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OSSIETZKY/1047: Der Chemiekrieg gegen Jugoslawien


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 6 vom 23. März 2019

Der Chemiekrieg gegen Jugoslawien

von Hartmut Sommerschuh


Am 24. April 1999 feierte in Washington die NATO ihren 50. Geburtstag mit einem neuen Strategie-Konzept. Das hieß, eine "Mission" beginnen notfalls auch ohne Bündnisfall, ohne UN-Mandat und auch außerhalb des Bündnisgebietes. Während die Gläser klangen, wurde dies schon die vierte Woche per Luftkrieg in Jugoslawien erprobt. Zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" im Kosovo hatte man am 24. März losgeschlagen. Obwohl in den fürs deutsche Parlament vom Führungszentrum der Bundeswehr zusammengestellten Wochenberichten nur von einem blutigen Bürgerkrieg die Rede war, nicht aber von "ethnischen Säuberungen" und "Vertreibung". Behauptungen, mit denen Außenminister Joschka Fischer (Grüne) und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) auch den Einsatz deutscher Tornados für unerlässlich erklärten. Das bezeugt Jochen Scholz, damals als Bundeswehroffizier Referent beim Stab des Generalinspekteurs. Und weil die serbische Armee den Sturz von Miločević nicht so einfach zuließ und militärische Erfolge im Kosovo ausblieben, lenkte die NATO schon bald ihre Bomben und Marschflugkörper auf sogenannte zivilmilitärische Ziele. Also auf Brücken, Straßen, die Strom- und Wasserversorgung, auf Krankenhäuser, ein Fernsehzentrum, Industriebetriebe.

Als besonders zynisches Kriegsverbrechen der NATO gilt bis heute neben dem Einsatz von über 30.000 Urangeschossen an über 80 Orten die vorsätzliche Bombardierung der großen Chemiezentren in Panćevo, Novi Sad, Bor und des Autowerkes von Zastava in Kragujevac. Am 4. April 1999, zwölf Tage nach Beginn der NATO-Luftschläge, trafen zum ersten Mal mehrere Raketen die Raffinerie von Panćevo. Das auslaufende Öl brannte zwei Wochen. Am 6. April 1999 wurde mit Langstreckenbombern die ältere Ölraffinerie in der Donaumetropole Novi Sad zerstört. 80.000 Tonnen Öl liefen aus, 20.000 Tonnen verbrannten. Eine riesige Wolke aus Ruß, Teer, Ölpartikeln, Schwefeldioxid und Stickoxiden lag über der Stadt. Nur ein Bruchteil davon löste vor kurzem im gesetzesstrengen Deutschland den Dieselskandal und aufgeregte Opferdebatten aus.

Am 15. und 18. April 1999 und schlussendlich kurz vor dem Waffenstillstand am 8. Juni zerstörte die NATO vollständig das serbische Chemiezentrum in Panćevo. Erst wenige Jahre zuvor war es auch mit US-Hilfe modernisiert worden. Bauplangenau trafen computergesteuerte Raketen und Präzisionsbomben die Düngemittelfabrik, die Ölraffinerie, das PVC-Werk und auf den Meter exakt einen noch halbvollen Tank mit 450 Tonnen Vinylchlorid, dem krebserregenden Vorprodukt für die PVC-Herstellung. Es war einer der Behälter, die die Werkleitung noch als besonders gefährlich an die NATO gemeldet hatte. Obwohl vorsorglich per Eisenbahn über 8100 Tonnen Ammoniak nach Rumänien transportiert worden waren, entwichen auch von diesem tödlichen Gas noch hunderte Tonnen. So zog eine 20 Kilometer lange Giftgaswolke mehr als zehn Tage westwärts. Über die Vororte von Belgrad hinweg in die Gemüse- und Kornkammern Serbiens. 40.000 Menschen wurden evakuiert. Allein die Konzentration des Vinylchlorids stieg zeitweise auf das 10.600-fache des internationalen Grenzwertes. Als der Wind sich drehte, kroch die Wolke weiter nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn. Selbst 550 Kilometer südlich maßen Wissenschaftler der griechischen Universitätsstation Xanthi hochgiftige Dioxine und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffverbindungen und alarmierten die internationale Öffentlichkeit.

Schon wenige Jahre nach Kriegsende beobachteten serbische Mediziner wie der führende Belgrader Onkologe Vladimir Čikarić und die Neurologin Danica Grujičić einen dramatischen Anstieg der Krebsrate und Sterblichkeit. Heute liegt Serbien bei Lungen- und Brustkrebs an der Spitze Europas. Doch erst im Mai 2018 konnten engagierte Mediziner im Belgrader Parlament die Gründung einer Kommission durchsetzen, die die verheerenden Folgen des frei gewordenen Uranoxidstaubes und der Chemieangriffe untersucht. Die serbische Staatspolitik hat auf dem Weg in die EU viel zu lange höflich die Kriegsfolgen geschluckt.

Für die Toxikologin Ursula Stephan aus Halle/Saale ist die Bombardierung der serbischen Chemiebetriebe bis heute ein ungesühnter vorsätzlicher Chemiekrieg, der nach deutschem Recht ein "Super-GAU" war. Und tausende Opfer von Langzeitschäden bewusst in Kauf nahm. Als 1999 alle deutschen Umweltverbände dazu schwiegen, war Frau Stephan Vorsitzende der deutschen Störfall-Kommission. Einer Expertenvereinigung für alle Sicherheitsfragen der Industrie und auch für die Folgen und Verhütung von Chemieunfällen.

Als sich kein anderer deutscher Toxikologe bereit erklärte, folgte Frau Stephan ohne zu zögern Ende Juli 1999 dem Wunsch des World Wide Fund for Nature (WWF-Büro in Wien) und erstellte mit einer Expertin des Umweltlabors "ÖKO-CONTROL" Dessau an den zerstörten serbischen Chemieorten ein Gutachten. Fast zeitgleich untersuchten auch Spezialisten der damals von Klaus Töpfer geleiteten UN-Umweltbehörde UNEP vor Ort die Schäden der Chemieangriffe; doch sie hielten am Ende in ihrem Bericht den Ball NATO-freundlich flach, erklärten als Fazit ihrer Analysen, dass die meisten der durch die ausgelaufenen und verbrannten Chemikalien entstandenen "Verschmutzungen" Altlasten aus der Zeit vor dem Krieg seien.

Die Professorin Ursula Stephan dagegen deklarierte das Ausmaß der Zerstörung, der Bodenbelastung und vor allem der weiträumigen Giftgaswolken nach den strengen deutschen Gesetzen als "exzeptionellen Störfall". Das heißt als eine Katastrophe, für deren Ausmaße es keine Erfahrungen, Berechenbarkeit, keine Vorbereitungsmöglichkeiten und deshalb auch keine Abwehrszenarien gibt. Vergleichbar mit Tschernobyl oder Fukushima.

Schon während der Luftangriffe hatte auch der Berliner Universitätsprofessor für Umweltplanung Knut Krusewitz die Schläge gegen Chemiezentren als neuartigen Umweltkrieg bezeichnet. Mit dem die NATO das Genfer Verbot von Chemischen Waffen gezielt umging und damit auch gegen die ENMOD-Konvention der UN-Vollversammlung von 1978 verstieß, nach der "umweltverändernde Techniken, die weiträumige, lange andauernde oder schwerwiegende Auswirkungen" haben, als Mittel der Kriegsführung verboten sind.

In Kürze werden die Gläser zum 70. Geburtstag der NATO klingen. Wie lange werden sie den Schrei nach völkerrechtlichen Konsequenzen übertönen?

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Zweiundzwanzigster Jahrgang, Nr. 6 vom 23. März 2019, S. 199-201
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2019

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