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OSSIETZKY/892: Unbedingt absolut auf Linie


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 4 vom 13. Februar 2016

Unbedingt absolut auf Linie

Von Winfried Wolk


Die Bundesregierung veröffentlichte am 8. Dezember 2015 eine Ausschreibung mit dem Titel: Projektförderung für Europa. Darin heißt es: "Gefördert werden können Informationsmaßnahmen zu aktuellen europapolitischen Fragen - vorausgesetzt, die Maßnahmen orientieren sich an den Inhalten der Regierungspolitik." Als Themen werden unter anderem die europäische Migrations- und Asylpolitik und das Freihandelsabkommen TTIP genannt. Da die Faktenlage, auf die man sich stützen könnte, bei diesen Themen eher verworren oder gar nicht vorhanden ist, müssen sich die "Willigen" ausschließlich an den Inhalten der Regierungspolitik orientieren und tief in die Kanäle eindringen, in denen das Konglomerat gärt. Schließlich soll das dabei am Ende zu Tage geforderte Exzerpt "die Bevölkerung einbinden".

Der oben genannte Fördertopf richtet sich an Projektkonstrukteure und "Schreiberlinge, die eigentlich immer schon, so lange ich denken kann und noch länger, ohne Skrupel die "Inhalte der (jeweiligen) Regierungspolitik" unterstützenswert fanden. Schon bin ich an die Praktiken in der DDR erinnert, wo viele die Inhalte der Regierungspolitik, zum Beispiel bei der Ausweisung Wolf Biermanns, so gut fanden, dass sie zur Unterstützung ganz freiwillig schleimige Pamphlete in die Zeitung setzten, die damals selbstverständlich auch "die Bevölkerung einbinden" sollten.

Einst, als deutlich wurde, dass im harten Kampf der Systeme der stalinistische Sozialismus der DDR gegenüber dem westlichen System kaum gewinnen kann, gab Walter Ulbricht die mystische Losung heraus: "Überholen ohne einzuholen!" Ich habe mir lange Gedanken gemacht, was dieser Ausspruch wohl bedeuten könnte. Jetzt, lange nach dem Ende der DDR, habe ich es endlich begriffen. Offensichtlich unterscheiden sich bestimmte Verfahrensweisen in Ost und West kaum; es ist gelungen, sich auf Augenhöhe zu befinden. Also auf, ihr Mietmäuler, ran an die Fördertöpfe! Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Referat 301 (Europa) hilft gern weiter.

Besonders zu empfehlen ist als Thema TTIP. Weil es da gar keine belastbaren Informationen gibt, darf man frei phantasieren. Das einzig Konkrete ist wirklich die Orientierung an den Inhalten der Regierungspolitik. Das geheimnisvolle TTIP-Freihandelsabkommen ist nämlich etwas ganz Besonderes, ungeheuer Sensibles. Ich bin an das "scheue Reh" erinnert, mit dem Insider gern das Finanzkapital bezeichnen, das bei einer kleinen, unvorsichtigen Bewegung sofort den Ort des Handelns verlässt. Weil das geplante Freihandelsabkommen mit den USA so außergewöhnlich ist, bekamen bisher ausschließlich spezielle Vertreter der Deutschen Bundesregierung ausgewählte Unterlagen in einem geheimen Raum in der US-amerikanischen Botschaft zu sehen. Da stellt sich die Frage: Wie sieht es bei einem solchen Prozedere mit der deutschen Souveränität aus? Vielleicht stimmt es sogar, was Zbigniew Brzezinski in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" schreibt, nämlich dass wir in unserem Verhältnis zum Hegemon nur den Status eines Vasallenstaates besitzen.

Allerdings möchte niemand, dass im Volk ein solch unguter Eindruck entsteht. Deshalb hat Bundestagspräsident Norbert Lammert größtmögliche Transparenz eingefordert. Und siehe da, seit dem 1. Februar dürfen jetzt sogar ausgewählte Vertreter unserer gewählten Bundestagsabgeordneten an die sensiblen Papiere. Auch hat das Bundeswirtschaftsministerium nun einen Leseraum zur Verfügung gestellt, streng abgeschirmt, versteht sich. Von Montag bis Donnerstag jeweils von 10 bis 12 und von 14 bis 16 Uhr ist diese Enklave geöffnet, allerdings dürfen immer nur wenige "Berechtigte" jeweils ganze zwei Stunden Einblick in sogenannte konsolidierte Verhandlungsdokumente nehmen. Dreizehn Verhandlungsdossiers stehen zur Verfügung, ausschließlich in englischer Sprache. Für drei Leser gibt es einen Übersetzer. Leider fehlen entscheidende Dokumente vollkommen, wie die Anhänge, in denen die wichtigen Details geregelt sind. Man muss da aber nicht gleich Böses denken. Vielleicht wollte man die Belastung der armen berechtigten Einsichtnehmer durch zu große Textmengen einfach vermeiden. Es sind ja nur zwei Stunden, die jeder Zeit hat, um sich mit den Texten zu beschäftigen.

Damit es beim Lesen auch gesittet zugeht, werden unsere Volksvertreter von einer Saalaufsicht überwacht. Diese achtet streng darauf, dass keine wörtlichen Abschriften angefertigt werden, Notizen nur mit vom Bundeswirtschaftsministerium gelieferten Schreibgeräten auf vom Bundeswirtschaftsministerium geliefertem Papier gemacht, eigene Schreibgeräte nicht benutzt, Handys, Kameras, überhaupt alles, womit man etwas reproduzieren könnte, abgegeben werden und Kopien selbstverständlich nicht angefertigt werden dürfen. Wenn unsere Vertreter nun gelesen haben, dürfen sie auf keinen Fall darüber reden, was sie gelesen haben, sie dürfen keine Experten fragen, wie das, was sie gelesen haben, zu beurteilen ist, sie dürfen auch nicht ihre Mitarbeiter informieren und auf keinen Fall die Presse oder die normalen Bürger. Es gilt strengste Geheimhaltung und Schweigepflicht mit Strafandrohung bei Verletzung der Vorschriften.

All das ist selbstverständlich absolut demokratisch. Unsere Volksvertreter sind souverän und unabhängig, und wir, das Volk, sind der wirkliche und eigentliche Souverän und haben die Macht in diesem demokratischen Staat. Nur dürfen wir bestimmte Dinge, die sich da ganz oben jemand ausdenkt und hinter unserem Rücken verhandelt, nicht erfahren, bis sie uns als gegeben und dann als unveränderbares Gesetz um die Ohren geschlagen werden.

Übrigens ist Herr Gabriel, der als Wirtschaftsminister ein federführender Verfechter solcher Abkommen und sogar stolz darauf ist, dass er diese unglaubliche demokratische Informationsfreiheit und diese ungeheure Transparenz erreicht hat, ein Nachfolger von August Bebel. Wer hätte das gedacht?

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 4 vom 13. Februar 2016, Seite 114-116
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2016

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