Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

OSSIETZKY/629: Das zweite und letzte Erdöl-Jahrhundert


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 22 vom 30. Oktober 2010

Das zweite und letzte Erdöl-Jahrhundert

Von Dietrich Eichholtz


In unserem Jahrhundert bedroht die rücksichtslose Profitherrschaft des "globalen" Imperialismus die Menschheit mit gefährlichen Katastrophen: Klimaverschlechterung, Umweltzerstörung, atomare Verseuchung, "friedlich" oder kriegerisch, Verschwendung und Vernichtung der Naturreichtümer unseres Planeten. Von Experten und Umweltschützern seit längerem ins Gespräch gebracht, werden sie von interessierten Wirtschaftsmächten und politisch Verantwortlichen nach Kräften kleingeredet, ja geleugnet.

Eine unmittelbar bedrohliche und unausweichliche Katastrophe wird schon unsere Kinder, mehr noch unsere Enkel treffen und ihr Leben drastisch verändern: die endgültige Erschöpfung des heute wichtigsten Weltrohstoffes, der Erdölvorkommen, beginnend während der nächsten 40 bis 50 Jahre. Einige nüchterne Zahlen, die die Situation begreiflich machen:

Die Weltförderung an Öl stieg im Zeitalter der Weltkriege von 20 Millionen Tonnen (1900) auf etwa 400 Millionen Tonnen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Heute verbraucht die Welt vier Milliarden Tonnen jährlich und mehr. Vorkommen und Reserven beginnen zu versiegen; der "Peak Oil" ist überschritten. Die Entdeckung neuer Reserven hat schon seit 50 Jahren trotz weltweiter Bemühungen nachgelassen. Inzwischen ist sie mit rasant zunehmenden Kosten verbunden (Tiefseebohrungen, Nordpolarexploration, Extraktion aus Ölsanden). Die ausbeutbaren Reserven werden heute auf 160 bis unter 200 Milliarden Tonnen Öl geschätzt, also auf den Vorrat für 40, höchstens 50 Jahre.

Was wird geschehen, wenn weltweit nicht rechtzeitig und umsichtig für Hunderte Millionen, ja für Milliarden Menschen gesorgt werden wird, wenn nämlich der gewohnte Weltverkehr für Personen und Güter auf der Straße, zu Wasser und in der Luft unerschwinglich wird und zusammenbricht? Wenn hunderttausende Arbeitsplätze in der Ölindustrie selbst, in Förderung, Transport, Verteilung, verloren gehen? Wenn große Zweige der Chemischen Industrie ihre Rohstoffbasis verlieren? Wenn die heutige Weltenergiebasis wegbricht - einschließlich des privaten Heizölbedarfs für das Eigenheim?

Die Unkenntnis über die heraufziehenden Gefahren der Zukunft ist erschreckend. Die Großwirtschaft und das Militär wiegeln ab, beschäftigen sich aber sehr wohl mit den Problemen, die an ihre eigene Substanz zu gehen drohen.

Öl war jahrzehntelang Grundstoff für zivilisatorische Neuerungen und Errungenschaften. Heute, im Niedergang, ist die Ölwelt eine riesenhafte, weithin undurchdringliche Welt für sich, beherrscht von den mächtigsten Unternehmen der Erde im Verbund mit den ölreichen Staaten und ihren korrupten Diktatoren, deren Völker inmitten des Reichtums ihrer Ausbeuter verelenden.

Wer sich mit dem Unheil beschäftigt, das die Ölwelt heute - dieses Universum eigener Art - über Menschen und Natur bringt, wird feststellen müssen, daß es sich um eine Sphäre von extremer Unzugänglichkeit handelt, von Geheimhaltung und Absicherung nach außen. Interna der Ölmultis und ihrer Agenturen kommen kaum ans Tageslicht, brisante Einzelheiten der Umweltzerstörung bleiben der Öffentlichkeit unbekannt, die auch gewöhnlich nichts über die Verdrängung der Bevölkerung in den Förder- und Transfergebieten erfährt. Ölfelder, Förderanlagen, Ölhäfen, empfindliche Pipelines und Pumpstationen werden von bewaffneten Wachmannschaften und von Stacheldrahtverhauen vor Blicken von außen geschützt; Geheimdienste, Söldner, Mordkommandos, die den Widerstand aus der Bevölkerung bekämpfen, agieren im Dunkel.

Das Elend der Völker mitten im Ölreichtum ist inzwischen aus vielen Weltgegenden bekannt geworden: aus Nigeria, Sudan, Äquatorial-Guinea, dem Regenwald Ecuadors, dem weiteren Amazonasgebiet. Den Ölsegen fördern überwiegend importierte ausländische Facharbeiter. Selten gelangt davon etwas zu den Einwohnern. Die Umwelt bleibt weiträumig vergiftet zurück. Fischgründe und sauberes Wasser gehen verloren. Die wenigen Ölstaaten, die im eigenen Land zivilisierte Methoden anwenden, etwa Norwegen oder Österreich, sind im Ausland, wie andere, für rücksichtslose Expansionspolitik bekannt. In Kanadas Provinz Alberta wird Ölsandboden in riesigem Ausmaß abgegraben und abgefahren und das Öl aufwendig ausgespült. In den USA, dem ölhungrigsten Land, dessen Ölgesellschaften Vorräte in der ganzen Welt plündern, herrscht auch im eigenen Bereich (Alaska; Golf von Mexiko) Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt. Akute Gefahr droht der Umwelt durch Ölsuche in den Tiefen des südlichen West- und Ostatlantiks, im Nordpolargebiet und im weiten Umkreis des Kaspischen Meeres.

Der blutige Kampf ums Öl tobt seit Jahrzehnten, nicht nur in den Kriegen in Nahost. Bürgerkriege in ölhöffigen Staaten wurden von auswärtigen Ölgesellschaften durch Waffenverkäufe angeheizt (Angola; Kongo/Brazzaville). "Terrorismus" und religiöse Konflikte dienen weiterhin als Folie für Kriege um Ölreichtümer und Pipelines. Das Szenarium der Öl-Endzeit birgt Potential für ungeheure Konflikte, wogegen die heutigen Auseinandersetzungen um Irak, Iran, Afghanistan und den Transkaukasus nur ein Vorspiel darstellen würden.

Dringend muß sich politischer Widerstand sammeln. Heute begangene Unterlassungen und Sünden werden sich an unseren Enkeln rächen. Möglichkeiten zur Erneuerung der Weltenergiewirtschaft liegen zutage. Sie werden aber unter den heutigen Herrschaftsstrukturen schwerlich realisiert werden können.


*


Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zwölfter Jahrgang, Nr. 22 vom 30. Oktober 2010, Seite 836 bis 838
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Tel. 030/42 80 52 28, Fax 030/42 80 52 29
E-Mail: espoo@t-online.de
Internet: www.ossietzky.net oder www.sopos.org/ossietzky

Ossietzky erscheint zweiwöchentlich.
Einzelheft 2,80 Euro, Jahresabo 58,- Euro
(Ausland 94,- Euro) für 25 Hefte frei Haus.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010