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OFFENSIV/096: Ausgabe Mai-Juni 2011 4/11


offen-siv 4/2011
Zeitschrift für Sozialismus und Frieden

Ausgabe Mai-Juni 2011 2/11


INHALT

Redaktionsnotiz

Nachrichten und Berichte
Manlio Dinucci: Der Raub des Jahrhunderts - Die Beschlagnahme der Gelder der staatlichen libyschen Fonds durch die "Willigen"
Dominik Gläsner: Belarus - Staat des Volkes
Rudolf Andreas Palmer: Dokumentation zum Artikel von Richard Goldstone in der "Washington Post" vom 1.4.11: "Reconsidering the Goldstone Report on Israel and war crimes"
Erich Buchholz: Bin Laden gehörte vor ein Gericht!
Uwe Langer: Atomenergie Ja oder Nein ist nicht die einzige Kernfrage

Venezuela, Geheimdienste und die Linke
Ingo Niebel: Venezuela - Position und Konsequenz.
Scheers Venezuela-Berichterstattung auf Abwegen
Ingo Niebel: Gegenfrage. Antwort auf Dietmar Koschmieders Artikel "Konterrevolution"
Ingo Niebel: Geopolitik, Geheimdienste und Destabilisierung - Hintergründe zum Fall Becerra

KPD(B) → → Kommunistische Initiative
- KPD(B)-Parteitag vom 9.4.2011: KPD(B) hat ihre Aufgabe erfüllt

Kommunismusdebatte "junge Welt"
Fritz Dittmar: Zu "Macht und Moral", Junge Welt, 4.2.11
Kurt Gossweiler: Ist Gewalt zur Verteidigung des Kommunismus unmoralisch?
Aus der letzten Ausgabe der "Trotz Alledem" der KPD(B): Zu den Ursachen des Revisionismus und anderer Abweichungen vom Marxismus-Leninismus in der Arbeiterbewegung
W.I. Lenin: Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung

Cuba
Hermann Jacobs/Frank Flegel: Fragen zum Verständnis der cubanischen sozialistischen Revolution

China
- Elisseos Vagenas, ZK der KKE: Die internationale Rolle Chinas

Raute

REDAKTIONSNOTIZ

Wir wollen in dieser Ausgabe nicht auf all das Merkwürdige eingehen, das zur Zeit in den kommunistischen Kreisen geschieht.

Hier nur ein kleiner Ausschnitt:
Die Trotzkisten von Marx21, ehemals "Linksruck", ("Linksruck" ist wesentlicher Bestandteil der "entristischen" Fraktion des deutschen Trotzkismus; siehe z.B. wikipedia, Suchwort: marx21) veranstalteten vom 2.-5. Juni 2011 einen Kongress in Berlin: "Marx is muss", Medienpartner ist u.a. die "junge Welt", dies gemeinsam mit den imperialistischen Kriegstreibern von der "TAZ" und den antikommunistischen Sozialdemokraten des "ND".

Die KPD stellt einen faktischen Antrag auf Aufnahme in die DKP - formal natürlich als Vereinigung bezeichnet - , den die DKP in Person Nina Hager großzügig zurückweist. (Siehe: Die Rote Fahne, die neuesten Ausgaben u./o. Internetauftritt der DKP: www.kommunisten.eu)

Klaus Blessing nimmt im August 2010 an einem Kongress der Neofaschisten teil, u.a. mit Prof. Hankel und Prof. Karl A. Schachtschneider, beide Autoren des rechten Wochenblattes 'junge Freiheit', letzterer war stellvertr. Vorsitzender des rechtsgerichteten 'Bundes freier Bürger', außerdem mit Prof. Max Otte, dessen Publikationen in der NPD-Zeitung 'Deutsche Stimme' wohlmeinend besprochen werden - und schließlich mit dem Vorsitzenden der Fraktion 'Europa der Freiheit und Demokratie' im Europaparlament, der nationalistische und rassistische Parteien angehören (siehe: VVN/BdA NRW - Nach den Rechten sehen - Antifaschistische Nachrichten August 2010, www.nrw.vvn-bda.de/hma/an_2010_17.htm). Damit nicht genug: Anfang Mai 2011 nahm er erneut an einem solchen Kongress teil, Prof. Hankel war auch wieder dabei, ebenso Elsässer und der Trotzkist Peter Feist (siehe: www.jungefreiheit.de/Mit-dem-Nationalstaat ...)

Egon Krenz spricht in Hamburg zu Thälmanns 125. Geburtstag und merkt in seiner Rede an, dass er nicht die deutsche Einheit beklage, sondern nur die Art ihrer Ausformung. Das Ganze habe aber immerhin den Vorteil, dass nun nicht mehr die Gefahr bestehe, dass Deutsche eventuell auf Deutsche schießen müssten. Im Original: "Das Wichtigste bleibt für mich: Die Deutschen in Ost und West leben seit 1990 nicht mehr mit der Angst, zwei deutsche Staaten könnten gegeneinander Krieg führen. Diese Gefahr bestand in der Zeit des Kalten Krieges, der dem Wesen nach ein Balancieren am Rande eines Atomkrieges war. Ich kritisiere nicht die deutsche Einheit. Ich bemängele die Art und Weise ihres Zustandekommens und den Umgang der heute Herrschenden mit den Ostdeutschen." (Krenz, jW, 19.4.2011)

Das soll genügen.

Dass so etwas geschieht, ist selbstverständlich entsetzlich. Das Entsetzlichste aber ist, dass all das verschwiegen, heruntergespielt, toleriert, bemäntelt, entschuldigt wird.

Aber wie gesagt: mit all dem wollen wir uns in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift nicht beschäftigen, denn es gibt Wichtigeres. Libyen, Gaza, Belarus, Venezuela, Cuba, China, die Geschichte der Sowjetunion - das sind unsere internationalen Themen, wobei sie alle selbstverständlich etwas mit der Situation hier zu tun haben (so z.B. Venezuela mit der Berichterstattung in der "jungen Welt", die Geschichte der Sowjetunion etwas mit dem moralisierenden Angriff der Brenner, Hager und Steigerwald gegen Hans Heinz Holz, Gaza mit dem angeblichen Abschwören Goldstones usw.)

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Genossinnen und Genossen,
zum Abschluss dieser Redaktionsnotiz möchte ich Euch intensiv ins Gewissen reden. Im letzten Heft hatten wir Euch um Spenden gebeten für das Büro der Kommunistischen Initiative im Ruhrgebiet. Die Resonanz war äußerst mäßig. Es sind von den monatlich benötigten 100,00 € inzwischen zwar 50,00 € abgesichert, dies aber mit großer Anstrengung und vor allem: DAS REICHT NICHT AUS! Ich bitte Euch sehr eindringlich darum, diese jungen Genossinnen und Genossen finanziell zu unterstützen. Die Mehrheit ist noch keine 20 Jahre alt, sie sind voller Elan und Energie, sie nehmen an der von mir geleiteten Kaderschulung, die am 5. Juni begonnen hat, teil, - und sie wollen aktiv sein. Dazu ist dieses Büro unverzichtbar. Bitte werdet Pate! Erklärt Euch bereit, einen beliebigen Betrag für ein Jahr zuzusagen (jeder Betrag hilft, keiner hält jemanden, der nur 3,- € pro Monat entbehren kann, für geizig), aber bitte: Macht es! Ihr werdet vierteljährlich exklusiv über die Aktivitäten und den Fortgang der Entwicklung informiert! Zusagen an uns: Red. offen-siv, Frank Flegel, Egerweg 8, 30559 Hannover, Tel. u. Fax: 0511 - 52 94 782, Mail: redaktion@offen-siv.com.

Frank Flegel, Hannover

P.S.: Auch wenn die jungen Genossinnen und Genossen unser Hauptaugenmerk haben, muss ich selbstverständlich darauf hinweisen, dass Zeitungmachen Geld kostet. Vergesst uns nicht!


Spendenkonto Offensiv:
Inland:
Konto Frank Flegel, Kt.Nr.: 30 90 180 146 bei der Sparkasse Hannover, BLZ 250 501 80, Kennwort: Offensiv
Ausland: Konto Frank Flegel, Internat. Kontonummer(IBAN): DE 10 2505 0180 0021 8272 49,
Bankidentifikation (BIC): SPKHDE2HXXX; Kennwort: "Offensiv".

Raute

NACHRICHTEN UND BERICHTE

Manlio Dinucci: Der Raub des Jahrhunderts - Die Beschlagnahme der Gelder der staatlichen libyschen Fonds durch die "Willigen"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Dominik Gläsner: Belarus - Staat des Volkes

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik Belarus am 19.12.2010 bestätigte den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko mit 79,6% im Amt. Damit kann der erfolgreiche Weg, den Belorussland unter seiner Führung seit 1994 vorangeschritten ist, fortgesetzt werden.

Erwartungsgemäß hagelte es auch diesmal massive Kritik seitens der Opposition, die der Regierung unter Lukaschenko Wahlmanipulation und Fälschung vorwirft. Tatsächlich gab es dazu keinerlei Veranlassung. Sowohl Wahlkampf als auch der Wahlvorgang selbst entsprachen demokratischen Spielregeln. Allen Kandidaten wurde freier Zugang zur den Presseorganen des Landes gewährt. Gerade deshalb aber ist der überdeutliche Sieg Lukaschenkos nicht verwunderlich. Während die Opposition mit teils abstrusen und abenteuerlichen Modernisierungsversprechen Wahlkampf betrieb und in der Regel ein "Programm" bestehend aus zwei Stichworten ("EU-Beitritt" und "NATO-Mitgliedschaft") vertrat, steht Lukaschenko bis heute für eine solide Wirtschafts- und Sozialpolitik. Belorussland gelang es als einziger der ehemaligen Sowjetrepubliken soziale Errungenschaften gegen Angriffe von Liberalen und Konservativen, aber auch der mit ihnen paktierenden Sozialdemokraten zu verteidigen. So beträgt die Arbeitslosigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Belarus weniger als ein Prozent, trotz Wirtschaftskrise schrieb die belorussische Wirtschaft durchgängig schwarze Zahlen.

Maßgeblichen Anteil daran hat A. G. Lukaschenko selbst. Der 1951 geborene Historiker und Agrarwissenschaftler, Vater dreier Söhne, der 1983 Sekretär der KPdSU wurde und im August 1991 gemeinsam mit andere KP-Funktionären den Sturz Gorbatschows und damit die Rettung der UdSSR herbeizuführen versuchte, stimmte als einziger Abgeordneter des belorussischen Sowjets gegen die Loslösung seines Landes von der Sowjetunion.

Bereits 1994 wurden nach seiner Amtsübernahme die ehemaligen sowjetischen Staatssymbole teilweise wiedereingeführt. Kurz darauf stoppte er die ersten größeren Privatisierungen ehemaliger Staatsbetriebe und führte einen gesetzlichen Mindestlohn ein. Die Blüten seiner Wirtschaftspolitik zeigen sich bis heute: jährliche Wachstumsraten zwischen 7 bis 12 Prozent. Noch 2005 wurde fast 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes von staatlichen Betrieben erwirtschaftet. Die Präsidentschaftswahl 2006, in der Lukaschenko mit 93,5 % wiedergewählt wurde (das Wahlergebnis wurde durch ihn selbst auf 86% nach unten korrigiert, um den so altbekannten wie haltlosen Vorwurf der Wahlmanipulation zu vermeiden) zeigte erneut die große Unterstützung die das belorussische Volk seinem "Väterchen", wie Lukaschenko liebevoll genannt wird, entgegenbringt.

Dagegen erscheint die volksfeindliche Politik der Oppositionsparteien in starkem Kontrast. Dass dabei auch eine kleine revisionistische Abspaltung der Belorussischen KP eine nicht unwesentliche Rolle spielt, ist umso tragischer. Unter der Bezeichnung "Belorussische Partei der Kommunisten" betreibt eine kleine Clique ausgewählter Lukaschenko-Gegner eine zunehmend kapitalismusfreundlichere, sozialdemokratische Politik und holt sich dafür nicht zuletzt in den USA finanzielle Unterstützung. Dass eben jene Splittergruppe auch Mitglied der Europäischen Linkspartei ist, zeigt die Degeneriertheit letzterer insgesamt. Selbstverständlich unterstützt die KP Belorusslands Lukaschenkos Politik in besonderem Maße und hat ihre Anhänger zu seiner Wiederwahl aufgerufen.

Überhaupt haben Kommunisten keinerlei Grund an Lukaschenko zu zweifeln. Pünktlich zum 90. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution am 7. November 2007 (der in Belorussland bis heute staatlicher Feiertag ist) lud der belorussische Präsident Vertreter aller größeren Kommunistischen Parteien nach Minsk ein, um dort das große Jubiläum zu feiern. In der verabschiedeten Erklärung des Forums heißt es: "Der Kommunismus ist im Aufwind, die Krise ist überwunden. Die Lehren von Marx, Engels und Lenin erobern wieder den Verstand der Menschen weltweit". Lukaschenko selbst begrüßte die Teilnehmer des Forums mit den Worten: "Die Oktoberrevolution hat das gewaltige Potential des unterdrückten Volkes geweckt, hat die Massen in ihrem Streben vereint, ein freie und gerechte Gesellschaft aufzubauen."

Die durch Lukaschenko per Dekret erlassene Richtlinie "Über die Grundlagen der Ideologie des belorussischen Staates" betont die besondere Bedeutung, die der Ideologie bei der Erziehung der Jugend zu kommt, und findet ihre Anwendung vor allem an Schulen und Hochschulen der Republik Belarus. Neben der hohen Wertschätzung der sozialen Sicherheit, der Menschenrechte (wobei hier insbesondere das Recht auf Leben, auf Arbeit, auf Gesunderhaltung und auf Bildung betont werden), der Demokratie (die sich nicht im bürgerlich-parlamentarischem Demokratismus erschöpft, sondern zu wichtigen Entscheidungen stets Referenden durchführt) werden auch Patriotismus und nationale Identität des belorussischen Volkes betont. Vergeblich wird man allerdings Passagen zur Unternehmerfreiheit, zur verfassungsmäßigen Verankerung marktwirtschaftlicher Prinzipien (die aber in begrenztem Maße zugelassen werden) oder gar zum abstrakten Freiheitsbegriff westlicher "Demokratien" suchen. Dass diese Staatsideologie von westlichen Vorzeigedemokraten als diktatorisch abgelehnt wird, verwundert deshalb wenig. Gerade sie ist es aber, die den erfolgreichen Weg Belorusslands ermöglicht und befördert.

Außenpolitisch hegt der belorussische Präsident außerordentlich gute Beziehungen zu den progressiven Staaten der Welt, darunter der koreanischen DVR, Venezuela, VR China und Kuba sowie dem Iran. Erst im Oktober sagte der venezolanische Präsident Hugo Chavez Lukaschenko langfristige Unterstützung bei seiner Versorgung mit Erdöl zu, beide Länder unterzeichneten Lieferverträge über 30 Millionen Tonnen Erdöl für die kommenden drei Jahre. So zeigte sich Chavez im Vorfeld er Wahlen auch überzeugt davon, dass Alexander Lukaschenko diese gewinnen wird: "Wir sind sicher, dass du siegen wirst. Das ist der Sieg der Würde, der Sieg eines heldenhaften Volkes, des Sozialismus, der Freiheit" sagte Chavez in einer im staatlichen Fernsehen übertragenen Ansprache. Und schließlich schlussfolgerte er: "Dein Sieg, Bruder Alexander, ist auch unser Sieg."

Alle progressiven Kräfte Europas sollten mit Bewunderung und Solidarität auf Belorussland und seinen Präsidenten schauen und ihn sowie seine Politik, wo dies möglich ist, unterstützen. Belarus stellt eine Insel der Hoffnung in Europa dar, die den Weg in einen wahrhaften Sozialismus des 21. Jahrhunderts zeigen kann.

Dominik Gläsner, Zittau

Raute

Rudolf Andreas Palmer: Dokumentation zum Artikel von Richard Goldstone in der "Washington Post" vom 1.4.11: "Reconsidering the Goldstone Report on Israel and war crimes"

Motto: "Das Mindeste, was wir den Menschen in Gaza schuldig sind, ist eine wahrheitsgetreue Dokumentation ihres Leids. Niemand kann die Toten wieder zum Leben erwecken oder die seelischen Wunden der Überlebenden heilen. Aber die Erinnerung an die Ereignisse wach halten und uns dagegen wehren, dass das Andenken der Opfer besudelt wird, das können wir." (Norman Finkelstein: Israels Invasion in Gaza. Hamburg 2011, S. 8)

Mit Erstaunen und Befremden haben alle, die den Untersuchungsbericht Goldstones und der von ihm geleiteten UN-Menschenrechts-Kommission wegen seiner Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit bewundern, diesen Artikel (Washington Post, 1.4.11) zur Kenntnis genommen.

Auf mehr als 800 Seiten(1) sind die Kriegshandlungen Israels gegen Gaza 2008/2009 nach dem allgemeinen Völkerrecht, dem humanitären Völkerrecht und den allgemeinen Menschenrechten beurteilt worden(2).

Nun erklärt Goldstone, auf Grund einer neueren Stellungnahme Israels würde jetzt der Bericht anders ausfallen. Die Opfer der palästinensischen Zivilbevölkerung seien nicht absichtlich getötet worden - im Gegensatz zu den israelischen Opfern der Zivilbevölkerung.

Aber allein schon die Opferzahlen widerlegen diese Behauptung: zwischen vierzehn- und fünfzehnhundert Todesopfer - darunter über 300 Kinder - auf palästinensischer Seite gegenüber drei Zivilisten auf israelischer Seite, darunter kein Kind.

So sind Zweifel aufgekommen, ob der Artikel in der "Washington Post" so überhaupt von Goldstone geschrieben worden ist. Sein Bericht selbst enthält nämlich zur Frage der Absichtlichkeit und deren Auswirkungen eindeutig gegenteilige Feststellungen.

Absatz 1893 bis 1895:

"1893: Die Operationen waren in allen Phasen sorgfältig geplant. Juristische Beratung gab es in allen Planungsphasen und auf bestimmten Operationsebenen. Der israelischen Regierung zufolge wurden praktisch keine Fehler gemacht. Im Lichte dieser Umstände kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die Ereignisse von Ende 2008 bis Anfang 2009 ein bewusst unverhältnismäßiger Angriff waren mit dem Ziel, eine Zivilbevölkerung zu bestrafen, zu erniedrigen und zu terrorisieren, ihre wirtschaftliche Fähigkeit, zu arbeiten und für sich selbst zu sorgen, einzuschränken und ihr das Gefühl einer ständig wachsenden Abhängigkeit und Verletzbarkeit einzuflößen.

1894: Die Kommission hat mit Besorgnis öffentliche Stellungnahmen von israelischen Amtsträgern, darunter hohe Militärs, zur Kenntnis genommen, die besagten, dass der Einsatz von unverhältnismäßiger Gewalt, Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die Zerstörung von zivilem Eigentum legitime Mittel zur Erreichung der militärischen und politischen Ziele Israels darstellen. Die Kommission glaubt, dass solche Stellungnahmen nicht nur die gesamte Ordnung des Völkerrechts untergraben, sondern mit dem Geist der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar sind und es deshalb verdient hätten, kategorisch verurteilt zu werden.

1895: Welche Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechtsgesetze auch immer begangen worden sein mögen - die systematische und geplante Art und Weise der in diesem Bericht beschriebenen Aktivitäten lässt der Kommission keinen Zweifel, dass die Verantwortlichkeit in erster Linie bei denen liegt, die die Operation entworfen und überwacht haben."

Vgl. dazu die im Bericht wörtlich wiedergegebenen Äußerungen des israelischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Eli Yishai und der israelischen Außenministerin Tzipi Livni, Absatz 1204 bis 1207:

"1204: Ab 6. Januar 2009, während der Kriegshandlungen in Gaza, äußerte der stellvertretende Ministerpräsident Eli Yishai wie folgt(3) 'Es (dürfte) möglich (sein), Gaza zu zerstören, damit sie verstehen, dass man sich nicht mit uns anlegen sollte.' Er führte ferner aus: "Es ist eine großartige Chance, Tausende von Häusern von all den terroristen zu zerstören, damit sie noch mal darüber nachdenken, bevor sie Raketen abschießen." "Ich hoffe, dass die Aktion mit großer Leistung und mit der vollständigen Zerstörung des Territoriums und der Hamas enden wird. Meiner Meinung nach müsste man sie dem Erdboden gleichmachen, so dass Tausende Häuser, Tunnel und Industrien zerstört werden." Er fügte hinzu: "Die Einwohner des Südens ermutigen uns, damit der Einsatz bis zur vollständigen Vernichtung der Hamas weitergeht."(4)

1205: Am 2. Februar 2009, nach Abschluss der Kriegshandlungen, äußerte sich Eli Yishai noch einmal: "Selbst wenn die Raketen auf offenes Gelände oder ins Meer fallen, sollten wir ihre Infrastruktur angreifen und für jede abgeschossene Rakete 100 Häuser zerstören."(5)

1206: Am 13. Januar 2009 soll die israelische Außenministerin Tzipi Livni folgendes gesagt haben: "Wir haben der Hamas bewiesen, dass wir die Gleichung verändert haben. Israel ist kein Land, auf das man Raketen abfeuert, ohne dass es darauf reagiert, sondern ein Land, das durchdreht, wenn man auf dessen Bürger schießt - und das ist auch gut so."(6)

1207: Die massive Zerstörung von Betrieben, Ackerland, Hühnerfarmen und Wohnhäusern ist vor dem Hintergrund derartiger Äußerungen zu betrachten. Zu beachten ist insbesondere die umfangreiche Zerstörung, die in den Tagen vor dem Abschluss des Einsatzes erfolgte. Während der Abzugsphase wurden anscheinend Tausende von Häusern zerstört. Die "Tag-danach"-Doktrin(7) - so wie sie in den Aussagen israelischer Soldaten erläutert wird - hat die Kommission an anderer Stelle in diesem Bericht erwähnt. Diese Doktrin passt unschwer zum allgemeinen Ansatz der massiven unverhältnismäßigen Zerstörung."

Ganz besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Abschnitt 1876. Dieser Abschnitt gehört in den Teil XXX A (Schlussfolgerungen und abschließende Beobachtungen):

"1876: Bei der Umsetzung ihres Mandats ließ sich die Kommission ausschließlich vom allgemeinen Völkerrecht ... leiten. Dies bedeutet in keiner Weise, dass man die Position Israels als der Besatzungsmacht mit der besetzten palästinensischen Bevölkerung oder den Körperschaften, die sie vertreten, gleichsetzt. Die Unterschiede in Bezug auf die Macht und die Fähigkeit, Schaden zuzufügen oder Schutz zu gewähren, ... sind offensichtlich, und ein Vergleich ist weder möglich noch notwendig."

Zumindest indirekt wird damit die Behauptung, auch die Palästinenser hätten Kriegsverbrechen begangen, widerlegt. Mag die Anzahl der palästinensischen Raketen noch so hoch gewesen sein: der israelische Beschuss zu Lande, vom Wasser und aus der Luft war durchweg - wie das Beispiel aus dem historischen Kontext des Jahres 2006 in Abschnitt 195 zeigt - unverhältnismäßig viel zahlreicher, tödlicher und zerstörerischer: 525 Palästinenser fielen den modernen israelischen Waffen zum Opfer, während auf israelischer Seite kein einziges Todesopfer durch die selbst gebastelten, ziellos abgefeuerten palästinensischen Raketen zu beklagen gewesen ist.

Opfer und Täter können nicht auf eine Stufe gestellt werden geschweige denn, dass Opfer - im Gegensatz zum Täter - böswilliger Tötungsabsicht bezichtigt werden, wenn sie - nahezu ohnmächtig - ihr Widerstandsrecht gegen einen übermächtigen Aggressor wahrnehmen.

Dankenswerter Weise hat Richard Goldstone selbst schon am 6. April 2011 in einem Interview mit 'Associated Press' klargestellt: "I have no reason to believe any part of the report needs to be reconsidered at this time."(8) Damit erledigen sich alle anders lautenden Kommentare.

Diese Feststellung ist um so mehr gerechtfertigt, als bereits zwei Monat vor dem Goldstone-Bericht ein entsprechender Bericht von 'Amnesty International' veröffentlicht worden ist (1.7.09): "Operation Gegossenes Blei - Israel/Gaza" (www.amnesty-koeln-gruppe2415.de). Auf mehr als 100 Seiten werden dort absichtliche Tötungen palästinensischer Zivilisten durch israelische Streitkräfte sowie deren mutwillige Zerstörung von Häusern und Infrastruktur Gazas beschrieben und völkerrechtlich beurteilt. Beide Berichte kommen zu denselben Ergebnissen: Zahlreiche Kriegsverbrechen werden dokumentiert bis hin zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit - in Verantwortung der politischen und militärischen Führung Israels.

Das gleiche gilt für die internationalen Organisationen wie 'Human Rights Watch', 'International Federation for Human Rights' sowie für israelische wie palästinensische Menschenrechts-Organisationen und die Untersuchungskommission der Arabischen Liga (Euromedia Human Rights News vom 24.4.2011). Selbst die Leiter der beiden UN-Nachfolge-Kommissionen, der Berliner Völkerrechtler Christian Tomuschat und die US-Richterin Mary McGowan Davis können keinen neuen Stand der Ermittlungen erkennen. (Tagesspiegel 6.4.2011)

Eine erschütternde Bestätigung des Goldstone-Berichts bieten zudem die Tagebuchaufzeichnungen eines italienischen Augenzeugen, der inzwischen von interessierter Seite ermordet worden ist - Vittorio Arrigoni: "Gaza (Dezember 2008 - Juli 2009 - Mensch bleiben" (Frankfurt/M 2009) sowie der Bericht "Gaza Februar 2009 - Notfallpädagogische Krisenintervention in den Trümmern von Gaza"
(http://www.freunde-waldorf.de/notfallpädagogik/einsätze/gaza-2009/gaza-februar-2009.html).

Nicht zuletzt sei auf drei markante Aussagenrenommierter jüdischer Menschen in Deutschland und in den USA aufmerksam gemacht:

"Der Krieg gegen Zivilisten ist immer ein Teil der täglichen Routine der israelischen Armee gewesen" (aus dem Brief vom 16.4.2011 des Vorstandes der 'Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost e.V.' an Herrn Goldstone).

"Go through the record. There isn't one world, as I sad in the beginning, there isn't jod, a scintilla, a new evidence to warrant the recantation. Quite the contrary, all the new evidence further confirms the original findings of the Goldstone Report." (Norman Finkelstein im Interview mit Aaron Leonard vom 13.4.2011).

"Er (der Report) bleibt, was er ist, nämlich ein Dokument der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen. Goldstone kann nicht einen einzigen Fakt ändern oder gar annullieren." (Abraham Melzer, Neu-Isenburg, Herausgeber der deutschen Übersetzung des Goldstone-Berichtes im Leserbrief vom 6.4.2011 an die FAZ).

Abschließend sei die authentische Bekräftigung der nach wie vor bestehenden Gültigkeit des Goldstone-Berichtes durch die drei anderen Mitglieder der vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzten Kommission ausführlich zitiert (The Guardian, 14.4.2011, übersetzt von Ulrike Vestring):

"Kürzlich sind in der Presse Artikel und Kommentare über den Bericht der UN-Untersuchungskommission zum Gaza-Konflikt 2008/2009 erschienen. In ihnen wurden Fakten falsch dargestellt, um die Feststellungen dieses Berichts in Zweifel zu zeihen und seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. ...

Wir sind übereinstimmend der Ansicht, dass es keinerlei Grund gibt, eine Überprüfung des Berichts zu fordern oder zu erwarten; denn es haben sich keinerlei gewichtige Umstände gezeigt, die in irgendeiner Weise die Gesamtaussage, die Ergebnisse oder die Schlussfolgerungen des Berichts im Hinblick auf irgendeine Partei des Gaza-Konflikt ändern würden. ...

Wir sind der Auffassung, dass Forderungen, unseren bericht zu korrigieren oder gar zurückzuziehen, ebenso wie Versuche, seinen Charakter und Zweck zu verfälschen, eine Missachtung des Rechts der Opfer, sowohl der palästinensischen wie der israelischen, auf Wahrheit und Gerechtigkeit darstellen. Sie ignorieren auch die völkerrechtliche Verantwortung der betroffenen Parteien, unverzügliche, gründliche, wirksame und unabhängige Ermittlungen zu führen.

Wir beklagen die persönlichen Angriffe und den außergewöhnlichen Druck, der auf Mitglieder unserer Kommission ausgeübt wurde, seit wir im Mai 2009 unsere Arbeit aufnahmen. Diese Kampagne zielt eindeutig darauf ab, die Integrität des Berichts und seiner Verfasser zu untergraben. Hätten wir dem Druck - gleich von welcher Seite - nachgegeben, unsere Schlussfolgerungen zu beschönigen, würden wir eine schlimme Ungerechtigkeit begehen - gegenüber den Hunderten unschuldiger Zivilisten, die während des Gaza-Krieges getötet wurden, den Tausenden von Verletzten und den Hunderttausenden, deren Dasein von diesem Konflikt und der Blockade weiterhin tief erschüttert wird.

Der Bericht hat eine Entwicklung angestoßen, die andauert. Sie sollte weitergehen, bis Gerechtigkeit hergestellt und allgemeiner Respekt für die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sichergestellt sind."

Rudolf Andreas Palmer, Berlin


Anmerkung

(1) Goldstone-Bericht. Deutsche Übersetzung. Herausgegeben von Abraham Melzer. Neu Isenburg, 2010

(2) vgl. die Dokumentation in "offen-siv" 8/10 und 2/11

(3) Während der Kriegshandlungen in Gaza diente Eli Yishai als stellvertretender Ministerpräsident und Industrie-, Handels- und Arbeitsminister der Regierung des Herrn Olmert. In der heutigen, von Herrn Netanjahu geführten Regierung dient er als Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident. Während der Kriegshandlungen in Gaza war er auch Mitglied des Sicherheitskabinetts für nationale Sicherheit. Zu dessen Pflichten gehören die Festlegung der Ziele des Sicherheitswesens und dessen Politik, Fragen, die die israelischen Streitkräfte betreffen, nachrichtendienstliche, außenpolitische Fragen sowie operative Scherheits- und militärische Fragen sowie die Abstimmung der Regierungstätigkeit in Judäa, Samaria und Gaza. Siehe: www.pmo.gov.il (auf Hebräisch)

(4) www.news.walla.co.il/?w=//1412570

(5) www.ynet.co.il/Ext(/Comp/ArticleLayout/CdaArticlePrintReview/1

(6) The indipendent. Israeli cabined devided over fresh Gaza surge, 13. January 2009

(7) Siehe 13. Kapitel

(8) "Ich habe keinen Grund zu glauben, dass irgendein Teil meines Berichtes heute neu überdacht werden müsste."

Raute

Erich Buchholz: Bin Laden gehörte vor ein Gericht!

Was immer Bin Laden an Initiierung, Veranlassung oder Förderung von Untaten oder Verbrechen vorzuwerfen oder zuzuschreiben gewesen sein mag, auch er war ein Mensch. Als Mensch hatte auch er ein Recht auf Leben - wie es im Art. 6 der Internationalen Konvention über Bürgerrechte und politische Rechte verankert wurde. Dabei schränkt diese Bestimmung selbst für den Fall einer gerichtlichen Verteilung zum Tode die Anwendung dieser schwersten Strafart erheblich ein.

Was die US-Administration unter dem mit dem Friedenspreis ausgezeichneten Präsidenten Obama ausführen ließ, ist eine schwere Verletzung des ersten und wichtigsten Menschenrechts. Für jeden unvoreingenommenen Juristen ist solches rechtsstaatlich inakzeptabel.

Dass die USA namentlich seit der Niederschlagung des Hitlerfaschismus permanent Menschenrechte verletzt, dürfte politisch aufmerksamen Zeitgenossen meiner Generation geläufig sein. Die Liste solcher Menschenrechtsverletzungen, darunter Morde an und Mordanschläge auf Politiker und Staatsmänner anderer, den USA nicht genehmer Staaten, ist endlos. Sie kann hier nicht in Erinnerung gerufen werden.

Die neuerliche Menschenrechtsverletzung in Gestalt der Ermordung Bin Ladens hebt sich auch dadurch nicht von geläufigen Verletzungen internationalen Rechts durch US-Behörden ab, als das Exekutionskommando auf dem Staatsgebiet eines dritten unbeteiligten Staates, Pakistans, also unter Verletzung dessen völkerrechtlich anerkannten Souveränitätsrechts, agierte, und zwar unabhängig davon, ob die Regierung Pakistans die Rechtsverletzung rügt und brandmarkt, oder aus politischen Gründen (ggfs. nachträglich) toleriert.

Neu ist all solche Verübung von Menschenrechtsverletzungen, auch von kriminellen Handlungen, auf Anordnung der US-Administration jenseits deren Hoheitsgebietes - so als wenn es ihr erlaubt wäre, auf dem ganzen Erdball nach Gutdünken zu agieren - nicht.

Neu ist und nötigt zu Entrüstung, dass ein Bundeskanzler bzw. eine Bundeskanzlerin als Repräsentant der Bürger dieser Republik diese Menschenrechtsverletzung, diesen kaltblütigen Mord öffentlich begrüßt und sich darüber freut.

Das ist ungeheuerlich!

Mit dieser Äußerung hat sie nicht nur Millionen Deutscher enttäuscht und verletzt, sondern - das sage ich als Jurist - den Rechtsstaat BRD schwer beschädigt!

Als Jurist bewegt mich bei diesem Kommandounternehmen gegen Bin Laden, dass erklärtermaßen seine Festnahme, die zweifellos möglich war, nicht vorgesehen gewesen ist! Seine kaltblütige Erschießung, als das Ziel der Aktion, war somit eine "willkürliche Tötung" im Sinne des Art. 6 der vorgenannten Internationalen Konvention, ein von Obama befohlener Mord.

Deshalb ist zu fragen: Warum sollte Bin Laden nicht festgenommen, sondern kaltblütig ermordet, hingerichtet werden? Offenbar wollte die US-Administration ihn nicht vor Gericht stellen, wie es sich gehörte und auch in der vorgenannten Menschenrechtskonvention vorgesehen ist. Vor allem wollte sie ihn nicht vor ein ordentliches, unabhängiges Gericht - und kein "Militärgericht" à la Guantanamo - stellen!

Mehr noch: Durch seine Hinrichtung sollte ein ordentliches gerichtliches Verfahren gegen ihn von vornherein für alle Zeit unmöglich gemacht werden! Weiterhin ließ die US-Administration durch die Versenkung des Leichnams des ermordeten Bin Laden im Meer absichtsvoll Beweismittel auf ewig vernichten.

Solches ist beispiellos!

In aller Regel sind rechtsstaatlich agierende Strafverfolgungsbehörden, wie die der BRD, sehr daran interessiert, Personen, denen schwere und schwerster Verbrechen vorgeworfen werden, auch deshalb vor Gericht zu stellen, damit für die Öffentlichkeit die Zusammenhänge und Hintergründe derartiger Verbrechen bekannt werden und ein gerechtes Urteil seine öffentliche Billigung erfährt.

Die übrig gebliebene Weltmacht ist dermaßen von sich eingenommen und auf die Aufrechterhaltung ihrer Machstellung ausgerichtet, dass sie meint, auf eine internationale Billigung ihres menschenrechtswidrigen Handelns nicht angewiesen zu sein!

Warum verhinderte die US-Administration absichtsvoll jegliche Möglichkeit, Bin Laden vor Gericht zu stellen?? Hatte sie zu besorgen, dass in einem derartigen Verfahren womöglich auch ganz andere, ihr nicht genehme Zusammenhänge und Hintergründe öffentlich gemacht würden? Vielen ist nicht unbekannt, dass die USA seiner Zeit Bin Laden gegen die in Afghanistan einmarschierten sowjetischen Truppen agieren ließ und ihn dabei unterstützte. Auch vieles andere aus dessen Vergangenheit könnte die Weltöffentlichkeit interessieren und womöglich gegen die US-Administration aufbringen. Hatte die US-Administration womöglich auch zu besorgen, dass in einem ordentlichen Gerichtsverfahren gegen Bin Laden Näheres über die Hintergründe und Ermöglichung der bis heute im Dunklen gelassenen Vorgänge vom 11. Spetember 2001 bekannt werden könnte, die als sakrosankte Legitimierung des offenen "Krieges gegen den Terror" gilt?

Dass das Exekutionsunternehmen der kaltblütigen Ermordung Bin Ladens den USA international auf die Dauer mehr Schaden, vor allem Ansehensverlust einbringen dürfte, ist mir gewiss, aber juristisch nicht von besonderem Interesse.

Eher ist zu fragen, warum dieses langfristig und sorgfältig geplante und vorbereitete Kommandounternehmen gerade jetzt, Anfang Mai 2011, durchgeführt wurde.

Dass man - also die technisch in jeder Hinsicht vorzüglich ausgestatteten USA - erst jetzt den Aufenthalt Bin Ladens habe ausfindig machen können, gehört in die Sammlung der üblichen Ammenmärchen der Geheimdienste, vor allem des CIA. Gerade die offiziellen Verlautbarungen der US-Administration und ihres Repräsentanten Obama persönlich stoßen uns mit der Nase darauf, dass innen- und außenpolitische Erwägungen für die Wahl des Zeitpunkts dieses Unternehmens maßgeblich gewesen sein dürften.

Vor allem passt die unverzügliche, geradezu vorlaute Begrüßung dieses verbrecherischen Unternehmens durch die Bundskanzlerin, um den "Schulterschluss" zu den USA zu bekunden, in das innen- und außenpolitische Kalkül sowohl der USA wie der BRD!

Das ist verräterisch und entlarvend!

Si tacuisses(9)!

Erich Buchholz, Berlin


Fußnote

(9) Hätte sie lieber den Mund gehalten!!

Raute

Uwe Langer: Atomenergie Ja oder Nein ist nicht die einzige Kernfrage

Die katastrophalen Ereignisse rund um das japanische Atomkraftwerk (AKW) in Fukushima haben das Thema Atomenergie zum Topthema in den internationalen Schlagzeilen gemacht und der Anti-Atomkraftbewegung neuen Aufschwung verliehen.

Die schwerwiegenden Zerstörungen im AKW in Fukushima, die massive Freisetzung von Strahlung und die möglichen Schäden - das alles bewegt die Menschen natürlich und verführt dazu, diese Vorgänge sehr emotional zu betrachten. Davon waren auch die jüngsten Diskussionen in Deutschland und selbst die Landtagswahlen am 27.3.11 geprägt. Das ist das Eine. Die andere Seite ist, dass wirtschaftliche Interessengruppen, allen voran die Atomindustrie und deren politische Vertreter, überhaupt kein Interesse an einer sachlichen und schlussfolgernden Diskussion haben, insbesondere dann nicht, wenn dies zu Beeinträchtigungen von Macht und Profit führen könnte. So konnten wir in diesen Tagen lehrbuchreif verfolgen, wie ein die Bürger besonders berührendes Thema von Konzernen, Regierungen, Parteien und Medien, von verschiedenen Interessengruppen in der kapitalistischen Gesellschaft missbraucht wurde, um für sich daraus Vorteile zu schlagen.

Die wirkliche Kernfrage wurde dabei - mit voller Absicht - von allen diesen bürgerlichen Kräften verfehlt.

Geredet wird immer von der Atomenergie, vom Ja oder Nein dazu, vor allem festgemacht am Thema Sicherheit. Zur atomaren Frage gehört aber weit mehr als die nach der Zukunft der AKW.

Gelegentlich spricht man bei neuen Erfindungen oder bedeutenden Technologien davon, dass diese "eingeschlagen hätten, wie eine Bombe". Auf die Kernenergie trifft das auf eine besonders perverse, todbringende Weise wortwörtlich zu. Die erste weltweit wahrgenommene öffentliche "Anwendung" von Kernenergie war 1945 der Abwurf von Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki durch die USA. Abgeworfen auf Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte. Militärisch sinnlos, war es vor allem eine Machtdemonstration der imperialistischen USA gegenüber der Sowjetunion, die zur dieser Zeit noch keine Atomwaffen besaß. Die UdSSR wurde somit gezwungen, eigene Kernwaffen zu entwickeln. Bis heute sind verschiedene Staaten im Besitz von tausenden von Atombomben und Raketen. Allein die USA haben in den zurückliegenden Jahrzehnten mehrfach offen andere Länder mit dem Einsatz von Kernwaffen bedroht.

Was das mit Fukushima zu tun hat? Sehr viel! Wer wie viele Anti-Atomkraftbewegungen oder Parteien wie die Grünen zwar gegen die Atomkraftwerke zu Felde zieht, aber die Frage nach den Atomwaffen und der damit verbundenen atomaren Bedrohung der Menschheit hinten anstellt, lässt die Kernfrage um die Kernkraft außer acht. Wer den Kampf gegen unsichere Atomkraft nicht konsequent verbindet mit dem Kampf um vollständige atomare Abrüstung, wird in der Frage der Sicherheit gar nichts erreichen.

Die Anti-Atombewegung war in dieser Frage schon einmal konsequenter, in den Zeiten, in denen sie Abrüstung und die Abschaffung der Kernwaffen stärker ins Zentrum stellte.

Nach den verheerenden Folgen der Atombombenabwürfe über Japan gab es zunächst eine andere Bewegung, die die friedliche Nutzung der Kernkraft als humanitären Gegenentwurf der militärischen Nutzung gegenüberstellte. Die Zukunftsaussichten schienen großartig. Kraftwerke, die große Mengen Strom liefern würden. Schiffe, die ohne nachzutanken monate-, gar jahrelang auf den Meeren kreuzen könnten... Stolz präsentierte die UdSSR 1957 den ersten Atom-Eisbrecher der Welt, die "Lenin", als Ausdruck sowjetischer Ingenieurskunst. Die "Lenin" war eben kein Kriegsschiff, kein militärisches Atomboot mit Atomwaffen, sie war ein Symbol für die friedliche Anwendung von Atomkraft.

Drei Jahre vorher, 1954, hatten die USA das erste Atom-U-Boot der Welt in Dienst gestellt, die "Nautilus" - zu militärischen Zwecken. Wieder war die UdSSR gezwungen, zu ihrem eigenen Schutz, dem Schutz der sozialistischen Staaten und der Verhinderung eines atomaren Angriffs durch den Imperialismus nun ihrerseits auch Atom-U-Boote zu bauen. Das gleiche wiederholte sich bei Langstreckenwaffen, Mehrfachsprengköpfen usw. Man muss gerade heute daran erinnern, dass es der Imperialismus war und ist, der die atomare Bedrohung der Menschheit in die Welt gesetzt hat und diese Bedrohung bis heute fortsetzt! Man muss ebenso daran erinnern, dass es bis heute die imperialistischen Staaten sind, die diese Bedrohung leugnen, verniedlichen oder gar als "Schutz der Freiheit und der Demokratie" rechtfertigen. Schutzbehauptungen, die sich stets als Lügen erweisen und als Vorwand für immer neue Kriege.

Ebenso ist es gelogen, dass die Verträge zur Begrenzung der Anzahl bestimmter Kernwaffentypen oder Träger, dass der Sperrvertrag oder der Atomteststopp ein Ausdruck für den Abrüstungswillen sei. Tatsächlich sind es einerseits Abmachungen insbesondere zwischen den USA und Russland, in denen die beteiligten Seiten bei Beibehaltung ihrer atomaren Übermacht sich von alten Kernwaffen trennen, um Mittel frei zu machen für noch modernere. Anderseits sind es Mechanismen, mit denen die Kernwaffenbesitzer versuchen, ihre Monopolstellung gegenüber den Nichtbesitzern von Kernwaffen zu wahren.

Selbstverständlich sind wir nicht dafür, dass alle Staaten Kernwaffen besitzen sollen, wir sind dafür, dass überhaupt niemand Kernwaffen besitzen soll. Solange aber die imperialistischen Atommächte ihr Atomwaffenpotential zur politischen und militärischen Erpressung nutzen, mit atomaren Erstschlägen drohen usw., ist es nicht verwunderlich und legitim, wenn derart bedrohte Länder keine andere Alternative sehen, als nach eigenem atomaren Schutz zu streben. Es wundert freilich nicht, dass die bürgerlichen Medien hier Ursache und Wirkung verdrehen und wüst gegen jene hetzen, die in Sorge vor der imperialistischen Bedrohung Gegenmaßnahmen ergreifen. In dieser vom Imperialismus zu verantwortenden Rüstungsspirale liegt die größte nukleare Gefahr. Deshalb genügt es nicht, über Fukushima im Besonderen und AKW im Allgemeinen zu reden. Sich allein darauf zu konzentrieren, nützt den Atomwaffenmächten, die hinter dem vordergründigen Streit um die zivile Anwendung der Kernkraft um so einfacher die militärische Nutzung der Atomkraft verstecken können.

Ja, ein schwerer Zwischenfall in einem AKW kann zu verheerenden Folgen für weite geografische Gebiete und für zahlreiche Menschen führen. Ein nach wie vor nicht auszuschließender Atomkrieg würde aber noch weit über diese Folgen hinausreichen, er ist von existenzieller Bedrohung für die Menschheit als Ganzes. Wer sich die Verhinderung eines atomaren Risikos aus dem Betrieb von AKW auf die Fahnen schreibt, muss sich erst recht dem Kampf gegen Atomwaffen verpflichtet fühlen.

Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Einstellung zur Nutzung von Atomenergie - ob im militärischen oder zivilen Bereich - in den zurückliegenden Jahrzehnten bei einer großen Zahl von Menschen geändert hat. Zunächst waren sich viele Menschen über die radioaktiven Gefahren gar nicht im Klaren, sie wurden zudem bewusst getäuscht und verdummt, so mit den berüchtigt gewordenen, absurden "Duck And Cover"-Filmen aus den USA, in denen man den Bürgern im Ernst einreden wollte, man könne sich per "Ducken und Bedecken" vor einem Atomschlag schützen, indem man sich z.B. einfach die Jacke über die Ohren zieht. Tausende Soldaten wurden bei Atommanövern als Versuchskaninchen missbraucht und viele verstrahlt. Die Verwüstungen auf den von Frankreich zu Atombombenversuchen missbrauchten Tuamotu-Inseln, das von den USA zu gleichen Zwecken zerstörte Bikini-Atoll und das Leiden der betroffenen Bewohner sind bis heute Sinnbild für die Unmenschlichkeit und Verantwortungslosigkeit, mit dem der Imperialismus seine atomare Aufrüstung betrieb. Ist das alles heute bei jenen vergessen, die lauthals gegen die AKW streiten und die Kernwaffen schweigend "übersehen"? Was ist mit den gesunkenen Atom-U-Booten mit ihren Kernreaktoren und Atomwaffen an Bord? Kein Risiko? Mehrere weitere Zwischenfälle auf US-amerikanischen und sowjetischen U-Booten führten nur haarscharf an einer atomaren Katastrophe vorbei. (Anmerkung für jene, die jetzt wieder sagen, na bitte, bei den Sowjets war's genau so: Es waren die USA, die die UdSSR in die atomare Rüstung und das damit verbunden Risiko gezwungen haben). Was ist mit den Atombomben, die US-Flugzeuge eben mal im Flug "verloren" haben? Kein Risiko? Was war mit den Fehlalarmen in Flugzeug- und Raketenabwehranlagen, die leicht bei einer Fehlinterpretation zu einem atomaren Krieg hätten führen können? Und was wissen wir eigentlich über die Lagerung, über Transporte von Atomwaffen, über die ein noch dickerer Mantel des Schweigens ausgebreitet wird als über den Betrieb von AKW und damit verbundenen Risiken?

Wenn die Bundesregierung behauptet, die atomare Sicherheit der Bevölkerung habe für sie die höchste Priorität, dann müsste sie zuallererst und mit aller Macht um die atomare Abrüstung bemüht sein. Tut sie das? Nein! Was nützt es, eine Handvoll von AKW abzuschalten, wenn die USA zugleich weiterhin Atomwaffen in Deutschland lagern? Ebenso ungeklärt ist die Frage des Verbleibs des radioaktiven Abfalls. Ein Blick auf die skandalösen Zustände in der Schachtanlage Asse und die dorthin verbrachten radioaktiven Stoffe lässt einen schon jetzt das Schlimmste fürchten, wenn es um die künftige Lagerung hochradioaktiver Abfälle geht. Nebenbei, die Asse liegt in Niedersachsen und damit liegt die politische Mitverantwortung für den Asse-Skandal auch bei den Grünen, der selbsternannten Anti-Atomkraftpartei, die jahrelang mit der SPD dort regierte.

Ja, es stimmt, nicht nur die militärische Nutzung der Kernkraft, auch die zivile Nutzung hat sich als risikoreich erwiesen. Das betrifft eben nicht nur Tschernobyl 1986 und nun 2011 Fukushima. Bereits in den 50er Jahren ereignete sich z.B. im britischen Windscale ein schwerwiegender atomarer Zwischenfall. 1979 kommt es im US-amerikanischen AKW bei Harrisburg zu einer Kernschmelze und zum Austritt radioaktiver Stoffe. In Japan hat es in den vergangen Jahrzehnten eine Reihe von atomaren Zwischenfällen gegeben. Das sind nur einige Beispiele.

Störungen und Unfälle kann es freilich in allen Betriebsstätten aller Art geben. Auch in der Chemieindustrie gab es solche Ereignisse mit zum Teil sehr schweren Folgen für Menschen und Natur. Erinnert sei hier an die Chemiekatastrophe 1984 in Bhopal (Indien), bei der Tausende Menschen getötet und verletzt wurden. Insgesamt hat die nichtatomare Industrie in den vergangenen Jahrzehnten massive Umweltzerstörungen, auch mit Wirkungen auf die Gesundheit der Menschen verursacht. Das besondere Problem bei der Atomkraft ist freilich die Tatsache, dass im Falle einer Katastrophe die Folgen faktisch unbeherrschbar und zudem über zum Teil extrem lange Zeiträume kaum rückgängig zu machen sind.

Neben der Notwendigkeit der vollständigen atomaren Abrüstung ist es klar, dass auch die zivile Atomenergie keine Technologie für die Zukunft ist, zumal es für deren radioaktive Hinterlassenschaft noch immer keine vernünftige Lösung gibt. Ein Problem, mit dem die nachfolgenden Generationen noch über sehr lange Zeit belastet sein werden.

Vernünftig wäre es, sofort alle atomare Rüstung zu beenden, alle Atomwaffen zu vernichten und so schnell als möglich die AKW stillzulegen und durch alternative Energien zu ersetzen. Wir leben aber in einer Gesellschaft, die nicht nach dem Prinzip der Vernunft, sondern nach dem Prinzip des Strebens nach Maximalprofit funktioniert, die die herrschenden Interessen des Finanz- und Monopolkapitals mit allen Mitteln, auch mit den Mitteln des Krieges durchsetzt und nicht davor zurückschreckt, mit Atomwaffen zu drohen oder sie gar einzusetzen.

Es wird also eines längeren und nachdrücklichen politischen Kampfes bedürfen gegen Krieg und atomare Rüstung und für eine Energiepolitik, die nicht den Profitinteressen des Imperialismus, sondern den Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt gleichermaßen Rechnung trägt. Eine Aufgabe, die letztlich nur zu lösen ist durch die Überwindung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und der Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Bleibt die Frage, wie wird es der Sozialismus mit der Atomkraft halten?

Da es mehr als unwahrscheinlich ist, dass die ganze Welt auf einen Schlag sozialistisch wird, muss man davon ausgehen, dass Kapitalismus und Sozialismus über einen gewissen, noch nicht absehbaren historischen Zeitraum nebeneinander bestehen werden. Solange es den Imperialismus noch gibt, wird er nichts unversucht lassen, den Sozialismus wieder zu zerstören, mit allen ihm zur Verfügung stehenden politischen, ökonomischen und militärischen Mitteln. So sehr wir am liebsten sofort jegliche Waffen verschrotten möchten, insbesondere die Atomwaffen - es wäre reiner Selbstmord auf diese zu verzichten, solange der noch existierende Imperialismus über sie verfügt oder fähig ist, sie zu produzieren. Selbst wenn er durch die sozialistischen Staaten und antiimperialistischen Bewegungen möglicherweise gezwungen werden kann, auf die eine oder andere Abrüstungsmaßnahme einzugehen, wird er immer bestrebt sein, diese zu unterlaufen. Imperialismus ist nicht friedensfähig, er kann nur zum Frieden gezwungen werden. Und deshalb kann sich der Sozialismus nicht allein auf den Ölzweig des Friedenswillens verlassen, solange ihm ein bewaffneter Feind gegenübersteht. Erst wenn der Kapitalismus endgültig besiegt ist, dann werden wir auch alle nun unnütz gewordenen Waffen aus der Hand legen und zu Schrott machen können, aber nicht einen Tag früher.

Was die Nutzung von Atomenergie im Sozialismus anbelangt: Wir können jetzt noch nicht absehen, wo und wie in der zu erwartenden Periode des nebeneinander Existierens von Sozialismus und Kapitalismus noch AKW betrieben werden, wie die Energieressourcen der Welt dann verteilt sind und wie der konkrete technologische Stand der Energieerzeugung sein wird. Davon wird abhängen, ob, wo und wie lange es noch nötig sein wird, in den sozialistischen Staaten Atomenergie zu erzeugen. Je rascher der Sozialismus die weltweite Überlegenheit gewinnt, um so schneller werden wir in der Lage sein, den wissenschaftlich-technischen und technologischen Fortschritt in eine Richtung voranzutreiben, die es uns ermöglicht, auf eine riskante und die Zukunft belastende Technologie wie die der Atomkraft so bald als möglich zu verzichten. Sonnen- und Windenergie, Wasserkraft und Geowärme stehen uns von Natur aus zur Verfügung und ihre Verwertung steht noch immer erst am Anfang. Allein hier sind die Reserven riesig. Die Wissenschaft wird zudem immer auch an weiteren Möglichkeiten arbeiten, Energie zu erzeugen. In jedem Falle wird es dabei auch darauf ankommen, aus den Risiken, Katastrophen und Umweltzerstörungen der Vergangenheit zu lernen. Zumal eine wesentliche Ursache derartiger Ereignisse und zerstörerischer Prozesse unter sozialistischen Bedingungen wegfällt. Niemanden wird es mehr gestattet sein, der Jagd nach Profit wegen die Existenz von Mensch und Natur aufs Spiel zu setzen, weil es dann keine Produktionsverhältnisse mehr geben wird, die auf Ausbeutung und der Gier nach Profit beruhen.

Und hier sind wir bei der gesellschaftlichen Kernfrage. Die Bedrohungen und Risiken, die sich aus der militärischen und zivilen Nutzung von Technik und Technologien ergeben, sind - wie alles in der menschlichen Gesellschaft - in ihren Ursachen und Wesen immer von gesellschaftlichen Verhältnissen und den in ihnen herrschenden Klassenverhältnissen bestimmt und abhängig. Die Atomkraft macht da keine Ausnahme. Es genügt eben nicht, nur die "Atomfrage" zu stellen. Ohne zugleich die Klassenfrage zu stellen, wird jede Anti-Atombewegung Gefahr laufen, in genau die Irre zu gehen, in die sie vom herrschenden Kapital und ihren politischen Dienern geführt werden.

Hiroshima und Fukushima: Das sind zwei Seiten ein und der selben Medaille, die Kapitalismus heißt, der in seinem Wesen durch Krieg, Ausbeutung und die Jagd nach Profit bestimmt ist.

Wer Nein sagt zu Atomkonzernen, der muss auch Nein sagen zu Atomwaffen und Nein sagen zum Kapitalismus.

Uwe Langer, Berlin

Raute

VENEZUELA, GEHEIMDIENSTE UND DIE LINKE....

Ingo Niebel: Venezuela - Position und Konsequenz. Scheers Venezuela-Berichterstattung auf Abwegen

Ingo Niebel bezieht Position und zieht Konsequenzen

Eine Woche lang habe ich die Venezuela-Berichte des junge Welt-Redakteurs André Scheer verfolgt, seitdem die venezolanischen Behörden den schwedisch-kolumbianischen Journalisten Joaquín Pérez Becerra festnahmen und nach Bogotá abschoben. Scheers Artikel und Kommentare passen zu einer antibolivarianischen Kampagne, die mittlerweile konterrevolutionäre Züge angenommen hat. (Diese werde ich aus Platzgründen an anderer Stelle analysieren.) Die Tatsache, dass Scheer seit dem 1. Mai 2011 Chef der jW-Auslandsredaktion ist, macht die Sache nicht besser, sondern eher schlimmer: Seine Beförderung besagt, dass seine Linie der tonangebenden Strömung innerhalb von Zeitung und Verlag entspricht.

Diese Einschätzung zwingt mich als freien Journalisten, den die jW als "regelmäßigen Autor" betrachtet und der als solcher auch von ihren Lesern wahrgenommen wird, zur Stellungnahme und damit zur Notwendigkeit, Konsequenzen zu ziehen.

Vorab aber eine Klarstellung: Eine meiner Grundregeln als freier Journalist lautet, sich nicht in die inneren Angelegenheiten einer Redaktion einzumischen. Ergo respektiere ich die Personalentscheidung der jW, auch wenn ich sie aus den nachfolgenden Gründen für mich nicht akzeptieren kann.

Mein Vorwurf lautet: Scheer bringt die jW mit seinen Berichten in "antichavistisches" und somit in konterrevolutionäres Fahrwasser.

"Zuerst Caracas, dann Havanna"

Ich habe mehrfach öffentlich die Ansicht vertreten, dass die Feinde Venezuelas und der ALBA-Staaten die Strategie fahren, die ich unter dem Slogan "Zuerst Caracas, dann Havanna" zusammengefasst habe. Zuletzt tat ich das am 13. April 2011 bei einem Vortrag in der Botschaft der Bolivarianischen Republik Venezuela in Berlin. Das nächste Etappenziel dieser Strategie ist, 2012 Chávez' Wiederwahl entweder zu verhindern oder in einem derart schlechten Licht erscheinen zu lassen, dass man ihn als "Diktator", der Wahlfälschung betrieben hat, brandmarken kann. Was es bedeutet, heutzutage als "Diktator" im Fadenkreuz der Staaten des Nordens zu stehen, zeigen uns tagtäglich die mörderischen Bombenangriffe der NATO auf Libyen. Caracas ist nicht Tripolis. Deshalb läuft zurzeit wieder eine Kampagne, die darauf abzielt, den Comandante bei einem Teil seiner Anhängerschaft unglaubwürdig zu machen. Die Methode ist nicht neu: Zu diesem Zweck wurde 2006/2007 die Partei Patria Para Todos (PPT) aus der Chávez-Koalition herausgebrochen. Dass imperialistische Staaten dazu auch geheimdienstliche Taktiken anwenden, ist ebenfalls nichts Neues, sondern entspricht ihrem Charakter.

Falsche Tatsachenbehauptung

Ein Novum ist aber, dass jetzt jene "Linken", die gerade Chávez im Fall Becerra an den Pranger stellen, nicht nur den geheimdienstlichen und geopolitischen Hintergrund völlig ausgeblendet haben, sondern auch eine Kampagne fahren, die sie auf den Abgrund zurasen lässt. Bis hierhin möchte ich auch Scheer noch zugestehen, dass es sich bei uns um unterschiedliche Betrachtungs- und Herangehensweisen handeln könnte.

Diese Möglichkeit hat sich aber mit seinem Kommentar "Chávez auf Abwegen" (27.4.2011) erschöpft. Bei einem "Lateinamerikaspezialisten", wie die jW ihn nennt, kann man voraussetzen, dass er das Feld überblickt, das er journalistisch bestellt. Dass das bei Scheer nicht der Fall ist, zeigt seine falsche Tatsachenbehauptung:

"Noch vor wenigen Monaten empfing Chávez im Präsidentenpalast Miraflores die führenden Köpfe der kolumbianischen Guerilla und sprach sich dafür aus, die FARC als kämpfende Partei im kolumbianischen Bürgerkrieg anzuerkennen, um dadurch einer Verhandlungslösung näherzukommen."

Mit Blick auf Chávez' Entgegenkommen seinem kolumbianischen Amtskollegen Juan Manuel Santos gegenüber dient sie ihm als Basis, um schlussfolgern zu können:

"Zugleich jedoch opfert er seine Glaubwürdigkeit als Führungspersönlichkeit eines revolutionären Prozesses, mit dem zahlreiche Menschen weltweit große Hoffnungen verbinden."

Die Umschreibung "noch vor wenigen Monaten" bezieht sich in der Regel auf einen Zeitraum von zwei bis fünf Monaten. Santos ist aber sehr viel länger im Amt (seit Anfang August 2010). Ihm als bekannten Hardliner wäre es unmöglich gewesen, sich auf Chávez zuzubewegen, wenn dieser seinen Todfeind Nr.1 offiziell empfangen hätte. Folglich findet sich keine Nachricht aus dem besagten Zeitraum, die Scheers Behauptung belegt. BBC News meldete am 16. März 2010, dass Chávez zugegeben hat, sich im Geheimen mit dem FARC-Kommandanten Raúl Reyes auf Bitten des kolumbianischen Präsidenten Andrés Pastrana (1998-2002) getroffen zu haben. Der Guerillero starb aber im März 2008 bei einem kolumbianischen Luftangriff auf ein FARC-Lager in Ecuador. Die Attacke führte Bogotá, Quito und Caracas an den Rand eines Regionalkrieges. Chávez wäre auch schon "vor einigen Monaten" schlecht beraten gewesen, sich offiziell mit der FARC zu treffen, weil er dann der spanischen Justiz Vorschub geleistet hätte, die seine Regierung der Zusammenarbeit mit gleich zwei "terroristischen Vereinigungen" - FARC und ETA - beschuldigt. Dieses Verfahren läuft seit 2009 und wurde 2010 intensiviert, um die spanische Außenpolitik vom Verdacht zu befreien, sie sei zu "chavézfreundlich". Richtig ist, dass der venezolanische Präsident vorschlug, die FARC als "kriegführende" (so lautet der korrekte juristische Terminus, nicht "kämpfende", wie Scheer schreibt) Partei anzuerkennen. Das geschah aber zuletzt im Januar 2008, als er noch zusammen mit der kolumbianischen Senatorin Piedad Córdoba versuchte, einen Gefangenenaustausch zwischen der FARC und Bogotá zu vermitteln. Dafür besass er für eine kurze Zeit das Placet des damaligen kolumbianischen Präsidenten ‘lvaro Uribe (2002-2010).

Das sind zu viele Fehler in einem Satz, um als Irrtümer durchzugehen. Im besten Fall könnte man grobe Fahrlässigkeit unterstellen, aber das hiesse, Scheers Vorgeschichte zu ignorieren.

Scheer und Dieterich

Im letzten Jahr (2010) hievte er mittels eines Interviews den seit 2007 immer deutlicher als Chávez-Gegner agierenden Heinz Dieterich ins Blatt, ohne seine Leser über diesen Hintergrund zu informieren. Das Gespräch stand unter Dieterichs Behauptung: "Venezuela und Kuba sind die Schwachstellen". Einen Tag später legte Scheer ein Interview mit einem Kubaner nach, der den Behauptungen des deutschen Professors aus Mexiko widersprechen durfte.

Auch dieses Vorgehen überraschte mich nicht, weil ich bereits 2009 in zwei Artikeln auf Scheers problematische Berichterstattung über Chávez' Haltung zur Wiederwahl von Irans Präsidenten Mahmud Achmadinedschad und seinen dreifachen Loyalitätskonflikt als freier Autor der jW, Angestellter der Bolivarischen Botschaft Venezuela und DKP hingewiesen hatte. Bei der Gelegenheit informierte ich auch über Scheers Aktionen, die bei den Weltjugendfestspielen in Algier (2004) und Caracas (2006) zu Provokationen gegenüber den Gastgebern führten.

Dieselbe Masche läuft jetzt wieder ab. Und das geschieht parallel zum Agieren der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), mit der Scheer als DKP-Mitglied Kontakt hält.

PCV - Konterrevolutionäres Sektierertum

Seit einer Woche versucht sich die PCV, als Wortführerin der innerbolivarianischen Kritiker in Sachen Becerras zu präsentieren. Scheer erwähnt das zwar ansatzweise in seinen Artikeln, verschweigt seinen Lesern aber, dass seine Schwesterpartei mittlerweile die Grenze vom Sektierertum zur Konterrevolution überschritten hat. Als Beleg für meine Behauptung verweise ich unter anderem auf das 16minütige Video über die Protestaktion vom Donnerstag in Caracas, das die Agitprop-Abteilung der PCV produziert und auf Youtube publiziert hat. Die Demonstration endet mit der Verbrennung einer lebensgroßen Puppe, die die Konterfeis des Außenministers Nicolas Maduro und des Informationsministers Andrés Izarra trägt. Das liegt jenseits eines jeden legitimen Protestes: Wer heute eine Puppe verbrennt, verbrennt morgen Menschen. Damit hat meines Erachtens die PCV ihr wahres Gesicht gezeigt und sich außerhalb des Polo Patriótico und der Bolivarianischen Revolution gestellt.

Mit Blick auf das Entscheidungsjahr 2012 gilt für mich: Wer heute Venezuela angreift, wird morgen Kuba angreifen.

Konsequenzen

Gerade wer als freier Autor für die junge Welt arbeitet, muss über eine hohe Identifikation mit der politischen Linie des Blatts verfügen, weil auf den kargen Honoraren kein Idealismus gedeihen kann. In der Zeitung habe ich seinerzeit das Medium gefunden, in dem ich jene Informationen und Sichtweisen zu Lateinamerika/Venezuela und dem Baskenland/Spanien veröffentlichen konnte, für die es in anderen Medien kein Platz gab. Seit 2009 verengte sich mein Berichtsfeld auf die Iberische Halbinsel aus den oben genannten Gründen. Trotzdem machte ich weiter, vor allem weil ich es für wichtig erachtet habe, die Geschehnisse im Baskenland hierzulande bekannt zu machen.

Die Tatsache, dass ich für die jW-Beilage zur Buchmesse auf Kuba einen Artikel über die konterrevolutionäre Arbeit deutscher Stiftungen in den ALBA-Staaten beisteuern durfte, war wohl eher dem Umstand geschuldet, dass mich zuvor Cuba Sí als Referent für eine Podiumsdiskussion, die auf der Insel stattfand, eingeladen hatte. Hieraus habe ich den Eindruck gewonnen, dass meine Lateinamerika-Artikel bestenfalls als Alibi herhalten können.

Wie dem auch sei, die Druckwellen des Falls Becerra zwingen auch Linke in Deutschland zu entscheiden, auf welcher Seite der Barrikade sie in Sachen Bolivarianischer Revolution und Verteidigung des Transformationsprozesses, der alle ALBA-Staaten eint, stehen.

Scheer hat sich durch seine Artikel positioniert; ich mich durch diese Stellungnahme.

Jetzt liegt es an der jW, Farbe zu bekennen. Als sich marxistisch nennende Zeitung dürfte ihr das nicht schwerfallen, da bereits Lenin die Parole herausgab: "Klarheit vor Einheit". Von ihrer Reaktion werde ich weitere Entscheidungen abhängig machen.

Da mir viele Menschen aufgrund meiner zahlreichen Artikel eine Stellung innerhalb der jW zuschreiben, die nicht meinem oben beschriebenen Status entspricht, habe ich entschieden, dieses Schreiben in meinem beruflichen und politischem Umfeld im In- und Ausland publik zu machen. Der Anstand gebietet es, dass ich es einen halben Tag zuvor der Redaktion der jW und dem Verlag in dieser Form zur Kenntnis gebracht habe.

Ingo Niebel, Köln, 2. Mai 2011

Raute

Ingo Niebel: Gegenfrage. Antwort auf Dietmar Koschmieders Artikel "Konterrevolution"

Dietmar Koschmieder, der Geschäftsführer des Verlags 8. Mai, der die Berliner Zeitung junge Welt herausgibt, hat auf meine Stellungnahme zur Venezuela-Berichterstattung seines Redakteurs André Scheer mit dem Beitrag "Konterrevolution" am 7. Mai 2011 reagiert.

Ich habe den Vorwurf erhoben, dass Scheer die Tageszeitung mit seinen Berichten über die Verhaftung und Auslieferung des schwedischen Journalisten Joaquín Pérez Becerra in "antichavistisches" und somit in konterrevolutionäres Fahrwasser bringt. Diese Behauptung belegte ich, indem ich unter anderem auf die falschen Tatsachenbehauptungen des "Lateinamerikaspezialisten" (jW über Scheer) im Kommentar "Chávez auf Abwegen" hinwies.

Ich sehe darin einen Mangel an Professionalität, Berufsethos und an einer klaren Position gegenüber der Bolivarianischen Revolution und den ALBA-Staaten.

Dass sich der Werte- und Qualitätszerfall fortsetzt, bestätigt jetzt Koschmieder. So schreibt er: "'Fucking Opportunist', flucht einer aus dem Umfeld Niebels - anonym per E-Mail."

Es erübrigt sich, auf den Informationsgehalt dieses Satzes einzugehen, wenn man sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellt: Wie kann Koschmieder den Verfasser des Fluches jemandem aus meinem Umfeld zuschreiben, wenn er den doch "anonym per E-Mail" erhalten haben will?

By the way: Profis zitieren nicht aus einer anonymen Email, weil diese als Quelle wertlos ist und sie presserechtlich keinen Bestand hat.

Ingo Niebel, Köln, 9. Mai 2011

Raute

Ingo Niebel: Geopolitik, Geheimdienste und Destabilisierung - Hintergründe zum Fall Becerra

Die Verhaftung und Abschiebung des schwedischen Journalisten kolumbianischer Herkunft, Joaquín Pérez Becerra, hat in der Linken weltweit unterschiedliche Reaktionen ausgelöst und dazu geführt, dass sich viele mehr oder weniger gewollt positioniert haben.

Im Verlauf dieses Prozesses wurde deutlich, dass sich der Fall Becerra auf verschiedenen Ebenen diskutieren lässt.

Da ist zum einen die persönliche: Ein Familienangehöriger oder jemand, der mehr als nur Kollege oder Genosse ist, wird verhaftet und an einen Staat ausgeliefert, der die Menschenrechte missachtet. Wie schnell da die Emotionen hoch gehen können, erlebte ich, als die spanische Polizei 2003 meinen baskischen Freund und Kollegen Xabier Oleaga zusammen mit weiteren Journalisten festnahm und folterte sowie die Zeitung Egunkaria schloss. Das richtige Mittelmaß in einer solchen Situation zu finden, ist nicht einfach. Daher konnte ich so manche Reaktion auf Becerras Verhaftung am 23. April nur zu gut nachvollziehen. Aber ich befürchtete auch Überreaktionen, weil die Emotionen schlechte Ratgeber sind just in einem Moment, in dem der Feind sie bewusst schürt. In solchen Fällen, das hat mich die Erfahrung gelehrt, hilft nur eins: "Einen kühlen Kopf und warme Füße bewahren". Aber ich weiß auch, dass das meine Schlussfolgerung ist, die ich nicht als Maßstab verwende, um andere daran zu messen.

Zurück zum Fall Becerra

Dann existiert noch die berufliche Ebene, wo man sich mit einem Kollegen solidarisiert, der durch seine Berichterstattung eben jenem Staat die Maske vorgeblicher Demokratie abgerissen hat und so sein reaktionäres Antlitz als Yankee-Vasall in der Region zum Vorschein brachte.

Und schließlich gibt es da noch die Ebene der Lateinamerika-Solidarität, wo Becerra durch seine Tätigkeit ein bekannter Mann war. Auf diesen drei Levels wurde seit dem 23. April, dem Tag seiner Verhaftung, der Fall diskutiert.

Quasi ausgeblendet blieben dabei die geopolitischen und geheimdienstlichen Hintergründe, mit denen Becerras Schicksal eng verwoben ist. Dass der Journalist und Aktivist unfreiwilliger Teil einer größeren Operation sein könnte, die sich gegen das bolivarianische Venezuela und seinen höchsten Repräsentanten, Präsident Hugo Chávez, richtete, blieb vielfach unberücksichtigt. Stattdessen gingen bestimmte Personen und Organisationen so weit, den Comandante und seine Ministers des "Verrats" zu beschuldigen. Das gipfelte letztlich in einer Puppenverbrennung.

Die folgende Analyse will den Blick auf jene Seite der Medaille Becerra werfen, die aus welchen Gründen auch immer weitgehend unbeachtet blieb. Sie ergänzt mit Fakten aus der Geopolitik und Informationen über den geheimdienstlichen Hintergrund des Falls meine persönliche Stellungnahme, die ich in diesem Zusammenhang in anderer Sache abgegeben habe. Die Analyse geht einher mit einem Gedanken, den der kolumbianische Journalist Miguel Suárez im Gespräch mit dem Onlineportal amerika21.de geäußert hat: Bei aller Enttäuschung und nachvollziehbarer Kritik an der Regierung in Caracas, lehnt er "undifferenzierte Angriffe" ab. Die Konsequenz müsste sein, "die Linke in Venezuela weiter zu stärken, 'weil Chávez offenbar von rechts unter Druck gesetzt wird'".

Ideal wäre es, wenn sich ein Zustand herstellen ließe, der es ermöglicht, mit Becerra und Chávez solidarisch zu sein, ohne sich mit dem einen oder anderen zu entsolidarisieren. Das ist mein Anliegen. Ob es gelingen wird, weiß ich nicht, aber einen Versuch ist es wert. Denn die jetzige Situation kann weder dem Wunsch des Journalisten noch dem des Comandante entsprechen, sondern ist meines Erachtens das Ergebnis einer feindlichen Operation. Deren Ziel liegt darin, das Terrain zu bereiten, um Chávez 2012 die Wiederwahl zumindest zu erschweren und auf jeden Fall die bolivarianische Revolution zu schwächen und zu isolieren.

Geopolitik und bolivarianische Außenpolitik

In zwölf Jahren an der Spitze des Staates ist es dem Comandante der Bolivarianischen Revolution gelungen, Venezuela aus der politischen und ökonomischen Abhängigkeit der USA herauszuführen. Dem nicht genug: Sein Beispiel machte Schule in Nicaragua, Bolivien, Ecuador und Honduras. Gleichzeitig gelang es Chávez, das bis dato politisch im offiziellen lateinamerikanischen Kontext isolierte Kuba wieder in das Konzert der lateinamerikanischen Staaten zurückzuführen. Hieraus entstanden das Staatenbündnis ALBA und die Vereinigung südamerikanischer Staaten, die UNASUR. Beide bilden zusammen mit weiteren internationalen Zusammenschlüssen und Projekten unterschiedlicher Natur den außenpolitischen Schutzwall, mit dem Chávez seine bolivarianische Revolution vor den Angriffen des Imperiums des Norden schützen will und muss.

Die Geopolitik wird in Washington vielfach als ein "Great Game", als ein globales Schachspiel gesehen, bei dem USA versuchen, Räume zu besetzen, gegnerische Figuren vom Brett zu nehmen und Regierungen, die sie als feindlich einstufen, ins Schachmatt zu setzen.

Dass die USA seit Chávez' Amtsübernahme 1999 nichts unterlassen haben, um ihn, seinen Transformationsprozess und all das, was er repräsentiert - die zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas und der Karibik vom kapitalistischen Norden - zu stürzen, belegen ihre Unterstützung des Putsches von 2002, etliche Destabilisierungsmaßnahmen in Venezuela und nicht zuletzt die Verlagerung wichtiger Militärbasen ins benachbarte Kolumbien.

Kolumbien: Washingtons "südamerikanisches Israel"

Als Becerra am 23. April 2011 in Frankfurt den Flieger nach Caracas besteigt, sieht die außenpolitische Lage für Chávez so aus:

Mit seinem kolumbianischen Amtskollegen Juan Manuel Santos steht er im Dialog, um die Kriegsgefahr, die unter dessen Vorgänger ‘lvaro Uribe beide Länder mehrmals an den Rand eines bewaffneten Konflikts gebracht hatte, zu mindern. Dass der Pazifikstaat in der US-Geopolitik die Rolle eines "südamerikanischen Israels" spielt, entspricht nicht nur Washingtoner Wünschen, sondern ist auch erklärtes Ziel von Santos. Dieser Umstand bedingt, dass Bogotá sei es als Aggressor oder als Attackierter mit der militärischen Hilfe der USA rechnen kann. Anders ausgedrückt: Wenn Kolumbien in den Krieg zieht, dann ziehen die Vereinigten Staaten mit ihm.

Teil dieser Allianz ist seit längerem schon Israel, dass in Kolumbien einen strategischen Partnern sieht, um die Expansion des Erzfeindes Iran vor allem in den ALBA-Staaten zu konterkarieren. Zu diesem Zweck kooperieren die Israelis mit den Kolumbianern im Sicherheitsbereich, wie die Ausbildung von Paramilitärs und die Beteiligung an Aktionen gegen die FARC belegen.

Als gedienter Militär weiß Chávez, was es bedeutet, wenn er sich auf einen bewaffneten Konflikt mit diesen drei Militärmächten einließe. Dass er angesichts dieser Gefahr keinen Rüstungswettlauf begonnen hat, sondern mit seiner Variante der Politik "Wandel durch Annäherung" gekontert hat, ist ein legitimes Mittel, um die Lage zu entspannen.

Neben mittelfristigen Überlegungen verlangt aber auch eine kurzfristige Notwendigkeit, Spannungen abzubauen: Am 11. Mai 2011 übernahm Kolumbien die Präsidentschaft in der UNASUR, die sie sich mit Venezuela teilt. Nach einem Jahr wird die Bolivarianische Republik die Organisation leiten. In Washington wäre die Freude groß, wenn Bogotá und Caracas derart im Clinch lägen, dass UNASUR nicht mehr arbeiten kann.

Da auch in Lateinamerika Gesten die Politik charakterisieren, lieferte Venezuela festgenommene Guerilleros aus und Bogotá überstellte im Gegenzug einen Drogenboss. Zum anderen setzen sich beide Staatsoberhäupter, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, für eine Rückkehr von Honduras in die Staatengemeinschaft ein. Santos vertritt den amtierenden Präsidenten Profirio Lobo - Chávez den weggeputschten Manuel Zelaya. Auch der honduranische Widerstandsrat ist mit den Vermittlungsbemühungen des Venezolaners einverstanden. Eine Verhandlungslösung eröffnet zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass das zentralamerikanische Land auf friedlichem Wege die verfassungsmäßige Ordnung wieder herstellen kann, die der Putsch 2009 zerstört hat.

Während Chávez die Öffentlichkeit von seinen Schritten am 19. April unterrichtete, relativierte Santos am selben Tag alle vorherigen Gesten mit der Bemerkung, die FARC sei ja doch in Venezuela präsent.

Dessen ungeachtet kündigte Chávez auch an, dass er weiterhin global aktiv sein werde: So will er zusammen mit Kuba und Nicaragua den Friedensplan für Libyen wieder aufnehmen. "Einen entsprechenden Vorstoß hatte der Staatschef bereits Ende Februar gemacht. Die Idee war in Südamerika und bei afrikanischen Staaten auf Resonanz gestoßen, wurde jedoch von dem westlichen Militärbündnis im UNO-Sicherheitsrat blockiert", meldete amerika21.de. Der NATO-Krieg dauerte da schon über einen Monat, ohne dass ein Ende absehbar ist. Während die Koalition der Kriegswilligen weiter mordet, Deutschland nicht genau weiß, wie es am besten seine Interessen am libyschen Gas und Öl vor der imperialistischen Konkurrenz schützen soll, wollen die ALBA-Staaten als einzige eine friedliche Lösung finden.

Dass die Kriegstreiber in Washington gemeinsam mit den ihnen verbündeten Falken in Tel Aviv und Bogotá etwas gegen Chávez' außenpolitischen Kurs unternehmen mussten, war eine Frage des Wann und nicht des Ob.

"Zuerst Caracas, dann Havanna"

Zur Königsklasse der Geheimdienstarbeit gehört es, eine Operation zu konzipieren, die zwei Skorpione dazu bringt, sich wider ihre Natur gegenseitig umzubringen. In diese Kategorie fällt die noch namenlose Operation, die den Fall Becerra gebar. Sie gehört zu einem Masterplan, den ich nach der Analyse verschiedener politikwissenschaftlicher Studien unter der Parole "Zuerst Caracas, dann Havanna" zusammengefasst habe.

Demnach wissen die Feinde der kubanischen Revolution, dass sie das seit über 50 Jahre erfolgreich verteidigte politische und gesellschaftliche System auf der Insel nicht offen angreifen und überrennen können. Deshalb haben sie Venezuela als seine Achillesferse ausgemacht und wollen Havanna durch den "Regime Change" in Caracas in eine unhaltbare Situation bringen.

Man braucht weder Wikileaks noch Zugriff auf die Computer der CIA, um zu wissen, dass der Weg zu diesem Ziel ebenfalls über die Präsidentschaftswahlen in Venezuela 2012 geht. Nach den zahlreichen Rückschlägen seit 1998 dürften auch die vehementesten "Regime Changer" begriffen haben, dass sie Chávez nicht frontal angreifen können, weil die Opposition nach wie vor unfähig ist, einen glaubwürdigen Kandidaten zu präsentieren. Ergo kann das Ziel nur sein, den Comandante in der schlechtesten aller möglichen Positionen gewinnen zu lassen. Neben einer entsprechenden Oppositionsarbeit muss daher seine Glaubwürdigkeit bei Teilen seiner Anhängerschaft vor allem im Inland untergraben werden. Das Ziel ist hierbei, Chávez zumindest auf einen Umfragewert von 49 bis 51 Prozent zu drücken. Das würde es ihnen erlauben, ihm Wahlfälschung zu unterstellen und sein Image als "Diktator" aufzupolieren. Er stünde damit in derselben Reihe wie Lukaschenko in Weißrussland oder Gadaffi in Libyen. Der Fall des nordafrikanischen Staatschefs zeigt erneut, wohin die imperialistische Stigmatisierung heutzutage führt. Letztere ist auch das Produkt geheimdienstlicher Vorarbeit.

Geheimdienste versus Caracas

Dass Becerras Reise nach Venezuela zumindest unter Beobachtung des kolumbianischen Geheimdienstes DAS stand, gab niemand geringeres als Präsident Santos zu, als er dem familieneigenen Blatt El Tiempo sagte:

"Estábamos detrás de él hace mucho tiempo" (Wir waren schon seit langem hinter ihm her).

Weiter führte er aus, dass seine Behörden angeblich eine Mail der FARC-Führung abfingen, in der diese Becerra bat, rasch zu einem Treffen zu kommen. Santos benutzte diese Worte, um den Journalisten unter Terrorverdacht zu stellen. Deshalb glaube ich diese Aussage nicht. Sie belegt aber, dass der DAS wenigstens in der Lage war, die Korrespondenz, wenn sie denn existiert hat, mitzulesen. Oder Bogotá verfügte über die Möglichkeiten, Becerra mit einer gefälschte Nachricht nach Venezuela zu locken.

An eben dieser Geheimdienstfront wiederholt sich eine vergleichbare Situation, wie sie Chávez außenpolitisch vor der eigenen Haustür vorfindet, wenn er gen Kolumbien schaut: eine Allianz aus CIA, DAS und MOSSAD. Seit April 2010 ist aktenkundig, dass Bogotá das so genannte FARC-Umfeld in Europa - oder was es dafür hält - ausspioniert. Auf der Liste der Zielobjekte stehen sogar EU-Parlamentarier. Weitere Informationen zur Tätigkeit des DAS in der EU finden sich in dem lesenswerten Artikel "'Operación Europa': espionaje internacional del gobierno colombiano" von Hernando Calvo Ospina.

Nur: Der kolumbianische Geheimdienst wäre gnadenlos überlastet, wenn er diese Spionageaktivitäten aus eigener Kraft stemmen müsste. Ergo braucht er Hilfe von befreundeten Diensten. An erster Stelle rangiert hier natürlich die CIA, aber auch nach Deutschland bestehen enge Verbindungen. Diese sind so gut, dass das BKA V-Leute in Kolumbien führen darf. Dass die Wiesbadener Behörde bei Interpol die wichtigsten und meisten Plätze besetzt, rundet die Möglichkeit der effektiven Polizei- und Geheimdienstkooperation ab, zumal auch politisch zwischen Berlin und Bogotá, Merkel und Santos alles im Lot ist.

Im Gegenschluss bedeutet das: Der kolumbianische Präsident hätte ebenso gut im Bundeskanzleramt anrufen können, um Becerra beim Zwischenstopp in Frankfurt festnehmen zu lassen - wenn er denn gewollt hätte, seinem venezolanischen Amtskollegen einige Probleme zu ersparen.

Wie dem auch sei, Becerras Entscheidung, von Schweden über Deutschland nach Venezuela zu reisen, versetzte die Macher der Operation in die Lage, zwei Automatismen in Gang zu setzen, die kaum aufzuhalten wären. Offensichtlich haben die Masterminds dafür den richtigen Zeitpunkt - die Ostertage - abgewartet, wo wie überall in der christlichen Welt die Verantwortung von den obersten Entscheidungsebenen auf die "Stallwachen" übergeht. Und die Strippenzieher wussten, dass die Venezolaner wahrscheinlich nicht in der Lage wären, kurzfristig und unvorbereitet diese Automatismen zu stoppen.

Automatismus I: Becerra

Laut offizieller Darstellung präsentierten die Kolumbianer einen Interpol-Haftbefehl, mit dem sie von den Venezolanern die Festnahme und Auslieferung Becerras verlangten. Anstatt Kanzlerin Merkel um Hilfe zu bitten, rief Santos höchstpersönlich und zeitnah zur Landung der Maschine bei Chávez an. Er wird ihm nicht auf die Nase gebunden haben, dass es sich bei dem Verdächtigen um den Kopf einer bekannten linken Nachrichtenagentur handelt. Dasselbe tat sein Verteidigungsminister, der Venezuelas Innenminister Tareck El Aissami mit der Nachricht konfrontierte: "Sie haben ihn", wie der venezolanische Journalist Ernesto Villegas Poljak schreibt. Sie - dass waren kolumbianische Agenten, die sich an Bord der Lufthansa-Maschine befanden. Chávez gab grünes Licht und setzte damit einen Prozess in Gang, der zur Abschiebung von Becerra am 25. April führte.

Wie dieser Vorgang genau ablief, ist ebenso unbekannt, wie die Motive und Umstände, die zu Chávez' Entscheidung geführt haben.

Am 30. April 2011 beschrieb der Staatschef die Situation so: "No tengo la menor duda que lo sembraron aquí para ponernos a nosotros una papa caliente. Así que si yo lo agarro, soy malo y si no lo agarro, también soy malo. Cumplí mi responsabilidad y lo capturamos" ("Ich habe nicht den geringsten Zweifel darüber, dass sie uns eine heisse Kartoffel zu gespielt haben. Sodass ich, wenn ich sie auffange, schlecht bin, und wenn ich sie nicht fange, dann bin ich auch schlecht. Ich kam meiner Verantwortung nach und wir nahmen ihn fest".)

Tatsächlich brachte Santos' Schachzug Chávez in eine Lage, in der er ab Becerras Boarding nur noch zwischen Pest und Cholera wählen konnte. Zur Auswahl standen ganz schlechte, schlechte oder weniger schlechte Optionen. Würde er Becerra nicht nach Kolumbien abschieben, sondern nach Europa zurückschicken oder ein Auslieferungsverfahren riskieren, stünde er als "Terrorhelfer" da. Seine Kolumbien-Politik wäre ebenso Makulatur gewesen wie sein Engagement in Sachen Honduras und Libyen. Damit wäre erstens sein politischer Handlungsspielraum stark eingeschränkt gewesen und zweitens würde er sich über die Terrorflanke wieder angreifbar machen. Denn in Spanien läuft ein Ermittlungsverfahren, das seine Regierung beschuldigt, mit der FARC und der baskischen ETA zusammenzuarbeiten. Im Fall der Abschiebung an Kolumbien drohte Chávez politischer Krach im eigenen Lager und mit den Unterstützern im Ausland, die Verletzung geltenden Rechts sowie ein Imageverlust.

Die Entscheidung ist bekannt: "El único responsable de la deportación de Joaquín Pérez es Chávez y yo asumo mi responsabilidad" ("Der einzige Verantwortliche für die Abschiebung von Joaquín Pérez ist Chávez und ich stehe zu meiner Verantwortung").

Individuelle Verantwortung und revolutionäre Verantwortung

Da Venezuela weder über einen Visumszwang verfügt noch von seinen Besuchern verlangt, dass sie sich wie USA-Reisende durchleuchten lassen müssen, konnte auch Becerra eine kurzfristig geplante Reise in die Karibik antreten. Er tat dies in eigener Verantwortung. Keine offizielle Stelle hatte ihn eingeladen. Anscheinend fühlte er sich sicher vor jeglicher Art der Strafverfolgung außerhalb von Schweden. Das wirft Fragen auf. Dass Bogotá das kolumbianische Exil und die Soli-Bewegung in Europa ausspioniert, musste ihm bekannt sein, ebenso wie der Versuch, beide Bereiche zu kriminalisieren. Außerdem dürfte er verfolgt haben, wie die spanische Justiz seit 2009 ihr Damokles-Schwert mit der Aufschrift "FARC-ETA-Chávez" über Caracas pendeln lässt. Ebenso wenig war es ein Geheimnis, wie sensibel venezolanische Stellen reagieren, wenn sie in der einen oder anderen Form mit den Auswirkungen des kolumbianischen Bürgerkriegs oder des politischen Konflikts zwischen Basken und Spaniern konfrontiert werden. Angesichts der geschilderten außenpolitischen Lage mussten die Abschiebungen, mit denen Caracas 2010 auch gegen baskische Soli-Aktivisten vorging, eigentlich Warnung genug gewesen sein, um eine Reise dorthin nicht ohne entsprechende Absicherung vorzunehmen.

Dabei ist meines Erachtens irrelevant, ob es einen Interpol-Haftbefehl gab und ob Becerra davon wissen konnte oder musste. Die Reise anzutreten, lag allein in der Verantwortung des Journalisten. Nicht Chávez stellte ihm die Falle, sondern Santos.

Während Becerra - menschlich nachvollziehbar - wüste Beschimpfungen gegen die Venezolaner, die ihn verhafteten, losgelassen hat, zeigte Chávez wieder einmal, wie sehr er sich von den übrigen Politikern weltweit unterscheidet: Anstatt Köpfe zu fordern und rollen zu lassen, übernahm er die volle Verantwortung und stellte sich vor seine Truppe.

Automatismus II: Die Linke

Da davon auszugehen ist, dass nicht nur der DAS die probolivarianische Szene beobachtet und analysiert, konnten sich die Macher der Operation sicher sein, dass Becerras Verhaftung für Empörung sorgen würde. Emotionen sind bekanntlich schlechte Ratgeber, wenn es darum geht, eine Krise sachlich anzugehen. Die Dringlichkeit der Abschiebung erhöhte den Druck, der sich per Internet und über die sozialen Netzwerke noch weiter steigern liess Becerras Lage forderte schnelle Aktionen heraus. Aber es gibt Situationen, in denen man abwarten sollte, bevor man zu schnell die falschen Schlüsse zieht und ungewollt dem Feind zuarbeitet. Da in letzter Zeit in Europa viel über eingeschleuste Undercover-Polizisten zu lesen war, die sich in ihrem Operationsgebiet auch als Agents Provocateurs betätigten, steht die Frage im Raum, an welcher Stelle sie ihren Teil dazu beigetragen haben, um das bolivarianische Lager inner- und außerhalb von Venezuela zu spalten. Ich spreche hiermit keinen Generalverdacht aus, sondern verweise lediglich auf eine übliche Praxis von Geheimdiensten, die viele Aktivisten erst dann spotartig einblenden, wenn mal wieder ein "Maulwurf" aufgeflogen ist.

Erwartungsgemäß führte Becerras Festnahme zu einer breiten Aktionsfront.

Auf der einen Flanke standen jene, die sich aus politischer und/oder beruflicher Solidarität für seine Freiheit einsetzten. Am anderen Ende positionierten sich jene, die zwar aufgrund ihrer Vergangenheit als links gelten, aber bereits früher offen Stellung gegen Chávez, die bolivarianische Revolution und sogar Kuba bezogen haben.

Damit hatten die Macher der Operation Teile der probolivarianischen gegen den Comandante in Position gebracht. Hier greift dann das eingangs erwähnte Bild von den beiden Skorpionen, die sich umbringen sollen. Damit das geschieht, muss man sie mit einem Ring aus Feuer umgeben und diesen immer enger ziehen, bis die beiden Tiere sich so unnatürlich nahe gekommen sind, dass sie sich gegenseitig meucheln.

Dass Heinz Dieterich zu denjenigen gehört, die seit dem 1. Mai kräftig dabei sind, Öl in den Feuerkreis zu gießen, wundert nicht, seitdem der Soziologie-Professor ab 2007 die bolivarianische und kubanische Revolution immer heftiger attackiert. Am Tag der Arbeit deklarierte er: "Santos y Chávez establecen la hegemonía estadounidense en América Latina" ("Santos und Chávez stellen die US-Hegemonie über Lateinamerika wieder her"). So spricht er dann auch von einem "Kurswechsel der staatlichen Elite". Angesichts dessen ließe sich die Sache des Volkes nur noch "durch die frühe und bewusste Intervention der organisierten Massen retten".

Dieterich ließ offen, wer den Part des Retters konkret übernehmen soll.

In Venezuela schlüpft zurzeit die mit Chávez verbündete KP (PCV) in diese Rolle. Sie reagierte 26. April auf die Abschiebung mit dem Statement: "La confianza está fracturada" ("Das Vertrauen ist zerbrochen"). Das Mitglied des Polit-Büros, Pedro Eusse, stellte Chávez' Entscheidung als eine "Konzession gegenüber den imperialistischen Kräften, den reaktionären Kräften und den konterrevolutionären Kräften des Kontinents" dar. Ganz im Sinne von Dieterich verlangte das KP-Mitglied eine "Kollektive Leitung des venezolanischen Prozesses", dessen Führung die "Arbeiterklasse und das arbeitende Volk" übernehmen soll.

Am 28. April unterstützte die PCV eine Protestaktion vor dem Außenministerium in Caracas. Ihre Vertreter vor Ort hatten kein Problem damit, vor einem Transparent zu sprechen, das Außenminister Nicolás Maduro und Informationsminister Andrés Izarra "Hunde von Santos" und "Verräter" nannte. Am Ende der Veranstaltung verbrannten die Protestierenden eine lebensgroße Puppe mit den Fotos der beiden Kabinettsmitglieder. Das Pressebüro der PCV fertigte ein Video der Aktion an, das es auf Youtube veröffentlichte.

Aus der für den 30. April angekündigten Stellungnahme wurde letztlich eine juristische Analyse, die belegen soll, warum die Abschiebung von Becerra illegal war. Sie erschien erst am 2. Mai mit einer Distanzierung von den Ereignissen des 28. April. Einen Ausweg aus der Krise zeigt die PCV nicht auf.

Damit hat die KP Venezuelas mit dazu beigetragen, die Konfusion weiter zu vergrößern. Auch das liegt im Sinn der feindlichen Strategie. Der PCV kommt hierbei eine besondere Stellung und somit Verantwortung zu, da sie zum Beispiel nicht nur in Deutschland seit 2002 sehr viel präsenter als Sprachrohr der Bolivarianischen Revolution aufgetreten ist als andere Organisationen.

Und auch in Deutschland macht sich so mancher "Lateinamerikaspezialist" zum Erfüllungsgehilfen der Interessen anderer, indem er durch falsche Übersetzungen die Konfusion vergrößert.

Auf der Internetseite Redglobe war am 9. Mai 2011 zu lesen, dass der Präsident des venezolanischen Parlaments, Fernando Soto Rojas, der der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) angehört, gesagt haben soll:

"Die offizielle Linie der PSUV ist es, dass wir uns mit der PCV nicht anlegen werden. Das sind wichtige strategische Verbündete, die wir mit Respekt behandeln müssen."

Im spanischen Original (sowohl auf der Seite der zitierten Zeitung als auch bei Tribuna Popular) steht aber der Satz: "La línea oficial del PSUV es que nosotros no nos vamos a pelear con el PCV. Son aliados estratégicos importantes y tenemos que tratarnos con respeto."

Folglich kann die korrekte Übersetzung nur lauten: "Die offizielle Linie der PSUV ist, dass wir uns nicht mit der PCV streiten werden. Sie sind wichtige strategische Alliierte und wir müssen uns mit Respekt behandeln".

Darüber hinaus kursieren jetzt eine unzählige Menge an Aufrufen, die zur Solidarität mit Becerra aufrufen. So mancher von ihnen ist mit der Forderung vergiftet, sich für die Bolivarianische Revolution und gegen Chávez zu positionieren.

Diese unvollständige Aufzählung von Stellungnahmen zeigt, dass es den Feinden der Bolivarianischen Revolution gelungen ist, einen Keil in die Reihen ihrer Unterstützer zu schlagen. Dass jeder Transformationsprozess eine Phase der Klärung durchlaufen muss, liegt in der Natur der Sache, weil der Feind nicht nur auf den Putsch als Mittel der Intervention setzt, sondern auch auf die Zersetzung von innen heraus. Dieser Gefahr entgegenzuwirken, obliegt den Venezolanern.

Vertrauen und Glaubwürdigkeit sichern

Chávez' größtes Gut ist seine Glaubwürdigkeit, die über die Landesgrenzen hinaus wirkt. Santos hat diesen Charakterzug schamlos ausgenützt, als er seinen Amtskollegen an dessen Versprechen erinnerte, bei der Bekämpfung der Kriminalität zusammenzuarbeiten. Wie er damit umgeht, ist seine persönliche Angelegenheit und muss daher hier nicht weiter erörtert werden.

Geblieben ist eine Irritation über Venezuelas Haltung gegenüber Menschen, die sich einerseits mit der Bolivarianischen Revolution solidarisch erklären, aber andererseits auch Kämpfe wie den in Kolumbien und im Baskenland mittragen. Von der Unterstützung dieser Aktivisten und Journalisten lebt auch der Transformationsprozess in Venezuela. Ihr aller Manko ist, wie jetzt der Fall Becerra wieder gezeigt hat, dass interessierte Staaten sie nach Bedarf zu "Terrorverdächtigen" hochstilisieren können.

Während Venezuela seine Staatsbürger entsprechend schützt, hat es bei Ausländern in der letzten Zeit sehr reflexartig mit Abschiebung reagiert. Das ist sein gutes Recht - aber es nutzt in diesem Fall dem Feind, zumal sich ein Casus Becerra jederzeit wiederholen kann. Demnächst könnte es einen europäischen Journalisten schwedischer Herkunft treffen, den die Kolumbianer als Verbindungsmann zur FARC betrachten. Oder die Spanier nutzen meine nächste Venezuela-Reise, um mich zu instrumentalisieren, indem sie eine Verbindung zur ETA konstruieren. Oder die CIA schickt einen Provokateur los. Ihr Repertoire an "dirty tricks" lässt zahlreiche Varianten zu.

Was tun?

Wenn der venezolanische Staat sich vor Manipulationen dieser Art schützen will, ohne das Vertrauen der Unterstützer zu verlieren, wird er wohl ein wie auch immer geartetes Visaverfahren einführen müssen: In der untersten Stufe bekommt jeder Reisende eine Touristenkarte. Liegt ein internationaler Haftbefehl vor, wird nach internationalem Recht verfahren. Journalisten und Aktivisten beantragen eine Art Visum. Im Fall eines plötzlich auftauchenden Haftbefehls werden sie in das Land abgeschoben, aus dem sie eingereist sind.

Diese oder eine ähnliche Maßnahme könnte helfen, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen, Sicherheit für beide Seiten zu schaffen und Glaubwürdigkeit zu sichern. Letzteres wird besonders wichtig sein, um die nächsten Angriffe abwehren zu können und das Ansehen der Bolivarianischen Revolution zu sichern. Hier bedarf es zunächst der Initiative in Venezuela. Die Revolution muss Institutionen schaffen, die zum Beispiel in Europa eigenständig ihre Politik und Werte verteidigen können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass der diplomatische Dienst dazu nur sehr eingeschränkt einsetzbar ist, weil er aufgrund internationaler Abkommen im Gastland nur sehr begrenzt politisch tätig werden darf. Auch die Regierungspartei PSUV ist gefragt, ihrer Auslandsarbeit derart zu gestalten, dass sie selbständig auftreten kann und deshalb mit einem eigenen politisches Profil wahrgenommen wird. Kuba kann hier als Beispiel dienen, weil es ihm gelungen ist, eine funktionierende Solidaritätsbewegung über Jahrzehnte und trotz aller weltpolitischen Einschnitte am Leben zu halten. Wenn Venezuela davon lernt und die nötigen, eigenen Schritte unternimmt, wird es auch in Europa möglich sein, die Solidaritätsarbeit im Sinne der Bolivarianischen Revolution zu gestalten.

Ingo Niebel, 17.05.2011

Quelle:
http://berriaknews.de/index.php?option=com_content&view=article&id=83%3Agreat-game-in-der-karibik&catid=21%3Astellung-zur-bolivarianischen-revolution&Itemid=49&lang=de

Raute

KPD(B) → → KOMMUNISTISCHE INITIATIVE

KPD(B)-Parteitag vom 9.4.2011: KPD(B) hat ihre Aufgabe erfüllt

Unterstützt die Kommunistische Initiative!

Die KPD(B) hat auf einem außerordentlichen Parteitag am 09. April 2011 über die Arbeit der Partei und die Lage der kommunistischen Bewegung in Deutschland beraten.

Die KPD(B) war 2005 infolge innerparteilicher Auseinandersetzungen in der KPD und der dadurch erzwungenen Spaltung gegründet worden. Ziel war einerseits die Erhaltung des marxistisch-leninistischen Kerns der aus der KPD ausgeschlossenen oder ausgetretenen Genossen sowie der Kampf gegen Spaltung und Zersplitterung der Kommunisten und die Herstellung der Einheit unter dem Banner des Marxismus-Leninismus.

Dabei war klar, daß die geringen Kräfte der KPD(B) allein nicht ausreichen, um eine kommunistische Partei zu entwickeln, die spürbar als Partei der Arbeiterklasse in die politischen Kämpfe der Werktätigen eingreifen und sie führen kann.

Deshalb hat die KPD(B) die Gründung und den Aufbau der Kommunistischen Initiative voll und ganz unterstützt, denn hier wurde ein neuer, erfolg versprechender Ansatz gefunden, um die marxistisch-leninistischen Kräfte zu sammeln und zu vereinen. Es hatte sich als unmöglich erwiesen, die von weitgehend vom Revisionismus dominierten verschiedenen kommunistischen Organisationen auf der Basis des wissenschaftlichen Sozialismus zu vereinen, aber es war möglich, Marxisten-Leninisten mit und ohne Parteibuch, die das gleiche Ziel der Einheit verfolgten, zu sammeln und einen Prozeß zur Schaffung einer neuen, einheitlichen kommunistischen Partei einzuleiten.

Die Teilnehmer des außerordentlichen Parteitages schätzten ein, daß mit den Beschlüssen der 2. Perspektivkonferenz der Kommunistischen Initiative dieser Prozeß eine neue qualitative Stufe erreicht hat. Die KI steht damit auf festen Füßen und bildet so einen Ausgangspunkt für eine weitere erfolgreiche Fortsetzung des Neuaufbaus einer einheitlichen marxistisch-leninistischen Partei. Die KPD(B) hat diese Entwicklung mit ihren Mitteln und Möglichkeiten unterstützt. Sie hatte diese Politik zum Kern ihrer Arbeit gemacht und sieht damit ihre strategische Aufgabe als erfüllt an.

Die KPD(B) beendet ihre Existenz zugunsten der weiteren Unterstützung des Einheitsprozesses

In der zurückliegenden Zeit hat die KPD(B) intensiv für den Prozess der Schaffung einer neuen, einheitlichen marxistisch-leninistischen Partei gearbeitet. Insbesondere ihr aktiver Kern war dabei einer hohen Dauer- und Doppelbelastung ausgesetzt. Nun, nachdem das strategische Ziel der KPD(B) erreicht ist, hat auch die KPD(B) die Grenzen ihrer politischen, personellen und materiellen Möglichkeiten erreicht. Eine weitere Fortsetzung von Doppelarbeit und einer Nebeneinanderexistenz von KPD(B) und KI würde daher kontraproduktiv. Jetzt steht als einzig vernünftige Alternative die volle Unterstützung der weiteren Entwicklung der KI im Vordergrund.

Die Teilnehmer des außerordentlichen Parteitages der KPD(B) beschlossen daher, die organisatorische Existenz der KPD(B) zu beenden und damit auch die eigenständige politische Arbeit. Sie setzt damit auch ein Zeichen an andere Kräfte, daß es möglich ist, eigene Parteiinteressen zugunsten der Einheit zurückzustellen. (...)

Mit diesen und anderen Aufgaben, die zur ordnungsgemäßen organisatorischen Abwicklung und Erfüllung noch anstehender Verpflichtungen der KPD(B) und des Ernst-Thälmann-Verlages im Zusammenhang stehen, wurde ein "Arbeitskreis Einheit" beauftragt, der zu diesem Zweck gegründet wurde. (...)

Zu den Details: Der "Ernst-Thälmann-Verlag" übergibt seine Mittel an den "Verein zur Förderung und Verbreitung proletarischer Literatur - Ernst Thälmann". Da geht es natürlich nicht nur um die Erhaltung des Namens Ernst Thälmann, sondern vor allem auch um die Sicherung der künftigen Verlags- und Publikationsarbeit unter neuer Herausgeberschaft.

Die bisherige Zeitung der KPD(B), "Trotz Alledem", wird es nicht mehr unter diesem Namen geben, aber ab zweiter Junihälfte können wir Euch eine neue Zeitung anbieten, die Zeitung "Einheit" der Kommunistischen Initiative. Sie steht nicht nur politisch-ideologisch auf der gleichen Basis wie die "Trotz Alledem", sie verfügt vor allem über bessere redaktionelle Möglichkeiten als wir es mit der "Trotz Alledem" vermochten.

Dazu gehören eine größere Redaktion mit festgelegten Redaktionsbereichen wie beispielsweise Innenpolitik, Internationales, Theorie und Bildung, Kunst und Kultur, Berichte über die Arbeit der KI u.a.. Die größere Zahl an zur Verfügung stehender Autoren wird dann in der Lage sein, den Leserinnen und Lesern in einem möglichst breiten Themenbereich gute und fundierte Artikel aus kommunistischer Sicht anzubieten.

Anders als die "Trotz Alledem" gibt es die "Einheit" nicht zum festen Abo-Preis, sondern die "Einheit" wird auf Spendenbasis vertrieben, ist also darauf angewiesen, was die Abonnenten freiwillig zu geben bereit sind. Eine gute Zeitung ist dafür das beste Argument.

Wir bitten die bisherigen Leserinnen und Leser der "Trotz Alledem", unsere Abonnentinnen und Abonnenten herzlich darum, künftig die "Einheit" zu beziehen. (...)

Werdet Mitglied der Kommunistischen Initiative!

Wir bedanken uns bei allen Mitgliedern und Freunden, die sich mit ihrer Arbeit für die KPD(B) und die marxistisch-leninistische Bewegung in Deutschland eingesetzt haben. Wir bitten euch darum, auch künftig der politischen, kommunistischen Arbeit treu zu bleiben und rufen dazu auf, Mitglied in der Kommunistischen Initiative zu werden. Informationen und Kontaktadressen findet ihr unter www.kommunistische-initiative.de oder: Willi Franke, c/o Postfach 270324, 50509 Köln.

KPD(B), April 2011

Raute

KOMMUNISMUSDEBATTE "junge Welt"

Fritz Dittmar: Zu "Macht und Moral"(10), Junge Welt, 4.2.2011

Im Rahmen der "Kommunismus-Debatte" in der Jungen Welt hat als Antwort auf Kurt Pätzold Hans Heinz Holz den in historischem Sinn vernunftgemäßen Charakter der Sowjetunion zwischen 1917 und 1956 verteidigt. Für meinen Geschmack bleibt er dabei zu sehr im Allgemeinen und in philosophischen Abstraktionen. Dennoch fühlen sich die AutorInnen Hans-Peter Brenner, Nina Hager und Robert Steigerwald in ihrer Erwiderung in bester "Gutmenschen"-Art "betroffen" und "fühlen sich zum Widerspruch verpflichtet".

Zur den Personen des AutorInnen-Kollektivs: Alle drei sind prominente Theoretiker in der DKP. Während Nina Hager dem alten (rechten) Sekretariat angehörte und der damaligen rechten Mehrheit zugerechnet wurde, gelten Brenner und Steigerwald als Vertreter der zentristischen Strömung. Dass sie gemeinsam auf Hans Heinz Holz, den Theoretiker der linken Strömung, erwidern, verdient Beachtung. Ihre theoretischen Positionen sollen nicht unerwidert bleiben.

Dieser Artikel folgt der Struktur ihres Artikels.

Unter "Erstens" führen die AutorInnen Holz' Argument an, es sei utopisch, die Vorstellungen über eine kommunistische Gesellschaft bereits auf die Zeit der Revolution zu übertragen. Statt sich aber mit diesem Gedanken auseinander zu setzen, wechseln sie zu einem ganz anderen Problem. Sie fordern, zumindest müsse sich von Beginn der Revolution an eine Moral entwickeln, die sich von der kapitalistischen Moral unterscheide.

Dem haben nun aber weder Holz noch die früheren Theoretiker des Marxismus widersprochen. Wie muss nun aber eine Moral aussehen, die sich in der Revolution entwickelt und die Übergangsperiode zum entwickelten Kommunismus bestimmt? So wie sie von der vorher herrschenden, bürgerlichen Moral ausgeht, kann auch sie nur Klassenmoral sein, proletarische Moral. An die Stelle des Egoismus, des Kampfes aller gegen alle und der Feindschaft zwischen den Nationen setzt sie die Solidarität und den Internationalismus. Aspekte einer allgemein-menschlichen Moral kann aber auch sie nur als utopisches Element enthalten.

So wie das utopische Ideal von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" im Kapitalismus sich realisierte als freier Handel mit der Arbeitskraft, Gleichheit der Warenbesitzer auf dem Markt und Einverständnis aller mit der Ausbeutung, so realisiert es sich im Sozialismus als Freiheit der Arbeiter von Hunger, Not und Ausbeutung und als Solidarität der Arbeiter und Werktätigen im Kampf gegen die Ausbeuter.

Zu dieser revolutionären Moral gehört die Bereitschaft, selbstlos für den Sieg der eigenen Sache einzutreten.

So forderte Lenin als Bedingung für eine siegreiche Revolution, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse bereit sein müsse, für den Sieg des Sozialismus in den Tod zu gehen. Diese Moral hat die russische Arbeiterklasse zweimal gezeigt, im Bürgerkrieg und dann im "Großen Vaterländischen Krieg" gegen die Faschisten, dort sogar zusammen mit den übrigen sowjetischen Werktätigen. Indem diese Moral nicht mehr nur das Handeln der revolutionären Avantgarde, sondern der Mehrheit der Arbeiterklasse und des Volks bestimmte, schlug sie in eine neue Qualität um: Diese Moral war unvergleichlich höher als die Moral jeder Klasse in der Vergangenheit.

Trotzdem war sie selbstverständlich noch nicht die Moral, die im Kommunismus herrschen wird.

In den Punkten 2 und 3 gehen die AutorInnen auf die Frage ein, welche Bedeutung die Anwendung von Gewalt im revolutionären Prozess hat oder haben muss. Hier erkenne sie an, dass das arbeitende Volk bis heute (auch in der Zukunft?) ohne Gewalt in keiner Revolution hätte siegen können.

Dann gehen sie aber sofort wieder zu einem ganz anderen Thema über: dass nämlich die Organisation der Arbeiter noch wichtiger sei als die revolutionäre Gewalt. Dazu zitieren sie ausführlich Lenin und Stalin und rennen dabei wieder offene Türen ein. Sie versuchen, mit diesem Trick vom eigentlichen Problem abzulenken.

Zur Diskussion steht hier nämlich nicht der Stellenwert der revolutionären Gewalt, sondern deren Verhältnis zu Ethik und Moral der Arbeiterklasse. Hierzu nehmen sie erst im letzten Satz mit einer rhetorischen Frage Stellung: "Folgt die Macht (müsste heißen: die Anwendung revolutionärer Gewalt) keiner 'Moral' und keiner Gesetzlichkeit?"

Wie müsste denn eine solche Moral beschaffen sein, die den Revolutionären in ihrem Handeln einen verbindlichen Rahmen vorgibt? Hier halten sich die AutorInnen bedeckt. Sie zitieren Fidel Castro, der neben dem bei Marx und Lenin Gelernten auch auf die Wurzeln seiner Ethik bei Jose' Marti und im Christentum(!) verweist. Hierzu kann ich mir nicht die Anmerkung versagen, dass glücklicherweise weder die kubanische Revolution 1959 noch der Kampf gegen die US-Söldner in der Schweinebucht 1961 nach dem Prinzip erfolgten: "Liebet eure Feinde! Tut wohl denen, die euch hassen!"

Spitzt man die Frage zu, müsste sie so lauten: Gibt es Schranken für das revolutionäre Handeln, die selbst dann beachtet werden müssen, wenn daraus die Niederlage folgt? Die AutorInnen bejahen das: "Ja, ­...die Grenzen revolutionärer 'Notwendigkeit' gelten auch bei der Verteidigung revolutionärer Errungenschaften."

Dieser Satz muss näher beleuchtet werden. Wir haben ja gerade in den letzten Wochen viel über die Bedeutung von Anführungszeichen gehört. Das trifft auch auf diesen Satz zu. Ohne die in Anführungszeichen gesetzte Notwendigkeit würde er bedeuten: "Es gibt Dinge, die der Revolutionär tun darf oder tun muss, (obwohl er sie vielleicht nicht gern tut,) eben, weil sie notwendig sind. Dabei muss er prüfen, ob sie wirklich notwendig sind, und er muss selbst dann bestimmte Grenzen einhalten (,die die AutorInnen nicht weiter konkretisieren)." Diesen Satz hätte man diskutieren können.

Mit den Anführungszeichen dagegen wird darauf verzichtet, zwischen wirklichen und nur behaupteten oder vorgeschobenen angeblichen "Notwendigkeiten" zu unterscheiden. Somit wird die Existenz von Notwendigkeiten insgesamt in Frage gestellt. Damit gehen die AutorInnen nicht nur zu einer völlig unrealistischen Betrachtungsweise über, sie fallen sogar hinter ihre eigene Position zurück, dass ohne Gewaltanwendung keine Revolution siegen könne. Entweder ist also die Gewalt in der Revolution notwendig, oder sie ist nur "notwendig" und entspringt in Wahrheit der Denkfaulheit oder der Grausamkeit der Revolutionäre.

Abstrakt ist diese Diskussion eher unergiebig. Deshalb ein historisches Beispiel: 1942, während des faschistischen Vormarschs auf Stalingrad, hat die Sowjetische Führung "unzuverlässige Völker", zum Beispiel die deutschen Sowjetbürger, hinter den Ural umgesiedelt. Diese Maßnahme hat Chruschtschow auf dem XX. Parteitag Stalin als Verbrechen vorgehalten, um dessen Andenken zu zerstören.

Selbstverständlich schloss die Maßnahme individuelles Unrecht ein, loyale Bürger waren ebenso betroffen wie feindlich eingestellte. Die konkrete Alternative wäre aber gewesen, dass viele der von dieser Maßnahme Betroffenen sonst der Roten Armee in der Uniform des Feindes gegenübergestanden hätten, so wie viele deutsche Sowjetbürger aus den Gebieten, die 1941 besetzt wurden. Folgt man der Position der AutorInnen, müsste man zu diesem Problem sagen: Und wenn schon, Hauptsache bleibt, dass der Staat kein Unrecht begeht! Dagegen denke ich: Niemand, der die Zerschlagung des Faschismus begrüßt, kann vertreten, dass das Volk der Sowjetunion dafür noch größere Opfer hätte bringen müssen, um den moralischen Ansprüchen des Betrachters zu genügen. Für mich zeigt dieses Beispiel eines: Im Kampf auf Leben und Tod können Recht und Gesetz nicht alles sein. "Fiat justitia, pereat mundus" (möge Gerechtigkeit geschehen, und wenn die Welt (oder der Sozialismus) zugrunde geht) kann kein Prinzip kommunistischer Moral sein!

Insbesondere die Forderung der AutorInnen nach der Einhaltung von Gesetzlichkeit erinnert mich doch sehr an die Bahnsteigkarten, die deutsche Revolutionäre nach Lenins Meinung kaufen, ehe sie einen Bahnhof besetzen.

Nun mögen die AutorInnen einwenden, ihnen ginge es um die Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit. Aber auch im Sozialismus ist das Recht nichts Heiliges, sondern "der in Gesetze gegossene Wille" der herrschenden Klasse (Manifest), hier also des Proletariats. Ändern sich die Umstände, so ändert man die Gesetze, wenn die Zeitläufe ruhig sind und man die Zeit hat. Steht aber der Feind im Zentrum des Landes, schickt man die Gruppen, auf die man sich nicht verlassen kann, weiter ins Hinterland. Ob man vorher durch Gesetz das Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts einschränkt oder ob man einfach anordnet, ist in der gegebenen Situation sekundär. Hauptsache, man handelt!

Nun könnte man einwenden, ich wolle das Unrecht verharmlosen, indem ich ein weniger schwerwiegendes und vielleicht sogar nachvollziehbares Beispiel von Stalins Rechtsverletzungen gewählt habe. Aber erstens sind die Vorwürfe gegen "den Stalinismus" so allgemein gehalten, dass man sie auch an einem solchen Beispiel auf Stichhaltigkeit überprüfen kann.

Zweitens gehörte diese Maßnahme als wichtiges Beispiel in Chruschtschows Geheimrede, und ich wüsste nicht, dass außer den "unverbesserlichen Stalinisten" andere Kommunisten hier Chruschtschows Demagogie verurteilt hätten. Was andere, gewichtigere Rechtsverletzungen betrifft, so wären hier ebenfalls die Aspekte von Notwendigkeit zu untersuchen und abzuwägen. Mit einer pauschalen Forderung nach "Einhaltung der Grenzen" wie bei den AutorInnen ist hierbei nichts gewonnen.

Die AutorInnen sehen die Wurzel des Übels in der Konzentration der Macht bei einem " - wenn auch noch so fähigen - einzelnen 'Führer'". Dabei führen sie selber dann Castro, der über 40 Jahre als Maximo Lider unangefochten an der Spitze des Kubanischen Staates stand, als Kronzeugen gegen Stalin an.

Schwach ist auch das Argument, es sei möglich, "die Regeln der kommunistischen Klassenmoral" einzuhalten(, so wie sie sie sehen); das zeige das Beispiel der kubanischen Revolution. Bei aller Bewunderung des hartnäckigen Widerstands gegen den Imperialismus: So hart wie die Sowjetunion ist Kuba bisher nicht geprüft worden.

Damit zu den abschließenden Worten der AutorInnen zum "Stil der Auseinandersetzung". Pätzold hatte in seinem Artikel von der Diskussion um den Kommunismus diejenigen ausschließen wollen, die er für "unverbesserliche Stalinisten" hält. Wo bleibt da die so viel und gern zitierte "Freiheit der anders Denkenden"? Spaß beiseite: Diese arrogante, denunziatorische Haltung, sowie die Beurteilung der SU als barbarisches System hat Hans Heinz Holz zu Recht als primitive bürgerliche Ideologie bezeichnet. Wer in einem Atemzug den Faschismus und die Sowjetunion in gleicher Weise als barbarisch bezeichnet, hat vom Wesen des Imperialismus nichts begriffen. Er zeigt sich als unfähig, die Theorie von Klassen und Klassenkampf anzuwenden. Die AutoInnen dagegen stimmen Pätzolds Sicht mit kleinen Einschränkungen zu und haben offenbar mit der Forderung, die "unverbesserlichen Stalinisten" auszugrenzen, keine Probleme. Stattdessen werfen sie Holz vor, er würde einen "inner(!)marxistischen Dialog nach den Regeln eines unversöhnlichen Freund-Feind-Schemas" ablaufen lassen.

Da stellt sich mir die Frage: Wächst hier zusammen, was zusammengehört: Der Antikommunismus der Wendehälse, für die der Kommunismus nur noch ein Wolkenkuckuksheim in nowhereland ist, mit einem Dogmatismus, dem abstrakte hehre Prinzipien den Vorwand liefern, dem realen Kampf gegen den Imperialismus die Solidarität aufzukündigen?

Ich denke, die AutorInnen sollten darüber nachdenken, welche Errungenschaft für die Arbeiter und alle Werktätigen und Unterdrückten der ganzen Welt die Sowjetunion von der Revolution bis zum XX. Parteitag war, welche Hoffnung und Ermutigung sie allein durch ihre Existenz bedeutet hat. Im Programm der DKP wird die DDR als größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterklasse gewürdigt. Ohne den Rückhalt durch die Sowjetunion wäre Sozialismus auf deutschem Boden damals nicht möglich gewesen. Wollen die AutorInnen wirklich vertreten, diese größte Errungenschaft könnte die Frucht der Unterstützung durch ein barbarisches System sein?

Fritz Dittmar, Hamburg


Anmerkung

(10) Fritz Dittmar schrieb dazu: "Lieber Frank, ich vermute, dass die Offensiv sich in die "Kommunismus-Debatte" der Jungen Welt einschalten wird. Deshalb hier ein Beitrag von mir. Vielleicht willst du ihn verwenden? Rote Grüße, Fritz Dittmar, Hamburg"

Raute

Kurt Gossweiler: Ist Gewalt zur Verteidigung des Kommunismus unmoralisch?

Der bulgarische Autor Michail Kilew hat ein Buch geschrieben: "Chruschtschow und der Zerfall der UdSSR", in dem er über Chruschtschows und seiner Nachbeter Wirken zu der Schlußfolgerung kommt:

"Man braucht viele Leute vom Schlage eines Herkules und die Umleitung mehrerer Flüsse, um die Geschichte der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus, damit also die Namen und das Werk Lenins und Stalins von den Bergen an Lügen und Verleumdungen zu reinigen. Nur mittels einer solchen gewaltigen Anstrengung wird die Wahrheit über ihr revolutionäres Werk, das Wesen und den Inhalt der Errichtung des ersten sozialistischen Staates auf der Welt zum Vorschein kommen - und nur so können die Erfahrungen dem internationalen Proletariat und der vom Imperialismus geknechteten Menschheit eine Zukunftsperspektive bieten. Deshalb ist diese Arbeit absolut wichtig und unumgänglich."

Hans Heinz Holz hat dazu mit seinem Artikel "Dialektik der Vernunft" (11) in der Jungen Welt vom 2. Februar 2011 einen wertvollen Beitrag geleistet. Er wendet sich dagegen, moralisierend die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung der Revolution zu verurteilen: "Und draußen stand der Feind", schreibt er, "hochgerüstet und aggressiv. ... Es gibt keine Epoche in der Weltgeschichte, in der eine solche Situation nicht mit harten Maßnahmen der Gegenwehr beantwortet worden wäre und in der nicht auch Unschuldige ihnen zum Opfer fielen."

Er hätte auch Karl Marx zitieren können, der 1879 in einem Interview auf die Frage des Londoner Korrespondenten der Chicagoer "Tribune", ob die Sozialisten Mord und Blutvergießen zur Durchführung ihrer Grundsätze für notwendig halten, zur Antwort gab: "Keine einzige große Bewegung ist ohne Blutvergießen geboren worden." Zu ergänzen wäre: "geboren und verteidigt worden."(12)

Das Dreigestirn Brenner-Hager-Steigerwald aber wirft Holz in seiner Erwiderung "Macht und Moral" vor, er verteidige einen Kampf um Machterhalt ohne moralische und ethische Grenzen. Dieser Vorwurf erinnert sehr unangenehm an das alte Lied aller Antikommunisten vom Kommunismus als Herrschaft ohne Moral...

Fidel Castro als Kronzeuge im so genannten "Hitler-Stalin-Pakt"?

Um ihren Vorwurf an Holz mit einer unanfechtbaren Autorität zu versehen, führen unsere Drei als Vierten keinen geringeren als Fidel Castro als Kronzeugen ins Feld.

Würde es sich bei der angeführten Stellungnahme Fidels um ein Urteil über die Geschichte der Revolution in Kuba und um den Befreiungskampf der lateinamerikanischen Völker vom US-amerikanischen Joch handeln, dann wären wir sicher, die kompetenteste Auskunft, die wir zu diesem Thema erhalten können, erhalten zu haben.

Aber muß er deshalb auch ebenso kompetent sein in der Kenntnis der Geschichte der Sowjetunion? Nein, muß er nicht, und ist er auch nicht, wie der uns von den Dreien vorgeführte Abschnitt aus Fidels Autobiographie "Mein Leben" zeigt. Denn dort wiederholt Fidel nur, was wir alle aus der Chruschtschow-Geheimrede an Beschuldigungen Stalins kennen. So schreibt er, Stalin habe "das verheerende deutsch-sowjetische Ribbentrop-Molotow-Abkommen, den Hitler-Stalin-Pakt, unterzeichnet."

Er übernimmt damit nicht nur die verleumderische Bezeichnung des Nichtangriffsvertrages als eines Hitler-Stalin-Paktes, (ein Pakt ist ein Bündnis zu einem gemeinsamen Tun, ein Nichtangriffsvertrag ist ein Abkommen über ein beiderseitiges Nicht-Tun), sondern kennt offenbar auch nicht die historischen Zusammenhänge, die Tatsache nämlich, daß der Nichtangriffsvertrag die Grundsteinlegung war für die Anti-Hitler-Koalition. Denn dem Abschluß des Nichtangriffsvertrages ging ein jahrelanges Bemühen der Sowjetunion voraus, mit den Westmächten zu einem Vertrag über kollektive Sicherheit zu gelangen, der jeden Teilnehmer verpflichtete, jedem von ihnen sofort mit militärischem Einsatz zu Hilfe zu kommen, der von Hitlerdeutschland angegriffen würde.

Dieses Bemühen begann 1935 mit dem Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund, es scheiterte aber 1939 an der Weigerung der Westmächte und Polens, einen alle Seiten gleichermaßen verpflichtenden Vertrag zu unterzeichnen. Und das hatte seinen bösen Grund: Die Westmächte hatten Hitlerdeutschland ja doch dazu erlaubt, den Versailler Vertrag als nicht existent zu behandeln, sich zur stärksten Festlandsmacht in der Mitte Europas aufzurüsten, Österreich, das Sudetengebiet und schließlich die ganze Tschechoslowakei zu annektieren, damit es schließlich die Sowjetunion überfallen und die Sowjetmacht liquidieren sollte, aber selbst so geschwächt sein würde, daß es am Ende ein Diktat der Westmächte hinnehmen mußte.

Das hat kein anderer als der spätere Präsident der USA, Harry S. Truman, offen ausgesprochen, als er in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Senatsauschusses für Auswärtige Angelegenheiten erklärte: "Wenn wir sehen, daß Deutschland gewinnt, sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen, damit sich auf diese Art und Weise so viele als möglich gegenseitig umbringen."(13)

Wie und weshalb kam der Nichtangriffsvertrag zustande?

Die Sowjetunion befand sich deshalb vor der Gefahr, einem von den Westmächten unterstützten Überfall Hitlers ganz alleine ausgeliefert zu sein, was den Untergang der Sowjetmacht bedeutet hätte. Als sich in dieser Situation durch das deutsche Angebot zum Abschluß eines Nichtangriffsvertrages die Möglichkeit ergab, einer solchen tödlichen Gefahr zu entgehen, konnte es deshalb für die Sowjetführung gar keine andere Möglichkeit geben, als dieses Angebot anzunehmen, enthielt es doch die Möglichkeit, daß dadurch die Westmächte zu einem späteren Zeitpunkt doch noch zu einem Bündnis mit der Sowjetunion gezwungen sein würden, das sie bisher so hinterhältig hintertrieben hatten. Denn darüber konnte natürlich kein Zweifel bestehen, daß dieses deutsche Angebot nur erfolgt war, um bei dem geplanten Okkupationskrieg gegen Polen nicht Gefahr zu laufen, damit einen Zweifrontenkrieg gegen sich auszulösen.

Das hätte es auf jeden Fall bedeutet, hätten die Westmächte das sowjetische Angebot des Abschlusses eines kollektiven Sicherheitsvertrages angenommen. Es war ihre Ablehnung dieses Angebotes, die der Sowjetunion gar keine andere Möglichkeit ließ, als nun das deutsche Angebot anzunehmen, so sehr man sich auch darüber klar war, daß dies in den eigenen Reihen, vor allem bei den Kommunistischen Parteien im kapitalistischen Ausland, nicht nur Überraschung hervorrufen, sondern auch auf Unverständnis stoßen würde.

Aber das mußte hingenommen werden, und es konnte auch in der Gewißheit hingenommen werden, daß der Zeitpunkt kommen würde, zu dem alle jetzt Zweifelnden diesen Schritt nicht nur verstehen, sondern als großartigen Schachzug gegen alle imperialistischen Verschwörungen zur Vernichtung der Sowjetunion erkennen und anerkennen würden. Dann nämlich, wenn Hitlerdeutschland den nur aufgeschobenen Überfall auf die Sowjetunion durchführen und die Sowjetunion dann den Kampf bis zur Vernichtung der faschistischen Bestie führen würde.

Chruschtschows Lügen - und über die Frage der Moral?

Für die Sowjetführung bestand nie ein Zweifel daran, daß die Vernichtung der Sowjetunion und die Eroberung ihrer Reichtümer das Hauptziel des faschistischen deutschen Imperialismus war und blieb. Davon zeugen - gegen die bösartigen Verleumdungen Chruschtschows und anderer, Stalin habe Hitler vertraut - Stalins Ausführungen am 5. Mai 1941 vor Absolventen der Militärakademie, deren Hauptpunkte waren:

"1. Die Situation ist äußerst ernst. Mit einem deutschen Angriff in naher Zukunft muß man rechnen. 2. Die Rote Armee ist noch nicht stark genug, die Deutschen ohne weiteres schlagen zu können... Die Verteidigungsanlagen in den neuen Grenzgebieten sind unzulänglich... 3. Die Sowjetregierung wird mit allen ihr zur Verfügung stehenden diplomatischen Mitteln versuchen, einen bewaffneten Konflikt mit Deutschland zumindest bis zum Herbst hinauszuzögern, weil es um diese Jahreszeit für einen deutschen Angriff zu spät sein wird. Dieser Versuch kann gelingen, kann aber auch fehlschlagen. 4. Wenn er gelingt, wird der Krieg mit Deutschland fast unvermeidlich im Jahre 1942 stattfinden, und zwar unter viel günstigeren Bedingungen, da die Rote Armee dann besser ausgebildet und besser ausgerüstet sein wird. Je nach der internationalen Situation wird die Rote Armee einen deutschen Angriff abwarten oder aber selbst die Initiative ergreifen".(14)

Das bedeutete doch, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dem deutschen Angriff durch einen eigenen Angriff zuvorzukommen.

Durfte man das? War das nicht ein Ausdruck für "Macht ohne Moral"?

Nein keineswegs, denn es gibt keine klassenindifferente, "allgemeinmenschliche" Moral. Die Moral der Ausbeuterklassen und jene der ausgebeuteten Klassen sind ebenso antagonistisch und unversöhnlich wie ihre Klasseninteressen. Die Übernahme und Anwendung der bürgerlichen Moralgrundsätze durch Angehörige der ausgebeuteten Klassen ist unmoralisch, weil nützlich für den Klassenfeind und schädlich für die eigene Klasse. Moralisch ist dagegen alles, was der eigenen Klasse nützt und dem Klassenfeind schadet. Deshalb war der Nichtangriffsvertrag zutiefst moralisch, denn er bahnte der Niederlage des deutschen Faschismus und der Schwächung des Weltimperialismus, dem Entstehen eines sozialistischen Weltsystems nach dem Sieg über den Faschismus, den Weg.

Festlegung der Grenzlinien

Die Sowjetunion nahm also nach dem Scheitern ihrer Bemühungen zum Abschluß eines Vertrages zur kollektiven Sicherheit mit England, Frankreich und Polen das deutsche Angebot zum Abschluß eines Nichtangriffsvertrages an. Er wurde am 23. August 1939 in Moskau abgeschlossen. In weiteren nicht veröffentlichten Verhandlungen wurden die Grenzen für die beiderseitigen "Interessensphären", festgelegt, also die Grenzlinie der Sowjetunion, die von der deutschen Armee im Falle eines kriegerischen deutschen Überfalles auf Polen als sowjetische Staatsgrenze nicht überschritten werden durfte.

Aber aus dem Ergebnis der Verhandlungen über die Abgrenzung der Interessensphären zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde kein Geheimnis gemacht. In der Moskauer "Iswestija" vom 23. September 1939 wurde eine Landkarte veröffentlicht, in der die - wie es im Text dazu heißt - "durch die Regierungen Deutschlands und der UdSSR festgelegte Demarkationslinie zwischen den deutschen und sowjetischen Armeen in Polen" eingezeichnet war, wie sie im Zusatzabkommen zum Nichtangriffsvertrag vereinbart worden war. In völliger Umkehrung der Tatsachen wird diese Grenzziehung von den Anklägern des Nichtangriffsvertrages als "Vierte Teilung Polens" verleumdet.

In Wirklichkeit war es aber die Aufhebung der von Polen 1920 diktierten Teilung Belorußlands und der Ukraine. Im Vertrag von Riga von 1920 mußte nämlich Sowjetrußland, geschwächt und ausgeblutet durch Interventions- und Bürgerkrieg, dem Raub der Westgebiete von Belorußland und der Ukraine und deren Anschluß an Polen zustimmen.

Die am 23. August vereinbarte Demarkationslinie verlief allerdings noch weiter westlich von der Grenze von West-Weißrußland und der West-Ukraine; sie wurde aber in den neuerlichen Verhandlungen zur Abgrenzung der Interessensphären vom 28. September 1939 auf diese Linie zurückgenommen. Die von Polen 1920 geraubten sowjetischen Gebiete holte jetzt die Sowjetführung zurück, womit sie erstens ein von Polen begangenes historisches Unrecht überwand. Diese jetzige Grenzlinie war genau die Linie, die der britische Außenminister Curzon 1919 als Grenze zwischen Polen und Sowjetrußland vorgeschlagen hatte. Zweitens bewahrte diese Grenze diese Gebiete und ihre Bevölkerung davor, von der faschistischen Wehrmacht sofort okkupiert zu werden; drittens gewann die Sowjetunion durch die Verlegung der Grenze nach Westen eine bessere Verteidigungslinie gegen den sicher kommenden deutschen Überfall.

Der britische Premierminister Winston Churchill kommentierte dieses Grenzabkommen am 1. Oktober 1939 im britischen Rundfunk mit folgenden Worten: "Daß die russischen Armeen auf dieser Linie stehen, ist für die Sicherheit Rußlands gegen die deutsche Gefahr absolut notwendig."

Die baltischen Staaten

Ähnliches trifft auf die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zu. Sie standen im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedlichem Maße zwischen den um die Herrschaft über dieses Gebiet und die dort befindlichen estnischen, lettischen und litauischen Staatsgebilde konkurrierenden Mächte: dem Deutschen Orden, Schweden, Polen und Rußland. Mit der Entwicklung des Kapitalismus entstand in allen drei Ländern ein eigenes Proletariat und eine eigene Arbeiterbewegung, die ihre stärksten Impulse aus Russland empfingen. In Lettland und Litauen wurden sozialdemokratische Arbeiterparteien gegründet, 1896 in Litauen, 1904 in Lettland; diese schloß sich bereits 1906 der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands an. Starke Impulse gingen für die revolutionäre Bewegung aller drei Länder von der russischen Revolution 1905/07 aus. Die Arbeiter Estlands nahmen an ihr aktiv teil, und in Lettland wurde sie aktiv unterstützt.

An der Oktoberrevolution waren die Werktätigen aller drei Länder beteiligt, in allen dreien wurde die Sowjetmacht errichtet. Sie wurde jedoch dort durch ausländische Intervention, vor allem von deutschen Truppen, gestürzt und reaktionären bürgerlichen Regimes Platz geschaffen. In Litauen und Lettland wurden diese durch faschistische Regimes abgelöst, in Litauen schon 1926, in Lettland 1934. Beim Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages kam von den drei baltischen Staaten Litauen zunächst in die deutsche Interessensphäre.

Nachdem die deutschen Truppen Polen überfallen und große Teile Polens besetzt hatten und die polnische Regierung nach Rumänien geflohen war, begann die Sowjetarmee am 17. September mit der Besetzung der zu ihrer Interessensphäre gehörenden Gebiete. Auf Forderung der Sowjetunion wurden mit Deutschland nochmals Verhandlungen über die endgültige Abgrenzung der gegenseitigen Interessensphären geführt, und mit dem sogenannten "Freundschafts- und Grenzabkommen" vom 28. September 1939 abgeschlossen.

Der Inhalt dieses Abkommens bezeugt, daß von Seiten der Sowjetunion nicht von Freundschaft zu Deutschland, sondern nur von Mißtrauen die Rede sein konnte. Denn die wichtigste Änderung gegenüber der ersten Festlegung vom August bestand darin, daß Deutschland Litauen, das damals Deutschland als zu seiner Interessensphäre gehörig beansprucht und zugesprochen erhalten hatte, nunmehr - wie vorher schon die anderen baltischen Staaten Estland und Lettland - zur Interessensphäre der Sowjetunion gehörig anerkennen mußte. Es zeugt von der weiten Voraussicht der sowjetischen Führung, daß sie zugleich die Westgrenze ihrer Interessensphäre in Ostrichtung bis zur Curzon-Linie zurücknahm.

Auch dazu noch einmal Churchills Kommentar: "Als Herr von Ribbentrop in der vorigen Woche nach Moskau gerufen wurde, da geschah das, damit er von der Tatsache erfahre und Notiz nehme, daß den Absichten der Nazis auf die baltischen Staaten und die Ukraine ein Ende gesetzt werden muß."(15)

Was die Bezeichnung "Freundschafts- und Grenzabkommen" betrifft, so kann mit Sicherheit gesagt werden, daß es die deutsche Seite war, die auf die Einfügung des Wortes "Freundschaft" gedrängt hatte. Sie hatte das bereits im August versucht, damals allerdings vergeblich. In den Aufzeichnungen des Leiters der Rechtsabteilung des deutschen Auswärtigen Amtes, Friedrich Gaus, heißt es darüber: "Herr von Ribbentrop hatte persönlich in die Präambel des von mir angefertigten Vertragsentwurfes eine ziemlich weitgehende Wendung betreffend freundschaftlicher Gestaltung der deutsch-sowjetischen Beziehungen eingefügt, die Herr Stalin mit der Bemerkung beanstandete, daß die Sowjetregierung, nachdem sie sechs Jahre lang von der nationalsozialistischen Reichsregierung mit 'Kübeln von Jauche' überschüttet worden sei, nicht plötzlich mit deutsch-russischen Freundschaftsversicherungen an die Öffentlichkeit treten könnte. Der betreffende Passus ... wurde gestrichen bzw. geändert."(16)

Ein Vertrag ganz im Leninschen Sinne...

Seit Chruschtschows Verleumdungsrede auf dem XX. Parteitag wird vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag behauptet, mit ihm habe Stalin den Grundsätzen Lenins zuwider gehandelt. Lenin aber hat vor Moskauer Parteifunktionären am 26. November 1920 als Pflicht der Sowjetregierung das Folgende festgestellt:

"Vorläufig sitzen die Imperialisten da und warten auf einen günstigen Augenblick, um die Bolschewiki zu vernichten. Wir aber schieben diesen Augenblick hinaus. ... Noch mehr würde uns der Umstand retten, wenn die imperialistischen Mächte sich in einen Krieg verwickelten. Wenn wir gezwungen sind, solche Lumpen wie die kapitalistischen Diebe zu dulden, von denen jeder das Messer gegen uns wetzt, so ist es unsere direkte Pflicht, diese Messer gegeneinander zu richten. Wenn zwei Diebe streiten, so gewinnen dabei die ehrlichen Leute."(17)

Genau das hat die Sowjetführung mit dem Abschluß des Nichtangriffsvertrages getan. Und noch mehr: sie hat damit die Westmächte gezwungen, nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 in ein ungeliebtes, unfreiwilliges Bündnis mit der Sowjetunion einzutreten, da nach dem deutschen Überfall auf Norwegen, Dänemark, Luxemburg, Belgien und Frankreich, nach dem Bombenkrieg gegen England, ihre Völker ihnen keinen Frontwechsel mehr erlaubt hätten. Immerhin zogen sie die versprochene Eröffnung der Zweiten Front zwei Jahre hinaus, so lange, bis sie erkennen mußten, daß die Sowjetunion auch ohne Zweite Front die Nazibestie alleine in Berlin zur Strecke bringen würde.

Der Nichtangriffsvertrag war also wirklich verheerend - aber für Nazideutschland und die finsteren Pläne der Truman und Konsorten!

Für den Schweizer Historiker Walther Hofer waren die zitierten Ausführungen Lenins der Beweis dafür, daß sich die Sowjetführung beim Abschluß des Nichtangriffsvertrages geradezu wortwörtlich an Lenins Weisungen gehalten hat. Ist es nicht traurig, daß ein bürgerlicher Historiker wie Hofer mehr Verständnis für den Klasseninhalt der damaligen Politik der Sowjetführung an den Tag legt als z.B. das Dreigestirn?

Die finnische Regierung im Bündnis mit dem westlichen Imperialismus

Mit dem Abschluß des Nichtangriffsvertrages hatte die Sowjetführung einen wichtigen Schritt getan zur Schaffung besserer Voraussetzungen für eine erfolgreiche Abwehr eines künftigen faschistischen Überfalles. Aber es gab noch ein schwieriges Problem zu lösen. Die Sowjetführung war sich darüber klar, daß bei einem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion das faschistische Finnland an Hitlers Seite sein würde und bei einem deutsch-finnischen Angriff wegen der Nähe der Grenze zu Finnland - nur 30 Kilometer - Leningrad nicht gehalten werden konnte. Aber die Stadt Lenins, die Wiege der Oktoberrevolution, durfte auf keinen Fall in die Hände des faschistischen Feindes fallen.

Deshalb unterbreitete die Sowjetregierung der finnischen Regierung den Vorschlag, im Austausch gegen Gebiete in Sowjet-Karelien die finnische Grenze bei Leningrad um etliche Kilometer nach Westen zu verlegen. Die entsprechenden karelischen Gebiete hätten das Doppelte des Gebietes betragen, das bei Leningrad an die Sowjetunion gekommen wäre. Durch diesen Gebietsaustausch wäre die Unabhängigkeit Finnlands - die ja erst nach der Oktoberrevolution durch die Sowjetregierung gewährt worden war - in keiner Weise angetastet worden, die finnische Regierung hätte aber ihren Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen zu ihrem sowjetischen Nachbarn unter Beweis stellen können.

Die finnische Regierung lehnte jedoch in schroffer und provokatorischer Weise den sowjetischen Vorschlag ab. Sie wurde dazu angestachelt sowohl durch die deutschen als auch durch die englischen, französischen und US-Imperialisten. Die westlichen Imperialisten sahen in einem kriegerischen Konflikt zwischen Finnland und der Sowjetunion eine Möglichkeit, dem zweiten Weltkrieg doch noch nachträglich die von ihnen gewünschte Wendung zu geben, nämlich zu einem Krieg zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion, der die Möglichkeit eröffnet, mit der Sowjetmacht endlich Schluß zu machen.

"Die herrschenden Kreise Großbritanniens und Frankreichs gingen von folgendem aus: Wenn keine aktiven Kriegshandlungen gegen die Wehrmacht geführt, gleichzeitig aber politischer und wirtschaftlicher Druck auf Deutschland ausgeübt werde, so würde die deutsche Führung früher oder später dazu bewegt werden können, die Aggression im Osten weiterzuführen. Obgleich sich die Hoffnung der reaktionären Kreise in London und Paris, Deutschland werde nach der Zerschlagung Polens sofort die Sowjetunion überfallen, nicht erfüllte, gaben sie den Gedanken nicht auf, den Krieg, der zwischen den kapitalistischen Mächten begonnen hatte, in einen Krieg gegen die Sowjetunion umzuwandeln.

Statt wirksame Maßnahmen zum Kampf gegen das faschistische Deutschland zu ergreifen, wurden in den Regierungskreisen und Militärbehörden Großbritanniens und Frankreichs Pläne für diplomatische, wirtschaftliche und militärische Vorbereitungen zum Krieg gegen die Sowjetunion ausgearbeitet. Vorgesehen war, im Norden die finnisch-sowjetischen Gegensätze auszunutzen und unter dem Vorwand der Hilfe für Finnland einen Schlag gegen Leningrad und Murmansk zu führen. Es sollte ein 150.000 Mann starkes anglo-französisches Expeditionskorps aufgestellt und nach Finnland verlegt sowie im Raum Petsamo eine alliierte Invasionstruppe angelandet werden, die gemeinsam mit den finnischen Truppen in Richtung Kandalakscha vorstoßen und die Eisenbahnstrecke Murmansk-Leningrad abschneiden sollte."(18)

"Ermuntert von den Westmächten und von Hitlerdeutschland, konzentrierten sich finnische Truppen in den Grenzgebieten und verübten Ende November wiederholt Feuerüberfälle."(19)

Der finnisch-sowjetische Krieg

Angesichts der drohenden Gefahr eines kombinierten Angriffs zugleich von Seiten Finnlands und Deutschlands, und auch Frankreichs und Englands entschloß sich die Sowjetregierung, einem solchen Schritt zuvorzukommen.

Am 29. November 1939 gab der sowjetische Außenminister Molotow in einer Rundfunkrede bekannt:

"Die Regierung kann die entstandene Lage nicht länger dulden, für die der Regierung Finnlands die volle Verantwortung zufällt.... Das einzige Ziel unserer Maßnahmen ist, die Sicherheit der Sowjetunion und besonders Leningrads mit seinen dreieinhalb Millionen Einwohnern zu gewährleisten. In der gegenwärtigen, durch den Krieg überhitzten internationalen Situation können wir die Lösung dieser lebenswichtigen und unaufschiebbaren Aufgaben des Staates nicht vom bösen Willen der gegenwärtigen finnischen Machthaber abhängig machen."

Mit den angekündigten Maßnahmen begann die Sowjetarmee am folgenden 30. November, womit der finnisch-sowjetische Krieg, der sogenannte Winterkrieg, seinen Anfang nahm: Den Widerstand der finnischen Armee zu brechen, dauerte zwar länger, als erwartet - vor allem wegen der stark befestigten "Mannerheim-Linie" -, aber es gelang doch noch, bevor die Westmächte ihre geplanten Absichten in die Tat umsetzen konnten: Mannerheim mußte sich geschlagen geben und Finnland unterzeichnete am 12. März 1940 den Friedensvertrag mit der Sowjetunion, durch den der Abstand zwischen Leningrad und der finnischen Grenze von bisher 30 auf 150 Kilometer vergrößert wurde.

Wie berechtigt und notwendig das Vorgehen der Sowjetunion war, das bewies Finnland wenige Monate später durch seine Teilnahme am Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 und an den blutigen Kämpfen um die Einnahme Leningrads, die aber dank der Grenzverlegung und der dadurch möglich gewordenen stark ausgebauten Verteidigungslinie erfolglos blieben.

Der Krieg gegen Finnland taugt auch nicht dazu, die These von der "Macht ohne Moral" zu stützen - er war im Gegenteil motiviert von höchster revolutionärer, kommunistischer Moral - der Sicherung der Stadt Lenins, der Geburtsstadt der Oktoberrevolution, und der Bewahrung der Leningrader vor der faschistischen Okkupation.

Und wie weiter nach dem Sieg über Hitlerdeutschland?

Nach dem Sieg über das faschistische Deutschland stand die Sowjetführung wiederum vor einer schweren Entscheidung. Sie betraf die Unterstützung revolutionärer Bewegungen in den Ländern der Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition.

Dank des weltweit gewaltig gewachsenen Ansehens der Sowjetunion und dank der führenden Rolle der Kommunisten in den Widerstandsbewegungen gegen die faschistischen Okkupanten und deren Handlanger in der eigenen Bourgeoisie hatte sich in einigen Ländern eine Situation entwickelt, in der eine Weiterführung des Kampfes unter Führung der Kommunistischen Partei zum Sturz der alten kapitalistischen Macht möglich oder sogar schon - wie in Griechenland - im Gange war.

Damit erhob sich vor der Sowjetführung die Frage, wie sie sich in einem solchen Falle zu verhalten habe - ob sie nicht zu einer aktiven Unterstützung verpflichtet sei, oder ob sie im Falle der Niederwerfung eines solchen Versuches tatenlos bleiben dürfe bzw. müsse.

Die Antwort auf diese Frage konnte nicht nach abstrakten Prinzipienerklärungen, sondern nur auf der Grundlage einer nüchternen Analyse des konkreten Klassenverhältnisses gegeben werden. Die aber sah so aus:

Erstens: Nach dem Verlust von über 20 Millionen Menschen und der Verwüstung großer Teile des Landes durch die faschistischen Barbaren brauchte die Sowjetunion nichts dringender als Frieden.

Zweitens: Die reaktionären Kräfte der imperialistischen Siegermächte waren nicht bereit, sich mit der durch die Befreiung und die Besetzung Osteuropas durch die Rote Armee geschaffenen Lage abzufinden, sondern hatten ihre Absicht, die Sowjetmacht wieder aus der Welt zu schaffen, nicht aufgegeben. Deutlich sichtbar war das daran, daß auf Churchills Geheiß die deutschen Truppen, die sich in Schleswig-Holstein den Engländern ergeben hatten, nicht als Kriegsgefangene behandelt, sondern im Jahre 1945 als einsatzfähige internierte Truppenteile in Bereitschaft gehalten wurden.

Die Rolle der USA und die griechische Widerstandbewegung

Und erst recht waren sie entschlossen, in ihrem Machtbereich auch mit Waffengewalt jeden Versuch einer kommunistischen Machteroberung niederzuwerfen, wie sie das in Griechenland taten. Dort hatten sich im Kampfe gegen die faschistischen Okkupanten eine starke Widerstandsbewegung unter Führung der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) gebildet, die nach der Vertreibung der Deutschen die von ihnen eroberten Gebiete auch gegen die Engländer, die in Griechenland gelandet waren und die Deutschen, zugleich aber auch die Widerstandsbewegung bekämpften, verteidigte.

Nachdem die Griechische Regierung 1944 aus der Emigration nach Athen zurückkehrte, führte sie, unterstützt von den Engländern, einen erbitterten Bürgerkrieg gegen die Widerstandsbewegung. Deren Streitkräfte formierten sich im Oktober 1946 zur "Demokratischen Armee Griechenlands", und in den von ihr befreiten und gehaltenen Gebieten bildete sich im Dezember 1947 die "Provisorische Demokratische Regierung".

Wie sehr man in den USA von der Stärke der kommunistisch geführten griechischen Widerstandsbewegung beunruhigt war, beweist ein Sonderbericht des Rats für Sicherheit der Vereinigten Staaten vom 16. Januar 1948, in dem es heißt:

"Die Sicherheit des östlichen Mittelmeeres und des Mittleren Ostens ist vital für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. ... Die Sicherheit des gesamten östlichen Mittelmeeres und des Mittleren Ostens wird Gefahr laufen, wenn der Sowjetunion in ihren Bemühungen gelingt, die Kontrolle über Italien, Griechenland, die Türkei und Persien zu erwerben. Im Lichte des soeben Ausgeführten müßte demnach die Politik der Vereinigten Staaten gemäß den Prinzipien und dem Geist der Charta der Vereinten Nationen die Sicherheit des östlichen Mittelmeeres und des Mittleren Ostens gewährleisten. Als notwendige Folge dieser Politik müßten die Vereinigten Staaten zur Aufrechterhaltung der nationalen Integrität und der politischen Unabhängigkeit Italiens, Griechenlands, der Türkei und Persiens helfen. Indem die Vereinigten Staaten diese Politik betreiben, müssen sie bereit sein, von ihrer politischen, ökonomischen und nötigenfalls ihrer militärischen Macht Gebrauch zu machen auf eine Weise, die als die wirksamste betrachtet wird."(20)

Den massiven Angriffen konnte die Demokratische Armee nicht länger standhalten. Der Generalsekretär der KKE, Nikos Zachariadis, fuhr im April 1949 deshalb nach Moskau zur Beratung mit der sowjetischen Führung, die zu dem Ergebnis führte, daß der Kampf eingestellt werden müsse und die Kämpfer in den sozialistischen Ländern - Albanien, Bulgarien und Sowjetunion - Aufnahme finden würden.

Besonders das Beispiel des griechischen Bürgerkrieges macht deutlich: angesichts des bestehenden internationalen Klassenkräfteverhältnisses entsprach den Interessen der Sowjetunion sowie der kommunistischen Bewegung in allen Ländern eine Politik, die darauf abzielte, das Bündnis mit den Westmächten und deren Bindung an die gemeinsam gefaßten Beschlüsse - vor allem das Potsdamer Abkommens und die Charta der Vereinten Nationen - so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Das Potsdamer Abkommen und die Stalin-Note

Die Erhaltung des Friedens in Europa und die Stärkung seiner progressiven Kräfte hing entscheidend von der Entwicklung in Deutschland ab.

Deshalb kam der strikten Verwirklichung der Festlegungen des Potsdamer Abkommens zur Ausrottung des Faschismus mit seinen Wurzeln, der Enteignung der Naziförderer und der Kriegsverbrecher-Monopole, der konsequenten Demokratisierung und Entmilitarisierung Deutschlands erstrangige Bedeutung zu.

Die Verwirklichung dieser Beschlüsse hätte in ganz Deutschland eine antifaschistisch-demokratische Friedensordnung errichtet und es zum Zentrum und Ausgangspunkt für eine entsprechende Entwicklung in seinen westlichen und südlichen Nachbarländern, zu einem wirtschaftlich und politisch starken Partner seiner östlichen sozialistischen Nachbarn gemacht.

Deshalb schlug die Sowjetunion 1952 mit der Stalin-Note ihren Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition noch einmal die Einigung auf die Errichtung eines einheitlichen, demokratischen entmilitarisierten und neutralen Deutschland, wie es im Potsdamer Abkommen vorgesehen war, vor.

Eine solche Politik entsprach nicht nur der politischen Vernunft, sondern auch der kommunistischen Moral.

Fidel Castro als Kronzeuge gegen Stalin?

Das Dreigestirn, das glaubt, Fidel Castro als Kronzeugen dafür zitieren zu dürfen, daß Hans Heinz Holz ein Fürsprecher von "Kampf um Machterhalt ohne moralische und ethische Grenzen" ist, sei zum Schluß mit Aussagen von Fidel Castro über Chruschtschow bekannt gemacht, die sie vielleicht dazu veranlassen, darüber nachzudenken, ob sie ihr Bild von Chruschtschow als dem glaubwürdigen "Verkünder der Wahrheit über die Verbrechen Stalins" noch länger aufrechterhalten können.

Fidel Castros 780seitiges Buch "Mein Leben" (in deutscher Sprache 2008 im Rotbuch Verlag, Berlin erschienen), entstand aus einem langwährenden Interview des in Spanien geborenen, aber in Paris lehrenden Medienwissenschaftlers Ignacio Ramonet mit Fidel.

Die zweifelhafte Rolle Chruschtschows in der "Kuba-Krise" 1962

Im Kapitel 13 ("Oktoberkrise 1962") befragt Ramonet Fidel über Ursachen und Verlauf der Kuba-Krise und die Rolle, die dabei Chruschtschow spielte. Fidel überrascht dabei mit einer zuweilen äußerst scharfen Kritik am Verhalten Chruschtschows, das in großem Kontrast steht zu gelegentlichen Äußerungen großen Lobes und großer Hochschätzung für ihn, die offenbar dem Repräsentanten des Staates galten, der für alle Kubaner der Garant des Schutzes Kubas vor einer US-amerikanischen Intervention und der unentbehrliche Helfer bei der Durchbrechung des würgenden Wirtschaftsembargos der USA war. Die folgenden Auszüge aus dem Kapitel 13 (S. 300-317) machen deutlich, welch zweifelhafte Rolle Chruschtschow in der Kuba-Krise spielte.

Zunächst wird deutlich: Nicht die Kubaner haben um die Installierung sowjetischer Raketen gebeten, sondern die sowjetische Seite, genauer: Chruschtschow hat sie ihnen mehr oder weniger aufgedrängt.

Fidel: "Meiner Meinung nach wurde der Wunsch deutlich, das Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zugunsten Letzterer zu verbessern.. Ich gestehe, daß ich mich nicht besonders wohl bei dem Gedanken fühlte, diese Waffen in Kuba zu haben. Wir wollten nie, daß der Eindruck entsteht, unser Land sei eine sowjetische Militärbasis. ...

Zurück an dem Ort, wo die beiden sowjetischen Vertreter warteten, sagte ich ihnen wörtlich: Wenn es darum geht, Kuba vor einem direkten Angriff zu schützen und gleichzeitig die UdSSR und das sozialistische Lager zu stärken, dann sind wir mit der Stationierung der nötigen Mittelstreckenraketen einverstanden. ....

Trotz all dieser Anstrengungen (zur Geheimhaltung der Raketenstationierung) zirkulierten die Gerüchte überall. ...

Die Regierungen der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten gerieten in eine byzantinische und seltsame Diskussion über den offensiven oder defensiven Charakter der in Kuba stationierten Waffen. ­...

Es gab für die UdSSR überhaupt keine Notwendigkeit, sich in solche Erklärungen zu verstricken. Was Kuba und die Sowjetunion taten, war völlig legal und strikt konform mit internationalem Recht. Chruschtschow hätte vom ersten Augenblick an erklären müssen, daß Kuba über die notwendigen Waffen zu seiner Verteidigung verfügte.

Uns gefiel die Richtung nicht, die die öffentliche Debatte nahm. Ich entsendete Che, Industrieminister und Mitglied der nationalen Leitung der ORI (Integrierte revolutionäre Organisationen) zu Chruschtschow, um ihm meinen Standpunkt darzulegen, einschließlich der Notwendigkeit, sofort das von der UdSSR und Kuba unterzeichnete Militärabkommen zu veröffentlichen.

Ich konnte ihn nicht überzeugen. Chruschtschows Antwort lautete, daß er später die Baltische Flotte schicken würde, um die Vereinigten Saaten von einer zu vehementen Reaktion abzuhalten. Für uns, die Anführer der Kubanischen Revolution, war die UdSSR ein mächtiger und erfahrener Staat. Wir hatten kein anderes Argument, um sie davon zu überzeugen, daß die Strategie im Umgang mit dieser Angelegenheit geändert werden müßte, und uns blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen."

Ramonet: Wie begann die Krise?

Fidel: "Zwischen dem 14. Und 15. Oktober entdeckten die US-Amerikaner die Raketenstellungen. Ein U-2-Spionageflugzeug fotografierte aus großer Höhe einige Abschußrampen. Heute ist bekannt, daß es ein Mitglied des sowjetischen Geheimdienstes war, Oleg Penkowski, der den US-Amerikanern die genaue Position der Raketen durchgab... (Penkowski wurde einige Tage später von sowjetischer Seite festgenommen, S.303.) Kennedy wurde am 16. Oktober informiert, und sechs Tage später kam es zur Krise.

Das Unglaubwürdige am Verhalten Chruschtschows war, daß es während der Aufstellung der Boden-Luft-Raketen im ganzen Land nicht möglich gewesen sein sollte, zu verhindern, daß die Spionageflugzeuge die sowjetisch-kubanischen Abwehrmaßnahmen entdeckten. Das hatte bereits nichts mehr mit Taktik und Strategie zu tun. Es war eine Entscheidung, verbunden mit der Bereitschaft, eine wirklich feste Haltung angesichts der geschaffenen Situation zu bewahren oder nicht. Von unserem Standpunkt aus, den wir damals vertraten und den ich auch heute noch vertrete, gewährten wir dem Gegner damit, Spionageflugzeuge einzusetzen, ohne Not einen ungemeinen Vorteil. Dadurch verfügte er über eine ganze Woche, um seine Antwort, sowohl politisch wie militärisch, zu planen. Als die Krise dann vom Zaun gebrochen wurde, hatte Chruschtschow keine klare Vorstellung davon, was zu tun sei.

Ramonet: Was taten die Vereinten Nationen in dieser Situation

Fidel: Es kam, wie ich es bewerten würde, zu der beschämenden Debatte zwischen dem US-amerikanischen Botschafter, Adlai Stevenson, und dem sowjetischen Botschafter, Walerian Sorin. Stevenson präsentierte dem Sicherheitsrat auf spektakulär Weise Fotos von den strategischen Raketenstellungen. Der sowjetische Botschafter leugnete die Existenz und die Authentizität dieser Beweisfotos. Er verweigerte jede Diskussion. Es war alles improvisiert, der Mann war nicht vorbereitet auf eine Diskussion. Er griff nicht an, klagte nicht an, brachte keinen der berechtigten Gründe vor, die Kuba - ein kleines und angegriffenes Land, das von der Supermacht bedroht war - hatte, um die UdSSR um Hilfe zu bitten, und die ihrerseits die UdSSR hatte, diese Hilfe zu gewähren, getreu ihren Prinzipien und den internationalen Verpflichtungen. Stattdessen ließ er sich auf eine schwache Argumentation ein, die dem Zögern und der schlechten öffentliche Handhabe des Themas durch Chruschtschow schon vor Ausbruch der Krise entsprang. Er hatte den Fehler begangen, die wirkliche Debatte zu vermeiden, die Debatte, die über die Souveränität Kubas und sein Recht, sich zu verteidigen, sich zu schützen, zu führen gewesen wäre. Das war am 25. Oktober 1962."

Ramonet: Während dessen ... haben die US-Amerikaner Kuba weiter überflogen, oder?

Fidel: "Sie flogen weiter über unser Territorium, und man ließ es ungestraft zu. Trotz der Luftabwehrraketen, die zuvor aufgestellt worden waren, um eben das zu verhindern: die offene und schamlose Spionage über dem nationalen Territorium, wodurch jedes kleine Detail unserer Verteidigung ausspioniert wurde. Sie schickten weiterhin ihre U-2-Spionageflugzeuge und begannen auch mit Aufklärungsflügen in sehr niedriger Höhe. Wir beschlossen, auf jene US-amerikanischen Flugzeuge zu schießen, die im Tiefflug ankamen. Es gab damals noch keine Möglichkeit, diese aufzuspüren, so daß die Gefahr eines Überraschungsangriffes bestand. Wir brachten das gegenüber den verantwortlichen sowjetischen Militärs zur Sprache und sagten ihnen, daß die Tiefflüge nicht gestattet sein sollten. Wir informierten sie vorher, daß wir schießen würden, und eröffneten das Feuer mit der Flugabwehrartillerie. Am 27. Oktober schoß eine Flugabwehrrakete SAM, die von den Sowjets manövriert wurde, ein Spionageflugzeug vom Typ U-2 ab. Das war in der Provinz Oriente und der Augenblick maximaler Spannung."

Ramonet: Glaubten Sie an einem bestimmten Punkt, das der Krieg unvermeidlich war?

Fidel: "Wir selbst glaubten, daß der Konflikt unvermeidlich war, und waren bereit, dieses Risiko einzugehen. ...In diesem Augenblick höchster Anspannung unterbreiteten die Sowjets den Vereinigten Staaten einen Vorschlag, und Chruschtschow konsultierte uns nicht. Sie schlugen vor, die Raketen zurückzuziehen, wenn die Vereinigten Saaten im Gegenzug Jupiter-Raketen aus der Türkei abziehen würden. Kennedy akzeptierte diesen Handel am 28. Oktober, und die Sowjets beschlossen, die SS-4-Raketen abzuziehen. Uns erschien das absolut nicht korrekt. Dieser Vorgang verursachte viel Empörung."

Ramonet: Hatten Sie den Eindruck, daß diese Vereinbarung hinter Ihrem Rücken getroffen worden war?

Fidel: "Wir erfuhren über öffentliche Kanäle, daß die Sowjets einen Abzug der Raketen vorschlugen. Und das war zu keiner Sekunde mit uns abgesprochen worden! Wir waren nicht gegen irgendeine Lösung, denn es war vorrangig, einen nuklearen Konflikt zu vermeiden. Aber Chruschtschow hätte den US-Amerikanern sagen müssen: 'Man muß das auch mit den Kubanern besprechen.' Es mangelte ihm in diesem Augenblick an Besonnenheit und Standhaftigkeit. Grundsätzlich hätten sie uns konsultieren müssen.

Wäre es so gewesen, wären die Bedingungen des Abkommens mit Sicherheit vorteilhafter ausgefallen. Der Marinestützpunkt Guantánamo wäre nicht in Kuba geblieben, und die Spionageflüge in großer Höhe hätten ebenfalls aufgehört. All das belastete uns sehr.

Wir protestierten. Und auch nach dem Übereinkommen nahmen wir weiterhin die Tiefflieger unter Beschuß, so daß sie sie aussetzen mußten. Unsere Beziehungen zur Sowjetunion verschlechterten sich. Das nahm über Jahre Einfluß auf unsere Zusammenarbeit."

Viele Seiten weiter (S. 315) fragt Ramonet Fidel, ob 1991 im Gegenzug für den Abzug der sowjetischen Brigaden aus Kuba nicht auch die Aufgabe der Militärbasis in Guan-tánamo durch die USA-Amerikaner zu erreichen gewesen wäre.

Fidels Antwort darauf:

"Das wäre einzig und allein während der Oktoberkrise (1962) möglich gewesen. Man hätte das leicht erreichen können, mit ein wenig Gelassenheit und kühlem Kopf, denn die Welt war nicht bereit, aufgrund der Launen der Regierung der Vereinigten Staaten einen Atomkrieg zu riskieren.

Wir haben fünf Forderungen gestellt. Unter anderem die Beendigung der Piratenangriffe und jeglicher Aktionen von Gewalt und Terrorismus gegen Kuba, die anschließend noch Jahrzehnte andauerten; die Beendigung der Wirtschaftsblockade und die Rückgabe unseres Territoriums, auf dem sich unrechtmäßig die US-Marinebasis Guantánamo befindet. All das hätte man innerhalb dieser dramatischen und angespannten Situation erreichen können, denn, wie ich schon sagte, niemand war bereit, einen Weltkrieg zu riskieren wegen einer Wirtschaftsblockade gegen Kuba, ein paar terroristischer Anschläge und einer illegalen Marinebasis, die sich gegen den Willen der kubanischen Bevölkerung auf ihrem Territorium befindet. Niemand hätte deswegen einen Weltkrieg provoziert...

Es gab viele politische und militärische Fehler, man muß sie kennen, um beurteilen zu können, was damals passierte. ...

Was wir nicht zuließen, war die - (von Chruschtschow ohne jede Rücksprache mit der kubanischen Seite mit Kennedy vereinbarte) - Inspektion. Wir protestierten, erklärten uns damit nicht einverstanden und forderten fünf Punkte.

Diese Bemerkung Fidels bezieht sich darauf, daß bei dem Gespräch Chruschtschow-Kennedy, in dem Chruschtschow - ohne jede vorherige Konsultation mit der Führung Kubas - den Abzug der sowjetischen Raketen vereinbarte und in das Abkommen - ebenfalls über den Kopf der Regierung Kubas hinweg - die Forderung Kennedys aufnahm, den Abzug der Raketen aus Kuba durch eine US-amerikanische Inspektion kontrollieren zu lassen. Chruschtschow behandelte also Kuba wie eine sowjetische Kolonie. Dagegen hatte Fidel in einem Brief an Chruschtschow vom 28. Oktober 1962 geschrieben: "Ich muß Sie auch davon in Kenntnis setzen, daß wir prinzipiell gegen eine Inspektion unseres Territoriums sind." (S. 209)... Und in einem weiteren Brief vom 31. Oktober schrieb er zu der Kungelei mit Kennedy über den Abzug der Raketen: "Die Gefahr konnte uns nicht schrecken, denn wir leben in unserem Land schon sehr lange Zeit mit ihr und haben uns in gewisser Weise an sie gewöhnt. ... Viele Menschen, sowohl Kubaner als auch Sowjets, die bereit gewesen wären, in höchster Würde zu sterben, brachen in Tränen aus, als sie von der überraschenden, unerwarteten und bedingungslosen Entscheidung hörten, die Waffen abzugeben."

In seinem Gespräch mit Ramonet, in dem er den kubanischen Protest gegen eine US-Inspektion auf Kuba erwähnte, gibt Fidel noch folgende sarkastische Einschätzung des Verhältnisses Chruschtschows zu Kennedy und zu dem Liebesdienst, den Chruschtschow Kennedy erwies als Ersatz für die von Fidel verweigerte Inspektion auf kubanischem Boden:

"Als nun die Sowjets - es war genau so, wie ich Ihnen das erzähle - mit den US-Amerikanern im Rahmen dieser Politik verhandelten, innerhalb dieses Techtelmechtels, das in diesen Tagen zwischen ihnen entstanden war, eine Art brennender Liebe inmitten eines kalten Krieges, beschlossen sie gemeinsam mit den US-Amerikanern die Inspektion auf offener See anstatt der Inspektion auf kubanischem Territorium."

Bietet dieser Abschluß dem Dreigestirn nicht einen hervorragenden Stoff für eine neue Studie über "Fidel Castro zu einer Machtpolitik ohne moralische und ethische Grenzen"?

Kurt Gossweiler, Berlin


Fußnoten

(11) http://www.jungewelt.de/2011/02-02/018.php?sstr=holz|dialektik

(12) zit. nach "Neues Deutschland" v. 22./23. Januar 2011, S. 2, "Niemals ist eine Bewegung derart verleumdet worden."

(13) Der zweite Weltkrieg. 1939-1945. Kurze Geschichte. Dietz-Verlag Berlin 1988, S. 233.

(14) Neues Deutschland v. 8./9 6.1996, Wolfgang Wünsche, "Fakten wider Behauptungen".

(15) Geschichtsfälscher. Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges, Berlin 1953, S.51.

(16) Kurt Gossweiler, Betrachtungen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag von 1939, in: "Wider den Revisionismus", München 1997, S.189 f.

(17) Zitiert von dem Schweizer Historiker Walther Hofer in seinem Buch: Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939. Frankfurt am Main und Hamburg, 1967, S. 102/03.

(18) Der zweite Weltkrieg 1939-1945. Kurze Geschichte. Dietz Verlag Berlin 1988, S. 62.

(19) Weltgeschichte in Daten, Berlin 1966, S. 1055.

(20) Alle Angaben zu Griechenland sind übernommen von einer Übersetzung des Buches "Die Dreijährige Epopöe der Demokratischen Armee Griechenlands 1946-1949. Gewidmet dem 80jährigen Bestehen der KKE. Athen 1998. Übersetzt von Thanassis Georgiu, in Berlin lebender Korrespondent des Parteiorgans Rizopastis der KKE.

Raute

Aus der letzten Ausgabe der "Trotz Alledem" der KPD(B): Zu den Ursachen des Revisionismus und anderer Abweichungen vom Marxismus-Leninismus in der Arbeiterbewegung

Vorbemerkung der Redaktion offen-siv: Wir drucken im folgenden eine von der KPD(B) mit einigen sehr richtigen Sätzen eingeleitete Dokumentation eines Artikels von W.I. Lenin aus der Nr. 1 der "Swesda", Vorläuferin der "Prawda"; erschien in Petersburg vom 16. (29.) Dezember 1910, nach. Wir tun das, weil die Verhältnisse es erfordern. (Red. offen-siv)

Trotz Alledem: Der Kampf gegen den Revisionismus, Reformismus, Opportunismus, Anarchismus und anderen vom Marxismus-Leninismus abweichenden Strömungen spielt in der kommunistischen Bewegung eine große Rolle. Dort, wo er nicht oder unzureichend geführt wurde oder wird, führt es stets zum Ergebnis, daß die marxistisch-leninistischen Parteien früher oder später von diesen Abweichungen, unter denen der Revisionismus die dominierende ist, durchsetzt und schließlich zerstört werden.

Die Geschichte hat uns dazu eine Reihe von Beispielen gezeigt, eine der dramatischsten Folgen solcher Entwicklungen war die in der Endkonsequenz erfolgreiche konterrevolutionäre Zerschlagung des Sozialismus in der UdSSR, DDR und anderen früheren sozialistischen Staaten.

Worin liegt aber nun die Ursache für das Auftreten solcher gegen den Marxismus-Leninismus gerichteten Abweichungen? Es gibt dazu einen interessanten Artikel von W.I. Lenin, "Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung", in dem sich Lenin mit dieser Frage befaßt. Er erklärt darin u.a., daß das Auftreten revisionistischer und reformistischer Abweichungen von der wissenschaftlichen Weltanschauung ihre Ursachen in ideologischen Schwankungen innerhalb der Arbeiterbewegung, als auch in der Strategie und Taktik der Bourgeoisie zur Bekämpfung der fortschrittlichen, insbesondere der kommunistischen Kräfte in der Arbeiterklasse liegen. Das Hauptziel der Bourgeoisie besteht darin, einerseits die Arbeiterklasse zu spalten und einen möglichst großen Teil der Arbeiter durch Reformversprechen usw. vom konsequenten Klassenkampf abzuhalten und dazu nicht zuletzt einige Arbeiterführer zu korrumpieren, und andererseits die konsequent den Kapitalismus bekämpfenden Arbeiter und deren Organisationen mit verdeckter oder offener Gewalt zu unterdrücken.

In der Konsequenz heißt das, daß Revisionismus und Reformismus, daß Abweichungen vom Marxismus-Leninismus letztlich immer objektiv den Klassenzielen der Bourgeoisie dienen und der Sache der Arbeiterklasse Schaden zufügen.


*


Nachfolgend drucken wir den Artikel "Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung", erschienen am 16.12.1910 in der "Swesda", ab:

W.I. Lenin: Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung [1](21)

(21) Die Anmerkungen findet Ihr am Schluss des Artikels!

Die grundlegenden taktischen Differenzen in der modernen Arbeiterbewegung Europas und Amerikas laufen auf den Kampf gegen zwei größere Richtungen hinaus, die vom Marxismus, der faktisch zur herrschenden Theorie in dieser Bewegung geworden ist, abweichen. Diese zwei Richtungen sind der Revisionismus (Opportunismus, Reformismus) und der Anarchismus (Anarchosyndikalismus, Anarchosozialismus). Diese beiden Abweichungen von der in der Arbeiterbewegung herrschenden marxistischen Theorie und marxistischen Taktik sind während der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der proletarischen Massenbewegung in verschiedenen Formen und verschiedenen Schattierungen in allen zivilisierten Ländern zu beobachten.

Schon diese Tatsache allein erhellt, daß sich diese Abweichungen weder aus Zufälligkeiten noch aus Irrtümern einzelner Personen oder Gruppen, noch selbst aus dem Einfluß nationaler Besonderheiten oder Traditionen usw. erklären lassen. Es muß tiefer liegende Ursachen geben, die in der Wirtschaftsordnung und im Charakter der Entwicklung aller kapitalistischen Länder wurzeln und diese Abweichungen ständig erzeugen. (Hervorhebung: Red. offen-siv)

Die im vorigen Jahr erschienene kleine Schrift des holländischen Marxisten Anton Pannekoek "Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung" (Hamburg, Erdmann Dubber, 1909) stellt einen interessanten Versuch dar, diese Ursachen wissenschaftlich zu erforschen. Wir wollen in den weiteren Ausführungen den Leser mit Pannekoeks Schlußfolgerungen bekannt machen, die man als durchaus richtig anerkennen muß.

Eine der tiefsten Ursachen, die periodisch taktische Differenzen erzeugen, ist die Tatsache des Wachstums der Arbeiterbewegung selbst. Mißt man diese Bewegung nicht mit dem Maß irgendeines phantastischen Ideals, sondern betrachtet sie als praktische Bewegung gewöhnlicher Menschen, dann wird klar, daß die Gewinnung immer neuer "Rekruten", die Einbeziehung neuer Schichten der werktätigen Masse unvermeidlich von Schwankungen in Theorie und Taktik, von Wiederholungen alter Fehler, von einer zeitweiligen Rückkehr zu veralteten Anschauungen und veralteten Methoden usw. begleitet sein muß. Auf die "Ausbildung" der Rekruten verwendet die Arbeiterbewegung jedes Landes periodisch größere oder kleinere Mengen von Energie, Aufmerksamkeit und Zeit.

Weiter. Die Entwicklung des Kapitalismus geht in den verschiedenen Ländern und auf den verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaft nicht gleich schnell vor sich. Die Arbeiterklasse und ihre Ideologen machen sich den Marxismus am leichtesten, schnellsten, vollständigsten und dauerhaftesten unter den Bedingungen der stärksten Entwicklung der Großindustrie zu eigen. Rückständige oder in ihrer Entwicklung zurückbleibende ökonomische Verhältnisse führen stets dazu, daß Anhänger der Arbeiterbewegung auftauchen, die sich lediglich einige Seiten des Marxismus, lediglich einzelne Teile der neuen Weltanschauung oder einzelne Losungen und Forderungen zu eigen machen, ohne imstande zu sein, mit allen Traditionen der bürgerlichen Weltanschauung im allgemeinen und der bürgerlich-demokratischen Weltanschauung im besonderen entschieden zu brechen.

Eine ständige Quelle der Differenzen bildet ferner der dialektische Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in Widersprüchen und durch Widersprüche vollzieht. Der Kapitalismus ist fortschrittlich, denn er vernichtet die alten Produktionsweisen und entwickelt die Produktivkräfte, zugleich aber hemmt er auf einer bestimmten Entwicklungsstufe das Wachstum der Produktivkräfte. Er entwickelt, organisiert und diszipliniert die Arbeiter - und er unterdrückt, unterjocht, führt zu Degeneration, Elend usw. Der Kapitalismus erzeugt selbst seinen Totengräber, schafft selbst die Elemente der neuen Ordnung, aber diese einzelnen Elemente ändern ohnen einen "Sprung" nichts an der allgemeinen Sachlage, rühren nicht an die Herrschaft des Kapitals.

Der Marxismus als Theorie des dialektischen Materialismus vermag diese Widersprüche des lebendigen Lebens, der lebendigen Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung zu erfassen. Aber es versteht sich von selbst, daß die Massen aus dem Leben und nicht aus Büchern lernen, und darum pflegen einzelne Personen oder Gruppen bald diesen, bald jenen Zug der kapitalistischen Entwicklung, bald die eine, bald die andere "Lehre" dieser Entwicklung aufzubauschen und sie zu einer einseitigen Theorie, zu einem einseitigen System der Taktik zu erheben.

Bürgerliche Ideologen, Liberale und Demokraten, die den Marxismus und die moderne Arbeiterbewegung nicht verstehen, fallen ständig hilflos von einem Extrem ins andere. Bald suchen sie alles daraus zu erklären, daß böse Menschen eine Klasse gegen die andere "aufhetzen", bald trösten sie sich damit, daß die Arbeiterpartei eine "friedliche Reformpartei" sei.

Als direktes Produkt dieser bürgerlichen Weltanschauung und ihres Einflusses sind sowohl der Anarchosyndikalismus als auch der Reformismus zu betrachten; sie klammern sich an eine Seite der Arbeiterbewegung, erheben die Einseitigkeit zur Theorie und erklären Tendenzen oder Züge dieser Bewegung, die eine spezifische Besonderheit dieser oder jener Periode, dieser oder jener Bedingungen des Wirkens der Arbeiterklasse darstellen, für einander ausschließend. Das wirkliche Leben aber, die wirkliche Geschichte schließt diese verschiedenen Tendenzen in sich ein, ähnlich wie das Leben und die Entwicklung in der Natur sowohl langsame Evolution als auch jähe Sprünge, Abbrechen der Allmählichkeit in sich einschließen.

Die Revisionisten halten alle Betrachtungen über "Sprünge" und über den prinzipiellen Gegensatz der Arbeiterbewegung zur ganzen alten Gesellschaft für Phrasen. Sie halten Reformen für eine teilweise Verwirklichung des Sozialismus. Der Anarchosyndikalist lehnt die "Kleinarbeit", insbesondere Ausnutzung der Parlamentstribüne, ab. In Wirklichkeit läuft diese Taktik darauf hinaus, die "großen Tage" abzuwarten, ohne zu verstehen, die Kräfte zu sammeln, die die großen Ereignisse hervorbringen.

Die einen wie die anderen hemmen die wichtigste, die dringenste Arbeit: den Zusammenschluß der Arbeiter zu großen, starken, gut funktionierenden Organisationen, die imstande sind, unter allen Bedingungen gut zu funktionieren, die vom Geist des Klassenkampfes durchdrungen sind, klar ihre Ziele erkennen und in wahrhaft marxistischer Weltanschauung erzogen werden.

Hier erlauben wir uns eine kleine Abschweifung und bemerken in Parenthese, um eventuellen Mißverständnissen vorzubeugeu, daß Pannekoek seine Analyse ausschließlich mit Beispielen aus der westeuropäischen Geschichte, besonders der Geschichte Deutschlands und Frankreichs, illustriert, ohne im geringsten an Rußland zu denken. Wenn es mitunter scheint, als spiele er auf Rußland an, so kommt dies nur daher, daß die Grundtendenzen, die bestimmte Abweichungen von der marxistischen Taktik erzeugen, auch bei uns in Erscheinung treten, ungeachtet der gewaltigen Unterschiede, die in Kultur und Lebensformen sowie in Geschichte und Wirtschaft zwischen Rußland und dem Westen bestehen.

Eine außerordentlich wichtige Ursache, die unter den Teilnehmern der Arbeiterbewegung Differenzen erzeugt, sind schließlich die Veränderungen in der Taktik der herrschenden Klassen im allgemeinen und der Bourgeoisie im besonderen. Wäre die Taktik der Bourgeoisie immer die gleiche oder zumindest gleichartig, so würde die Arbeiterklasse rasch lernen, sie mit einer ebenso gleichbleibenden oder gleichartigen Taktik zu beantworten. In Wirklichkeit bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese zwei Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten.

Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Aufrechterhaltung aller alten und überlebten Institutionen, die Methode der unnachgiebigen Ablehnung von Reformen. Darin besteht das Wesen der konservativen Politik, die in Westeuropa immer mehr aufhört, die Politik der Grundbesitzerklassen zu sein, die immer mehr zu einer der Spielarten der allgemeinen bürgerlichen Politik wird. Die zweite Methode ist die Methode des "Liberalismus", der Schritte in Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw.

Nicht aus böser Absicht einzelner Personen und nicht zufällig geht die Bourgeoisie von der einen Methode zur anderen über, sondern infolge der radikalen Widersprüche ihrer eigenen Lage. Die normale kapitalistische Gesellschaft kann sich nicht erfolgreich entwickeln ohne ein gefestigtes Repräsentativsystem, ohne gewisse politische Rechte der Bevölkerung, die selbstverständlich verhältnismäßig hohe Ansprüche in "kultureller" Hinsicht stellt. Diese Ansprüche auf ein bestimmtes Minimum an Kultur werden erzeugt durch die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise selbst mit ihrer hohen Technik, ihrer Kompliziertheit, Elastizität, Beweglichkeit, mit der raschen Entwicklung der Weltkonkurrenz usw.

Schwankungen in der Taktik der Bourgeoisie, Übergänge vom System der Gewaltanwendung zum System von Scheinzugeständnissen sind infolgedessen charakteristisch für die Geschichte aller europäischen Länder im letzten halben Jahrhundert, wobei die verschiedenen Länder in bestimmten Perioden vorwiegend die eine oder die andere Methode entwickelten. So war zum Beispiel in den sechziger und siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts England das klassische Land der "liberalen" bürgerlichen Politik, das Deutschland der siebziger und achtziger Jahre hielt sich an die Methode der Gewalt usf.

Als diese Methode in Deutschland herrschte, war der einseitige Widerhall auf dieses bürgerliche Regierungssystem das Anwachsen des Anarchosyndikalismus oder, wie er damals genannt wurde, des Anarchismus in der Arbeiterbewegung (die "Jungen" zu Beginn der neunziger [2], Johann Most zu Beginn der achtziger Jahre [3]). Als 1890 eine Wendung zu "Zugeständnissen" eintrat, erwies sich - wie immer - diese Wendung als noch gefährlicher für die Arbeiterbewegung, da sie den ebenso einseitigen Widerhall auf das bürgerliche "Reformertum" hervorrief: den Opportunismus in der Arbeiterbewegung. "Das positive, reale Ziel der liberalen Politik der Bourgeoisie", sagt Pannekoek, "ist die Irreführung der Arbeiter, ist das Hineintragen von Spaltung in ihre Mitte, ist das Verwandeln ihrer Politik in ein ohnmächtiges Anhängsel des ohnmächtigen, stets ohnmächtigen und ephemeren [4] Scheinreformertums."

Nicht selten erreicht die Bourgeoisie für eine gewisse Zeit ihr Ziel mit Hilfe der "liberalen" Politik, die - wie Pannekoek richtig bemerkt - eine "schlauere" Politik darstellt. Ein Teil der Arbeiter, ein Teil ihrer Vertreter läßt sich mitunter durch Scheinzugeständnisse täuschen. Die Revisionisten erklären die Lehre vom Klassenkampf für "veraltet" oder schlagen eine Politik ein, die in der Praxis die Abkehr vom Klassenkampf bedeutet. Die Zickzackwege der bürgerlichen Taktik haben eine Stärkung des Revisionismus in der Arbeiterbewegung zur Folge und steigern nicht selten die Differenzen innerhalb der Arbeiterbewegung bis zur direkten Spaltung.

Alle Ursachen der genannten Art erzeugen innerhalb der Arbeiterbewegung, innerhalb der proletarischen Reihen Differenzen über die Taktik. Zwischen dem Proletariat und den Schichten des Kleinbürgertums einschließlich der Bauernschaft, die mit dem Proletariat in Berührung kommen, gibt es aber keine chinesische Mauer und kann es auch keine geben. Es ist begreiflich, daß der Übergang einzelner Personen, Gruppen und Schichten vom Kleinbürgertum zum Proletariat seinerseits Schwankungen in der Taktik des Proletariats hervorrufen muß.

Die Erfahrung der Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder hilft, an Hand konkreter Fragen der Praxis Klarheit über das Wesen der marxistischen Taktik zu schaffen; sie hilft den jüngeren Ländern, die wahre Klassenbedeutung der Abweichungen vom Marxismus klarer zu unterscheiden und diese Abweichungen erfolgreicher zu bekämpfen.

"Swesda" Nr. 1, 16. Dezember 1910, Unterschrift: W. Iljin. Aus: Lenin Werke, Band 16, Seite 353-360; Dietz Verlag Berlin, 1977


Anmerkungen:

[1] Der Artikel "Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung" erschien in Nr. 1 der "Swesda", in der Rubrik "Briefe aus dem Ausland". "Swesda" (Der Stern) - legale bolschewistische Zeitung, Vorläuferin der "Prawda"; erschien in Petersburg vom 16. (29.) Dezember 1910 bis zu ihrem Verbot am 22. April (5. Mai) 1912. Die von Lenin geleitete legale "Swesda" war ein bolschewistisches Kampforgan, das das Programm der illegalen Partei verfocht. Von 96 Nummern der "Swesda" und der "Newskaja Swesda" wurden 39 beschlagnahmt, 10 mit Strafen belegt. Die Auflage einzelner Nummern erreichte 50.000 bis 60.000 Exemplare.

[2] Als Reaktion auf die opportunistische Haltung einiger Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion entstand nach dem Sieg der deutschen Sozialdemokratie über das Sozialistengesetz in der sozialdemokratischen Partei eine kleinbürgerliche, linksopportunistische Gruppe, die "Jungen". Ihre Wortführer waren in der Hauptsache junge Literaten und Studenten. Sie lehnten den parlamentarischen Kampf der Partei ab. Friedrich Engels nannte die "Jungen" Helden der revolutionären Phrase, die "intrigieren und klüngeln" und dadurch die Partei desorganisieren. Auf dem Erfurter Parteitag 1891 wurden die "Jungen" aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen.

[3] Most, Johann - Sozialdemokrat, später Anarchist. Nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes 1878 emigrierte er nach England. 1880 wurde er auf dem Wydener Kongreß wegen seiner ultralinken, parteifeindlichen Haltung aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen. Er emigrierte 1882 in die USA und betrieb dort anarchistische Propaganda.

[4] (lt. Duden: nur einen Tag dauernd, vorübergehend)

Raute

CUBA

Hermann Jacobs/Frank Flegel: Fragen zum Verständnis der cubanischen sozialistischen Revolution

Frank: Der jüngste Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas hat den Beschluss gefasst, einen größeren Teil der im gesellschaftlichen Sektor beschäftigten Werktätigen zu entlassen und ihnen neuen Arbeitsraum in einem privaten Sektor der Arbeit zu erschließen. Man spricht von 1,8 Millionen. Bist Du überrascht?

Hermann: Nein, die Dimension überrascht, der Fakt nicht.

Frank: Droht Kuba mit einem solchen privaten Sektor der Arbeit keine Reprivatisierung der Gesellschaft, d.h. Aufgabe des sozialistischen Charakters der Produktion?

Hermann: Auf diese Weise nicht. Alle entwickelten Bereiche der Wirtschaft, die auch relevant sind für die staatliche Unabhängigkeit Kubas, sind nicht in diese "Reprivatisierung" einbezogen, also ist es keine. Es handelt sich um Privatisierung auf der untersten Stufe ihrer Möglichkeit, der selbstarbeitender Privater, im Wesentlichen noch auf Basis rein der lebendigen Arbeitskraft, wie sie schon seit tausenden Jahren möglich ist, ohne dass sie selbst je Kapitalismus, also ausbeutende Privatarbeit erzeugt hat.

Frank: Ist das nicht zu optimistisch, was die Interessen betrifft, die aus einem solchen Privatsektor erwachsen könnten? Es wird zur Entwicklung von privater Lohnarbeit kommen.

Hermann: Aber der politische Faktor in Kuba ist anders gesetzt; es gibt kein Interesse der KP Kubas, dass der entwickelte Sektor der Arbeit die Form des Privateigentums annehmen soll, in dieser Hinsicht gibt es keine signifikante Reformabsicht in Kuba. Die Privatisierung ist so gesehen ein Gegensatz: Vom Standpunkt der entwickelten kubanischen Gesellschaft ist der entstehende private Arbeitsbereich ein noch nicht gesellschaftlich, also sozialistisch entwickelter Teil der Gesellschaft, für den ebensogut die Aufgabe entstehen kann, ihn auf sozialistische Bahn überzuführen.

Frank: Aber das klingt doch widersinnig, warum dann Reprivatisierung, also Ausweitung des "noch nicht sozialistisch entwickelten Teils der Gesellschaft" - wenn man ihn später doch wieder "sozialistisch entwickeln" muss?

Hermann: Von außen betrachtet, oder auch vom prinzipiellen sozialistischen Standpunkt betrachtet, scheint Kuba nur den Widerspruch, den es schon einmal überwunden hat, zu wiederholen. Aber es gibt einen rationalen Grund dafür, wenn dieser in der volkseigenen Wirtschaft selbst liegt. Das Auf und Ab in der Form einer Reprivatisierung von Arbeitsverhältnissen in Kuba ist begründet in den Auf- und Abwärtsbewegungen des volkseigenen Wirtschaftssektors in Kuba, für den es in einer Abwärtsbewegung schwierig wird, sozialistische Arbeitsverhältnisse beständig zu garantieren. Es geht dann nicht wesentlich darum, einen Privatsektor mal zu gründen und mal wieder zu schließen (es ist jetzt übrigens der dritte Versuch in der Geschichte des sozialistischen Kubas, Momente der privaten Arbeit zu rekonstituieren - das erklärt schon alles), sondern darum, den Sektor der volkseigenen Wirtschaft zu entlasten.

Frank: Wovon?

Hermann: Von Lohnzahlungen. Der sozialistische Staat - in seinem ökonomischen Verhältnis - absorbiert vom Prinzip her soviel Arbeitskräfte, als er anwenden kann; das hat einen rationalen Aspekt - der jetzt bzw. zukünftig stärker hervortritt, kann aber auch einen unrationalen haben - wie offensichtlich zuvor geschehen. In einer Aufwärtsbewegung kann das Arbeitskräftepotential im sozialistischen Bereich der Wirtschaft breiter, großzügiger angelegt sein, in einer Abwärtsbewegung wird der Spielraum enger. Es ist also etwas mit der Arbeit geschehen, was dazu zwingt, den Faktor Arbeit in Kuba schärfer, rationaler anzugehen.

Die Reprivatisierung muss als eine Entlastung des sozialistischen Sektors von seinen Pflichten den Individuen gegenüber verstanden werden, was nur geht entweder auf der Basis der Entstehung von Arbeitslosigkeit - und diese Entlastung wäre eine der relativen Art, es bliebe immer noch die Pflicht des Staates zu einer gewissen, niedrigeren Lohnzahlung, oder eben auf Basis der Entstehung von Privatarbeit größeren Stils - und diese Entlastung wäre eine der absoluten Art. Die neuen Privaten müssen sich ihren Lohn selbst verdienen. Die Gesellschaft insgesamt hätte sogar noch den Nutzen davon, dass gewisse Lücken in einer Allgemeinversorgung, insbesondere im Bereich der kleinen Dienstleistungen, die die sozialistische Gesellschaft aus irgendwelchen Gründen nicht schließen konnte (oder wollte), geschlossen werden. Die Menschen sind ja nun in der Pflicht, in jede offene Stelle der Gesellschaft einzudringen, wo auch immer es eine Verdienstmöglichkeit gibt.

Frank: Das klingt ja fast so, als sei die Privatisierung ein einziger Segen. Ich bin, was die aktuell geplanten Maßnahmen angeht, sorgenvoller als Du.

Hermann: Inwiefern?

Frank: Du sagst, dass die Reprivatisierung eines Teils der Wirtschaft "keine (ist)". Wörtlich bei Dir: "Alle entwickelten Bereiche der Wirtschaft sind nicht in diese 'Reprivatisierung' einbezogen, also ist es keine. Es handelt sich um Privatisierung auf der untersten Stufe ihrer Möglichkeit, der selbstarbeitender Privater, im Wesentlichen noch auf Basis rein der lebendigen Arbeitskraft, ...". Aber nach meinen Informationen werden in 178 Handwerken Privatbetriebe zugelassen, und dies inklusive der Möglichkeit privater Lohnarbeit ("... hinzu kommt, dass jetzt auch noch erlaubt wird, Lohnarbeiter zu beschäftigen." Cuba libre, 1-2011, S. 11. Ob und, wenn ja, welche Beschränkungen es dafür geben soll, ist mir nicht bekannt. F.F.) Der Umfang der Privatarbeit wird gewaltig werden: Bis 2015 sollen 1,8 Millionen von insgesamt rund 5 Millionen Werktätige der staatlichen Betrieben entlassen werden. Das sind 36 % !

Hermann: Ich sagte auch, dass mich die Dimension überrascht - denn dass der soziale Faktor in der Frage der Beschäftigung (quasi eine Über"beschäftigung") eine solche große Rolle gespielt hat, wäre schon eine kubanische Besonderheit, von der DDR her ist mir das nicht bekannt; aber die Überleitung soll in einem mehrjährigen Prozess erfolgen, ich habe meine Zweifel, ob die Dimension durchzusetzen wäre, sie müßte schon auf Kosten des sozialistischen Sektors erfolgen, d.h. wirklich zur Form der entwickelten Lohnarbeit durch Private führen - wie Du sagst. Das ist dann eine andere Qualität. Es gilt, zwei Etappen, Stufen, Qualitäten in der Frage einer Reprivatisierung einer sozialistischen Gesellschaft zu beachten. Zunächst ist das erste noch nicht das zweite.

Frank: Aber man muss außerdem berücksichtigen, dass sich die Privatisierung nicht nur auf die Arbeit bezieht. Private Handwerksbetriebe brauchen Produktionsmittel, die sie - weil sie Privatbetriebe sind - als Waren auf dem Markt vorfinden müssen. Staatliche Zuteilungen werden auf diesem Gebiet als Behinderung, Gängelung, überflüssige Bürokratie usw. empfunden und es gibt auch bereits Informationen darüber, dass der Handel mit und der Import von Produktionsmitteln für den Privatsektor erleichtert werden sollen, was ja direkt in der Logik der Entwicklung liegen würde. Es wird sich über kurz oder lang also ein privatwirtschaftlicher Markt für Produktionsmittel bilden. Zudem soll der Privatbesitz von Häusern und Wohnungen erlaubt werden (HAZ, 18.4.2011) inklusive des Rechtes der Vermietung.

Und es gibt weitere wirtschaftliche Maßnahmen, die nicht gerade in die sozialistische Richtung zeigen (ich nenne nur drei):

- Die Preise sollen vom Markt selbst reguliert werden (formuliert ist das in Punkt 177 der "Richtlinien" so: "...dass die Preisbildung der Mehrheit der Produkte von Angebot und Nachfrage bestimmt wird" [Cuba libre, 1-2011, S. 8]), d.h. dass man vom Festpreissystem abgehen will. Macht man so etwas im privaten Bereich der Wirtschaft, muss der staatliche folgen: "Die öffentlichen Unternehmen werden unabhängig über die Zusammensetzung ihrer Leitung, ihr Personal und ihre Investitionen entscheiden und werden ihre Preise und Tarife innerhalb einer allgemeinen Politik selbst festlegen. Sie finanzieren ihre Produktion nicht aus Ressourcen des Staatshaushaltes und bezahlen ihre Löhne je nach Leistung des Arbeiters. Mit dem, was nach den Steuern und anderen Verpflichtungen übrig bleibt, können sie Entwicklungsfonds bilden, Investitionen tätigen und Prämien an die Arbeiter auszahlen, aber die Unternehmen, die häufig Verluste einfahren, werden von der Bildfläche verschwinden. ... Die Konsequenz des neuen Denkansatzes wird die Reduktion des Regierungsapparates sein. ... Die Teile der Regierung, die ihre Operationen finanzieren und Überschuss schaffen können, ändern ihren Status und werden Unternehmen." (Cuba libre, 1-2011, S. 8)

- Die "libreta" (eine Lebensmittelration, mit der die Bevölkerung seit 1962 ihre Grundversorgung zu symbolischen Preisen sichern konnte) soll abgeschafft werden, wie überhaupt die Subventionen für unterschiedliche Güter reduziert oder aufgehoben werden sollen.

- Der von der bürgerlichen Journaille "wertlos" genannte kubanische Peso soll abgeschafft werden, so dass es nur noch den konvertiblen Peso gibt.

Wenn man die Warenzirkulation ausweiten will (oder muss), sind diese Maßnahmen unverzichtbar: man braucht dann Preise, die bei den üblichen Schwankungen wenigstens einigermaßen die Werte ausdrücken. Insofern muss man zurückgehen und die sozialistische Währung, die Zuweisungsmittel aus dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds war, abschaffen zugunsten einer klassisch warenwirtschaftlichen Währung, die Wertausdruck der Waren sein kann. In diesem Gesamtzusammenhang müssen dann selbstverständlich auch die staatlichen Unternehmen dem Wertgesetz unterliegen, also eine je individuelle Wertschöpfung erreichen, selbst über ihre Investitionen und die Verwendung des Mehrproduktes entscheiden. Dementsprechend muss man die Maßnahmen des sozialistischen Staates zurückfahren: Er hat mit dem Preissystem, mit den Investitionen und mit der Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums, des Mehrproduktes, nun nur noch wenig bis evtl. auch gar nichts mehr zu tun. Er erhebt - wie der bürgerliche Staat - Steuern, um Sozialleistungen und Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren, aber er verabschiedet sich von der Gesellschaft als ihr Zentrum, als die Möglichkeit, die sozialistische Wirtschaft tatsächlich volkswirtschaftlich zu gestalten. Stattdessen übergibt er einen zwischen 30% und 40% der Arbeitskräfte bindenden, damit kleineren Teil der Wirtschaft ins Private und zieht sich aus dem etwas größeren, nach wie vor staatlichen Bereich mit seiner Entscheidungskompetenz zurück und baut auf eine vergrößerte Selbstständigkeit der Betriebe.

Hermann, das erinnert mich ganz fatal an die Reformen, die in der UdSSR zunächst von Chruschtschow angefangen und später von Kossygin bis Gorbatschow weitergeführt wurden. Siehst Du in Cuba Unterschiede zu diesen Niedergangsszenarien des Sozialismus in Europa?

Hermann: Ja, ich sehe einen Unterschied zwischen Kuba und den Entwicklungen der Sowjetunion, sowohl zwischen Kuba und Chruschtschow/Kossygin - obwohl hier Kossygin (die kossyginsche Reform) interessanter wäre - als auch zwischen Kuba und Gorbatschow. Gorbatschow ist eine ganz andere Qualität, Kuba braucht nicht wieder kapitalistisch zu werden, auch nicht unter der Bedingung, dass es allein sozialistisch bliebe. Dieser Fall des wieder Kapitalistischwerdens könnte - dies meine Meinung - für Kuba nur aufgrund einer ausländischen Intervention eintreten. Anders das Problem der Reform, wenn sie tatsächlich die von Dir - aufgrund kubanischer Quellen - geschilderte Ebene erreichte. Aber mit dieser Ebene beginnt die Reform nicht, und um die zweite Ebene wird ein Kampf sein. Sie brächte ja eine Veränderung des ökonomischen Mechanismus im volkseigenen Sektor der Wirtschaft, ein anderes Verhältnis zum Sozialismus, nicht nur eine Restitution eines bürgerlichen Prinzips. Das ist ein innerer Kampf in der kommunistischen Partei selbst und an den ist auch die Sowjetunion damals geraten - und: er ist vor der Konterrevolution nicht im Sinne der letzten Form der Reform, der Aufhebung des Volks-, also allgemeinen Eigentums entschieden worden.

Aber diese Frage - einer sozialistischen Revolution im Allgemeinen und ihres Erhalts im Besonderen - erfordert eine noch ausführlichere Antwort. Womit laboriert "kubanischer Sozialismus" an sich?

Das Gros der Länder war im 19./20. Jahrhundert - von der inneren Produktivkraftentwicklung her betrachtet - erst bis zu einem zum Staat entwickelten Ackerbaustadium fortgeschritten; auf dieser Ebene der Geschichte stellt sich die kommunistische Frage noch nicht. So wäre es allgemein gesagt richtig. Aber der Imperialismus funktioniert ja so, dass bereits zum hochentwickelten Kapitalismus gereifte Staaten (für die sich dann die kommunistische Frage stellt) über ihre nationale Entwicklung hinaus eine internationale Entwicklung betrieben, und das heißt andere Länder ökonomisch okkupierten und ihnen im besten Falle ein ökonomisches System der Arbeitsteilung aufzwangen, das seinen Sinn nicht im eigenen Land, sondern im hochentwickelten kapitalistischen Land hatte.

Kuba ist ein solches Land. Es produzierte den Zucker für die USA. Es war, ökonomisch gesehen, bereits ein Teil der Ökonomie der USA und damit ein Teil eines entwickelten kapitalistischen Landes. Ohne je zu einer allgemeinen industriellen Entwicklung fähig gewesen zu sein, konnte es als ein solches Land aber gelten - über sein Export-Import-Modell, durch das es an die USA gebunden war.

Kuba trennte sich nach der Revolution vom kapitalistischen ökonomischen System - nicht einmal freiwillig, sondern gezwungenermaßen, denn kaum politisch sozialistisch geworden, verhängte die USA-Regierung ein absolutes Embargo über Kuba, wie bekannt (im Übrigen bis heute). Ab dem US-Embargo hat Kuba nur die Wahl, entweder in die Bedingungen seiner eigenen Entwickelbarkeit zurückzufallen - und dies wäre die eines entwickelten Agrarlandes, maximal auf genossenschaftlicher Basis, der ein sozialistisch denkender Staat aufgelagert bliebe - wie lange, wäre dann die Frage -, oder es mußte/muß (!) einen Ersatz für den verlustig gegangenen USA-Faktor finden. Kuba hat ihn gefunden - 25 Jahre lang in der Sowjetunion und den anderen RGW-Ländern. Seit Mitte der 80er Jahre aber löste sich dieser Faktor auf, bis er 1991/93 ganz verschwand. So dass sich seit diesem Zeitpunkt für Kuba die Frage stellt, nach einem dritten äußeren (südamerikanischen, chinesischen?) Anknüpfungspunkt zu suchen, der Kuba erlaubt, an seinem oder besser einem einseitigen Entwicklungsmodell festzuhalten: Konzentration auf drei, vier eigene Produkte/Dienstleistungen, aber eben dadurch vielseitigen Außenhandel, durch den Kuba als Sozialismus sich entwickeln kann.

Wie es hier, im Verhältnis nach außen, zu Schwankungen kommt, schwankt Kuba im Innern, in seinen inneren Auffassungen vom weiteren gesellschaftlichen Zustand. Damit ist das Verhältnis bzw. Ausmaß - oder überhaupt der Grund - einer Privatisierung von Arbeitsverhältnissen im Innern bestimmt - wenn es denn bei einer politischen Leitung des Landes bleibt, die am Sozialismus festhält. Sofern hier keine Kontinuität gegeben wäre, würden dieselben gesellschaftlichen Veränderungen natürlich sofort einen anderen Charakter annehmen.

Frank: Kuba ist demnach ein Modell für einen, ich spreche es ungern aus: besonderen Weg zum Sozialismus, ein Modell für so genannte "Entwicklungsländer"?

Hermann: Ja, es drückt aus, dass Länder, die an sich nicht die allgemeinen Bedingungen für einen eigenen Weg zum Sozialismus/Kommunismus enthalten resp. auch nie entwickeln könnten, dennoch zum Sozialismus gelangen - über eine einesteils hohe Entwicklung von Einseitigkeit ökonomischer Art. Sie ist keine Bedingung einer inneren Entwicklung - grob gesagt: nie brauchte Kuba soviel Zucker, wie es produziert, es hat also so einseitig immer "für andere" produziert, aber natürlich aus dem Grund, dass der Import umso vielseitiger war und Kuba so auf der Basis einer völlig einseitigen Produktion dennoch eine allseitige Aneignung/Konsumtion entwickeln und damit allgemeinen Fortschritt garantieren konnte. Den Fortschritt allgemein (statt nur für eine ausgewählte Klasse) zu garantieren, anderes ist ja der Kommunismus nicht.

Voraussetzung war immer ein mit den Wünschen Kubas kompatibles Ausland. Das hatte es in seiner bisherigen Entwicklung nur einmal gegeben - und eben nicht für ewig. Aber die Lehre aus Kuba für den Sozialismus/Kommunismus im Allgemeinen ist, dass Länder, die aus sich heraus den kommunistischen gesellschaftlichen Ansatz nicht/kaum entwickeln könnten - und das dürfte die Mehrheit der Länder dieser Welt sein -, dennoch auf die Bahn einer sozialistischen gesellschaftlichen Entwicklung gehoben werden können, wenn die entwickelten sozialistischen Länder eine besondere, sozialistische Form des Internationalismus der ökonomischen Art entwickeln, auch entwickeln können; diese Bedingung muß gegeben sein. Sie müssen also das Gegenstück zum kapitalistischen Internationalismus, dem Imperialismus, entwickeln - und, wie gesagt, entwickeln können. Es muß klar sein: die kubanische Revolution von 1959 wäre ohne den Zugriff auf den günstigen äußeren sozialistischen Faktor ins Leere gelaufen.

Frank: Mit dem Ausfall der UdSSR und der RGW-Staaten bestand für Kuba die akute Gefahr der Konterrevolution. Es überlebte. Wieso?

Hermann: Aufgrund des hohen ideellen Impetus seiner kommunistischen Partei und seiner Menschen. Kuba kann bei seiner eigenen gesellschaftlichen Entwicklung bleiben auch im Verhältnis zu kapitalistischen Staaten, vorausgesetzt diese geben die Embargo-Politik gegen Kuba auf oder nehmen an der der USA nicht mehr teil. Die Welt ist im Wandel. Mit den südamerikanischen Ländern und deren sozialen und demokratischen Wandlungen in einigen von ihnen hat sich für Kuba ein neuer Faktor ergeben - eben der gemeinte ökonomische internationale. Dem Außenhandel der Länder muss nicht der Faktor der Abhängigkeit, sondern der der Unabhängigkeit, d.h. der Sicherung der Allseitigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts innewohnen. An dieser Form des Außenhandels, die also keine nur im Verhältnis der sozialistischen Staaten untereinander war, sondern auch eine im Verhältnis zu kapitalistischen Staaten sein kann, nimmt außer China inzwischen auch wieder Rußland teil. Alle diese Entwicklungen haben den Grenzfall, der ab 1991/1993 eintrat und der Kuba wieder auf einen ökonomischen Standard zurückwarf, wie er im Jahre 1959, zu Beginn der kubanischen Revolution galt, gemildert, obwohl noch nicht kompensiert. Dass die kubanische Revolution dennoch immer noch mit diesem Grenzfall operiert, d.h. sich der Frage unterwirft, wie würde eine ökonomische Lage zu gestalten sein, da Kuba völlig auf sich allein angewiesen wäre, kennzeichnet die Lage.

Frank: In der "periodo especial" setzte die Führung in Kuba nicht auf Privatisierung und Dezentralisierung, sondern - ganz im Gegenteil - auf eine straffere und striktere Zentralisierung, platt gesagt: auf möglichst viel Planwirtschaft in der Wirtschaft.(22) Das scheint ja richtig gewesen zu sein, jedenfalls gibt es Kuba ja noch. Heute schlägt die Führung in Kuba einen anderen Weg ein, Privatisierung und Dezentralisierung. Privatisierung bringt unweigerlich kleinbürgerliches und antikommunistisches Bewusstsein hervor. Dezentralisierung verstärkt diesen Impuls und macht es - was viel gravierender ist - der Gesamtgesellschaft unmöglich, zentral über das Mehrprodukt der Gesellschaft zu bestimmen, stattdessen wird das Mehrprodukt zerstückelt und zerteilt und zum Teil privatisiert und individualisiert. Das macht größere gesellschaftliche Entwicklungsprojekte unmöglich.

Ich bin keineswegs davon überzeugt, dass so ein Wirtschaftskurs im Sozialismus gut gehen kann.

Gesetzt den Fall, die Privatisierung der Arbeit griffe über den jetzt in Kuba eingeräumten Rahmen hinaus, ein starker privatwirtschaftlich-kapitalistischer Sektor würde in Kuba entstehen und Kuba ginge im Feuer einer inneren wie äußeren Konterrevolution unter, was bedeutete das neben dem Elend, in das die kubanische Bevölkerung damit gestoßen würde für die kommunistische Bewegung und ihre Theoriebildung? Würde das nicht als letzte Bestätigung dafür verstanden, dass der Sozialismus kein tragfähiges Gesellschaftsmodell wäre? Was wäre das für eine Katastrophe!

Hermann: So grundsätzlich verschieden sind unsere Ansichten, was die Möglichkeiten einer inneren Entwicklung Kubas betrifft, nicht. Aktuell ist aber die Lage so, dass neben dem bestehenden Sektor des Volkseigentums ein Sektor der Privatarbeit gegründet wird. Wir haben dann/demnächst ein Zwei-Sektoren-Modell. Bei einer solchen Lage kann sowohl der private in den volkseigenen Sektor eindringen, also auch der volkseigene in den privaten. Hierbei ist zunächst der private Teil der ökonomisch unentwickelte, aber entwickelnde Teil, und der volkseigene der entwickelte und - davon gehe ich aus - weiter entwickelnde Teil. Ich teile nicht die Befürchtung, dass dem privaten Eigentum eine imaginäre Überlegenheit innewohnt, so dass ihm rein ökonomisch "alles möglich" ist. Ich würde z.B. die Aufforderung, meinen volkseigenen Arbeitsplatz verlassen und eine sagen wir "Backstube" aufmachen zu müssen, mit einem Fingerzeig an die Stirn beantworten. Wollen denn überhaupt 1,8 Millionen Cubaner privat arbeiten? Ist das nicht auch eine Zumutung der "Partei" an die Arbeiter? Wir sollten uns durchaus auch mal diese Antwort an unsere lieben Reformer einfallen lassen.

Der entscheidende Faktor wird immer der politische sein, der über beiden Sektoren herrscht, der aber offensichtlich daran interessiert ist, dass beide Sektoren gedeihen - man muß von einer momentanen Situation ausgehen, die aber nicht die zukünftige bleiben wird, ich stimme Dir zu.

Grundsätzlich stimmt aber nicht, dass Cuba noch in der Verantwortung steht, über den Sozialismus als solchen zu entscheiden. Kuba stand und steht niemals für die sozialistische Frage an sich. Schon deshalb nicht, weil sie damit auch außerhalb des Proletariats bestünde oder entstehen könnte. Wesentlich noch bäuerische Produktionsweisen können den Kommunismus nicht gebären, das kann nur die moderne industrielle Arbeit, die die Voraussetzung des Privateigentums, die private Arbeit, aufhebt. Nur für sie ergibt sich die Frage eines anderen, eines gesellschaftlichen Verhältnisses zur Arbeit. D.h. der Kommunismus überwindet die Warenproduktion. Länder, die aber diesen Stand geschichtlich noch nicht erreicht haben, können zwar in den kommunistischen Kampf einbezogen werden - siehe das kubanische Beispiel -, aber ihr Bestehen oder Nichtbestehen in diesem Kampf sagt nichts aus über den Kommunismus der Sache nach, da er für diese Länder nur in einer äußeren Garantie bestand. D.h. die Sowjetunion steht für die kommunistische Frage, Kuba stand nie für sie, konnte gar nicht für sie stehen; Kuba steht ... für Kuba, d.h. für Länder seinesgleichen.

Aber immerhin: Kuba kann die Frage beantworten, ob politisch-sozialistische Formen der Revolution erfolgreich sein können auch in Staaten, die sich in einem Übergangsstadium aus einer agrarischen in eine industrielle Ökonomie befinden. Oder sagen wir einfach: Die sich in einem Stadium befinden, wie er weitgehend die süd- und lateinamerikanischen Länder kennzeichnet. Es ist eine Vielzahl von Ländern, so daß die Chancen für einen gleichberechtigten Internationalismus günstiger geworden sind. (Sie können natürlich auch wieder abnehmen.) Die Antwort lautet also: Ja, solche Revolutionen können erfolgreich sein, aber unter der Bedingung, dass mehrere solcher Länder an eine einfache/einfachste Form des Internationalismus geraten, durch die sie untereinander stützen und halten, ökonomisch einander ergänzen. Es ist eben nicht jedes Land eine Sowjetunion oder ein China, die beiden einzigen Länder, von denen man mit gewissem Recht sagen kann, dass sie eine sozialistische Gesellschaft auch aus eigener, innerer Kraft aufbauen können. Sie haben sich selber zur Bedingung, und nicht einen gewissen Internationalismus, der sie stützt.

Frank: Die Analysen über die Konterrevolution in Europa haben mich dazu gebracht, nicht sehr viel von "besonderen" Wegen zum Sozialismus und noch weniger gar von einem "besonderen", vielleicht sogar "demokratischen" Sozialismus selbst oder einem solchen "mit menschlichem Antlitz" zu halten. Du erläuterst gerade, dass Kuba kein besonderer Sozialismus, aber ein besonderer Weg zum Sozialismus ist. Richtig?

Hermann: Ja, mit besonderer Weg meine ich hier Länder in einem Vorstadium vor dem industriell entwickelten; ich meine in diesem Fall nicht die anderen "besonderen Wege zum Sozialismus", die einen Affront gegen den sowjetischen/deutschen usw. "Weg" beinhalten. Können solche Länder wie Kuba, wenn sie eine politische Revolution erfolgreich durchschreiten, an der proletarischen Revolution entwickelter Länder partizipieren? Die also ihre politische Revolution nur deshalb in eine ökonomische überleiten können, weil sie an einen besonderen ökonomischen Internationalismus schon existierender sozialistischer Länder geraten, das ist doch die Frage, die wir für Kuba beantworten müssen. Die Antwort: Ja. Diese Antwort setzt die sozialistische politische Revolution historisch breiter als die der Möglichkeit zum Aufbau des Sozialismus/Kommunismus in einem einzelnen Land selbst. Sie erfordert eine besondere Politik der entwickelten sozialistischen zu den nicht entwickelten sozialistischen Ländern, eine spezifische Form ökonomischen Internationalismus. In die Theorie muß aber auch die Frage Eingang finden - der Marxismus muß immer die ganze Geschichte erklären -, dass eine zu schnelle Entwicklung der sozialistischen Revolution in die Breite in eine zu langsame Entwicklung ihrer Höhe umschlagen kann; dann gerät auch der Internationalismus des Sozialismus an ein Problem bzw. dann setzt - auf der anderen Seite des Ozeans - auch der Faktor ein, dass eine sozialistische Revolution statt an ihre äußere Garantie an ihre innere gerät, d.h. das sozialistische Land muß sich selbst Garant sein oder werden - können. Das alles sagt uns Kuba.

Der eigentliche Sozialismus/Kommunismus aber wird immer der gleiche sein, er wird immer der sein, der sich aus der höchsten ökonomischen Entwicklung ergibt; nach meiner Meinung ist dies der Sozialismus der Sowjetunion, mehr noch der Form nach sogar der der DDR. Aber Wege zu diesem Sozialismus ergeben sich aus historischen Situationen heraus. Man muss für den Sozialismus nicht nur den Inhalt, sondern auch Wege, Inhalte unter Bedingung der Wege beantworten. Das kann Kuba. Da sich nach dem Verlust der besten historischen Situation für Kuba ein Rückfall in seine - nun, nicht schlechteste, aber dennoch eine seiner ausgänglichen ziemlich nahe kommende Situation wieder ergeben hat, die wiederum die vieler anderer Länder der Welt wäre - südamerikanischer im Besonderen -, steht es auch für die sozialistische Frage dieser Länder. Das ist und bleibt die besondere Verantwortung der kubanischen KP.

Noch zur Frage des so genannten Reform-Sozialismus. Kuba stand bisher außerhalb des innersozialistischen Gegensatzes - eines Aufweichens des klassischen Sozialismus-Modells. An diesen Gegensatz sind ja die entwickelteren sozialistischen Staaten geraten (ohne andererseits ihn gelöst zu haben) und könnte Kuba jetzt geraten, Deine Befürchtungen sind nicht unberechtigt; Kuba nachträglich mit diesem Gegensatz zu überwältigen - nur weil es bestehen geblieben ist, hieße Kuba von außen, von Europa her, dem europäischen Reformsozialismus her, zu ideologisieren.

Arm beginnende sozialistische Staaten, und Kuba war ein solcher, entwickeln einen viel höheren Grad von Gemeinsinn von Anfang an; d.h. sie entwickeln erst die Solidarität auf politischen Wege, bevor sie sie auf ökonomischen Wege entwickeln können. Deshalb auch in Kuba der ewige Kampf um die Frage der moralischen Interessiertheit an der Gesellschaft anstelle der materiellen, und deshalb auch ein Desinteresse an der "materiellen Reform". Kuba hat nie das Stadium der Entwicklung erreicht, dass sie die gesellschaftlichen Stimuli auf den materiellen Boden stellen konnte. Man darf das Betonen des ideellen Faktors nicht im Nachhinein von Europa aus Kuba als Fehler ankreiden, wie das aber geschieht. Materielle Stimuli unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen Kubas hätten eine soziale Differenzierung hineinbringen müssen - ich betone müssen -, die den politischen Charakter der Revolution in Frage gestellt hätten. Politisch - gemeinsam, ökonomisch - getrennt? Eben noch so, und jetzt so? In einer sozialistischen Revolution kann die soziale Differenzierung nur soweit gesetzt sein, als sie die ideelle Gemeinschaft nicht aufhebt, sondern nur soweit sie auch als eine Form der Aufhebung der sozialen Not, die zu überwinden man ja politisch angetreten, begriffen werden kann.

Es kann einen besonderen lateinamerikanischen Weg zum Sozialismus geben. Er hat ja bereits eingesetzt. Er ist begleitet von einem langwierigen Kampf um die politische Macht. Dass es diesen Kampf um die politische Macht gibt, zeigt, dass in Lateinamerika ein gewaltiges soziales Potential vorhanden ist, das im Sinne der sozialen Gleichheit in diesen Ländern wirkt. Die USA haben mit ihrer imperialistischen Politik ein Zuviel an sozialer Ungleichheit erzeugt. Wo einerseits jetzt die Lösung von der ökonomischen Umklammerung durch die USA einsetzt - und getragen wird das von vielen sozialen Kräften - macht sich auch der soziale Faktor der Unter- bis Nichtentwicklung der arbeitenden oder potentiell für Arbeit in Frage kommenden Schichten bemerkbar. Der nationale und soziale Faktor treten gleichzeitig auf, das ist das Besondere der Bewegung, an die Südamerika geraten ist.

Was in Südamerika geschieht, hat auch Bedeutung für Kuba, innere Entwicklungen in Kuba können sich nur im Verhältnis zu äußeren Entwicklungen in Südamerika vollziehen. Endlich, könnte man auch sagen. Endlich erreicht Südamerika Kuba. Kuba war nur ein Anfang, das zeigt sich jetzt. Dies zwingt zum bewußten Behalt des sozialen Faktors der kubanischen Revolution, denn sie ist geradezu das Beispiel dafür, wie man unter allen Bedingungen der Entwicklung der Produktion, guten wie schlechten, dem sozialen Faktor die Treue bewahrt hat. Insofern ist Kuba Beispiel für Südamerika/Lateinamerika, Kuba nachzueifern, und Südamerika/Lateinamerika Bedingung für Kuba, sich die Treue zu bewahren. Kuba ist das soziale Gewissen Südamerikas. Sollten sich aber die Dinge anders entwickeln, wäre das auch nur der Grund, weniger mit dem Subjekt zu hadern als umgekehrt tiefer über das Objekt nachzudenken.

Frank: Was meinst Du mit Subjekt und Objekt?

Hermann: Uns ist im Grunde das Drama der kubanischen Revolution nicht bewußt. Bis 1985 brauchte das auch nicht der Fall zu sein. Dass die kubanische kommunistische Partei nun seit 20 Jahren schon die Gesellschaft akribisch nach Möglichkeiten zu einer höheren ökonomischen Effektivität durchforscht und dabei zu einem wiederholten Male auch auf die Methode des privaten Arbeitens stößt, sollte man ihr nicht ankreiden; damit ist - immer meine Meinung - kein Modellwechsel verbunden, der nur das Ende des Sozialismus in Kuba einläutet. Was machen denn nun sozialistische Gesellschaften, wenn ihnen die Bedingungen ihres Arbeitens buchstäblich weggehauen werden? Soviel zu unserem Verhältnis zum subjektiven Faktor. Andererseits würde ich vor Experimenten warnen, die Kuba zum Modellfall einer "sozialistischen" Warenökonomie erheben - Kuba kann kein Klein-China werden und kann nicht das Land sein, das die Reformversprechen Gorbatschows endlich in die Tat umsetzt. Zucker, Nickel, bessere Lebensmittelversorgung, Tourismus, Dienstleistungen - das ist Kuba, und diese fünf Faktoren muß es zu solchen Bedingungen produzieren/exportieren, dass es staatlich unabhängig bleibt. Soviel zum objektiven Faktor.

Frank: Worauf kommt es in Kuba an?

Hermann: Der Staat muss seine Handlungshoheit über die Gesellschaft bewahren, dann bleibt Kuba ein Faktor von internationaler Bedeutung.

Frank: Womit wir wieder bei meinen Bedenken sind.

Zur Ökonomie und ihrer Dezentralisierung hat Raul Castro in seiner Eröffnungsrede vor dem Parteitag der KP Kubas im April u.a. gesagt: "Ein volles Verständnis dieses Konzeptes (des neu vorgelegten; F.F.) wird einen soliden Fortschritt erlauben und Rückschritte unmöglich machen in Hinblick auf die Dezentralisation der Macht - weg von den zentralen Regierungsstellen und hin zu den lokalen, - weg von den Ministerien und den anderen nationalen Behörden und hin zu einer zunehmenden Selbstständigkeit der sozialistischen Staatsbetriebe. Das extrem zentralisierte Modell, das heute unsere Wirtschaft prägt, soll in geordneter Weise, diszipliniert und unter Einbeziehung aller Werktätigen in ein dezentralisiertes System überführt werden, in dem die Wirtschaftsplanung eine besondere Weise sozialistischen Managements darstellen wird, die niemals das aktuelle Marktgeschehen ignoriert. Das wird zu einer flexiblen und konstanten Aktualisierung der Planung führen." (Raul Castro, Eröffnungsrede des Parteitages, übersetzt nach: www.cominform.eu) Das hört sich gut an, ist inhaltlich aber "Prager Frühling".

Und mit der Partei will er ähnlich verfahren, und zwar zweigleisig:

Erstens will er die Partei von 'leeren Dogmen und Losungen' befreien. Er formuliert: "Genossen, zusammenfassend sage ich, dass der Parteitag die Rolle der Partei als wichtigster Vertreter der Interessen des kubanischen Volkes verbessern wird. Die Verwirklichung dieser Notwendigkeit erfordert eine neue Mentalität. Wir müssen den Formalismus und die fanfarenartige Proklamation sowohl in der theoretischen wie in der praktischen Arbeit vermeiden. Und das heißt, dass wir Schluss machen müssen mit dem Widerstand gegen einen Wandel, diesem Widerstand, der auf leeren Dogmen und Losungen gründet" (Raul Castro, Eröffnungsrede, a.a.O.) Und die HAZ fügt dem in ihrem Artikel "Kubas alte Garde tritt ab" hinzu: "Seine in Form und Inhalt unerwartet harten Worte richteten sich an den orthodoxen Flügel der KP, der sich gegen die von ihm schon seit Längerem geforderten Reformen wehrt." (HAZ, 18.4.2011)

Zweitens will er die gesellschaftliche Funktion der Partei verändern, Staat und Partei sollen in ihren unterschiedlichen Funktionen getrennt werden: "Genossen, die Idee ist, die Partei für immer von Aktivitäten zu entlasten, die ihrem Wesen als einer politischen Organisation fremd sind. Kurz gesagt: wir müssen es los werden, Aktivitäten zu organisieren,..." (Raul Castro, Eröffnungsrede, a.a.O.)

Mir wird dabei angst und bange. Ich bin mit Deinem Satz: "Der Staat muss seine Handlungshoheit über die Gesellschaft bewahren..." ja völlig einverstanden. Nur: sind diese Maßnahmen dazu geeignet, das sicher zu stellen? Untergraben sie nicht vielmehr diese Notwendigkeit? Vielleicht hast Du ja eine beruhigende Antwort.

Hermann: Ganz klar: Die kommunistische Partei ist ihrem Wesen nach keine "politische Organisation", sondern eine solche politische Organisation, die eine Wirtschaft übernimmt. Sie muß immer, an die Macht gekommen, ihren wahren Charakter offenbaren: die gesellschaftliche Eigentümerfunktion über die Arbeit zu garantieren, um aus privater Arbeit unmittelbar gesellschaftliche Arbeit zu machen. Die kommunistische Partei ist eine unmittelbar die Verantwortung über die gesellschaftliche Arbeit übernehmende Partei. Sie tut dies als die organisierte Form der Arbeiter; indem die Partei die Arbeit übernimmt, übernehmen die Arbeiter die Arbeit - zunächst in einer ersten Form; diese ist mit der Entwicklung der Fähigkeit, Arbeit zu leiten, immer allgemeiner zu setzen, wir nennen das Demokratisieren des begonnenen Zentralismus; zentral = in Bezug auf das Ganze an Gesellschaft gesetzte Demokratie. Das ist eine Demokratie/Demokratisierung, die ihren Gegenstand, die Arbeit in einem Eigentumsverhältnis zu fassen, nicht aufgibt. Trennt man aber die Partei von ihrer ökonomischen Aufgabe - und Raul Castro tut dies, kündigt dies an -, trennt man die Arbeiter von ihrer Eigentümerfunktion in der Gesellschaft. Man hat dann zwei Aufgaben: Entweder eine neue Eigentümerfunktion für die Arbeiter zu definieren, das müßte eine andere als die gemeinschaftliche, gesellschaftliche Form sein, sagen wir eine genossenschaftliche oder private, oder es entsteht ein anderen Eigentümer der Arbeit - gegen die Arbeitern. Und wer soll das sein, wenn es außer den Arbeitern keine andere soziale Klasse mehr gibt? Es müßte de fakto eine neue Klasse "aus dem Boden", d.h. aus der arbeitenden Klasse selbst oder ihrer Partei entstehen. Das Produkt wäre eine Art Manager-Sozialismus. Wenn man das dann nicht ganz anders nennen sollte...

Eine beruhigende Antwort habe ich also nicht. Es sind allerdings auf dem Parteitag der KP Kubas zwei Reformansätze genannt worden, deren einen ich als möglich, ausnutzbar halte und der auch nicht mit einer Aufgabe des sozialistischen Charakters der gesellschaftlichen Macht Kubas verbunden wäre, so spektakulär und provokativ er auch erscheinen mag. Der andere trifft aber die Grundlage der politischen Macht in Kuba selbst, er nimmt, würde er Geltung erlangen, der Partei, also der organisierten Form der Arbeiterklasse, die Macht über die Ökonomie, indem er ihr die einheitliche und subjektive, direkt vom Denken und Wollen der Menschen ausgehende Form der Macht - die Planwirtschaft - nimmt bzw. indem er sie an eine uneinheitliche, divergierende Form der Macht - die Marktwirtschaft - abgibt. Eine kommunistische Partei würde unter dieser Bedingung entweder eine neue Funktion annehmen - wie Du schon sagtest: der Staat als Steuer-Staat, die Partei der Arbeiter als Partei, die um einen Anteil an der Arbeit feilscht -, oder ihren Charakter nach einer erfolgten Konterrevolution ganz aufgeben müssen, wie, sagen wir, die russische KP heute. Diese hat ja den Weg von einer Partei der Macht zu einer Partei außerhalb der Macht beschreiten müssen.

Man muß einem Generalsekretär auch mal sagen dürfen, dass er sich irrt. Eine Revitalisierung des Privateigentums in Kuba hat ihre Bedingung nicht in einer Kapitulierung des Volkseigentums. Das heißt, die beiden Reformansätze, um die es in Kuba ab jetzt geht, bilden keine Einheit, sie bedingen einander nicht, sondern bilden einen Gegensatz. Der einer Revitalisierung von privatem Verhältnis in einem bestimmten Umkreis von Arbeiten mag rational sein, der einer Dezentralisierung von Volkseigentum ist irrational.

Hermann Jacobs, Berlin; Frank Flegel, Hannover


Fußnote

(22) "Die Trennung zwischen Regierung und Unternehmen geht in die entgegengesetzte Richtung zur Politik der 90er, als man die offizielle Kontrolle über die Unternehmen erhöhte. Jetzt wird mit einer Tradition der sowjetischen Ära gebrochen, nach der die Wirtschaft sich den Ministerien unterordnen soll, die ihrerseits die Norm, die Planung, die Durchführung und die Kontrolle ausüben." (Neuer Sozialismus in Cuba? Renate Fausten, Cuba libre, 1-2011, S. 8)

Raute

CHINA

Elisseos Vagenas, ZK der KKE: Die internationale Rolle Chinas

Der Aufstieg einer neuen globalen Macht, China, hat ein großes Interesse überall auf der Welt geweckt, sowohl in Kreisen der wissenschaftlichen Analyse als auch bei ganz einfachen Arbeitern. Dieses Interesse ist besonders ausgeprägt bei politisierten Menschen, welche die Ära der sozialen Revolution verstehen, die im Oktober 1917 ihren Anfang nahm und zu einer Folge von wichtigen sozialpolitischen Kämpfen und Revolutionen in der gesamten Welt führte, darunter die chinesische Revolution. Es gibt widersprüchliche Einschätzungen und widersprüchliche Interessen in den Einschätzungen, da der Machtzuwachs unter dem roten Banner und mit der KP Chinas an der Macht erfolgt.

Nichtsdestotrotz, eine der Lektionen der Konterrevolution in der Sowjetunion ist, dass Kommunisten nicht fraglos alles hätten schlucken sollen, was die KPdSU gesagt hat, sondern dass jede KP, treu zum Grundsatz des proletarischen Internationalismus stehend, mit ihren eigenen Hilfsmitteln die Entwicklungen, die Erfahrung der internationalen kommunistischen Bewegung studieren muss und auf dieser Grundlage versuchen muss, sich ihre eigene Meinung zu solchen Angelegenheiten zu bilden, dies mit dem Marxismus-Leninismus als Werkzeug dafür.

Die KKE behält sich ihr Kritikrecht innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung mit dem Ziel vor, diese Bewegung zu stärken. Die KKE kämpft gegen Abweichungen von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus und den Gesetzen des sozialistischen Aufbaus, während sie bilaterale Beziehungen zu kommunistischen Parteien mit unterschiedlichen Betrachtungsweisen aufrechterhält.

Auf dieser Basis und während sie immer noch bilaterale Beziehungen zur KP China unterhält, verfolgt die KKE systematisch die Entwicklungen und zieht ihre eigenen Schlüsse, welche sie sowohl öffentlich als auch der KP China direkt kund gibt. Wie bekannt ist, hat die KKE bereits von ihrem 17ten Kongress an die Ausweitung kapitalistischer Verhältnisse in China registriert. In der seitdem eingetretenen Entwicklung wurde diese Tendenz verstärkt und ist noch offensichtlicher geworden.

Entwicklungen der internationalen Position Chinas in der Wirtschaft

Die Vergrößerung der wirtschaftlichen Macht Chinas steht außer Frage. Es wird häufig davon gesprochen, dass China Japan überholt hat und nun die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt(23) nach den USA ist, während es in 2010 Deutschland als weltgrößten Exporteur überholte. Während der Periode Januar-Oktober 2009 exportierte China Waren im Wert von 957 Milliarden Dollar(24). Exporte machen 80% staatlicher Transaktionen aus(25). China exportiert 50.000 verschiedene Arten von Produkten in 182 Länder, während 80 dieser Länder Handelsverträge und Kooperationsprotokolle mit China unterzeichneten. Die grundlegenden Handelspartner Chinas sind die großen kapitalistischen Länder (Japan, USA, EU-Staaten), welche 55% der Außenhandelstransaktionen ausmachen(26).

Eine Tatsache, die die Änderungen, die in den letzten 20 Jahren auftraten, zeigt, ist, dass China zwar im Jahre 1993 Erdöl exportierte, heutzutage (seit 2009) aber dazu gezwungen ist, Öl in einem Umfang zu importieren, der mit demjenigen der USA global vergleichbar war und ist.

In 2010 errang China weltweit den zweiten Platz (nach den USA) in der Rangliste der Milliardäre (130); deren Vermögen sind innerhalb eines Jahres um 222% gestiegen. Es wird auch geschätzt, dass die 1.000 reichsten Menschen in China ihr Vermögen innerhalb eines Jahres um 30% vergrößerten - von 439 Milliarden Dollar auf 571 Milliarden Dollar(27).

Wir könnten diese Statistiken auch mit anderen vergleichen, welche das Elend und die Ausbeutung, die Hunderte von Millionen von Arbeitern im modernen China als ein Ergebnis der Politik nach der Maxime "reich werden ist glorreich", welche die KP China seit 30 Jahren offen verfolgt, durchleben. Wir wollen erwähnen, dass nach den Schätzungen der Vereinigung chinesischer Geschäftsleute, wie im chinesischen Fernsehen gezeigt, 8,5% der 500 größten Monopole chinesisch sind (43 Konzerne). Heute haben die amerikanischen Monopole noch das Doppelte des Gewinnvolumens im Vergleich zu den Chinesen, aber der Trend läuft in die Richtung, dass chinesische Monopole individuell profitabler sind und eine schnellere Kapitalbildungsrate haben als amerikanische. (28)

Die offiziellen Statistiken zeigen auch, dass in der Phase von 2004 bis 2010 die Anzahl privater Firmen in China um 81% gestiegen ist und die Anzahl privater Unternehmen 3.596.000(29) erreicht hat. Die Profite der 500 größten privaten Konzerne stiegen in 2009 um 23,27%.(30)

In derselben Zeit haben diese Konzerne, neben chinesischen Staatsmonopolen herwirtschaftend, den internationalen Wettbewerbsdruck erhöht. 117 dieser Firmen nahmen an 481 Investitionsplänen im Ausland teil, in die sie 225,7 Millionen Dollar(31) investierten. Insgesamt erreichten Chinas Direktinvestitionen in 2009 weltweit 56,53 Milliarden $ (5,1% der globalen Investitionen) und waren damit die fünftgrößten weltweit.(32)

Der Aufstieg der chinesischen Wirtschaftskraft bewegte eine Reihe internationaler Banken im Juni 2010 (u.a. HSBC, Deutsche Bank, Citygroup) dazu, den chinesischen Yuan anstatt des Dollars für ihre Transaktionen zu verwenden.(33)

Währenddessen erhöhte China seine Aneignung amerikanischer Staatsanleihen um drei Milliarden Dollar auf jetzt 86,7 Milliarden und behielt seine Stellung, vor Japan, als größter ausländischer Eigentümer amerikanischer Staatsanleihen(34). Weiterhin unterschrieb es einen Vertrag mit dem IWF um Staatsanleihen im Wert von 50 Milliarden Dollar.(35)

Eine andere bemerkenswerte Erscheinung ist der Wunsch Chinas, so viele Bodenschätze wie möglich zu kontrollieren, vermehrt direkt von chinesischen Konzernen. Afrika ist im Mittelpunkt dieser Aktivität. Das folgende ist besonders bezeichnend: In den 1990ern belief sich der gesamte Außenhandelsvolumen Chinas mit afrikanischen Ländern auf etwa fünf bis sechs Milliarden Dollar, bis 2003 hatte sich dieses auf 18 Milliarden Dollar erhöht und 2008 erreichte es 100 Milliarden Dollar(36). Heute hat China eine bedeutsame wirtschaftliche Präsenz in fast allen afrikanischen Ländern. Im Kupfergürtel Sambias und der Demokratischen Republik Kongo liegt das am schnellsten wachsende Chinatown der Welt. Sudan ist einer der Hauptlieferanten für Öl für den chinesischen Markt geworden.: 600.000 Barrel fließen täglich nach China. Ein Drittel aller chinesischen Importe kommen aus Afrika, mit Angola, Äquatorial-Guinea und dem Sudan als größte Zulieferer. Zusätzlich beliefern der Tschad, Nigeria, Algerien und Gabon China mit Erdöl.

Im Austausch für den Zugang zu den Bodenschätzen der afrikanischen Länder investiert China in Straßeninfrastruktur und Häfen, in für die Reproduktion von Arbeitskräften nötige Infrastruktur (Schul-, Kranken- und Wohnhäuser) sowie in die industrielle Infrastruktur dieser Länder. Chinesische Firmen bauen Straßen in Angola und Mozambique und verbessern die Häfen und Eisenbahnen. Chinesische Firmen sind auch an vielen Projekten in Addis Abbeba, der Hauptstadt Äthiopiens, und in Nairobi, Kenia, beteiligt.

Pekings Suche nach Rohstoffen ist nicht auf Afrika begrenzt, sondern erstreckt sich natürlich auch auf weniger weit entfernte Regionen. So besitzt China bedeutende Investitionen im Minenbereich und anderen Bodenschätzen (Holz, Edelsteine) in Myanmar. Nach Informationen des dortigen Ministeriums für Nationalplanung und Entwicklung waren im Wirtschaftsjahr 2008/2009 die direkten Auslandsinvestitionen sechsmal so hoch wie im vorigen Jahr (von 173 zu 985 Mio.$), 87% dieser Investitionen waren chinesisch. Manchen Schätzungen nach werden 90% von Myanmars Wirtschaft von chinesischem Kapital gestützt.

Chinesische Firmen sind auch im Mittleren Osten aktiv, besonders im Iran, wo die Investitionen zum Aufbau eines industriellen Komplexes für die Produktion von Aluminium schätzungsweise 516 Mio.$ erreichen kann. Iran konkurriert mit Saudi-Arabien als Öllieferant für China.

Ein anderer wichtiger Lieferant für Erdöl ist Venezuela. China investierte zwei Milliarden Doller für die Entwicklung von Ölgewinnung in diesem Land. 2004 verkaufte Venezuela 12.000 Barrel Öl am Tag nach China, in 2006 verkaufte es 200.000 Barrel am Tag und planmäßig werden es bis 2011 500.000 Barrel sein. Dieses Öl wird nach China geschickt, nachdem es in einer neuen Anlage verarbeitet wurde, speziell für Venezuelas Rohöl konzipiert. Es wird durch den Panamakanal geschickt, der jetzt von chinesischen Geschäftsinteressen kontrolliert wird und umgebaut wurde in Vereinbarung mit dem chinesischen Investitionsplan. China unterschrieb, um Venezuela wirtschaftlich an sich zu "binden", Wirtschaftsverträge im Wert von neun Milliarden Dollar für die Entwicklung der venezuelanischen Infrastruktur als auch in den Bereichen des Erzabbaus, der Landwirtschaft und der Telekommunikation.

China war es möglich, einen bedeutsamen Zugang zu den Bodenschätzen in Sibirien und Zentralasien zu gewinnen. Im August 2010 öffnete die Pipeline, welche China mit dem natürlichen Ressourcen Ostsibiriens verbindet. Im Augenblick importiert China jährlich 15 Mio. Tonnen Öl von Russland - mit der Aussicht, diese Menge in Zukunft zu verdoppeln.

Darüber hinaus schaffte es China, einen wichtigen Zugang zum Erdgas der Region des Kaspischen Meeres mit dem Bau einer Pipeline von Turkmenistan mit einer Leistung von 30 Milliarden m³ zu erreichen. Gleichzeitig verhandelt es mit Russlands Gazprom über den Bau zweier neuer Gaspipelines für den Transport von 63 Milliarden m³ jährlich, etwa die Menge, die "South Stream" von Russland nach Südeuropa befördert. Dazu kommt, dass China heutzutage 23% des geförderten Erdöls Kasachstans kontrolliert.

Chinas militärische Aufrüstung

In den letzten Jahren hat China - wie andere imperialistische Länder (like other imperialist countries) - seine Streitkräfte bedeutsamst verstärkt. Heute sind die chinesischen Streitkräfte die zahlenmäßig stärksten der Welt, mit 2.300.000 Soldaten. Nichtsdestotrotz zählt heute nicht allein die Größe einer Armee, sondern vor allem die Verfügung über moderne Waffensysteme, eine flexible, gute Bewaffnung.

In 2010 erhöhte China seine Militärausgaben um 7,5%, sie erreichen nun 532,1 Milliarden Yuan (77,9 Milliarden Dollar)(37), das sind etwa 25% mehr als die jährlichen Ausgaben Russlands und 10mal weniger als die der USA. Die USA prognostizierten die wirklichen Militärausgaben Chinas im Jahre 2010 auf das doppelte (150 Milliarden Dollar), die USA gingen davon aus, dass sich seit 2006 die chinesischen Militärausgaben vervierfachen würden(38)!

Heute besitzt China 434 Atomsprengköpfe(39), 1.500 ballistische Raketen, die meisten mit einer Reichweite von 2.800 km, wobei zwanzig eine Reichweite von 4.750 km besitzen und vier Raketen eine Reichweite von 12.000 km. Es hat die drittmeisten U-Boote der Welt und ist eines von fünf Ländern der Welt, die Atom-U-Boote mit ballistischen Flugkörpern besitzen. In 2007 schoss China (mit einer Rakete) einen seiner eigenen Satelliten ab, um seine Fähigkeit zu Weltraumeinsätzen und die Entwicklung seines Weltraumprogramms zu demonstrieren. China besitzt 7.580 Panzer und 144 Kriegsschiffe, fast 1.750 Kampfflugzeuge, 500 davon zur vierten Generation gehörend und es wird Flugzeuge der fünften Generation um 2018 einsatzfähig haben. Es importiert Waffen, aber stellt auch Dutzende moderner Waffen her, die Patente von Waffensystemen aufkaufend und einfach auch kopierend. Bald wird es seinen ersten Flugzeugträger einsatzfähig haben.

Nach dem Bericht der chinesischen Akademie für soziale Studien ist China weltweit zweiter, was Verteidigungsausgaben, die Größe der Streitkräfte und deren Ausrüstung betrifft(40), selbst wenn China sich im Moment nicht mit der Militärmacht der USA messen kann, selbst wenn es hinter den USA herhinkt. Was die Frage eines theoretischen, abschreckenden Gegenschlags zum atomaren Erstschlag betrifft (eine Fähigkeit, die Russland z.B. beherrscht) hat China bemerkenswerte Fortschritte in diesem Bereich gemacht.

Die Präsenz in internationalen Organisationen wird verstärkt

Volks-China ist Mitglied der UN seit deren Gründung und permanentes Mitglied im Sicherheitsrat. Es erhöhte seinen wirtschaftlichen Beitrag zur UN von 0,995% des Budgets der UN in 2000 zu 2,053% in 2006, während es in 1988 seine Bereitschaft erklärte, zu den "Friedensmissionen" der UN beizutragen und dafür eine "Friedensschutztruppe" von mehr als 6.000 Soldaten(41) unterhält. Seitdem hat China an Dut-zenden von UN-"Friedensmissionen"(42) teilgenommen (Liberia, Afghanistan, Kosovo, Haiti, Sudan, Libanon etc). In einer Rede erklärte der Verteidigungsminister von China, dass die Volksbefreiungsarmee insgesamt im Jahre 2010 in 24 Friedensmissionen mitmachte, was 10.000 Soldaten einschloss und dass es das aktivste Mitglied des Sicherheitsrates bei Friedensmissionen sei.(43)

China gründete zusammen mit Russland und den zentralasiatischen Staaten in 2001 die "Shanghai Cooperation Organization" (SCO), die, obgleich sie jährlich massive militärische Übungen austrägt, nicht als ein militärischer "Block" angesehen wird, sondern als wichtigstes Ziel die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Länder in der Region und deren politische Sicherheit angibt. Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass sich China an eine unglaublich rohstoffreichen Region bindet, die in den letztem 20 Jahren zu einem Zankapfel bei den innerimperialistischen Konkurrenzkämpfen geworden ist. Währenddessen ist China seit 1991 ein Mitglied des "Asiatischen Paktes der Ökonomischen Kooperation" (APEC), der 1989 auf Bestreben Australiens und Neuseelands hin gegründet wurde. 21 Länder beteiligen sich, das macht 40% der Weltbevölkerung, die 54% des globalen Sozialprodukts und 44% des Welthandels bestreiten.

Schließlich beteiligte sich China an den Foren der entwickeltsten kapitalistischen Länder (bei G8 als Beobachter und bei G20 als Vollmitglied) und gleichzeitig, ohne dass deswegen eine Organisation gegründet wurde, kooperiert es mit den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), die eine Aufwertung innerhalb des internationalen Beziehungsgeflechts suchen. Diese Länder koordinieren ihre Einbringungen in die G20 geschlossen, während sie zeitgleich auch ihre Aktivität innerhalb der UN zu koordinieren versuchen.

Beurteilungen der Position und Rolle Chinas im internationalen System

1. China hat seine Wirtschaft vor allem seit den 1980er Jahren mit dem internationalen kapitalistischen Markt verbunden. Dies ist eine Tatsache, welche nicht von der chinesischen Führung verneint, sondern sogar betont wird. China beteiligt sich aktiv in der globalen kapitalistischen Rollenverteilung als eine "Fabrik" mit billigen Arbeitskräften, mit hohen Profitraten für jene Kapitalisten mit der Möglichkeit, dort zu investieren.

2. Als ein Ergebnis des Kurswechsels wurde China von anderen starken imperialistischen Mächten willkommen geheißen, vor allem von den USA, aber auch von Japan und der EU - wegen ihrer Abhängigkeit von China als globaler Exportmacht. China ist ein integraler Bestandteil des internationalen imperialistischen Systems. Dieses Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit wird durch die Tatsache ausgedrückt, dass China amerikanische Staatsanleihen besitzt.

3. Solange China ökonomisch erstarkt, wird es seine Bedürfnisse für Rohstoffe und Treibstoffe erhöhen. Deswegen verschärft sich der innerimperialistische Wettbewerb über die Kontrolle der Energiequellen in Zentralasien, dem Mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika auf einer globalen Ebene.

Wie Lenin schrieb: "Die Kapitalisten spalten die Welt, nicht aus einer besonderen Boshaftigkeit heraus, sondern weil der Konzentrationsgrad, der erreicht wurde, sie zwingt, diese Methode zu übernehmen, um Profite zu gewährleisten. Und sie spalten sie "ihrem Verhältnis zum Kapital nach" und "ihrem Verhältnis zur Stärke nach", weil sie keine andere Methode der Aufteilung im warenproduzierenden Kapitalismus kennen. Aber Stärke ändert sich mit dem Grad der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung."(44)

Der Wettstreit um einen Anteil an den Märkten ist besonders hart. Gezeigt wird das durch den kürzlich angegangenen Einsatz wirtschaftlich-politischer Kreise in den USA, Gesetze zu erlassen, die Sanktionen gegen bestimmte Länder propagieren - Länder, denen nachgesagt wird, ihre Währungen künstlich schwach zu halten, damit ihre Waren wettbewerbsfähige Preise haben und somit Märkte übernehmen und Konkurrenten aussschalten können.

Die beiden folgenden Argumente werden häufig vorgebracht, um das oben Angesprochene zu widerlegen:

a) Das Argument, dass die Sowjetunion auch Außenhandelsbeziehungen hatte. Wir solllten uns daran erinnern: Über die Hälfte der Handelstransaktionen der UdSSR wurden mit anderen sozialistischen Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe abgeschlossen. Fast ein Drittel der sowjetischen Transaktionen wurden mit Öl oder Erdgas betätigt, was sie im Überfluss besaß, während der Trend zu mehr Exporten und zur Aufwertung der Beziehung zu den hochentwickelten kapitalistischen Ländern erst nach den 1960er Jahren eintrat, getragen von der opportunistischen Auslegung des Standpunktes der "friedlichen Koexistenz" und des "friedlichen Wettbewerbs". Nichtsdestotrotz, die Sowjetunion besaß weder ein Drittel der amerikanischen Staatsanleihen noch exportierte sie Kapital. So wäre niemandem je eingefallen, dass die UdSSR den Hafen von Piräus oder Thriasio kaufen könnte! Tatsachen, die den qualitativen Unterschied zwischen China heute und einem sozialistischen Land wie der Sowjetunion aufzeigen.

b) Manchmal hören wir aus bestimmten Gegenden, dass China im Gegensatz zu anderen imperialistischen Mächten mit seinen Investitionen nicht die Ausplünderung der Bodenschätze anderer Länder betreibe, sondern die Erschaffung von Infrastruktur (Straßen, Gebäude, Werkstätten, Krankenhäuser, Schulen etc.) im Sinn hat. Das Ziel ist, wie die Chinesen selbst behaupten, dass diese Länder "die Entwicklung ihrer Infrastruktur verbessern und Wirtschaftsbeziehungen gefördert werden."(45) China führt spezielle medizinische Programme in Entwicklungsländern ein und leitet Trainingsprogramme für die Führungskräfte der Länder. Es spricht sich für den Rückgang der Einfuhrzölle auf importierte Produkte jener Länder nach China aus, welche 50,1% aller Importe von weniger entwickelten Ländern(46) zu höher entwickelten Ländern ausmachen, günstige Kredite werden ebenfalls vergeben. Das oben genannte gilt für viele als Beweis für den Unterschied zwischen dem "sozialistischen" China und anderen imperialistischen Mächten.

Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es einen Unterschied gibt in der Weise, in der China in Afrika, Asien etc. operiert (fragwürdig, da die imperialistischen Länder ähnliche "humanitäre Hilfe" und "Entwicklungsprogramme" in weniger entwickelten Ländern leisten, z.B. war die EU bis 2008 der größte Entwicklungshilfegeber und Wirtschaftspartner in Afrika(47), ändert das nichts an der Tatsache, dass diese Mittel nicht das Endziel der chinesischen Aktivitäten sind. Das Ziel ist die Vereinfachung chinesischer Investitionen in diese Länder, die Vereinfachung des "Weges" des chinesischen Kapitals, das an diesen Orten operiert, also die Anhäufung von Kapital. Dieser Aktivität wird geholfen, wenn es z.B. eine moderne Infrastruktur (Straßen, Häfen, Flughäfen, Gebäude) sowie eine nötige Infrastruktur zur Ausbildung einer Arbeiterschaft gibt, die nötig ist, um das Geschäft am Laufen zu halten. Die niedrigen Zinsen, die von den chinesischen Banken erhoben werden oder die Abnahme sämtlicher Exporte dieser Länder zielen auf eine gesicherte Vergünstigung bei der Durchdringung dieser Länder mit chinesischem Kapital sowie auf die Verbesserung der Beziehungen mit einem Auge auf politische Bündnisse in den verschiedenen internationalen Organisationen (UN, WTO etc.), wo China mit anderen kapitalistischen Nationen, die eine Stärkung ihrer internationalen Situation im Sinn haben, versucht, einen Block von Ländern anzuführen.

Spielt China die Rolle eines neuen Gegengewichts gegen die Imperialisten?

Das wachsende Interesse gegenüber China innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung ist mit den Umbrüchen und Veränderungen innerhalb des globalen Machtgefüges in Verbindung zu bringen, die durch den Aufstieg Chinas auf sowohl der globalen als auch regionalen Ebene verursacht wurden. Manche sind der Ansicht, dass China dadurch zu einem neuen "Gegengewicht" gegen die Imperialisten werden könnte, eine Rolle, die früher von der UdSSR gespielt wurde.

Sehen wir in die Geschichte - historische Präzedenzfälle:

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, uns an bestimmte Fakten aus der Vergangenheit zu erinnern. Solange die Sowjetunion existierte, war die chinesische Außenpolitik mit der der USA koordiniert gegen die UdSSR ausgerichtet. Diese Haltung wurde als Kritik gegenüber der opportunistischen Wende der KPdSU bei ihrem XX. Parteitag dargestellt. Natürlich wissen wir heutzutage, dass die KPCh ihre der beim XX. Parteitag der KPdSU vorgenommenen Weichenstellung nicht sofort (1956) äußerte. Ihr Widerspruch wurde später (Anfang der 60er Jahre) veröffentlicht, von sino-sowjetischen Grenzstreitigkeiten angetrieben. Die Haltung der KPCh hatte einigen Einfluss auf andere Kommunistische Parteien - wegen des opportunistischen Abrutschens der UdSSR in Stellungnahmen hinein, die den "ewigen Frieden und friedlichen Wettbewerb" mit den imperialistischen Mächten innerhalb eines Rahmenwerks der "friedlichen Koexistenz" beinhalteten. Die KPCh wählte dann mit ihrer Kritik an den opportunistischen Beschlüssen des XX. Parteitages der KPdSU eine Strategie, die in der Praxis zu einer feindseligen Haltung gegenüber der UdSSR und der internationalen kommunistischen Gemeinschaft führte und sich - in Koordination mit der USA - gegen die Interessen der weltweiten revolutionären Bewegung richtete. Die KPCh führte ihre "Drei-Welten-Theorie" fort. Demnach bestand die erste Welt aus den "Supermächten" (die UdSSR wurde in der Tat als "sozial-imperialistische Macht" bezeichnet), als "zweite Welt" wurden die wohlhabenden Verbündeten der Supermächte bezeichnet, und die "dritte Welt" war dann die der Entwicklungsländer, inklusive China.

Ein typisches Beispiel für die konterrevolutionären Folgen dieser "Theorie" war die Haltung Chinas gegenüber der internationalistischen Hilfe, welche die UdSSR der volksrevolutionären Staatsmacht in Afghanistan zukommen ließ. Hier war China ein Teil des Mächteblocks, der von den USA gegründet worden war, zusammen mit Saudi-Arabien, Pakistan und anderen, der die sozialpolitisch gesehen reaktionärsten Kräfte Afghanistans finanzierte, die einen bewaffneten Kampf gegen die neu gegründete afghanische Volksregierung führten(48). In einem Artikel der Washington Post vom 19. Juli 1992 über die CIA-Taktiken bezüglich Afghanistan 1980 wird erwähnt, dass China der CIA Waffen verkaufte und Pakistan eine kleinere Anzahl Waffen schenkte. Außerdem hebt der Artikel hervor: "Bis zu welchem Grad China eine Rolle spielte, macht eins der bestgehüteten Geheimnisse des Krieges aus."(49) In diesem Artikel gab es auch Bezugnahmen zu den Waffentypen, die China zur Stärkung der Konterrevolutionäre hergab.

Ein anderes charakteristisches Beispiel ist die Haltung Chinas zum Volkskampf von Vietnam während seiner Phase des Befreiungskampfes. China lehnte die Vorschläge der UdSSR, gemeinsame Hilfsaktionen für Vietnam zu organisieren, ab. "Beijing lehnte die Vorschläge der UdSSR ab, den vietnamesischen Luftraum für amerikanische Invasoren zu sperren. Die Führer Chinas weigerten sich, Luftwaffenstützpunkte im Süden Chinas den sowjetischen Kampfflugzeugen zur Verfügung zu stellen, die Vietnam hätten verteidigen können. Die chinesischen Behörden blockierten den Transport sowjetischer militärischer Güter und Experten in die Demokratische Republik Vietnam.(50) Später, nur einige Jahre nach der Befreiung des Landes von den Imperialisten, am 17. Februar 1979, begann China einen militärischen Angriff gegen Vietnam. In diesem Februar 1979 besuchte der chinesische Vizepräsident Deng Xiaoping Washington und sprach von der Notwendigkeit "Vietnam eine blutige Lektion" erteilen zu müssen, was von den amerikanischen Politikern mit Applaus und dem Versprechen auf Waffenlieferungen aus westlichen Ländern aufgenommen wurde.(51) Nach 30 Tagen des Kampfes hatte das 600.000 Mann starke chinesische Invasionsheer 60.000 Soldaten verloren, etwa 300 Panzer und 100 schwere Artilleriegeschütze und Mörser und war gezwungen, sich zurückzuziehen.(52)

Wie wir heute wissen, gab es während dieser Periode viele Kontakte auf unterschiedlichen Ebenen zwischen China und den USA. Am 4.11.1979 wurde durch eine undichte Stelle ein offizielles Dokument in den New York Times veröffentlicht, darin wurde erwähnt, dass die amerikanische Militärhilfe für die Volksbefreiungsarmee von China auf 50 Milliarden Dollar geschätzt wurde, um - wie es geschrieben stand - der Roten Armee ein Hemmnis zu erschaffen(53). Außerdem informierte der Staatssekretär für Verteidigung, Forschung und Entwicklung, William Perry, Beijing bei einem Besuch im Jahre 1980 darüber, dass die Regierung der USA dem Export von 400 Patentbenutzungsrechten militärischer oder mehrfach nutzbarer Güter zugestimmt habe. Dies beinhaltete damals geophysische Computer, schwere Fahrzeuge, C-130 Transportflugzeuge und Chinook-Hubschrauber.(54)

Ein anderes Beispiel ist die Haltung, die China im angolanischen Bürgerkrieg einnahm, bei dem es die einheimischen Kräfte der Reaktion unterstützte (wirtschaftlich und militärisch), welche in vereinter Front mit den rassistischen Armeen Südafrikas gegen die Volksrepublik Angola. Die Volksrepublik Angola wurde mit Waffen und Militärberatern der UdSSR und von Tausenden von kubanischen Freiwilligen unterstützt, die freiwillig mitkämpften und einen entscheidenden Beitrag zur Vernichtung der südafrikanischen Streitkräfte und zur Niederlage der dortigen reaktionären Kräfte leisteten.(55) Wie heute durch CIA-Berichte bekannt ist, existierte eine seltsame Art der "Koordination" zwischen den USA und China, was sogar die Militäroperationen in Angola mit einschloss.(56)

Die Situation heute

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Heute, mit der Entwicklung und Vorherschafft kapitalistischer Produktionsverhältnissen in China, mit Chinas Beteiligung in imperialistischen Organisationen wie der Welthandelsorganisation und seine Eingliederung in das imperialistische System unterscheidet sich seine Haltung nicht von der der imperialistischen Mächte. Die Differenzen, die China mit den USA hat, haben mit der Verteilung der Beute zu tun - während Harmonie bei Themen wie den Rechten der Arbeiter herrscht, die zum "Wohle" der Marktwirtschaft eingeschränkt werden, oder gegen Staaten, deren Taten den Monopolen der führenden imperialistischen Mächte zuwiderlaufen.

Ein Beispiel ist die Einstellung Chinas, was die Atomprogramme des Iran betrifft. Wie wir wissen, hat China enge wirtschaftliche Beziehungen mit dem Iran, die Hauptversorgung mit Erdöl. Dennoch versammelten sich im September 2010 China und Russland mit den USA, Frankreich, Deutschland und GB ("die Gruppe der 6") wegen der Frage des iranischen Atomprogramms und forderten den Iran auf, von seiner Haltung zurückzutreten und die Bedingungen des UN-Sicherheitsrates bezügliches seines Atomprogramms anzunehmen. Im Juni 2010 hatte China im Weltsicherheitsrat bereits neuen Sanktionen gegen den Iran zugestimmt.(57)

Ein weiteres Beispiel ist die Haltung Chinas in Bezug auf das Kosovo. Selbst wenn China und andere imperialistische Mächte das Kosovo noch nicht offiziell anerkannt haben, ist es erwähnenswert zu berichten, dass China keine stete und entscheidungsfreudige Haltung gegen den NATO-Angriff auf dem Balkan hatte, sich von der Wahl über die Friedensmissionen fernhielt, in der NATO eine entscheidende Rolle spielte (die berüchtigte KFOR)(58) - und später beteiligte es sich an der NATO-Besetzung mit der Entsendung von Polizeitruppen.

Fernerhin gab es in 2010 die ungeheuerliche Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, dass die Unabhängigkeit des Kosovo keinen Bruch internationalen Rechts darstelle. Manche Richter hatten eine andere Haltung bezüglich dieser sehr wichtigen Entscheidung. Die Richter aus Russland, der Slowakei, aus Brasilien und Marokko waren gegen die Legitimierung des Kosovo, die Richter aus den USA, aus Japan, Frankreich, Großbritannien, Mexiko, Neuseeland, Sierra Leone, Somalia und Jordanien waren dafür. Wie öffentlich berichtet wurde, nahm der chinesische Richter bei dieser sehr wichtigen Entscheidung, die versucht, die Grenzen des Balkans zu ändern und die Büchse der Pandora für die Auslösung weiterer Nationalitätenprobleme zu öffnen, aus "verfahrenstechnischen Gründen" nicht teil.(59) Dem folgte die Bitte Albaniens an Beijing, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen und seinen Einfluss im UN-Sicherheitsrat geltend zu machen(60), auf dass andere Mitgliedsstaaten dies unterstützten.

Ein drittes Beispiel ist der Besuch des chinesischen Premierministers, Wen Jiabao, in Griechenland im Oktober 2010. In seiner Rede vor dem griechischen Parlament erklärte er, dass China einen stabilen Euro unterstütze, weil "wir den Glauben haben, dass ein vereintes und starkes Europa eine unersetzliche Rolle bei der Entwicklung der Welt spielen kann" und fuhr fort, dass er "Freude verspüre, wenn er sehe, wie Griechenland sich aus dem Schatten der Auslandsschulden befreie, seine Schulden verringere und der wirtschaftlichen Entwicklung neue Zukunftsaussichten öffne."(61) In diesen beiden Sätzen schaffte es der Premierminister von China und Vollmitglied des Politbüros des Zentralkomitees der KP Chinas, die Unterstützung seiner Landesführung für das europäische imperialistische Zentrum der EU und für unsere sozialdemokratische Regierung PASOK zusammenzufassen, die unter dem Vorwand des Schuldenabbaus ein hartes und unmenschliches, gegen die Arbeiterklasse gerichtetes Programm einführt, um die Arbeitskosten in Griechenland zu verringern.

Die chinesische Führung unterzeichnete eine Reihe von Verträgen mit der griechischen Regierung, die nichts anderes sind als eine zusätzliche Einnahmequelle für bestimmte Teile der griechischen Plutokratie. Die berühmte chinesische Investition von fünf Milliarden ist nichts mehr als eine Finanzspritze für griechische Reedereibesitzer, die der Werftindustrie Chinas dient, sowie dem Ziel der weiteren Durchdringung des europäischen Markts von Griechenland aus. Der damit in Beziehung stehende Ausbau und Gebrauch von Häfen und Bahnwegen, sowie die Schiffsbauinfrastruktur der chinesischen Monopole und bestimmter griechischer Firmen wird die ungleiche Entwicklung auf Kosten der Bedürfnisse des Volkes verschärfen. Die Orientierung auf die Kapitalinteressen - in Kombination mit volksferner Politik - hat zur Senkung von Löhnen und Gehältern geführt und zur Aushöhlung der Rechten der Arbeiterklasse. Von den Olivenölexporten werden nur das Großkapital profitieren, das über die Handelswege herrscht, und nicht die armen Bauern, deren Stellung sich zusehends verschlechtert. Nichtsdestotrotz wurde dieser Besuch von der "sozialdemokratischen" PASOK-Regierung mit dem Ziel benutzt, die Volksschichten davon zu überzeugen, dass dank der chinesischen Investitionen (u.a. auch aus Quatar, Israel) Entwicklung entstehen werde, das Bruttosozialprodukt ansteigen werde und sich so auch die Menge der Krümel, die vom Tisch der Herrschenden fallen und die das Volk ernähren, vergrößern werden. In Wirklichkeit geht es um einen Ausweg aus der Krise für die Kapitalisten, der weder die Profite des Großkapitals verkleinern wird noch die Armut und Arbeitslosigkeit der kleinen Leute. Wir sprechen über eine Entwicklung, welche die Produktionsmöglichkeiten unseres Landes untergräbt und es in gefährliche, imperialistische Konkurrenzkämpfe verwickelt. Keinesfalls können wir über eine "internationalistische Hilfe" der Volksrepublik China für den Kampf des griechischen Volkes sprechen.

Auch wenn die KPCh ihrem Namen nach noch eine "Kommunistische Partei" ist, müssen wir feststellen, dass sie enge Beziehungen zur Sozialistischen Internationalen geknüpft hat. In 2009 organisierte die KPCh in Beijing ein Gemeinschaftsseminar mit der Sozialistischen Internationalen, das als Thema "ein anderes Entwicklungsmodell, das der grünen Wirtschaft" hatte. In seiner dortigen Rede drückte der Präsident der PASOK und der Sozialistischen Internationalen, G. Papandreou, "den Wunsch der Internationalen aus, weiterhin die Beziehungen zwischen den beiden Seiten (VR China und Sozialistische Internationale) zu verbessern, wie er durch das heutige Seminar bewiesen wurde."(62) So wurde auch die Frage der "größeren Kooperation innerhalb des Rahmenwerks der Sozialistischen Internationalen" zwischen PASOK und der KPCh während der Konferenz im Juli 2010 (63) diskutiert.

In 2009 wurde das Buch "China ist nicht froh"(64), das über Chinas Stellung in der Welt handelt, in China herausgegeben (in drei Monaten waren 700.000 Exemplare verkauft worden und viele Millionen danach). Unter anderem steht dort: "Wir sind das passendste Volk, die Führerschaft der Welt anzugehen." Seit, wie es argumentiert, China die Bodenschätze der Welt effizienter verwaltet als jedes andere Land, sollte es die Führung der Welt anstreben. Auch geschrieben steht, dass die chinesische Armee die Souveränität des Landes außerhalb seiner Grenzen verteidigen sollte, direkt in den Ländern, in denen China "fundamentale Interessen" hat und diese sollten dort verteidigt werden.(65) Also schlägt das Buch die Mobilisierung der chinesischen Armee an den Orten vor, wo chinesisches Kapital aktiv ist. Wir sollten uns daran erinnern, dass China eine aktive Rolle beim so genannten "Krieg gegen die Piraterie"(66) spielt beim Versuch, wichtige internationale Schifffahrtswege unter Kontrolle zu bringen (in der "Vereinten Erklärung" zwischen der griechischen Regierung und China während des kürzlichen Besuchs des chinesischen Premierministers in Griechenland dankte die griechische Regierung China für den Schutz der griechischen Schiffe in somalischen Gewässern durch die chinesische Marine). In dem vorher erwähnten Buch war weiterhin die Rede von der "Notwendigkeit von Lebensraum" für China und es orientiert dabei auf die riesigen Weiten Sibiriens, die "vom großen chinesischen Volk kultiviert werden müssen."(67) Man muss an die Tatsache erinnern, dass ein solches Buch heutzutage in China nicht ohne die Erlaubnis der KPCh veröffentlicht werden könnte. Und man muss in diesem Zusammenhang auf das schauen, was das Organ des ZK der KPCh, "Volkszeitung" ("peoples daily") schrieb: "China ist bereit, den russischen fernen Osten unter seinen eigenen fundamentalen Einfluss zu bringen, aber ohne Moskau in Unruhe zu versetzen. Die Stärke dieses Einflusses wird nicht auf einem großformatigen Zufluss chinesischer Siedler beruhen, sondern auf der 'Chinaisierung' der Russen... Eines schönen Tages wird es dort eine tiefe Krise geben und im Angesicht des geschwächten politischen und militärischen Einflusses Moskaus könnten diese Russen dort dann zu Beijing überlaufen und ihrer eigenen Regierung den Rücken kehren. In einer solchen hypothetischen Situation könnte der russische ferne Osten eine Provinz Chinas werden."(68)

In Einklang mit dem oben Gesagten sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, dass Anfang August 2010 der Vertreter des vietnamesischen Verteidigungsministeriums, Nguen Fwong Nga, folgendes erklärte: "Vietnam verlangt, dass China sofort die Verletzungen der Souveränität Vietnams einstellt."(69) Im südchinesischen Meer liegen wichtige Energiereserven und deshalb haben sich "graue Zonen" und Streitigkeiten wegen der staatlichen Souveränität über die Gewässer entwickelt. Natürlich, innerhalb des wettbewerblichen Rahmenwerks entstehen sowohl "Achsen" des gemeinschaftlichen Handelns und "Gegenachsen." So sehen wir, wie der Premierminister Italiens, Berlusconi, der gewöhnlich jeden politischen Gegner mit der schwerwiegenden Anschuldigung ein "Kommunist" zu sein, belegt, kein Problem damit hat, das Kolosseum in Rom mit "kommunistischen" roten Farben auszustaffieren zu Ehren des chinesischen Premierministers, der die "ewige Stadt" besuchte, um zu versuchen, den Handel zwischen beiden Staaten bis 2015 auf 100 Milliarden Dollar zu verdoppeln, sowie die "Entwicklung der Häfen und anderer Investitionen"(70) in Angriff zu nehmen, da China ein strategisches Zugangstor nach Europa sucht.

Kooperation mit Russland, Indien, Brasilien, um das Mächtegleichgewicht innerhalb internationaler Organisationen zu verändern

In den letzten Jahren hat China eine Koordination und Kooperation mit Staaten entwickelt, die eine Aufwertung ihrer internationalen Stellung anstreben (Brasilien, Russland, Indien = BRIC), sowie Allianzverträge mit regionalen Bündnissen abgeschlossen, wie die "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" (gemeinsam mit Russland und den früheren zentralasiatischen Sowjetrepubliken). Können diese Bündnisse und Partnerschaften als ein Schlag gegen die "unipolare Welt" der USA gesehen werden?

Zuerst müssen wir klarstellen, dass es keine "unipolare Welt" gibt und niemals gegeben hat. Immer hat es eine Differenzierung innerhalb des internationalen imperialistischen Systems gegeben, die USA erwarben den ersten Platz darin während der sofortigen Nachkriegsphase und führten den Kampf gegen den Sozialismus, in dem die UdSSR eine Führungsrolle spielte, an. Der Kampf zwischen NATO-OECD und dem Warschauer Paktes-Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe war ein Klassenkampf. Nach dem Sturz der Sowjetmacht und der Auflösung der UdSSR verstärkten sich inter-imperialistische Gegensätze - wegen ihrer Stärke spielten die USA dort eine Führungsrolle. Währenddessen entstanden wegen der ungleichen kapitalistischen Entwicklung neue imperialistische Mächte an der Seite der USA; die EU und Japan, ihren Anteil an den Rohstoffen, den Transportrouten und den Märkten beanspruchend. Dies wird heutzutage von den bürgerlichen Medien und Analysten als eine "multipolare Welt" und als ein Ende der "unipolaren Welt" präsentiert. Die Ungleichmäßigkeit des Ausbruchs der kapitalistischen Krise beschleunigt Umbrüche in der Rangfolge der kapitalistischen Mächte, aber das macht unsere Welt nicht zu einem friedlicheren oder sichereren Ort. Solange der Gegensatz von Kapital und Arbeit nicht auf einer nationalen, regionalen oder globalen Ebene gelöst wurde, solange die aufstrebenden Mächte von der Gier des Kapitals nach neuen Märkten und Rohstoffen gesteuert werden, werden grundsätzliche, radikale Veränderungen der Gesellschaft ausbleiben. Die Staaten, die im imperialistischen System an Boden gewinnen, können nicht die frühere Rolle der UdSSR einnehmen, denn sie sind keine Staaten der Arbeiterklasse. Sie agieren nach dem gleichen Interesse der bisherigen imperialistischen Führungsmächte, sie agieren nach der Maßgabe zusätzlicher Einnahmen für ihre Monopole. Dies gilt auch für China und kann nicht einfach verleugnet werden, nur weil es eine rote Flagge hat und die herrschende Partei sich "kommunistisch" nennt.

Wenn wir uns auf die Kooperation der BRIC-Länder, die Koordination, die die Außenminister Chinas, Indiens und Russlands erreicht haben, oder die der "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" konzentrieren, sollten wir nicht vergessen, dass dies nur ein Aspekt imperialistischer Realität ist. Dahinter versteckt lauert der Aspekt harter Konkurrenzkämpfe und Gegensätze zwischen diesen Mächten z.B. zwischen Russland und China über die Energievorräte Zentralasiens oder das chinesische Streben nach dem russischen fernen Osten etc. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen China und Indien, wo, abgesehen von den ungelösten Grenzfragen (z.B. schickte Indien im August 2010 zwei Divisionen in den Staat von Arunachal Pradesh, um seine Grenze zu China zu verstärken)(71), es auch einen starken Kampf um die Hegemonie in der Region des fernen Ostens gibt. Es ist charakteristisch, dass, wie bekannt ist, in Indiens Verteidigungsministerium in 2009 und 2010 wiederholt Konferenzen über die Modernisierung von Chinas Streitkräften stattfanden und sie ähnliche Ziele für Indiens Streitkräfte setzten(72).

Der Trend, die Beziehung mit den USA zu ändern, entwickelt sich auch mit den Staaten Lateinamerikas, mit Brasilien im Vorfeld. Denn diese Staaten versuchen ihre Beziehungen mit China, Russland, Indien und der EU zu verbessern. Wettbewerb und gemeinschaftliches Handeln koexistieren in der imperialistischen Welt, in der Abhängigkeiten untereinander und Bündnisse Hand in Hand mit Konkurrenzkämpfen und Gegenbündnissen einhergehen.

Indessen ignorieren alle, die China als eine starke Kraft gegen die Unipolarität der USA betrachten, den Fakt, dass China 2001 öffentlich den sogenannten "Krieg gegen den Terror" und die UN-Resolution 1373/2001 unterstützt hat, die die imperialistische Aggression unter dem Vorwand des "Kampfes gegen den Terrorismus" institutionalisierten. Die internationale kommunistische Bewegung hingegen schlug einen vollkommen anderen Kurs ein, als sie beim Internationalen Treffen der kommunistischen Parteien und Arbeiterparteien im Jahr 2002 (mit 62 KPs) feststellte, dass die "Ereignisse des 11. September auch ein Alibi waren, eine beispiellose Offensive gegen die Freiheiten und die Rechte der Völker zu beginnen unter dem Vorwand, einen Krieg gegen den Terrorismus zu führen. Die Imperialisten brandmarken jede Widerstandsbewegung, die gegen die kapitalistische Globalisierung und die volksfeindlichen Entscheidungen von IWF, Weltbank, WHO, EU etc. getroffen werden, kämpfen, sie brandmarken anti-imperialistische Bewegungen, die gegen imperialistische Interventionen und Kriege und gegen die NATO kämpfen, sowie jede soziale und nationale Befreiungsbewegung gegen Diktatur und faschistische Regimes."(73)

Die Allianz Chinas mit "Entwicklungsländern"

Am 10. Juli 1986 drückte China seinen Wunsch aus, dem GATT (Allgemeinenes Zoll- und Handelsabkommen) beizutreten und am 11.12.2001 wurde es das 143te Mitglied der Welthandelsorganisation, eine Weiterführung des GATT. Innerhalb der WHO zeigt China sekundäre Gegensätze auf, die im globalen imperialistischen System existieren. In seinem Bericht an den 16. Parteitag der KPC sprach Jiang Zemin über den "Entwicklungsunterschied zwischen Norden und Süden", sowie den "Druck der wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und anderer Überlegenheiten der Industrieländer."(74) China versucht sich fortwährend als Vertreter und Führer der Entwicklungsländer darzustellen.(75) Trotz Chinas Wirtschaftswachstum und seines größer werdenden internationalen Gewichts besteht China darauf, sich als Entwicklungsland zu präsentieren.(76) Diese Behauptung basiert auf drei Argumenten

a) in 2008 war das BSP pro Kopf in China nur 3.300 $ hoch, Platz 104 weltweit.

b) von den 1,3 Milliarden Chinesen sind mehr als 700 Mio. Bauern.

c) Industrie, Landwirtschaft und der Dienstleistungssektor machen in China 49%, 11% und 40% des BSP aus, während in anderen Ländern, mit einem höheren Maß an kapitalistischer Entwicklung, Industrie und Landwirtschaft kleinere Anteile am BSP erreichen. In 2009 erhöhte sich das BSP um 9,5% bei der Industrie, um 8,4% bei den Dienstleistungen und nur um 4,2% in der Landwirtschaft.

Aber das von der UN und der OECD herausgegebenen Ranking ist zweifelhaft und spiegelt nicht die Wirklichkeit Chinas wider; genauso wenig wie die Selbsteinschätzung Chinas durch seiner Führung als Entwicklungsland. Es gibt zweifellos eine große Ungleichheit zwischen dem östlichen und westlichen Teil des Landes. Ein genaueres Bild wäre durch belegte Daten aus dem Ostteil des Landes gegeben.(77) Und was für den Kapitalismus im allgemeinen gilt, gilt auch für die entwickelte östliche Seite: Die Konzentration der Produktionsmittel in wenigen Händen und das Wachstum des sozialen Gefälles.

Von diesem Standpunkt aus sind die Bündnisse Chinas mit anderen Mächten (wie z.B. Indien) mit ähnlich ungleichmäßig verteilter Entwicklung nicht mit sehr zurückgebliebenen Gesellschaften in Afrika und Asien zu vergleichen.

Leider werden im Namen der "Rückschrittlichkeit" "patriotische Träume" erschaffen, die darauf zielen, die Arbeiterbewegung, die Kommunistischen Parteien und andere radikale Kräfte, dazu zu verleiten, aktuell den Klassenkampf und die Notwendigkeit, eine andere Gesellschaft aufzubauen, zu vergessen, um sich ganz der Aufgabe zu verschreiben, "die internationale Stellung ihrer Länder zu stärken." Das Streben nach "nationaler Entwicklung" wird oft mit selektivem "Antiimperialismus" kombiniert, der sein Feuer nur auf die dann oft als "Imperium" bezeichneten USA konzentriert und vielleicht auch auf ein paar mächtige Staaten aus Westeuropa. Die Theorie der "goldenen Milliarde" (die 30 meistentwickelten Länder der OECD) liegt ganz in dieser Logik, die als Grunddefinitionskriterium den Pro-Kopf-Konsum verschiedener Güter des Landes anführt. Indessen vergessen diejenigen, die ausschließlich auf den Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern schauen, dass selbst in den reichsten kapitalistischen Ländern wie den USA Erscheinungen wie Massenentbehrungen und -armut auftreten. Auch gibt es Erscheinungen wie massive Bereicherung auch in den ärmsten Ländern, vielleicht sogar in einer eklatanteren Weise als in den scheinbar entwickelten Ländern.

Seit der Analyse von Marx steht folgende Wahrheit fest: "Je produktiver ein Land im Gegensatz zum anderen auf dem Weltmarkt ist, desto höher werden seinen Löhne sein, verglichen mit dem anderen. In England sind nicht nur die nominellen Löhne, auch die realen Löhne höher als auf dem Kontinent. Der Arbeiter isst mehr Fleisch, er befriedigt mehr Bedürfnisse. Dies jedoch bezieht sich nur auf den industriellen Arbeiter und nicht auf den landwirtschaftlichen Arbeiter. Aber im Verhältnis zur Produktivität der englischen Arbeiter sind ihre Löhne nicht höher (als die Löhne, die in anderen Ländern bezahlt werden)."(78)

Wenn kommunistische Kräfte den Grundsatz der internationalen proletarischen Solidarität aufgeben und die Idee der Trennung der Welt in "Nord & Süd" oder die Idee der "goldenen Milliarde" aufnehmen, geraten sie direkt in die Falle der "Einheit" mit dem sogenannten "national orientierten Kapital," also der bürgerliche Klasse ihrer Länder (oder mit einem Teil davon), die für sich selbst einen höheren Rang im globalen kapitalistischen System erkämpfen will. In diesem Fall werden sie als Kommunisten bewusst oder unbewusst Lenins Theorie verworfen haben, die besagt, dass "der Imperialismus die höchste Stufe des Kapitalismus ist", die sich auf die ganze reaktionäre Ära des Kapitalismus bezieht und daher auch auf jede kapitalistische Gesellschaft, wie stark sie auch immer auf dem Weltmarkt sei. Dies ist ein weiteres Thema, bei dem die Haltung Chinas, welches sich als Führer der "Entwicklungsländer" präsentieren will, zur Orientierungslosigkeit und Verwirrung in der internationalen kommunistischen Bewegung beiträgt.

Die sogenannte unvermeidliche "Öffnung" zum globalen Markt

Die KPCh sowie andere Kräfte fördern die graduelle Stärkung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Beteiligung an der Globalisierung: "In der heutigen, zunehmend globalisierten Welt kann sich China nicht in Isolation von der restlichen Welt entwickeln, noch kann die Welt China bei dem Prozess, Wohlstand zu erlangen, ignorieren."(79) Der globale Markt aber ist keine neutrale Instanz, kein Markt, in dem ein gegenseitiger Austausch zwischen kapitalistischer und sozialistischer Produktion herrscht. Das Phänomen der sogenannten "Globalisierung", in deren Namen das Lohnniveau im fortgeschrittenem Kapitalismus permanent sinkt, ist kein Neues. Vielmehr befinden sich im "Kommunistischem Manifest" bereits Ausführungen zum "globalen Markt":

"Die Bourgeoisie hat der Produktion und dem Konsum in jedem Land durch ihre Ausbeutung des Weltmarkts kosmopolitischen Charakter verliehen. Sie hat der Industrie den nationalen Boden unter ihren Füßen entzogen - zum großen Verdruss der Reaktionäre. All die alteingesessenen nationalen Industrien wurden zerstört, oder werden tagtäglich zerstört. Sie wurden von neuen Industrien vertrieben, deren Einführung zu einer Frage von Leben und Tod für jede zivilisierte Nation wird. [Sie wurden vertrieben von] Industrien, die nicht länger die einheimischen Rohstoffe verarbeiten, sondern solche, die aus den entferntesten Gebieten bezogen werden; Industrien, deren Produkte nicht mehr nur zu Hause, sondern in jeder Ecke der Welt konsumiert werden. Statt der alten Bedürfnisse, die von der nationalen Industrie befriedigt wurden, finden wir neue Bedürfnisse vor, zu deren Befriedigung Produkte aus entfernten Ländern und Gefilden vonnöten sind. Statt der alten lokalen und nationalen Abgeschiedenheit und Selbstgenügsamkeit haben wir Verkehr in jeder Richtung, eine universale Abhängigkeit der Nationen. Und das nicht nur in Bezug auf Material, auch in Hinsicht auf die intellektuelle Produktion. Die intellektuellen Schöpfungen von einzelnen Nation werden zu Gemeinschaftseigentum. Nationale Einseitigkeit und Engstirnigkeit werden zunehmend unmöglich [gemacht] und aus den zahlreichen nationalen und lokalen Literaturen erhebt sich eine Weltliteratur."(80)

Kann die "Beteiligung Chinas" am internationalen Markt als Austausch von Gütern zwischen unterschiedlichen Wirtschaftssystemen angesehen werden, der durch die internationale Korrelation (Wechselwirkung) der Kräfte forciert wird? Nein, denn wir sprechen vom Export von Kapital, das sich in China durch kapitalistische Produktionsverhältnisse akkumuliert hat.

Es ist wohlbekannt, dass sich das sozialistische System in der USSR vor allem auf der Sozialisierung der konzentrierten Produktionsmittel, auf der zentralen Planung und den dazugehörigen Wirtschaftsmaßnahmen innerhalb der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, wie das im April 1918 etablierte Staatsmonopol auf den Auslandshandel, begründet.

Selbst unter den Bedingungen der NEP (die Einige zitieren mögen, wenn sie sich auf das gegenwärtige China beziehen) wurde das staatliche Außenhandelsmonopol als sogar noch wichtigeres Bollwerk gegen die zunehmend kapitalistischen Tendenzen behandelt. In einer Kontroverse mit Bucharin verteidigte Lenin die Wichtigkeit, das Monopol über den Auslandshandel zu haben und Stalin bemerkte später die Notwendigkeit für "die Wirtschaft, durch Planung die Unabhängigkeit der Volkswirtschaft zu sichern, so dass unsere Wirtschaft nicht zu einem Anhängsel der kapitalistischen Wirtschaft transformiert wird. Es hängt von uns ab, dass [wir] nicht zu einem Anhängsel der kapitalistischen Wirtschaft werden."(81)

In seiner Abschlussrede auf der 7. Plenarssitzung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale am 13. Dezember 1926 zerstörte Stalin den Mythos, dass die UdSSR vom globalen Kapitalmarkt "abhängig" sei, [nur] weil sie wirtschaftliche Beziehungen zu kapitalistischen Ländern hatte. Er bemerkte die Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) in diesen Beziehungen und betonte, dass diese Art der Interdependenz anders als die Assimilation einer nationalen Ökonomie innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft sei.(82) Und zwar erfordere die Nicht-Assimilation eine Zentralplanung, ein Staatsmonopol auf den Auslandshandel und im Bankwesen sowie die Sozialisierung der Industrie.

Die Realität in China unterscheidet sich vollkommen von der der UdSSR während der NEP.

A: In China gibt es kein Monopol auf den Auslandshandel. Der größte Anteil des chinesischen Exports wird von den Tausenden von ausländischen Unternehmen geleistet, die in China operieren und die natürlich von ihren auf Profit abzielenden Plänen abhängig sind, und nicht von der zentralen Planwirtschaft.

B: In China operieren 440 private ausländische Banken. Sie verfügen über mindestens 10% der chinesischen Staatsbanken und seit 2005 hat sich [zudem] ein inländischer Privatbanksektor entwickelt.(83)

C: Ein bedeutender Prozentsatz der Industrie ist Privatbesitz oder wurde privatisiert (in Form von Aktiengesellschaften). Es wird geschätzt, dass der Privatsektor um die 70% des BIP produziert.

D: Die chinesische Gesetzgebung, insbesondere im Wirtschafts- und Geschäftssektor, ist dank der Unterstützung der WTO vollständig an die Normen der kapitalistischer Weltwirtschaft angepasst.


Epilog

Zusammenfassend: Die Dominanz kapitalistischer Verhältnisse in China wird über kurz oder lang zu größeren Problemen im politischen System, in der herrschenden Ideologie und in allen Bereichen des Überbaus führen, die zunehmend kapitalistischen Charakter annehmen werden. Die Klassenwidersprüche werden sich verschärfen und so wird die Notwendigkeit für die revolutionäre Arbeiterbewegung in China heranreifen, tatsächlich von ihrer eigenen Partei repräsentiert zu werden - gegen die Macht des Kapitals.


Elisseos Vagenas, Athen,
Mitglied des Zentralkomitees der KKE,
verantwortlich für die internationale Abteilung des Zentralkomitees.

veröffentlicht in: Communist Review Ausgabe 6-2010,Quelle: http://inter.kke.gr/News/news2011/2011-03-04-china; Übersetzung ins Deutsche: frischmacher.


Anmerkungen

(23) "The threat of the yellow giant" http://www.paraskhnio.gr/index.php?option=com_content&view=article&id=435:2010-09-06-100051&catid=13:paraskhnioston-kosmo&Itemid=8

(24) "China is now the largest exporting power in the world", http://www.eurocapital.gr/index.php/permalink/5287.html

(25) http://sino.by/analitics/109-analitics

(26) http://o-kitae.ru/sovremennaya-ekonomika-kitaya/16.html

(27) The philosophy of the success of the Chinese billionaires", http://www.buffett.ru/investments/?ID=3293&print=Y

(28) "The largest companies in China and in the world" http://russian.cntv.cn/program/news_ru/20100906/102640.shtml

(29) "The number of privately-owned business in China has exceeded 3.5 million",
http://www.ttservice.by/index.php?name=news&op=view&id=4

(30) "This year the 500 most powerful private business have 5 specific characteristics",
http://russian.china.org.cn/exclusive/txt/2010-09/01/content_20841263.htm

(31) Ibid

(32) "China in 2009 was amongst the five biggest investors in the world",
http://www.bfm.ru/news/2010/09/06/kitaj-v-2009-godu-stal-pjatym-krupnejshiminvestorom-v-mire.html

(33) "The global economy: The Chinese cycle", http://www.warandpeace.ru/ru/reports/vprint/51067

(34) "The USA: Acquisition of American bonds by China", http://www.capital.gr/NewsPrint.asp?id=1048344 .

(35) "China proceeds in the world", http://www.chaskor.ru/article/kitaj_poshel_po_miru_18811

(36) "A clean-up of raw materials", http://www.expert.ru/printissues/expert/2009/40/resursnuy_pylesos. The statistics that follow in this section are from this article.

(37) "The Pentagon is concerned about the increasing military power of China",
http://www.bbc.co.uk/russian/international/2010/08/100817_cnina_military_report_pentagon.shtml

(38) "The Pentagon: China continues to increase its military power",
http://www.voanews.com/russian/news/world-news/US-China-military-2010-08-16-100809179.html

(39) "The overall strength of China", http://www.journal-neo.com/?q=node/488 .

(40) "China has the 2nd most numerous army in the world",
http://vpk.name/news/35274_voennyii_potencial_kitaya_zanimaet_vtoroe_mesto_v_mire.html

(41) Statistics from the Russian language website of the Chinese Ministry of Trade
http://russia.mofcom.gov.cn/article/subject/zhongguo/lanmufff/200803/20080305410262.html

(42) "Zemin Zebao" http://russian.people.com.cn/31521/6980549.html

(43) Yian Jiechi "The PR China pays more and more attention to development, taking on more and more responsibility", speech in Munich, 5 February 2010, http://russian.people.com.cn/31520/6889574.html

(44) V.I. Lenin " Imperialism, the Highest Stage of Capitalism", Collected Works, Synchroni Epochi, vol.27 ps 378-379.

(45) From the website of the Chinese Embassy in Athens: http://gr.chinaembassy.org/eng/xwdt/t261536.htm .

(46) ibid

(47) Resolution of the European Parliament on the 23rd of April 2008 related to the policies of China and their impact in Africa, 2007/2255(INI) (2009/C 259E/08).

(48) Nikita Medkovitch: "The financial dimension of the war in Afghanistan (1979-1989)" http://afghanistan.ru/print/?id=18319.

(49) Steve Coll: «Anatomy of a Victory CIA s Covert Afghan War», «Washington Post», 19 July 1992,
http://emperors-clothes.com/docs/anatomy.htm.

(50) A.S. Voronin; "Vietnam, independence, unity, socialism", "Sychroni Epohi". Ps 96-97

(51) A.S. Voronin " Vietnam Today", "nea biblia", p. 109

(52) ibid

(53) Consolidated Guidance No. 8, summary in the "The New York Times", 4 November 1979, p. A1

(54) Jonathan Pollack: «The Lessons of Coalition Politics: Sino-American Security Relations», Santa Monica: RAND Corporation, 1984, p. 70.

(55) S. Lavrenov-I. Popov "The Soviet Union in local wars and conflicts", http://militera.lib.ru/h/lavrenov_popov/index.html .

(56) http://www.arlindo-correia.com/gleijeses4.pdf .

(57) Newspaper "Imerisia", 23. September 2010,
http://www.imerisia.gr/article.asp?catid=12337&subid=2&pubid=61921147

(58) "The Military Force in Kosovo (KFOR)", http://tosyntagma.antsakkoulas.gr/afieromata/item.php?id=395 .

(59) http://www.rian.ru/world/20100722/257443658.html .

(60) http://www.hellasontheweb.org/2010-04-05-22-20-08/2010-04-06-12-08-05/785-2010-09-01-20-11-24?tmpl=component&print=1&layout=default&page= .

(61) Athens News Agency-Macedonian News Agency

(62) http://www.inews.gr/news/1/iper-prasinis-anaptixis-simfonoun-sosialistiki-diethniskai-kommounistiko-komma-kinas.htm .

(63) http://www.pasok.gr/portal/resource/contentObject/id/b334bc62-b685-4619-8b73-b72f8e76276a .

(64) Its full title is: "China is not happy. An important era, important goals and the internal and external upheavals". "Chiansou Zenmin Tsoumanse", which publishes political, philosophical and literay books. March 2009. The authors are five well-known journalists and writers: Song Shaojun, military analyst of the central televison channel "Fenwan". Wang Xiaodong, journalist. Song Qiang, deputy editor of "the journal of international social studies". Liu Yang, journalist, media commentator on economic, cultural and political issues.

(65) "Chinese military strength", 26.8.2010, http://www.odnagdy.com/2010/08/blog-post_9626.html

(66) Joint statement for the deepening of the extensive strategic cooperation between China and Greece,
http://greek.cri.cn/161/2010/10/04/42s4914.htm .

(67) "Why China is angry with Russia", http://kp.ru/daily/24313/506551 (68) "China is more and more attracted to the Russian Far East", http://world.people.com.cn/GB/1030/6677024.html, translated into Russian: http://www.inosmi.ru/world/20080130/239263.html .

(69) "China's neighbours are arming themselves with whatever they can", http://www.ng.ru/world/2010-08-10/7_vietnam.htm

(70) "Italy welcomes China with ... a red Colosseum",
http://www.euro2day.gr/news/world/125/articles/607508/ArticleNewsWorld.aspx

(71) "India has sent 2 divisions to its borders with China", http://www.warandpeace.ru/ru/news/vprint/50479 .

(72) "India is increasing its military strength in response to China",
http://flot.com/nowadays/concept/opposite/indiareadiesforchinafight/index.php?print=Y .

(73) Statement of the International Meeting of Communist and Workers' Parties, Athens 2002
http://www2.rizospastis.gr/story.do?id=1320825&publDate=2002-06-26%2000:00:00.0

(74) Report to the 16th Congress of the CPCh, http://russian.china.org.cn/news/txt/2002-11/19/content_2050838.htm .

(75) A. Liukin: "The Chinese "vision" and the future of Russia", http://www.mgimo.ru/news/experts/document151024.phtml .

(76) "China: increase in the rate of its economic development", March 2010, http://www.imperiya.by/economics2-7364.html .

(77) Over 80% of the population lives in the Eastern regions which account for about 10% of China's territory. Source: Russian geographic website: "Description of China", http://geotour.net/Asia/china.htm .

(78) K. Marx: "Theories of Surplus value", part 2 "Synchroni Epohi", p 13

(79) Website of the Chinese Embassy in Athens, http://gr.china-embassy.org/eng/xwdt/t261536.htm

(80) K. Marx-F. Engels: "The Communist Manifesto", "Sychroni Epohi", ps 29-30.

(81) From the article of J.V. Stalin "Discussion about the Handbook of Political Economy" (January 1941), in Richard Kosolapov: "Comrade Stalin has the floor", "Discussion about the Handbook of Political Economy", 29 January 1941, "paleia", Moscow, 1995, ps 161-168.

(82) J.V. Stalin: "His closing speech at the 7th plenary session of the Executive Committee of the Communist International", "Collected Works", v. 9, ps 132-136.

(83) "The financial market of China", http://www.globfin.ru/articles/finsyst/china.htm .


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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2011