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MARXISTISCHE BLÄTTER/620: EU-Freihandelsagenda in der Krise


Marxistische Blätter Heft 4-16

EU-Freihandelsagenda in der Krise

von Jürgen Maier


Drei Jahre nach den ersten Protesten gegen TTIP scheint die europaweite Bewegung gegen TTIP kurz vor dem Ziel. Die Proteste lassen nicht nach, Großdemonstrationen und viele andere Aktionen setzen die Regierungen weiter unter Druck. Die Veröffentlichung einer Reihe geheimer "konsolidierter Vertragstexte" durch Greenpeace bestätigte zwar nur, was ohnehin immer deutlicher geworden war: am Verhandlungstisch bewegen sich vor allem die Amerikaner kaum. Aber nachdem es nun schwarz auf weiß für alle nachzulesen war, reagierten die Kommission und Europas Regierungen bemerkenswert gelassen auf die Leaks. Mancher Sozialdemokrat gibt im Gespräch fast schon erleichtert zu erkennen, dass aus TTIP in den nächsten Jahren wohl nichts mehr wird. Der Schuldige dafür ist auch schon gefunden: Obama bewegt sich nicht, will keine Kompromisse, verhandelt nicht ernsthaft.

Obama ist der ideale Sündenbock, denn seine Präsidentschaft ist in wenigen Monaten Geschichte. In Wirklichkeit können sich aber beide Seiten kaum noch bewegen, weil die Regierungen auf beiden Seiten des Atlantik massiv unter Druck einer Öffentlichkeit stehen, die die Freihandelsagenda immer klarer ablehnt. Um TTIP abzuschließen, weitreichende Deals machen: Beispielsweise europäische Konzerne bekommen Zugang zum öffentliche Beschaffungsmarkt der USA, dafür öffnet die EU ihren Agrarmarkt. Europäische Autokonzerne bekommen völlige Zollfreiheit im transatlantischen Handel, dafür behandelt die EU Daten wie Waren und stellt ihren grenzüberschreitenden Verkehr keine Datenschutzgesetze mehr in den Weg. Verbindliche Deregulierungsvorhaben ("regulatorische Kooperation") erschweren Regulierung der Wirtschaft im öffentlichen Interesse - eine Zielsetzung, die beide Seiten teilen. Dummerweise glaubt inzwischen kaum noch jemand, dass solche Deals im öffentlichen Interesse sind. Wenn man aber einer kritischen Öffentlichkeit in Europa hundertmal verspricht, keine Standards abzusenken, oder in den USA hundertmal erzählt, man werden die öffentliche Beschaffung nicht öffnen, dann kann man es irgendwann tatsächlich nicht mehr tun. Die Geschäftsgrundlage für TTIP-Deals ist dann allerdings entfallen.

Es ist dennoch unwahrscheinlich, dass demnächst offiziell verkündet wird, dass die TTIP-Verhandlungen abgebrochen werden - es sei denn, Donald Trump wird US-Präsident. Wahrscheinlicher ist, dass die Verhandlungen nach und nach in den Winterschlaf-Modus verfallen, wie zahlreiche andere Verhandlungen. Erst wenn 2017/2018 neue Regierungen in den USA, Deutschland und Frankreich im Amt sind, könnte eventuell wieder Bewegung in die Sache kommen. Wahrscheinlich ist dies dennoch nicht, denn TTIP und die ganze Freihandelsagenda ist mittlerweile derart toxisch geworden, dass jeder Politiker sich daran nur die Finger verbrennen könnte.

Auch für das bereits ausverhandelte EU-Kanada-Abkommen CETA werden die Perspektiven von Tag zu Tag schlechter. Mit dem absehbaren Dahindämmern von TTIP verschieben sich die Proteste zunehmend auf CETA, den "kleinen Bruder" von TTIP. CETA gilt allgemein als Pilotprojekt für TTIP. Wirtschaftsminister Gabriel und die Kommission sind sich einig, nun rasch Fakten zu schaffen und CETA im EU-Rat noch 2016 zu ratifizieren und auch eine "vorläufige Anwendung" zu beschliessen. Sobald das Europaparlament (vermutlich Anfang 2017) seinen Segen erteilt hat, hätte man CETA schon weitgehend unter Dach und Fach. So der Plan.

Allerdings gibt es dafür noch eine Menge Hürden zu nehmen. TTIP und CETA polarisieren nicht nur die deutsche Gesellschaft: Die regelmäßigen Eurobarometer-Umfragen der EU-Kommission zeigen in allen EU-Ländern deutlich sinkende Zustimmungsraten an. Ob CETA tatsächlich ratifiziert werden kann, ist deshalb eine offene Frage, unter anderem auch weil der Ratifizierungsprozess ziemlich kompliziert ist. Die Kommission ist weiterhin der Meinung, es handele sich um ein Abkommen in ausschließlicher Kompetenz der EU, und nationale Parlamente hätten dementsprechend nichts mitzureden. Alle 28 Mitgliedsstaaten sehen dies aber anders. Die Kommission hat ihren Verfahrensvorschlag für die CETA-Ratifizierung daher absichtlich bis nach dem Brexit-Referendum verzögert, um britischen EU-Gegnern keine Munition zu geben. Der Fahrplan (Stand Mitte Mai) sieht so aus, dass im Herbst der Rat einstimmig beschliessen soll, dass CETA ein "gemischtes Abkommen" ist, das auch Kompetenzen der Mitgliedsstaaten umfasst und dementsprechend dort auch mit ratifiziert werden muss. Die geplante "vorläufige Anwendung" würde in Kraft treten, sobald das Europaparlament zugestimmt hat und nur die Vertragsteile betreffen, die reine EU-Kompetenz sind. Über diese Abgrenzung gibt es noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten - so ist beispielsweise die Kommission der Meinung, auch der Investitionsschutz sei reine EU-Kompetenz, nicht aber die Bundesregierung und die meisten anderen Regierungen. Mit der "vorläufigen Anwendung" würde das Abkommen weitgehend in Kraft gesetzt, bevor nationale Parlamente überhaupt abgestimmt haben. Völlig unklar ist aber, was passiert, wenn der formelle Ratifizierungsprozess anschließend scheitert, weil ein oder mehrere Länder nicht ratifizieren. Erstmals trat dieser Fall mit dem niederländischen Referendum über das EU-Ukraine-Abkommen auf. Die EU-Verträge enthalten für diesen Fall erstaunlicherweise keine Bestimmung. Vermutlich will man die "vorläufige Anwendung" unbefristet einfach weiterlaufen lassen, also nationale Voten schlichtweg ignorieren.

Es ist klar, dass dieser komplizierte Prozess für die europaweite Bewegung gegen TTIP und CETA viele Ansatzpunkte bietet, CETA zu stoppen. Es wird zunehmend unsicherer, ob alle Länder tatsächlich ratifizieren. Belgien benötigt dafür zustimmende Voten nicht nur des Bundesparlaments, sondern auch der Regionalparlamente von Wallonien, Flandern, Brüssel. Das wallonische Regionalparlament hat kürzlich mit 2/3-Mehrheit beschlossen (Christdemokraten, Sozialisten, Grüne, Partei der Arbeit), dass Wallonien die Ratifizierung durch Belgien verhindern wird und auch von der belgischen Bundesregierung verlangt, im Rat nicht dafür zu stimmen. In den Niederlanden droht wie schon beim Uraine-Abkommen ein Referendum, dessen Ergebnis absehbar gegen CETA ausfallen wird. In Österreich gibt es einen Parlamentsbeschluss, CETA mit einer Investitionsschutz-Klagemöglichkeit nicht zuzustimmen, weshalb die Regierung bereits erklärt hat, dass Österreich einer vorläufigen Anwendung nicht zustimmen wird. Rumänien und Bulgarien haben erklärt, CETA solange zu blockieren, wie ihre Bürger als einzige EU-Länder Visa für Kanada brauchen. Auch in Deutschland wächst der Druck auf die Grünen, im Bundesrat CETA zu blockieren; wenn die elf Länder mit grüner und linker Regierungsbeteiligung im Bundesrat nicht zustimmen (Enthaltung gemäss üblicher Koalitionsklausel reicht), kann auch Deutschland nicht ratifizieren. Bisher halten sich die Landesminister der Grünen in dieser Frage sehr bedeckt.

Die Zahl der Wackelkandidaten nimmt als zu. Nie zuvor war der Neoliberalismus als gemeinsam getragene wirtschaftspolitische Grundlinie des europäischen Parteien-Mainstreams so unter Druck wie heute. TTIP ist in den Augen vieler Menschen kein isoliertes Phänomen, sondern Symptom für eine tieferliegende Fehlentwicklung. Die Heilsversprechen von Globlisierung, Liberalisierung, Deregulierung ziehen nicht mehr, es sind toxische Begriffe geworden. Wer mehr Globalisierung und Liberalisierung verspricht, gewinnt keine Wahl mehr, weil die meisten Menschen nicht mehr glauben, dass ihnen eine solche Politik nützt. Sie nehmen eine schleichende Abwicklung der sozialen Marktwirtschaft wahr. Das alte Mantra von Margaret Thatcher "There Is No Alternativ" ist vorbei: Die Menschen wollen Alternativen, und sie wollen sie im bestehenden Parteien-Mainstream wählen können. Es ist aber ziemlich schwierig geworden, für eine andere Wirtschaftpolitik votieren zu können. Wenn der Parteien-Mainstream diese Alternativen verweigert, such sich die Menschen diese eben woanders.

Längst ist TTIP der Name geworden für ein diffuses Unbehagen gegenüber einer Wirtschaftspolitik der vergangenen 20 Jahre, von der die meisten Menschen nichts hatten. Zu einer neuen Politik für die Mehrheit gehört auch, dass die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik nicht länger auf die erfolgreiche Eroberung immer neuer Exportmärkte zugerichtet werden dürfen. Deutschland hat in den letzten 15 Jahren den geringsten Reallohnzuwachs in der Eurozone zu verbuchen gehabt. Zu dem Verweis auf die globale Wettbewerbsfähigkeit wurde jahrelang sogar die Einführung eines Mindestlohns verhindert, während Kalifornien inzwischen den Mindestlohn auf $15 anhebt. Unter dem deutschen Lohndumping ächzen nicht nur die Südeuropäer, sondern längst auch die Franzosen. Schon blockieren französische Bauern mit Treckern die deutsche Grenze, um die Lidl- und Aldi-Lastwagen mit den Dumpingprodukten aus Deutschland zu stoppen. Aber: Immer mehr Arbeitnehmer in Deutschland selber ächzen darunter auch, der Niedriglohnsektor umfasst mittlerweile ein Drittel des Arbeitsmarkts. Das ist ein Irrweg. Wir brauchen hier einen klaren Kurswechsel. Gute Arbeit und guten Lohn für alle, nicht nur für zwei Drittel. In der Eurokrise hat die Troika den Griechen Lohnsenkungen, Lohnnebenkostensenkungen verordnet, um die "globale Konkurrenzfähigkeit" zu steigern.

Es ist genau diese Logik, die inzwischen längst zu einem "race to the bottom", zu einem Wettlauf nach unten geführt hat. Die Verlierer sind Beschäftigte, überall auf der Welt. Wir brauchen endlich eine Politik, die damit aufhört. Diese Stimmung erstreckt sich weit über das sozialdemokratische Wählerspektrum hinaus bis tief in konservative Schichten, bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Für sie ist die Bewegung gegen TTIP längst eine im Grunde konservative Bewegung für den Erhalt des europäischen Modells der sozialen Marktwirtschaft gegen die Dampfwalze des Neoliberalismus. Das ist einer der Gründe, warum unsere Bewegung so erfolgreich ist. Sie ist quer durch Europa die progressive Antwort auf den rasanten Legitimitätsverlust der neoliberal geprägten Politik.

Die Bewegung gegen TTIP ist dabei, nicht nur das Projekt TTIP in Frage zu stellen, sondern die dahinter stehende Wirtschaftspolitik. Wenn TTIP und CETA gestoppt sind, ist die Welt noch nicht wieder in Ordnung. Die neoliberale Globalisierung produziert inzwischen so viele Verlierer, dass sie ihre eigenen Grundlagen untergräbt. Noch ist sie der Konsens des europäischen Parteien-Mainstreams. Noch glauben Europas politische und wirtschaftliche Eliten, sie könnten die Protestbewegungen gegen das TTIP-Projekt irgendwie machtpolitisch neutralisieren oder aussitzen.

Dies wird nicht gutgehen. Längst geht es um mehr. Nach dem Scheitern des TTIP-Projekts wird die europäische Handelspolitik vor einem Scherbenhaufen stehen - danach kann man nicht einfach so weitermachen wie vorher. Ein Scheitern dieser Abkommen hätte tief greifende Auswirkungen auf die Welthandelspolitik. Wenn es den Regierungen Europas und der USA nicht einmal mehr gelingt, in den eigenen Gesellschaften und Parlamenten Mehrheiten für ihre Handelspolitik zu finden, dann sinkt auch das machtpolitische Potenzial, Entwicklungsländern ihre Marktöffnungsagenda aufzudrücken. Europa braucht eine neue Handelspolitik und die gibt es nur mit einer neuen Wirtschaftspolitik. Wie diese aussieht, darüber brauchen wir eine ergebnisoffene gesellschaftliche Diskussion. Sie fängt gerade an.

Fazit: Wer mit einer Wirtschaftspolitik weitermachen will, die immer weniger Menschen akzeptieren, wird nicht mehr gewählt. Alle Wahlen in Europa, in den USA der letzten Jahre zeigen: die Menschen haben eine Politik satt, von der immer weniger etwas haben, die immer mehr Leute leer ausgehen lässt. Die progressiven Alternativen liegen auf dem Tisch und sie sind mehrheitsfähig. Die andere Antwort ist der Rechtspopulismus. Angst vor einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft ist der Nährboden, auf dem alle Ressentiments gedeihen, die von rechts bedient werden. Es ist weniger das bereits ausgegrenzte Dienstleistungs-Prekariat, das eher zum Nichtwählen tendiert, sondern die von Abstiegsängsten geplagte untere Mittelschicht, die zum Rechtspopulismus neigt. Das Ergebnis von 20 Jahren neoliberaler Wirtschaftspolitik sind diese Abstiegsängste. Wer sich den progressiven Alternativen verweigert, setzt weit mehr aufs Spiel als seine eigene politische Zukunft.


Jürgen Maier,
Berlin, Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-16, 54. Jahrgang, S. 8-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2016

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