,9
8,9
12,3
30,4
5,7
k.A.
12,5
9,3
15,8
k.A. 14,0
13,7
7,5
16,6
k.A.
k.A.
k.A. 15,2
23,4
23,2
0.272
0.225
0.277
0.261
0.273
0.304
0.347
0.251
0.261
0.252
0.267
0.303
0.326
0.357
3.2
2.7
3.5
3.1
3.4
4.4
4.6
3.0
2.8
3.3
3.2
4.1
4.2
5.4
7,8(1995)
4,3/0,6
8,9/0,6
6,4/1,5
7,0/-0,4
15,4/4,4
12,9/-1,3
6,0/-0,3
6,3/-1,7
9,3/1,9
6,7/-1,9
11,5(1995)
11,4/0,5
17,1/0,4
61/ u
70/48
69/12
70/23
75/23
49/15
54/ 6
74/24
68/36
63/ 9
77/24
67/21
54/ 6
54/ 6
61
70
66
65
57
64
22
66
56
57
69
49
53
36
2,5 
1,8 
2,5 
2,1 
2,9 
1,3++
2,4--
2,3 
2,6 
2,2-
1,6 
3,1 
1,1 
0,7 

+ Die Zahl hinter dem Querstrich gibt die Veränderung in Prozentpunkten seit Mitte der neunziger Jahre an.
* Durchschnitt verschiedener Haushaltstypen und Einkommensgruppen. Die erste Kolumne gibt die Ersatzquote zu Beginn der Arbeitslosigkeit sowie die Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld an, die zweite Kolumne den Prozentsatz des letztverdienten Einkommens, den man nach 60 Monaten Arbeitslosigkeit in Form von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bekommen kann.
** Je höher der Wert (Maximum 6), desto strikter der Schutz; ++ oder - geben signifikante Veränderungen an.

[3] In der im Frühjahr 2008 veröffentlichten Studie von Kalina und Weinkopf (2008) wurde der gesamte Niedriglohnsektor einschließlich der Teilzeitbeschäftigten berücksichtigt. Deutschland hatte so im Jahre 2004 nicht 15,8 sondern 20,1 Prozent (2006: 22,2 Prozent) Niedriglohnbeschäftigte (S. 4).

Quellen: OECD (2006a, Kolumnen 1, 2 und 6); Förster/Mira d'Ercole (2005, Kolumnen 3-5); OECD (2004, Kolumne 7).



5. Trotzdem konkurrenzfähig?

Befürworter, aber vor allem Gegner des skandinavischen Modells, hinterfragen immer wieder die Konkurrenzfähigkeit dieses sozial kostspieligen Staatsmodells in guten wie in schlechten Zeiten.

Globalisierung und Wirtschaftskrisen haben selbstverständlich auch die nordischen Länder erreicht. Aber seit Anfang 1995 befinden sich Schweden, Dänemark und Finnland in einem ungebrochenen Aufschwung. Gegenwärtig hat Dänemark eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Die sozialen Charakteristika mit wohl schwankender, aber immer wieder stabiler wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit läßt danach fragen, mit welchen besonderen Maßnahmen dieser Zustand erreicht wird. Auf jeden Fall können es nicht nur die die relativ hohen Steuern sein, die die Organisierung eines so kostspieligen Sozialstaates garantieren.

In den nordischen Staaten sind fast ein Drittel aller Berufstätigen im öffentlichen Dienst angestellt - im personalintensiven Gesundheits-, Fürsorge-, Kinderbetreuungs- und Schulwesen. Die durch die hohe Anzahl von öffentlichen Einrichtungen und mehr Personal besser versorgten Menschen werden das begrüßen und nicht wie in Deutschland über schlechte Versorgung zu klagen haben. Gegner des nordischen Modells reden aber gerne von öffentlicher "Ineffektivität". Immerhin führen diese Einrichtungen auch wirtschaftlich zu einer hohen Beschäftigungsquote, zu gleichbleibend hohen Steuereinnahmen und geringer Arbeitslosigkeit.

Krisen werden von den Regierungskoalitionen im Norden nicht nur als Finanz- und Schuldenkrise, sondern als solche der privaten Nachfrage interpretiert. Ihre Lohn- und Beschäftigungspolitik spricht dafür. Sicher führen mehrere Wege zum Wirtschaftswachstum, aber wo in den letzten Jahren Konsum gar nicht oder nur leicht gestiegen ist, wie in Deutschland und den Niederlanden, war trotz vermehrtem Export das Wirtschaftswachstum sehr gering. Auch Untersuchungen in anderen westlichen Ländern bestätigen dies. Zur Förderung des Konsums versuchten Dänemarks und Schwedens, die Hauspreisentwicklung und die steuerliche Förderung von Hypotheken zu beeinflussen. Dies bewirkte, dass in den 90er Jahren auf den Häuserkauf allein ein Drittel des Konsumanstiegs zurückzuführen war. Als ab 2000 in Dänemark statt bisher 46,4% nur noch 32 % der Hypothekenzinsen von der Steuer abgesetzt werden konnten, kühlte sich die Wirtschaft deutlich ab.

Auch Glück spielt im wirtschaftlichen Prozess eine Rolle. Das vor Norwegens Küste entdeckte Öl ist für dieses Land ein solcher Glücksfall. In Ermangelung sonstiger industrieller Ressourcen außer dem Fisch kann dieses Land nur so seinen sozialen Standard und seine Konkurrenzfähigkeit erhalten. Auch Dänemark verdankt in den letzten Jahren seinen wirtschaftlichen Aufschwung in hohem Maße dem vor seiner Küste in der Nordsee gefundenen Öl. Es ist allerdings nicht ausschließlich davon abhängig, sondern hat wie Schweden und Finnland auch anderes zu bieten. Die drei verbliebenen Länder haben zusätzlich zu ihrer hochentwickelten traditionellen Produktion - in Dänemark mit 12% die Landwirtschaft, in Schweden und Finnland mit 15%, bzw. 26% die Erzeugung von Holz und in Schweden mit Industrieprodukten wie Metallen - weitere bedeutende Innovationen vorgenommen und einen neuen hochproduktiven Marktsektor hervorgebracht. Mit 4% bzw. 3,5% des Innovationsfaktors liegen sie um einen ganzen Prozentpunkt höher als Deutschland. Das bewirkt wiederum ein Anwachsen privater und internationaler börsenfinanzierter Investitionen. Zu den Anstrengungen, wirtschaftlich voranzukommen und in die umliegenden europäischen Länder zu exportieren, gehört auch das bereits erwähnte effektive Bildungs- und Weiterbildungssystem. Beim "Global Competitiveness Index" (weltweiter Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit) nehmen sie jedenfalls einen Spitzenplatz ein. Eine Steigerung der Produktivität, der Spezialisierung mit komparativen Vorteilen (Danish Design) und ein Vordringen in den Bereich der modernen Elektronik- und Informationstechnologie (Nokia) ließ sie wirtschaftlich aufholen.


Zusammenfassung:

Das skandinavische Modell ist aus einer ganz besonderen historisch-politischen Konstellation entstanden. Es ist geprägt von einem vergleichsweise hohen Bruttosozialprodukt, von einer traditionell und modern geführten Marktwirtschaft mit zahlreichen neuen Innovationen. Es kann sich aufgrund dessen immer noch ein europaweit bewundertes Sozialsystem leisten, in dem alle Bürger einen hohen steuerlichen Einsatz leisten müssen, aber dafür eine ungleich gute Sozialversorgung erhalten. Ihr Umverteilungseffekt - der geringe Unterschied zwischen Arm und Reich vor allem mit seiner Wirkung auf die Situation bei Kindern - ist vorbildlich. Dem liegt neben den äußeren wirtschaftlichen Bedingungen sicher auch eine politisch-ökonomische, keynesianische Einstellung der Wirtschaftsunternehmen, sowie ein in den wechselnden Regierungskoalitionen geübtes System des Konsensualismus zugrunde. Für die Bevölkerung scheint diese Form des Staatswesens auf jeden Fall ideologisch das Nonplusultra zu sein. Jeder Versuch ihrer Regierungen, diesen sozialen Wohlfahrtsstaat zu beschneiden, wurde mit heftigen und erfolgreichen Widerstand gekontert - allen Wirtschafts- und Finanzkrisen zum Trotz.

Ein solch historisch gewachsenes, eigenständiges und kompliziertes Sozialmodell aber einfach auf andere kapitalistische Gesellschaften übertragen zu wollen, ist sicher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es als Anregung für mögliche Alternativen in bestimmten Bereichen des eigenen sozialen Wohlfahrtsstaates zu nutzen, scheint geboten.

Edda Lechner, Norderstedt

Quellen:
Uwe Becker: "Was ist dran am skandinavischen Modell?" aus: "Leviathan"; Volume 36, Number 2 / Juni 2008, Seite 22 9ff; Verlag für Sozialwissenschaften
Philip Manow: "The Good, the Bad and the ugly, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Heft 2, 2002
Martin Bolkovac: "Sozialpolitik im internationalen Vergleich", Reihe Sozialrecht, Skript des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, 2007
Jürgen Kaube: "Was dem einen der Ackerbau, ist dem anderen die Kirche", http://www.exc16.de/cms/sozialstaat-kaube.html
Goesta Esping-Andersen, "The Three Worlds of Welfare Capitalism", Cambridge 1990


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S. 20: Foto aus dem Reventlow-Museum Pederstrup, einem der ca. ehemaligen 40 Herrensitze der kleinen Insel Lolland. Bauern in Dänemark waren freie Landbesitzer oder unfreie Bauern. In Schweden war ihre rechtliche Stellung besser als im ganzen übrigen Europa und selbst in absolutistischen Zeiten waren sie im Reichstag vertreten.

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION

Wanderausstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Karlsruhe

"Wohnungslose im Nationalsozialismus"

Die Stadt Karlsruhe stellt am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz jedes Jahr eine andere Gruppe der Opfer der Nationalsozialisten ins Zentrum des Gedenkens. So wurde dieses Jahr an die Verfolgung der so genannten Asozialen und anderer als "Gemeinschaftsfremde" stigmatisierter Menschen erinnert. Gemeinsam mit dem Stadtarchiv Karlsruhe zeigt die Stadt die Wanderausstellung "Wohnungslose im Nationalsozialismus" der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslose e.V. (siehe Kasten). Die Ausstellung wurde seit 2006 in mittlerweile über 20 Städten gezeigt. In Karlsruhe war es indes das erste Mal, dass sie vom einem Oberbürgermeister eröffnet wurde und dass seitens der Kommune eigene Recherchen ergänzend betrieben und in eigenen Schautafeln der Öffentlichkeit kenntlich gemacht wurden.

Eine Beachtung durch einen OB ist insofern eine bemerkenswerte Tatsache, als die Verfolgung der sogenannten "Bettler, Landstreicher, Vagabunden, Wanderarme, Wanderer, Nichtsesshaften ..." in einem unseligen Zusammenwirken der Gemeindeverwaltungen, verschiedener Behörden, der Kriminalpolizei und auch der Wohlfahrtsverbände bestand. Während "angesichts des Massenelends Ende der zwanziger Jahre die polizeiliche Verfolgung Wohnungsloser fast ganz eingestellt war", haben Anfang 1933 die Vertreter der Landesfürsorgeverbände "Erfassung und Verfolgung dieser Asozialen" auf allen Ebenen und mit allen Mitteln gefordert (zitiert nach dem lesenswerten Begleitheft zur Ausstellung). Mit einer "Bettlerrazzia" im September 1933 wurde die Sache zur Reichsangelegenheit und Bestandteil der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik: Ausmerzen der als minderwertig Erklärten. Verhaftung, Einweisung in Arbeitshäuser und Wegsperren gipfelten dann in der reichsweiten Aktion "Arbeitsscheu Reich" im September 1938, mit der die Verbringung ins KZ, das Töten, Sterilisieren, die familienweise Internierung uvm. zur Regelpraxis der Gemeinden und der örtlichen Polizei wurden. - Den Ausstellern kommt das Verdienst zu, auf Tatsachen aufmerksam zu machen, über die eigentlich kein öffentliches Bewusstsein besteht, wie z.B. dass diese Opfer erst in den letzten Jahren als entschädigungswürdig angesehen wurden, dass erst in den 60er Jahren die Arbeitshäuser abgeschafft wurden oder dass heute Wohnungslose Opfer von Angriffen werden und sich die Täter im Recht sehen, das von ihnen unwert erklärte Leben dieser Menschen zu bedrohen.

Eva Detscher


*


Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) ist auf Bundesebene die Arbeitsgemeinschaft der verantwortlichen und zuständigen Sozialorganisationen im privaten und öffentlichen Bereich sowie der privaten und öffentlich-rechtlichen Träger von sozialen Diensten und Einrichtungen für wohnungslose Personen. Die BAG wurde 1954 unter dem Namen Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtsesshaftenhilfe gegründet. Für die BAG Wohnungslosenhilfe ist die Wohnungslosigkeit ein soziales Problem, deswegen hat sie ihren Namen 1991 geändert, um sich für alle sichtbar von dem alten Nichtsesshaftenbegriff abzusetzen. Dieser Begriff - 1938 geprägt - unterstellte den Betroffenen einen "hemmungslosen Wandertrieb" - der Wohnungsverlust wurde also auf persönliche Defizite zurückgeführt.

Zur Wanderausstellung: Wieviele Bettler und Landstreicher, ab 1938 auch als "Nichtseßhafte" bezeichnet, in Konzentrationslager eingeliefert wurden, lässt sich nicht genau feststellen. Experten schätzen die Zahl auf über 10.000. Häftlinge aus der Kategorie der sog. "Asozialen" blieben in Ost- und Westdeutschland von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen. Erst in den letzten Jahren sind Entschädigungszahlungen in einigen Bundesländern über Härterfallregelungen möglich. Für die Überlebenden dürfte dies in der Regel zu spät gewesen sein: Das durchschnittliche Geburtsjahr der 1938 bei der "Aktion Arbeitsscheu Reich" Verhafteten war 1900.

Unter Rückgriff auf Quellentexte bzw. Faksimiles, Fotos und kommentierende Texte werden auf den einzelnen Bannern folgende Themen dargestellt: • Weltwirtschaftskrise • Bettlerrazzia 1933 • Arbeitshäuser • Rassenhygiene • Zwangssterilisation • "Asoziale Großfamilien" • Debatte in den Fachzeitschriften der "Wandererfürsorge" • Kontrolle und "geordnetes Wandern" • Aktion Arbeitsscheu Reich" • Als "Asozial" ins Konzentrationslager.

Konzeption und Texte: Wolfgang Ayaß, Kassel.
Grafische Gestaltung: Hans-Georg Vogt, Bielefeld.
zitiert nach http://www.bagw.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 23:
Bild oben: Die 19-jährige Karoline G. sollte aufgrund eines Antrag des Duisburger Gesundheitsamtes vom September 1941 in Vorbeugungshaft genommen werden, weil sie ihr Elternhaus immer wieder verlassen habe und sich wochenlang wohnungslos herumtreibe. "Sie suchte Männerbekanntschaften, fand Unterschlupf bei Soldaten und verwahrloste derart, dass sie zweifellos insbesondere eine Gefahr für andere Jugendliche bildet." Doch die Kriminalpolizei zögerte. Karoline G. sei zu jung für ein Konzentrationslager; sie wurde daher zunächst nur verwarnt.

Nach einem erneuten Antrag des Gesundheitsamts wurde Karoline G. dann im November 1941 schließlich doch als "Asoziale" in Vorbeugungshaft genommen und über das Konzentrationslager Ravensbrück nach Auschwitz deportiert. Aus Auschwitz meldete Kommandant Rudolf Höss im November 1942 den Tod der jungen Frau.

Bild unten: Zentralwanderhof Herzogsägmühle im bayerisch-schwäbischen Voralpengebiet, in den Wanderarbeiter eingewiesen wurden. Dort wurde dann entschieden, wer in Arbeit vermittelt, wer umgeschult oder wer verwahrt wird.

Raute

Der Papst und die Piusbrüder: Alles kein Zufall

Von Anbeginn gehört der Anti-Judaismus zur christlichen Tradition

Zur Recht ist der Papst unter politischen Druck geraten: Er wusste, wen er sich da mit der Pius-Bruderschaft zurück in die Kirche holte. Hatte er doch selbst als Leiter der Kongregation für Glaubensfragen im Jahre 1988 den Ausschluss dieser reaktionären Priestergruppe aus der katholischen Kirche vollzogen. Und er wusste, dass er damit zugleich den Anti-Judaismus in die Kirche zurück brachte - als innerhalb der katholischen Kirche mögliche theologische Auffassung. Denn die Pius-Brüder lehnen alle Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils als "Cloaca Maxima", als "allergrößten Scheiß" ab. Und dazu gehört die Anerkennung der Menschen jüdischen Glaubens.

Anti-Judaismus ist keine der theologischen Positionen innerhalb der christlichen Tradition, die zeitgebunden kamen und wieder verschwanden. Seit den Schriften des Neuen Testamentes bestimmt der Anti-Judaismus durchgängig die christliche Argumentation. Er verband sich in späteren Jahrhunderten mit rassistischen Begründungen, verselbständigte sich, um als Antisemitismus in- und außerhalb der Kirchen sein scheußliches Unwesen zu treiben.


"Alleinstellungsmerkmal" der Christen

Dabei war das religionsgeschichtliche "Alleinstellungsmerkmal" des Christentums, das im religiösen Konkurrenzkampf des kaiserlichen Imperium Romanum viele aufhorchen ließ, eine völlig andere Botschaft. In seinem Brief an die Galater beschreibt sie Paulus (3,26): "Denn ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christus Jesus. ... Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Sklave noch Freier, hier ist kein Mann noch Frau; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu."

Die große Attraktivität des Christentums bestand darin, dass es in einer Welt nahezu undurchlässiger Stände und Klassen, in denen die Mensch unter den römischen Kaisern leben mussten, eine Gleichheit verkündete, die all diese Grenzen aufhob. Frauen konnten wichtige Ämter in der Gemeinde inne haben. Juden und Christen lebten und beteten zusammen. Und Sklaven, die nach römischen wie jüdischem Recht nicht Menschen, sondern eine Sache waren, wurden in der Gemeinschaft der Getauften als gleichwertige Schwestern und Brüder aufgenommen.

Nur, dass das Christentum im Laufe seiner Entwicklung hin zur staatstragenden Macht diesen hohen emanzipatorischen Anspruch fast immer nur in Nischen und Ausnahmesituationen verwirklicht hat. Bereits Paulus, und später zu allen Zeiten in Berufung auf ihn, als den Gründer des Welt-Christentums, haben Kirchenväter, wenn es konkret werden sollte, sehr schnell ihre eigene Grundauffassung "vergessen": Sie passten sich den Anschauungen ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umgebung an. Fast jeder kennt die Weisung: "Lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde!" (1. Korintherbrief 14,43) oder die für Sklaven so entscheidende Aussage: "Jeder bleibe in dem Stande, in den der Herr ihn berufen hat" (1. Korintherbrief 7, 20) und erfülle gerade damit die "Nachfolge Christi". So 1. Petrusbrief 2: "Ihr Sklaven, seid untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen." Ein christlicher Sklave ist eben ein guter Sklave!


Abgrenzung zum Judentum

Die missionarisch tätigen frühen Christen hatten das Problem, sich vom Judentum abgrenzen zu müssen. Denn eines war ja ganz unbestreitbar: Jesus selbst war Jude. Er argumentierte und agitierte voll auf der Linie der alten jüdischen Propheten und der Mosaischen Gesetzesvorschriften. Er ließ sich als Rabbi ansprechen, ging in die Synagogen und feierte das jüdische Passahfest. Jahwe, den Gott des Alten Testaments, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, rief Jesus an als seinen "Vater". Auch er erwartete den in den alten Schriften angekündigten Messias.

Bei genauerem Hinsehen war in der Botschaft dieses Jesus gegenüber seinen vielen Vorgängern kaum etwas Neues zu finden: Auch die angeblich christlich-einzigartige Forderung "Liebet eure Feinde!" hatte er nicht erfunden. Religionsgeschichtlich betrachtet waren die frühen Christen zum damaligen Zeitpunkt um das Jahr 33 herum nichts anderes als eine weitere jüdische Sekte. Nur eines behaupteten diese ersten Christen, nachdem ihr Jesus hingerichtet worden war, steif und fest: Dieser Jesus ist der wahre Messias; in ihm haben sich alle Prophezeiungen des Judentums erfüllt - und ihr, die Juden, die alles hätten wissen können, dass der versprochene Heilsbringer ist, ihr habt ihn getötet! Dabei hatten nicht "die Juden" Jesus getötet, sondern die Soldaten der Besatzungsarmee nach seiner Verurteilung durch Pontius Pilatus, den römischen Statthalter.

Das besonders feinsinnig und spirituell geschriebene Evangelium nach Johannes - Papst Ratzinger nennt es sein Lieblingsevangelium - drückt diesen Vorwurf um das Jahr 100 in schärfster Form aus:

"Ich weiß wohl, dass ihr Abrahams Samen seid; aber ihr sucht mich zu töten, denn meine Rede fängt nicht bei euch. Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe; so tut ihr, was ihr von eurem Vater gesehen habt. ... Warum kennet ihr denn meine Sprache nicht? Denn ihr könnt ja mein Wort nicht hören. Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselben. Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr mir nicht." (8,37ff)


Die Kirche ist das wahre Israel

Dennoch gingen sich jüdische und christliche Gemeinden in den ersten drei Jahrhunderten ganz und gar nicht aus dem Weg. Im gesamten römischen Reichsgebiet umwarben beide Gemeinschaften die gleiche soziale Zielgruppe: Frauen, gesellschaftlich zu kurz gekommene Menschen, Sklaven und Freigelassene. Beide hatten Erfolg. Überall, wo die christlichen Missionare hinkamen, vor allem in den großen Städten, trafen sie auf jüdische Gemeinden, die längst vor ihnen gegründet worden waren. Sie agitierten besonders offensiv das Umfeld der Synagogen. Konnten sie doch hier an die bekannte und gemeinsame Tradition von Abraham, Mose und die Propheten anknüpfen. Und sie konnten bei ihren Abwerbeversuchen die Juden verächtlich machen, weil diese die Einhaltung der alten Speisevorschriften und die Beschneidung als Bedingung für die Mitgliedschaft forderten.

Wenn zwei monotheistische Religionen aufeinandertreffen, kommt es zum Konflikt. Der Alleingeltungsanspruch der Christen verschärfte die Judenfeindschaft. Jahwe, der jüdische Gott, ist ein "eifersüchtiger" Gott (5.Mose 5,7), Neben ihm gibt es keine anderen Götter. Die Christen, im Selbstbewusstsein, das neue Volk Gottes zu sein, mit dem Gott den Neuen Bund (Neues Testament) geschlossen hat, reklamierten alle alttestamentlichen Aussagen für sich. Sie enteigneten gleichsam die Juden ihrer Texte, ihrer Verheißungen, ihrer Heilsgeschichte. Die Kirche ist das wahre Israel. Eigentlich dürfte es sie, die Juden, wo doch der Messias gekommen ist, gar nicht mehr geben! Für die störrischen Juden bleibt nur Fluch, Gericht und Verwerfung.

Als Beleg für ihre Behauptung, die Juden seien von Gott verstoßen, weil sie Jesus als Messias nicht angenommen hatten, diente den Christen die Zerstörung des Tempels in Jerusalems durch die Römer im Jahre 70. Seitdem seien die Juden dazu verurteilt, heimatlos, unstet und flüchtig zu leben, als die unfreiwilligen Zeugen des Zorns Gottes. Die Christen betätigten sich dabei gern als Gerichtsvollzieher Gottes. Die Erziehung zur Verachtung der Juden zeigte Wirkung: Die Kreuzzüge, die das Heilige Land und Jerusalem den "Ungläubigen", den Moslems, entreißen sollten, begannen mit Massakern an den jüdischen Gemeinden in Deutschland. Bereits in der Heimat konnten Gottes Feinde so bekämpft werden. Hinzu trat ein magisches Verständnis des Abendmahls: Den Juden wurde der Vorwurf der Hostienschändung gemacht. Sie würden den real in der Heiligen Messe vollzogenen Opfertod Jesu verhöhnen. Nicht zufällig daher das Beschlusspaket des Vierten Laterankonzils 1215. Es stellte das Dogma der realen Verwandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi in der Messe auf, verpflichtete Juden dazu, sich an ihrer Kleidung als Juden zu kennzeichnen, und führte die Inquisition ein.


Lasset uns beten für die treulosen Juden

"Lasset uns auch beten für die treulosen Juden: Gott, unser Herr, möge den Schleier von ihren Herzen wegnehmen, auf dass auch sie unseren Herrn Jesus Christus erkennen. Allmächtiger ewiger Gott, du schließest sogar sie von deiner Erbarmung nicht aus; erhöre unsere Gebete, die wir ob der Verblendung jenes Volkes vor dich bringen: Möchten sie das Licht deiner Wahrheit, welches Christus ist, erkennen und ihrer Finsternis entrissen werden."

Diese Fassung des Gebets in der Karfreitagsmesse war im Missale Romanum, dem offiziellen liturgischen Handbuch enthalten, das 1570 durch Papst Pius V. herausgegeben wurde. Die Gemeinde wurde darin ausdrücklich aufgefordert, bei dieser Fürbitte nicht nieder zu knien, "um nicht das Andenken an die Schmach zu erneuern, mit der die Juden um diese Stunde den Heiland durch Kniebeugen verhöhnten."

Am 18. März 1959 verfügte Papst Johannes XXIII., dass künftig die Wörter "die treulosen Juden" zu entfallen haben. Ab 1960 wurde diese Änderung in der gesamten römisch-katholischen Kirche wirksam.

Mit dem Dokument "Nostra aetate" vom 28. Oktober 1965 leitet das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) einen Neuanfangs im christlich-jüdischen Verhältnis ein: "... Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gespräches ist. Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche ... alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben."

Es war im vorigen Jahr Ratzinger, der als Papst die lateinische Messe von 1570 wieder erlaubte. Zwar bereinigt von der Formulierung von den "treulosen Juden". Wieder aber wurde der Bekehrungsanspruch gegenüber den Juden hineinformuliert: "Lasset uns auch beten für die Juden. Dass unser Gott und Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen ..."

Alles also kein Zufall. Und der Heilige Vater ist nicht, wie es manche Bischöfe es meinten höflich formulieren zu müssen, "falsch beraten" worden. Er hat ja noch ein weiteres Ding am Laufen: Die Heiligsprechung von Papst Pius XII. Das ist der, der als Pacelli das Konkordat 1933 mit Hitler geschlossen und als Papst zum Holocaust geschwiegen hat. Ratzinger muss sich langsam, fragen, ob mit seinem Pontifikat einmal nur schwärzeste Reaktion und jetzt auch noch der Anti-Judaismus verbunden sein soll.

Karl-Helmut Lechner


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 25:
Beleidigung und Blasphemie: Das "Judensau"-Motiv taucht im Mittelalter als Spottdarstellung auf Steinreliefs und Karikaturen auf. Die Darstellungen sind an Kirchen, öffentlichen Gebäuden, Stadttoren oder Stadtmauern angebracht.
Hier die "Judensau" an der Schlosskirche zu Wittenberg: Seit 1517 war sie der Predigtkirche Martin Luthers.
Seine anti-judaistische Schmähschrift von 1543 trug denselben Titel wie das Motiv: Vom "Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi" und deutete es wie folgt:
"Hinter der Saw stehet ein Rabin, der hebt der Saw das rechte Bein empor, und mit seiner lincken hand zeucht er den pirtzel uber sich, bückt und kuckt mit grossem vleis der Saw unter dem pirtzel in den Thalmud hinein, als wolt er etwas scharffes und sonderlichs lesen und ersehen."

Seit den Zeiten der Kirchenväter wird die "Synagoge" typologisch an Kirchen dargestellt.
Hier links die Synagoge vom Fürstenportal am Bamberger Dom. Rechts die Synagoge am Querhaus des Münsters von Straßburg. Beide um 1225.
Mit gesenktem Haupt steht sie da. Ihre Augen sind verbunden. Die Tafeln der mosaischen Gesetze entgleiten ihr. Sie trägt ein lang fließendes Gewand aus leichtestem Stoff. Sie ist auffallend sinnlich dargestellt: Verführerisch wie verführbar. Die spitzen Brüste und schönen Schenkel sind unter dem dünnen Stoff eher entblößt als verhüllt. Die Lanze in ihrer Rechten, die Lanze, die Jesus am Kreuz in die Seite gestoßen wird, weist "den Juden" die Schuld am Tod Jesu zu. Aber die Lanze der Synagoge ist zerbrochen - "jetzt" ist dem Judentum die Macht genommen. Gebrochen in ihrem Selbstbewusstsein, ist die Synagoge ihrer Würde entkleidet, der Häme der christlichen Gaffer preisgegeben.

Raute

IN & BEI DER LINKEN

Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann (MdEP) zu Gast beim rls-Werkstattgespräch in München

Europadebatte kommt in Bewegung

Dass der Kurt-Eisner-Verein mit der inhaltlichen Änderung seiner Werkstattgespräche hin zu einer Schwerpunktdebatte und konkret der Widmung der Reihe im ersten Halbjahr zu Aspekten europäischer Politik nicht falsch lag, hatten wir bereits in der letzten Ausgabe vermutet. Diese Vermutung ist zumindest vorläufig bestätigt worden. So fanden sich am 26.1.09 wieder um die 25 Personen zu einer lebhaft geführten Debatte ein. Der gute Besuch war allerdings umso weniger verwunderlich, als mit MdEP Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann eine ausgewiesene Kennerin europäischer Politik und deren linker Kritik zu Gast war, die zudem mit einer dezidiert vom herrschenden linken Diskurs abweichenden Meinung zum europäischen Verfassungsprozess Position bezogen hatte.


Der holprige Name der Fraktion - ein Beispiel für Schwierigkeiten internationaler Zusammenarbeit

Nachdem Roger Lindner, der es übernommen hatte, die Veranstaltung einzuleiten und zu moderieren, Schwierigkeiten zugab, sich den Namen der Fraktion der Linken im europäischen Parlament (GUE/NGL = European United Left/Nordic Green Left Group, bzw.: Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke) zu merken, begann Dr. Kaufmann anhand dieses Beispiels die Schwierigkeiten aufzuzeigen, vor die die Fraktion gestellt ist. So habe es zu Beginn der Legislaturperiode Debatten um einen neuen, eingängigeren Namen gegeben, in deren Ergebnis alles so blieb, wie es war. Man müsse bedenken, dass die GUE-NGL 17 Parteien mit jeweils eigener Geschichte, Identität und Kultur vereine. Der alten PDS war aus ihrer Entstehungsgeschichte wichtig, dass die Begriffe Demokratie und Sozialismus in Abgrenzung zur SED im Parteiennamen erschienen. Für die skandinavischen Parteien war wiederum ihr Bezug zur feministischen und ökologischen Bewegung zentral und nicht zuletzt gäbe es noch die traditionsreichen Kommunistischen Parteien. Anhand der Namensdiskussion ließen sich bei allen Schwierigkeiten jedoch entscheidende Prinzipen der Strukturierung der GUE-NGL aufzeigen. Die Namensgebung sei letztendlich Ausdruck der Autonomie und Selbstständigkeit der Parteien, die in der Fraktion strikt respektiert würde. Die Zusammenarbeit sei bestimmt vom Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, was im ganzen zu einem Beispiel für gelebten Pluralismus würde. Dieser ist nur zu gewährleisten, da die Arbeit von gegenseitigem Respekt statt dem Versuch eine künstliche Geschlossenheit herzustellen, bestimmt sei. Die Differenzen wirken sich natürlich nicht nur in Stilfragen aus. Vielmehr bestehen in vielen inhaltlichen Positionen erhebliche Unterschiede zwischen den Parteien, beispielweise hinsichtlich der Gentechnik, aber auch der europäischen Regelung von Organspenden. Lediglich in Kernfragen bestünde Einigkeit, so etwa bei der Ablehnung des Irakkrieges.


Die Verfassungsdebatte - ein weiteres Beispiel

Unter diesen Voraussetzungen sei klar, dass die Arbeit im Verfassungskonvent eine Gratwanderung war. Man müsse sich verdeutlichen, dass das Spannungsfeld innerhalb der Fraktion von Parteien, die für ihr Land den Austritt aus der EU fordern, wie etwa die Linkspartien Griechenlands, Portugals und Schwedens bis hin zur, zum Zeitpunkt der letzten Europawahl noch bestehenden, PDS, die sich grundsätzlich für einen Verfassungsprozess für Europa ausgesprochen hatte, reiche. Es sei unmöglich beide Positionen gleichzeitig zu vertreten. Umso bemerkenswerter ist, dass die Linksfraktion dennoch Dr. Kaufmann mit dem einen Sitz, der der Fraktion im Verfassungskonvent zustand, beauftragt hat, obwohl ihre grundsätzliche Bejahung einer Verfassung und ihre Forderung nach einer konstruktiven Mitarbeit linker Kräfte daran zum Entscheidungszeitpunkt natürlich bekannt waren. Die Fraktion hat sich dafür entschieden, eine Person mit Erfahrung und Kenntnis in den Konvent zu schicken, statt Fundamentalopposition zu betreiben.


Der Stand des Verfassungsprozesses

Um den gegenwärtigen Stand des Verfassungsprozesses verständlich zu machen, erinnerte Kaufmann an das "politische Vakuum", das nach der Ablehnung des ersten Verfassungsentwurfes durch Referenden in Frankreich und den Niederlanden entstanden war. Hierdurch bestand eine dreigeteilte EU. So hatten einige Staaten, darunter Spanien durch eine positive Volksabstimmung, den Vertrag bereits ratifiziert, weitere standen noch vor dem Ratifizierungsakt. In der anschließenden, selbstverordneten Denkpause, die sich auf immerhin zwei Jahre erstreckte, erkannten die Regierungen, dass ein Entgegenkommen notwendig sei. Dr. Kaufmann stellte klar, dass die in den Abstimmungskampagnen zu Tage getretenen Bedenken durchaus ernst genommen wurden, was aber nicht zu einer Verbesserung des Vertragstextes geführt habe. Vielmehr enthielte der Vertrag von Lissabon politisch, schmerzhafte Abstriche vom ursprünglichen Maximalkompromiss. Als besonders verheerend kritisierte sie insbesondere den von der niederländischen Regierung durchgesetzten Verzicht auf die europäische Symbolik, also der Verankerung der Flagge und Hymne im Vertragstext. Zudem wies sie daraufhin, dass die Verfassungskrise von Großbritannien, einem traditionell euroskeptischen Land, dazu genutzt wurde, den Anwendungsbereich der zunächst endlich als verbindlich aufgenommenen Grundrechtscharta einzuschränken. Polen sprang wenig später auf diesen Zug auf. Lediglich in der französischen Debatte seien einige interessante Aspekte zu beobachten gewesen. So habe ausgerechnet der konservative Präsident Sarkozy die Kritik an der Verfassung aufgenommen um ein sozialeres Europa zu fordern, was sich dann auch real in der Rücknahme der Bolkesteinrichtlinie, die von der Linken von Anfang bekämpft wurde, ausgewirkt habe. Insgesamt sei der Vertrag von Lissabon zwar ein ärgerlicher Rückschritt gegenüber dem ursprünglichen Entwurf, enthalte jedoch auch positive Ansatzpunkte, um die alte Forderung der PDS, Europa friedlich, demokratisch und sozial zu gestalten, voranzutreiben. Durch das ablehnende Referendum in Irland stehe man nun wieder vor der Frage, was tun? Dr. Kaufmann machte klar, dass es im wesentlichen zwei Alternativen gäbe. Nachdem nach einer zwölfjährigen Debatte es wohl ausgesprochen schwierig sei, die Diskussion nun noch einmal von vorne zu beginnen, steht zu befürchten, dass das Reformprojekt EU vor dem endgültigen Ende steht. Allerdings gäbe es noch Möglichkeiten, durch ein weiteres Entgegenkommen eine Änderung der irländischen Position zu erreichen. Eine zweite Volksabstimmung wäre keinesfalls eine Missachtung des Willens der irischen Bevölkerung, vielmehr gehöre es zur irischen Verfassungstradition über ein Anliegen mehrfach abzustimmen, um so im Diskussionsprozess bessere Ergebnisse zu erzielen. Man dürfe nicht übersehen, dass das Ergebnis in Irland nicht durch progressive Tendenzen bestimmt gewesen war. Vielmehr wurde dort beispielsweise die Angst geschürt, mit dem Vertrag von Lissabon werde das harte Abtreibungsrecht Irlands aufgeweicht. Da das Strafrecht eindeutig Sache der Nationalstaaten bleibe, zeige dieses Beispiel, mit welchen irrationalen Argumenten die Debatte teilweise geführt werde. Ein weiteres Beispiel ist die angedachte Klarstellung, dass die irische Neutralität durch die europäische Einigung nicht berührt werde, was angesichts der Rechtslage im Vertragstext nur deklaratorische Wirkung hätte. Sie habe die Hoffnung, dass durch die Einräumung dieser Sonderkonditionen für Irland, doch noch eine Zustimmung erreicht werde, die die anderen 26 Staaten nicht zwinge, noch einmal von vorne zu beginnen. Wenn dies nicht gelinge, sei das auf keinen Fall ein Erfolg für linke und progressive Kräfte. Vielmehr würde durch ein Scheitern der EU-Reform nationalistische Politiker Auftrieb erhalten. Das Ergebnis wäre angesichts der Kräfteverhältnisse kein besseres Europa, sondern eine Rückkehr zu nationalstaatlicher Borniertheit.


Die Diskussion: Erhebliche Unsicherheiten und Unkenntnis nicht zu leugnen

In der anschließenden, ausgesprochen leidenschaftlich geführten Debatte zeichneten sich erwartungsgemäß zwei Grundlinien ab. So wurde mit unterschiedlichen Begründungen argumentiert, dass der Vertragstext aus linker Sicht so mangelhaft sei, dass eine Zustimmung nicht in Betracht käme. Insbesondere wurde das vermeintlich undemokratische Zustandekommen des Vertrages kritisiert, das im wesentlichen daran festgemacht wurde, dass in Deutschland keine Volksabstimmung über den Vertrag stattfand. Problematisch an dieser Argumentationslinie war jedoch insbesondere, dass Dr. Kaufmanns Argument, wonach die Alternative zum jetzigen Vertrag ein Scheitern der Bemühungen um eine europäische Integration bedeuten würden und nicht etwa ein ganz anderes Europa, nicht berücksichtigt wurde. Gegen Volksabstimmung sprach sich weniger Dr. Kaufmann aus, sie befürwortete sie, auch wenn sie auf die Gefahr hinwies, dass eine solche für innenpolitische Propaganda missbraucht werden kann, was eben in Irland geschehen sei. Andere kritisierten genereller die Vorstellung, dass sich an der fehlenden Volksabstimmung das Demokratiedefizit der EU zeige. So wurde darauf hingewiesen, dass die EU nicht einfach ein neuer Staat werden soll, sondern der Vertragstext vielmehr die intensivere Zusammenarbeit von immerhin 27 selbstständig bleibenden Staaten regeln soll, und daher als völkerrechtlicher Text zwangsläufig kompliziert gestaltet und einer einfachen Ja/Nein-Abstimmung eher unzugänglich sei. Mit der EU entstünde erstmals eine Staatengemeinschaft, die zwar stark von den Regierungen bestimmt sei, jedoch, als völkerrechtliches Novum, auch Elemente der unmittelbaren Beteiligung der betroffenen Bevölkerungen beinhalte. Das Gegenargument, wonach ein Vertrag, der nicht einfach zu verstehen ist, von sich aus undemokratisch sei, gehört dagegen eher ins Kuriositätenkabinett. Um so mehr als der Vertragstext mit einer Stärkung sowohl des europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente als auch der Rechtsschutzmöglichkeiten des Individuums, die EU ja gerade von einem Projekt der Regierungen der Mitgliedsstaaten, hin zu stärkerer Partizipation lenken will. Ernsthafter gestaltete sich die Kritik an der vermeintlichen Militarisierung Europas durch den Verfassungsvertrag. Allerdings zeigte sich hier, dass kaum zwischen der Politik der einzelnen europäischen Staaten und der Politik der EU unterschieden wurde. Dr. Kaufmann bekräftigte ihre Position, wonach entsprechende Passagen im Vertrag durchaus ihre Kritik fänden, wies jedoch zum einen darauf hin, dass die Militarisierung der Außenpolitik ein generelles Phänomen der Politik der europäischen Staaten sei und die LINKE sich hier in einer Minderheitenposition befände, so dass man diesen Aspekt gegenüber den Vorteilen des Vertrages nicht überbewerten dürfe. Zum anderen gäbe es im Vertrag durchaus Ansätze, die im Sinne einer friedensorientierten Politik genutzt werden könne, so etwa die unbedingte Verpflichtung der EU und ihre Mitgliedsstaaten auf die Grundsätze des Völkerrechts, aber eben gerade auch die Pflicht zur Koordinierung der Außenpolitik. Diese Position wurde durch Diskussionsteilnehmer bestärkt, indem zum einen darauf hingewiesen wurde, dass der europäische Prozess sowohl historisch, wie aktuell auch für die osteuropäischen Staaten den Zweck der Zügelung deutscher Aggressionspolitik verfolge. Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass unabhängig vom jetzigen Vertragstext, Deutschland seine Kriege bereits heute führe und der Jugoslawienkrieg gezeigt habe, dass die Möglichkeit, dass Staaten wie Griechenland zumindest etwas mehr Einfluss bekommen, wohl kaum als kriegsfördernd betrachtet werden kann.


Zum Abschluß zwei Empfehlungen

Die Veranstaltung hat gezeigt, dass die generelle Ablehnung der europäischen Verfassungsprozesses in der Linken nicht mehr unumstritten ist. Nachdem Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann für ihr mutiges Eintreten für eine Öffnung der Partei Die Linke zu den realen Problemen der EU, um es etwas euphemistisch auszudrücken, stark kritisiert wurde, entwickelt sich langsam die Tendenz, dass nunmehr die unbedingten Gegner der europäischen Verfassung mit kritischen Gegenargumenten konfrontiert werden. So bleibt zu hoffen, dass sich die Debatte um Europa belebt. Natürlich konnte in einer Abendveranstaltung das Thema nicht erschöpfend behandelt werden. Wer sich näher mit den positiven Neuerungen beschäftigen will, die der Verfassungsvertrag für linke Politik bietet, sei auf das Buch von Sylvia-Yvonne Kaufmann "Die EU und ihrer Verfassung - linke Irrtümer und populäre Missverständnisse zum Vertrag von Lissabon" (Hamburg, 2008 ISBN: 978-3-939519-55-3, 17,90 €) hingewiesen. In prägnanter und verständlicher Form werden hier Entwicklungslinien nachvollziehbar gemacht und Argumente gegen den Text entkräftet. Selbst wenn man die Position der Bejahung der Verfassung nicht teilen will, enthält das Buch wichtige Aspekte um den europäischen Prozess besser zu verstehen. Wer die europäische Politik in seinem linken Handeln nicht gänzlich außen vor lassen will, kommt an dem Werk wohl nicht vorbei. Die andere Empfehlung richtet sich weniger an den Leser als an die Partei Die Linke. Auch hier gilt: man muss nicht unbedingt glühender Verfechter der Verfassung sein, um zu erkennen, dass Sylvia-Yvonne Kaufmann mit ihrer Kenntnis europäischer Politik, aber auch ihrem Einfühlungsvermögen in internationale Zusammenhänge, politisch-kulturelle Befindlichkeiten und Sorgen ebenso wie mit dem wirklich bewiesenen Mut eine eigenständige Position gegen erhebliche Widerstände zu vertreten, für die Linke ausgesprochen wertvoll ist. Verzichtet die LINKE bei der Aufstellungsversammlung der Europaliste auf diese Kraft, so erweist sie sich - mir fällt kein passenderer Begriff ein - wohl einfach nur als unfassbar dämlich.

Johannes Kakoures

Raute

TERMINE

Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation

Einladung zur Jahrestagung

Alle Mitglieder des Vereins und Interessenten sind hiermit herzlich eingeladen zur Jahrestagung:

Beginn: Samstag, 4. April, 12.30 Uhr (Anmeldung ab 12 Uhr) Abschluss: Sonntag, 5. April, 13 Uhr

Ort: Haus der Jugend, Raum E 11, Frankfurt/Main, Deutschherrenufer 12

Vorgeschlagene Tagesordnung:

Samstag:
1. Konstituierung, Versammlungsleitung, Protokollierung, Beschluss über die TO

2. Bericht der Redaktion Politische Berichte, Auflagenentwicklung, Neuwahl der Redaktion und der Herausgeber

3. Bericht des Vorstands, Kassenbericht, Bericht der Finanzprüfung, Beschluss über die Entlastung des alten Vorstands, Neuwahl des Vorstands, Bestimmung der Kassenprüfer, Beschluss über den Haushalt 2008/2009

4. Diskussion: "Linke Sozialpolitik in Ländern und Gemeinden, Schwerpunkte und Perspektiven". Vorbereitung durch Redaktion Politische Berichte (M. Fochler) und Mandatsträger/innen

Sonntag:
Diskussion: "Europas Außenpolitik und friedenspolitische Strategien der LINKEN". Hierzu versuchen wir, ein/e Kandidat/in der LINKEN zur EU-Wahl einzuladen.

Um Anmeldung bei Alfred Küstler, c/o GNN Stuttgart, wird gebeten (bitte angeben, ob Übernachtung benötigt wird)

Mail: alfred.kuestler@gnn-verlage.com
Tel: 0711-624701
Fax: 0711-621532

Für den Vereinsvorstand:
B. Wolf, C. Cornides, R. Lötzer


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13. Februar. Dresden. Bundesweite Demonstration gegen Nazi-Aufmarsch in Dresden (Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg).

28. Februar. Essen. Bundesparteitag und Vertreter/innen-Versammlung zur Europawahl der Linken

21./22. März. Berlin, Kongress der Bundestagsfraktion Die Linke zum Sozialstaat.

28. März, Frankfurt/Main und Berlin. Bundesweite Demo zur Wirtschaftskrise. Veranstalter Attac, Die Linke und Teile der Gewerkschaften.

28. März. Köln, Aufstellung der Landesliste NRW der Linken zur Bundestagswahl.

29. März. Aufstellung der Landesliste Bayern der Linken zur Bundestagswahl.

3./4. April. Baden-Baden. Nato-Gipfel zum 60jährigen Bestehen. Aktionen unter dem Titel: "Nein zu Krieg - nein zur Nato" sind geplant.

4./5. April. Frankfurt/M. Jahrestagung des Vereins für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.

14./15. Mai. Berlin. DGB-Kapitalismuskongress mit Demo.


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Vorschau auf Wahlen
Jahr
Monat
Wo?
Was?
Termin
Wahlperiode
2009














Mai
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
August
August
August
Sept.
Sept.
Bundesversamml.
EU
Baden-Württemb.
Mecklenb.-Vorp.
NRW
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Saarland
Thüringen
Sachsen
Brandenburg
Bundesrepublik
Bundesprä
Euro.Parl.
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Landtag
Landtag
Landtag
Landtag
Bundestag
23.5.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
30.8.
30.8.
30.8.
27.9.
27.9.
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
2010

Frühj.
Frühj.
Schlesw.-Holstein
NRW
Landtag
Landtag


5 Jahre
5 Jahre
2011







Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Herbst
Herbst
Herbst
Baden-Württemb.
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Hessen
Bremen
Niedersachsen
Berlin
Mecklenb.-Vorp.
Landtag
Landtag
Landtag
Kommunal
Landtag/K
Kommunal
Landtag/K
Landtag








5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre

Quelle: www.wahlrecht.de/termine.htm

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein für politische
Bildung, linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph Cornides,
Ulrike Detjen, Emil Hruska, Claus-Udo Monica,
Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsanschriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
Auslandsberichterstattung:
Christiane Schneider, (verantwortlich),
GNN-Verlag, Neuer Kamp 25, 20359 Hamburg,
Tel. 040/43 18 88 20, Fax: 040/43 18 88 21.
E-mail: gnn-hamburg@freenet.de - Alfred Küstler,
GNN-Verlag, Postfach 60 02 30, 70302 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32.
E-mail: stuttgart@gnn-verlage.com

Regionales / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,
GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32,
E-mail: pb@gnn-verlage.de

Diskussion / Dokumentation: Rüdiger Lötzer,
Postfach 210112, 10501 Berlin,
E-mail: gnn-berlin@onlinehome.de

In & bei der Linken: Jörg Detjen,
GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH,
Venloer Str. 440, 50825 Köln, Tel. 0221/21 16 58,
Fax: 0221/21 53 73. E-mail: gnn-koeln@netcologne.de

Termine: Alfred Küstler, Anschrift s. Aktuelles.

Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft
der Partei die Linke Konkrete Demokratie - Soziale
Befreiung" werden in den Politischen Berichten
veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische
Berichte mbH, Venloer Str. 440, 50825 Köln,
und GNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2,
70327 Stuttgart, Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32
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Bezugsbedingungen: Einzelpreis 4,00 Euro. Ein
Halbjahresabonnement kostet 29,90 Euro (Förderabo
42,90 Euro), ein Jahresabonnement kostet 59,80 Euro
(Förderabo 85,80 Euro). Ein Jahresabo für Bezieher
aus den neuen Bundesländern: 54,60 Euro,
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Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


*


Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 2, 12. Februar 2009
Herausgegeben vom Verein politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation
Venloer Str. 440, 50825 Köln
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Internet: www.gnn-verlage.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2009